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Kristín Steinsdóttir

Im Schatten des Vogels

Aus dem Isländischen übersetzt
von Anika Lüders

C.H.Beck

Zum Buch

Pálina Jónsdóttir wächst im späten 19. Jahrhundert in einer abgeschiedenen Gegend im Osten Islands auf, am Fuß eines Gletschers, mit Blick auf gewaltige Gebirgszüge und das stürmische Meer. In einfachsten Verhältnissen lebend, in einer vielköpfigen Familie und großen, engen Hofgemeinschaft, schwankt sie zwischen Heimatgefühl und Fernweh, träumt von einer glücklichen, sonnigen Zukunft und fühlt sich doch auf der Mädchenschule in Reykjavík nicht wohl. Von Kind an leidet sie unter seelischen Spannungen, die sich, als sie selbst eine Familie gründet und in ihre Heimat zurückgekehrt ist, verschärfen. Die enge ambivalente Beziehung zum Vater hat ihr Leben großen Belastungen ausgesetzt.

«Im Schatten des Vogels» ist Kristín Steinsdóttirs dritter Roman für Erwachsene, eine auch autobiographisch geprägte und bewegende, poetisch geschriebene Geschichte vom Leid und Glück einer besonderen Frau.

Über die Autorin

Kristín Steinsdóttir, geboren 1946, lebt in Reykjavík und ist eine der meistgelesenen und preisgekrönten Kinderbuchautorinnen Islands. Ihr Roman «Eigene Wege» (C.H.Beck, 2009) erhielt u.a. den Isländischen Literaturpreis der Frau 2011 und wurde in viele Sprachen übersetzt. Sie ist derzeit Präsidentin des Isländischen Schriftstellerverbandes.

Über die Übersetzerin

Anika Lüders, geboren 1985, hat sich nach dem Studium der Literatur-, Kultur- und Medienwissenschaften und der Arbeit in einem Berliner Kinderbuchverlag als Übersetzerin selbstständig gemacht. Aus dem Isländischen übersetzte sie u.a. Guðmundur Óskarsson, Oddný Eir und Ævarsdóttir und Einar Bragi.

~

Bei Sonnenaufgang macht sie sich auf, hält kurz inne und wirft einen Blick über die Schulter. Das Zimmer ist länglich, und das Bett an der einen Wand nimmt fast den ganzen Raum ein. Der Nachttisch ist ein Brett, das zwischen Bett und Wand geklemmt worden ist. Drei Haken an der langen Wand gegenüber des Bettes. Dort haben lange Zeit ein schwarzer Wollrock, eine Schürze und ein Schultertuch gehangen. Platz für einen Stuhl gibt es nicht. Über dem Kopfende hängt ein Kalender. 23. April 1938.

Hoch oben über allem ein Dachfenster mit vier Scheiben. Dadurch sieht man den Himmel und einen Teil des östlichen Berggipfels oberhalb des Hofes.

Manchmal sind durch dieses Fenster auch Möwen im Flug zu sehen, oder ein vereinzelter Rabe taucht auf. Diese Nacht saß dort eine Schwalbe. Die Tür fällt zu, innen ohne Griff.

Die Luft draußen ist klar, und Morgenrot fällt auf die Berge ringsum. Es ist, als wolle der Winter die verschneite Erde nicht loslassen. Bisher hatte er im Kampf gegen den Frühling immer eine Niederlage einstecken müssen, doch nun will er ihn mit aller Kraft aufhalten.

Überall glänzt Eis in den Senken und Rinnen. Obwohl Flüsse und Seen noch vereist sind, legen die Vögel schon Eier, und von den Felswänden oberhalb des Hofes kündigt sich ein bekannter Frühlingsbote an.

Draußen am Sander beginnen die Raubmöwen ihr Frühlingswerk, laut und geschäftig. Eiderenten watscheln umher, höflich und umgänglich, geben acht, nicht im Weg zu stehen.

Sie kommt gut voran und hat den Skriðuberg schon hinter sich. Am Hang steht das Schloss, und es steigt Rauch auf. Einzelne Fensterscheiben glänzen in der Morgensonne, und er läuft ihr den Weg hinunter entgegen. Leichtfüßig, mit verschmitztem Blick. Seine kräftige Hand umfasst die ihre, der weiche Bart kitzelt ihre Wange. Sie ist zu Hause.

I

Ich war noch klein, als er sich zum ersten Mal bemerkbar machte. Der Vogel, der ein untrennbarer Teil meines Lebens werden sollte.

Er breitete die Flügel aus, sang und erfüllte meine ganze Brust. Ich dachte, dass das so sein müsse, ahnte nichts. Warum fing er an, sich in meinen Hals zu zwängen? Zu versuchen, mich zu ersticken. Mir nachts den Schlaf zu rauben. Sich auf mich zu legen und zu zerquetschen. Die Realität und mich durcheinanderzubringen. Ich fand keine Antwort, doch die Frühlingstage waren sonnig, und der Vogel flog ohne Unterlass.

Die Sonne steht hoch am Himmel. Ich bin allein und träume vor mich hin. Plötzlich so etwas wie ein Brummen. Zuerst ist es dumpf, dann aber wird es deutlicher und schlüpft schließlich in die Traumwelt hinein. Drängt mich, drängelt sich ins Paradies. Eine Schmeißfliege, groß wie ein Koloss.

Ich springe auf die Beine, voller Entsetzen. Bösartige Rhabarberstängel sind mir im Weg, als ich fliehen will und die Fliege hinter mir her ist. Nicht nur eine, sondern viele. Eine ganze Geschwisterschar mit grünen und blauen Flügeln, die im Sonnenschein schimmern. Lasse einen durchdringenden Schrei los: «Papa! Papa!»

Ich spüre starke Arme um mich. Ich werde hochgehoben, eine Runde durch die Luft gewirbelt, und dann streift der rote Bart meine Wange, weich und warm.

«Mein kleiner Engel, was machst du im Gemüsegarten?»

Ich schmiege mich an ihn, spüre seine warmen Hände um mich. Besiege die Angst.

Wir sitzen im Gesellschaftszimmer, das zum Zerbersten voll mit Gästen ist, und Papa spielt Akkordeon. Ich lausche dem bezaubernden Lied und schaue durch die kleinen Fensterscheiben hinaus auf den Hof. Kann noch nicht zählen, weiß heute aber, dass es neun Fensterscheiben waren. Sie sehen wunderschön aus, wenn das gedämpfte Abendlicht hindurchscheint. Weiß, dass ich später viele solcher Fenster in meinem Gesellschaftszimmer haben möchte.

«Komm her, Engelchen, und begrüß die Gäste!», ruft Papa und hört einen Moment auf zu spielen. Mit tiefroten Wangen mache ich mich auf den Weg durch das endlos lange Zimmer. Dann bricht die Erinnerung ab.

Meist bin ich bei Mutter, Großmutter und meinen Schwestern Ninna, Gauja und Gunnhildur, möchte aber bei Papa sein. Er füllt den Hof bis in den letzten Winkel, sein Lachen, seine Anweisungen und die warmen Hände. Manchmal wünsche ich, dass er den Hof nie verlässt. Dass er immer bei mir daheim ist. Nur bei mir. Aber er ist Gemeindevorsteher und viel in der Gegend unterwegs. Viele Unbekannte kommen zu Besuch, um mit ihm zu sprechen und ihn um Rat zu fragen.

Er ist auch Homöopath und hat eine Tasche voller Medikamente. Diese Tasche nimmt er immer mit. Darin sind Tropfen in verschiedenen Fläschchen, manche grün, andere braun, einzelne auch durchsichtig. Niemand darf die Tasche berühren, aber ich darf zusehen, wenn er mit den Fläschchen hantiert. Er heilt Menschen und auch Tiere und wird oft auf Höfe gerufen. Es kommen auch Leute, die Tage oder ganze Wochen hierbleiben, Salben oder Tropfen bekommen und dafür auf dem Hof helfen. Einige der Gäste erzählen Geschichten, die wir nie zuvor gehört haben. Andere tragen Balladen vor.

Der Hof hat viele Giebel. Ganz im Osten ist der Lagerraum, im Westen die Werkstatt, vor beiden habe ich Angst. Im Lagerraum ist etwas, von dem ich nicht weiß, was es ist. Spähe durch die Tür, als Papa ein Seil holt. Ich soll ihm das schreckliche Etwas zeigen, kann es aber nicht. Auch mit meinem Bruder Ingi gehe ich nicht hinein, obwohl er anbietet, mich zu beschützen.

Im Sommer wird der Lagerraum zu einem Schlafraum für Mahdhelfer. Ingi zieht zu ihnen und sagt, dass es dort viel lustiger sei und es mehr Platz gebe als in der Stube. Im fensterlosen Lagerraum ist Erdboden. Dort werden Geschichten erzählt, und bis in den Abend hinein ist Gelächter zu hören. Trotzdem schaudert es mich beim Gedanken an diesen Ort.

Auch die Werkstatt betrete ich nie. Dort hat sich ein Mann erhängt, und ich weiß, dass er dort herumgeistert, selbst wenn Mutter sagt, dass er das nicht tut. Sobald die Dämmerung einsetzt, renne ich blitzschnell an der Werkstatttür vorbei und lasse mich nicht dazu verleiten, einen Blick durch die Tür zu werfen.

Die alte Kristbjörg hat den Mann gesehen, und sie sagt, dass ihm die Zunge aus dem Mund gehangen habe. Sie sagt auch, dass er ein verfluchter Dummkopf gewesen sei, der den Höllenfürsten zum Lachen gebracht habe, und dass er auf direktem Weg beim Gehörnten gelandet sei, wo er auch hingehöre. Ich lausche Kristbjörg gebannt, spüre, wie mich ein Schauder durchströmt und sich auf den Armen bis hoch zu den Schultern die Gänsehaut ausbreitet.

Die Stallstube ist warm. Wir wohnen oben, wo das Fenster ist, im Dunkeln darunter sind die Kühe. Dazwischen ein Holzboden. Es ist schön, sie abends zu hören, wenn man einschläft. Manchmal kommt es aber auch vor, dass sie sich mitten in der Nacht im Stall unter der Stube streiten. Dann schrecke ich auf und fürchte mich. Papa sagt, dass sie sich wegen eines Bullen zanken. Dann lacht er laut auf.

Papa und Mutter schlafen ganz hinten links in der Stube. Ein kleiner Bruder hat bei ihnen geschlafen. Er lebte nur kurz, und bevor er starb, hat Papa ihn mit einer Nottaufe getauft. Er bekam den Namen Pálmar. Mutter befürchtet, dass Gott der Allmächtige nicht zufrieden ist, weil es Papa war, der ihn getauft hat. Großmutter sagt, dass alles in beste Ordnung komme und Großvater bis in alle Ewigkeit auf Pálmar aufpassen werde.

Ich weiß nicht, was ich glauben soll. Großvater war fast blind, als er starb, und konnte nicht einmal auf sich selbst aufpassen. Wie soll er da auf Pálmar aufpassen? Großmutter sagt, dass Großvater im Himmel sofort neues Augenlicht bekommen habe. Ich sehe einen Engel vor mir, der in der Tür zum Himmel steht und allen Blinden beim Eintreten neue Augen in die Höhlen drückt. Hoffentlich blendet es Großvater jetzt nicht, mit den neuen Augen.

Es ist schön, auf der grasigen Torfmauer zwischen den Hofgebäuden zu sitzen und in den Himmel zu schauen, wo ich Pálmar im Abendrot sehe. Er hat ziemlich kleine Flügel. Wie sehr ich auch suche, Großvater taucht nicht auf. Ob ich ihn mit den neuen Augen vielleicht einfach nur nicht wiedererkenne?

Ich schlafe bei Kristbjörg und Ninna bei Magga, unserer Magd. Magga riecht gut, und am liebsten würde auch ich bei ihr schlafen. Ich selbst darf mich nachts kaum bewegen. Dann stöhnt Kristbjörg und hat Schmerzen im ganzen Körper.

Ingi und Gauja schlafen im selben Bett, doch sie will nicht bei ihm schlafen, weil er so viele Winde abgehen lässt. Ingi schubst Gauja und sagt, dass Furzen männlich sei. Trotzdem gibt er acht, dass Mutter ihn nicht sieht, und er vertraut darauf, dass Gauja sich nicht beklagt. Er findet, dass viel zu viele Frauen auf dem Hof sind. Papa findet das nicht. Er sagt, dass es nie genügend Frauenzimmer gebe. Dann zwinkert er mit dem rechten Auge und grinst schief.

Gunnhildur schläft bei Großmutter, die Knechte weiter vorn in der Stube. Der eine von ihnen heißt Sigurður, und ich glaube, dass er Magga heiraten möchte. Er hat ihr ein Tuch geschenkt, als er vor einigen Tagen vom Handelsplatz zurückkam. Ich träume davon, so gut wie Magga zu duften. Sie ist hübsch, hat blonde Zöpfe und trägt sie wie einen Kranz um den Kopf. Ihre Zähne sind weiß und außergewöhnlich schön. Hoffentlich schenkt mir auch mal jemand ein Tuch, vielleicht auch öfter als ein Mal.

Das Gesellschaftszimmer hat einen Holzgiebel und einen Dielenboden. Es gibt ein paar Stühle und einen Tisch mit einer hübschen gehäkelten Tischdecke. Auf dem Tisch liegt der Almanach des Verbands isländischer Patrioten mit der Jahreszahl 1884 auf dem Buchrücken. Dort steht auch MDCCCLXXXIV. Die Buchstaben bereiten mir Kopfzerbrechen, bis Papa erklärt, dass das römische Zahlen sind, und er mir beibringt, sie zu lesen. Das macht Spaß, und jetzt verwandle ich alle Zahlen in römische, aber meine Schwestern schimpfen mich aus und sagen, dass ich immer ein Dummkopf bleiben werde. Heimlich poliere ich die Glasfenster im Gesellschaftszimmer. Dort steht auch die braune Porzellankanne mit den aufgemalten Rosen, die niemand berühren darf. An der Wand hängt ein Bild von Maria und dem Jesuskind.

Meine Schwester Ninna sagt, dass Maria Jesus küsse, aber in Wirklichkeit beißt sie ihm in die Hand. Warum sollte sie sonst die Oberlippe so hochziehen und ihre Zähne zeigen, wie die Hunde es tun, wenn sie trockenen Fisch verschlingen? Ninna sieht das nicht und sagt, dass das hässliche Gedanken seien. Ich halte den Mund. Wenn man nicht dasselbe denkt wie Ninna, kann sie einen in die Hölle kläffen. Eigentlich müsste sie Kläfferin heißen, aber das wage ich nicht laut zu sagen.

Manchmal füllt sich die Küche mit Rauch. Der steht dann so dicht, dass die Frauen es irgendwann nicht mehr aushalten, wie sehr sie auch die Augen zukneifen. Als Erste schiebt sich die alte Kristbjörg nach draußen. Mit roten Augen schleppt sie sich hustend zum Fischstein, sinkt darauf nieder, schlägt um sich und flucht.

Ich gehe in ihre Nähe und spitze die Ohren. Wir dürfen nicht fluchen. Beginnen den Tag, indem wir auf den Hof treten, uns in Richtung Osten drehen, verneigen und bekreuzigen. Dann sprechen wir Morgengebete. Den restlichen Tag über müssen wir artig und bis zum Schlafengehen Gott ergeben sein.

Ich höre genau zu. Jetzt sind Kristbjörgs Flüche so wüst, dass mich ein Wonneschauder durchströmt.

«In die tiefste, heißeste Hölle damit, im Sumpfloch des Teufels soll es schmoren und im siebten Fegefeuer beim Todesengel verrecken!»

Sie schlägt die Fäuste gegeneinander und flucht, was das Zeug hält, während der Husten versucht, sie zu ersticken. Kristbjörg hat noch andere Begabungen neben dem Fluchen. Sie erzählt Geschichten von Trollen, die so stark sind, dass sich einem die Haare aufstellen.

Als Nächste rast Magd Magga nach draußen. Sie ist flink, und im Tumult haben sich ihre langen Zöpfe gelöst. Sie wirbelt sie durch die Luft, um die Rauchwolke von ihrem Gesicht zu vertreiben. Mutter hält immer länger aus als die anderen. Sie bewegt sich langsam und schweigt mit großen, schwermütigen Augen.

Ich möchte sie umarmen und an mich drücken. Sehen, wie sich ihre Augen verändern. Ich tue es aber nicht, finde, dass sie viel öfter gelacht hat, als ich noch klein war. Erinnere mich an schallendes Lachen. Einmal habe ich nachts von Mutter geträumt, in einem hellen Kleid und mit Blumen im Haar. Und sie hat laut gelacht.

Mutter kümmert sich um alles und trägt die Verantwortung. Wenn man sie mit Fragen nervt, schlägt sie einem vor, das Strickzeug in die Hand zu nehmen oder die Zuber zu schrubben. Deshalb halte ich mich zurück und warte auf die Gelegenheit, Papa zu fragen, wenn er nach Hause kommt. Mutter erzählt nie Geschichten, dafür singt sie bei der Arbeit, singt überall, nur nicht in der Vorratskammer. In Vorratskammern darf man nicht singen, das bringt Unglück. Mutters Gesang tönt über den ganzen Hof, und aus ihm hören wir heraus, wie es ihr geht. Wenn sie Den tapre Landsoldat singt, geht es ihr gut, aber wenn Psalmen oder lange Gedichte zu hören sind, ist es besser, sich zu verdrücken.

Es dämmert, als das Monster über den Hof kommt, breit und auf kurzen Beinen, mit einem riesigen Kamm, und es rasselt laut bei jeder Bewegung. Es nimmt Witterung auf, reckt den Schädel und zeigt große Zähne. Jetzt sehe ich, dass da nicht ein Kopf ist, sondern zwei. Dann versucht es, sich ins Haus zu quetschen. Der Türrahmen hält dem Druck nicht stand, das Ungeheuer sprengt ihn und das Dach gleich mit. Die ganze Zeit über starrt mich die Kreatur mit stechenden Augen an, mit zwei, vier, acht, sechzehn? Ich versuche, zu rennen, bin aber wie im Boden verankert. Da packt es mich …

«Hör mit dem Herumgewälze auf und lieg still», höre ich und bekomme einen Ellenbogenstoß in die Seite. Ich schrecke hoch, die Köpfe sind weg, die Augen auch.

«Geh auf den Topf, Mädchen, du musst sicher mal», murmelt Kristbjörg im Halbschlaf. Ich klettere über sie und finde den Holztopf. Doch das Einschlafen gelingt mir nicht, und ich flüstere Kristbjörg meinen Traum zu.

«Eine rasselnde Kreatur mit riesigem Kamm», brummt sie vor sich hin. «Dass du das nie auch nur einem einzigen Menschen zu Ohren kommen lässt.»

«Warum nicht?»

«Seeungeheuer», antwortet sie, und das sagt alles. Ich weiß, dass sich viele schreckliche Exemplare davon im Meer herumtreiben. «Und wenn es einen Kamm hat! Gott steh uns bei», brummt sie weiter.

«Was meinst du damit?»

«Ein schlechtes Omen, ein schreckliches Omen!»

Ich will vieles fragen, aber sie sagt nur barsch, dass mein Leben davon abhänge, dass ich so täte, als wenn nichts wäre, weil die Kreaturen durchs Gerede erst recht herbeibeschworen würden. Da schnarcht sie schon wieder, ich aber liege schweißkalt, bis ich gegen Morgen endlich einnicke.

In den nächsten Tagen finde ich keine Ruhe. Kristbjörg behauptet, je weniger ich an den Vorboten dächte, desto besser. Und ich dürfe ihn keinesfalls erwähnen. Dann sieht sie mich mit zusammengekniffenen Augen an und sagt todernst: «Und ich weiß, wovon ich spreche, armes Ding.»

Am Ende des Winters kommt ein Wanderlehrer, der Guðmundur heißt. Beim Lesen bin ich viel fleißiger als meine Schwester Gauja. Der Katechismus ist nicht so spannend, aber wenn man ihn schnell genug liest, geht es. Ich muss auf Gunnhildur aufpassen und laufe heulend zu Papa. Nachdem ich eine Weile gejammert habe, sagt er, dass sich eine Lösung für Gunnhildur finden werde und ich bei den anderen sein dürfe.

Kristbjörg behauptet, dass Papa mir verdammte Teufelsflausen in den Kopf setze, und sie sagt auch, dass er mir besser eine Tracht Prügel verpassen sollte, als mir alles durchgehen zu lassen. Als würde mir Papa jemals den Hintern versohlen!

In Reykjavík spielen die Damen Harmonium. Das steht auf dem Boden, ist so groß wie viele Akkordeons zusammen, und man muss auf einem speziellen Stuhl davor sitzen. Das und vieles mehr erzählt uns Guðmundur.

Ich träume endlose Träume, in denen ich mitten in einem Raum auf einem hohen Stuhl sitze und ein Lied nach dem anderen auf einem nigelnagelneuen Harmonium spiele. Die Töne daraus sind viel schöner als die, die Papas Akkordeon macht. Sie sind so schön, dass ich unendlich lange spiele.

Den Winter über lag Kummer in Mutters Augen. Vor ein paar Tagen hörte ich Guðmundur sagen, dass sie eine starke Frau sei, und in seiner Stimme schwang Bewunderung mit. Er unterhielt sich mit Kristbjörg. Ganz gegen ihre Gewohnheit sprach sie leise, und ich hörte nicht, was sie sagte. Später sagte er zu Mutter, dass sie eine klare Singstimme habe. Mutter wurde ein bisschen rot und sah fröhlicher aus. Am Tag danach schallte Den tapre Landsoldat über den ganzen Hof.

Wir haben einen Bruder bekommen. Er ist groß und hübsch und heißt Pétur Jakob. Papa rief den Pfarrer, und der taufte ihn, als er gerade mal einen Tag alt war. Mutter kann Pálmars Nottaufe nicht vergessen – niemand weiß, ob der Kleine in den Himmel gekommen ist. Deshalb hatte sie selbst schon den Pfarrer gebeten, gleich nach der Geburt zu kommen. Mutter fand es nicht schlimm, dass das Kind wie zwei Apostel heißt. Papa meinte, dass es am besten gewesen wäre, ihn einfach Jesus Christus zu taufen. Dann lachte er laut und lange, Mutter schwieg.

Ich sitze draußen auf der Torfmauer und ringe nach Luft. Der Vogel hat sich Stück für Stück hoch in meinen Hals gezwängt, und jetzt steckt er fest. Heute ist Kreuzerhöhungsmesse und Gesindewechsel, es kommt eine neue Magd. Sie heißt Halldóra, ist nicht mehr ganz so jung und bringt einen Sohn mit.

Sigurður und Magga werden kein Ehepaar, obwohl er ihr im letzten Jahr das Tuch geschenkt hat. Um die Weihnachtszeit herum wurde es eng in Ninnas Bett, und Mitte März brachte Magga einen Jungen zur Welt, der laut und lange schrie. Niemand spricht darüber, wer der Vater ist. Sogar die alte Kristbjörg hält den Mund.

Im Alter von ein paar Tagen wurde der Junge auf den Namen Einar getauft. Er war gesund und wohlgenährt und schlief bis zum Frühling zwischen Ninna und Magga.

Papa setzt Magga auf ein Pferd. Sie geht auf einen Hof weiter im Osten des Bezirks. Sigurður begleitet sie. Ich spüre Maggas tränennasse Wangen an den meinen. Rieche noch ihren Duft. Einen besseren Duft habe ich an keinem Menschen gerochen.

Stehe draußen, sehe, als es Abend wird, Sigurður den Weg zum Hof hinaufreiten, und auch den kleinen Pálmar, der in den Wolken über dem Gletscher auftaucht. Den ganzen Tag über hatte ich gehofft, dass Magga mit Sigurður zurückkommt. Aber jetzt schläft in ihrem Bett Halldóra mit dem Wicht, Þórarinn, der genauso alt ist wie ich, einen Kopf kleiner und zu allem Übel noch rothaarig. Und er hat abstehende Ohren. Maggas Duft ist verschwunden.

Meine Schwester Ninna ist mit dem kleinen Einar in das Bett gegenüber von Papa und Mutter umgezogen. Mutter kümmert sich um Einar, wenn er nachts unruhig ist.

Seit ich denken kann, bin ich Papa wie ein Schatten gefolgt. Er hat mir Geschichten über Helden und Geächtete erzählt, von alten Kriegern vorgelesen, mir gezeigt, wie man der Natur lauscht und den Gletscher richtig sieht. Und er hat mir alles über Kräuter beigebracht.

Er trägt Balladen vor, spielt Akkordeon und gibt mir Rechenaufgaben – er ist nämlich auf der Lateinschule gewesen. Er sagt, dass überall um uns herum unsichtbare Wesen seien, einige gut, andere nicht. Manchmal schnuppert er in der Luft herum, verzieht sein Gesicht und spuckt. Wenn ich frage, warum er sich so aufführt, antwortet er kaum. Sagt, dass er böse Geister vertrieben habe. Manchmal geht er auch mit Sensen nach draußen, rammt sie in den Boden und lässt alle in dieselbe Richtung zeigen. Auch die Rechenzinken. Macht das, um etwas vom Hof fernzuhalten, will aber nicht sagen, was es ist. Und er versteht die Sprache der Raben. Deshalb weiß er Dinge, die noch nicht geschehen sind. Wenn es Abend wird, schickt er uns Kinder abwechselnd mit einer Kanne Milch zu Huldas Stein. Morgens ist die Kanne immer leer.

Es sei schlimmer, dem Elfenvolk auf die Zehen zu treten als normalen Menschen, sagt Papa, und auch viel gefährlicher, weil das Elfenvolk auf eine Weise Rache übe, die wir Menschen nicht kennen. Dann wird er nachdenklich, und die kleinen Augen blicken entrückt. Ich weiß, dass er etwas ungesagt lässt, müsste fragen, was es ist, schiebe es aber auf, weil ich die Antwort fürchte.

Wenn Papa zu Hause ist, brauche ich niemanden sonst. Doch nicht für jeden hat er Zeit. Kristbjörg sagt, dass er die Leute auf dem Hof ungleich behandle und mich am allermeisten schätze.

Letztes Jahr ist unser Winterknecht im Einmánuður, dem letzten Wintermonat, abgehauen. Da musste Papa öfter als sonst zu Hause bleiben und bekam schlechte Laune. Wenn Þórarinn ein Missgeschick passiert, vergisst Papa sich völlig, und Þórarinn hat sein Leben seinen flinken Füßen zu verdanken.

Þórarinn ist ein ganzes Stück gewachsen, seit er zu uns gekommen ist. Ich glaube, er hat ein Auge auf meine Schwester Gauja geworfen. Als wenn das zu was führen würde. Sie, die ein Jahr älter ist als er und es niemals in Erwägung ziehen würde, jemand anderen als einen Gemeindevorsteher oder einen Bezirksratsvorsitzenden zu heiraten.

Er weiß wenig über seinen Vater, der ertrunken ist, als er vier Jahre alt war. Seine Geschwister wurden hier und dort auf Höfen untergebracht, doch Þórarinn blieb bei Halldóra.

Ich will all die hässlichen Dinge, die er über Papa sagt, nicht hören, weiß aber, dass einiges davon wahr ist. Es ist auch kaum zu vermeiden, Kristbjörgs Gemeckere zu hören. Sie sagt, dass einige seiner Tropfen so stark seien, dass sie Großvieh umbringen könnten. Wenn ich nachfrage, sieht sie mich bloß mit ihren geheimnisvollen Augen an, murmelt etwas von einer jungen Kuh und schweigt dann bedeutungsvoll. Schweigt immer, wenn ich mehr wissen will.

Oft bin ich stinksauer auf Kristbjörg und würde ihr am liebsten einen Schubs verpassen. Dann beschließe ich, nie mehr auf das Geschwätz dieser dummen Alten zu hören. Bevor ich mich’s versehe, spitze ich aber doch wieder die Ohren. Vielleicht, weil ich mir so sehr den Kopf zerbreche und nie eine Antwort finde. Vielleicht, weil Mutter so schweigsam ist.

Ninna und Gauja sagen, dass ich faul sei und träge und wohl nie unter die Haube kommen würde. Die Kühe sind abends viel eher zu Hause als ich, weil ich so lange auf dem Blumenhang sitze und vor mich hin träume. Und auf Elfen hoffe. Und beim Harken bin ich viel langsamer als meine Schwestern, die geschickter mit den Händen sind. Mein Blick schweift dann zur Sonne oder hinaus auf den Sander, und ich versuche, die Segel eines französischen Schiffes zu entdecken. Aber meine Strümpfe sind am besten gestrickt. Das sagt Halldóra – und die versteht was vom Stricken.

Es wäre schrecklich, nicht unter die Haube zu kommen. Eine Magd wie die alte Kristbjörg zu werden. Fluchend und zeternd dazusitzen, draußen am Fischstein, im Alter runzlig und krumm. Bei dem Gedanken bricht mir der Schweiß aus, und ich beeile mich mit der Hausarbeit. Früher oder später entwerfe ich trotzdem wieder Schnitte und Muster für einen Handschuh oder träume am Stórhügel vor mich hin, während ich darauf warte, dass ein Elfenmann auftaucht.

Ich habe gehört, dass man in Reykjavík das Stricken lernen kann. Und dort gibt es feine Damen, die Harmonium spielen. Dieses Wort ist mir nicht mehr aus dem Sinn gegangen, seit der Lehrer Guðmundur vor einigen Jahren hier war. Wenn ich es langsam genug sage und mir dabei Mühe gebe, schmeckt es wie Samtpudding mit Zimtzucker und Blaubeersaft darauf.

Kristbjörg ist gebrechlich geworden. Als es ihr in der Winterskälte besonders schlecht ging, ließ Mutter sie allein in einem Bett schlafen und kümmerte sich um sie. Sie, die sonst alle zur Arbeit treibt. Kristbjörg durfte liegen bleiben und weiterschlafen. Als Papa darüber schimpfte, antwortete Mutter bloß: «Hat die alte Kristbjörg dafür nicht lange genug und gut auf diesem Hof gearbeitet? Wir werden uns nicht nachsagen lassen, dass sie das im Alter nicht genießen durfte.»

Mürrisch schaute Papa in Richtung Kristbjörg, die die Decke bis ans Kinn zog, sich rekelte und langsam die Augen schloss. Doch Mutters Gesichtsausdruck ließ ihn schweigen. Kristbjörg lobt Mutter von früh bis spät und noch bevor man sich’s versieht, aufgestanden, um ihr zu helfen. Sie macht Nickerchen und tut das unter Mutters schützender Hand. Kristbjörg ist unberührbar geworden und scheint zum allerersten Mal das Leben zu genießen.

Ich lege mich ins Zeug, den Katechismus zu lernen, und kann schon lange Verse auswendig, obwohl ich sie kein bisschen verstehe. Wer sich konfirmieren lässt, muss den Katechismus kennen. Þórarinn will auch konfirmiert werden und brütet genervt über dem Buch, wann immer er freihat. Im Winter hat der Pfarrer uns einen Besuch abgestattet. Als er anfing, mich abzufragen, strömte es wie ein Wasserstrahl aus mir heraus. Der Pfarrer lobte mich in den Himmel und sagte, dass er sich darauf freue, mich in den Kreis der Christen aufnehmen zu können. Zu Þórarinn, der stinkwütend darüber war, wie schlecht es bei ihm gelaufen war, sagte er nichts dergleichen. Þórarinn verfluchte den Pfarrer und zeigte ihm eine lange Nase, als er den Weg vom Hof hinunterritt. Die alte Kristbjörg hat noch nie so viele hässliche Dinge von sich gegeben wie Þórarinn an diesem Tag.

«Willst du den Hof mit deinen Flüchen versenken, du Höllenjunge?», schrie ich, schlug aber die Hände vor den Mund, als ich begriff, was ich gesagt hatte. Er verstummte. Hatte sicher gedacht, dass ich nicht fluchen könne.

Þórarinn muss konfirmiert werden. Er will im nächsten Winter auf See, und unkonfirmiert wird ihn kein Kapitän nehmen.

«Möchtest du wirklich auf See?», frage ich. «Wo doch dein Vater ertrunken ist.»

«Jedenfalls lieber, als mich noch einen Winter lang vom Höllengemeindevorsteher prügeln zu lassen», antwortet er mit zusammengebissenen Zähnen, und ich zucke zusammen, als ich ihn so über Papa reden höre.

Wir gehen zu Fuß zum Konfirmandenunterricht. Gehen am Skriðuberg vorbei, laufen aus alter Gewohnheit schnell, auch wenn wir wissen, dass im Winter weniger Steine vom Berg stürzen. Es liegt kaum Schnee, und daher sind auch Lawinen keine wirkliche Gefahr. Unterwegs frage ich Þórarinn ab. Halldóra hat mich darum gebeten, und ich will ihr nichts abschlagen.

Oft ist es richtig lustig. Þórarinn verflucht entweder den Katechismus, oder er lacht sich über alles kaputt, und ich kann nicht anders, als mitzulachen. Es ist schön, zu lachen, dann ist es, als würde sich etwas in der Brust lösen, und ich werde so leicht. Mit niemandem lache ich so fröhlich wie mit Þórarinn.

Beim Pfarrer treffen wir andere Konfirmanden. Sieben Mädchen und vier Jungen. Ich bin am größten und habe die hellsten Haare. Viele der Kinder kennen nur ganz wenige Psalmen. Ich kenne alles, was gesungen wird, und Þórarinn vieles. Wir lernen von Mutter, die bei der Arbeit ununterbrochen singt. Ich sehe, wie sich Þórarinns Augenbrauen immer weiter heben, je mehr wir singen. Sein Lachen und die abstehenden Ohren werden fast eins.

Ich erfahre Neuigkeiten über Magd Magga. Sie ist auf demselben Hof wie Þórgunnur aus unserer Gruppe. Ich bitte sie, Grüße auszurichten, und frage Þórgunnur Löcher in den Bauch, aber sie antwortet kaum, weicht meist aus. Die anderen Kinder stehen im Kreis um uns herum. Still. Neugierig. Ist es bloß ein Hirngespinst, dass sie grinsen? Ist es Einbildung, dass sich einige freuen? Eine Stimme aus der Gruppe fragt mich, ob ich nicht auch an Neuigkeiten über Magnea interessiert sei. Was? Wer ist Magnea?

«Na ja, die Magd auf dem Bali-Hof, die kurz vorm Winter einen Sohn bekommen hat», ruft einer vorlaut.

«Und die gesagt hat, wer der Vater ist», zwitschert ein anderer.

«Willst du mehr wissen?» Die Gruppe bricht in gemeines Gelächter aus.

Ich merke, wie die Röte in meine Wangen schießt und die Knie zu zittern anfangen, doch Þórarinn fragt schnell, ob nicht jemand mit ihm ringen wolle. Im Handumdrehen sind die Jungen in eine Rauferei auf dem Hofplatz verwickelt und lassen erst voneinander ab, als der Pfarrer dazwischengeht. Magga haben alle außer mir vergessen. Magnea auch.

Nachdem wir uns gestärkt haben, machen wir uns auf den Heimweg. Den ganzen Weg über sage ich kein Wort, schaffe es nicht, Þórarinn abzufragen, habe kaum Kraft, mich in Bewegung zu halten. Kann sein, dass Þórarinn versucht, mir etwas zu sagen. Er macht das übervorsichtig, gebraucht Papa gegenüber kein einziges Schimpfwort, doch ich gehe einfach schneller. Will nichts hören.

Unzählige Gedanken schießen mir durch den Kopf: Du sollst nicht töten. Du sollst nicht stehlen. Du sollst nicht ehebrechen.

Der Konfirmationstag ist strahlend. Wir reiten zur Kirche. Ich sitze im Damensattel und habe das Gefühl, viele Jahre älter geworden zu sein. Als ich dort in der Kirche stehe, verliere ich kein einziges Mal den Faden. Zum ersten Mal habe ich eine Tracht an, dieselbe, in der auch Ninna und Gauja konfirmiert wurden. Sie ist so weit, dass ich fast darin verschwinde. Der Katechismus sprudelt nur so aus mir heraus. Ich könnte ihn rückwärts aufsagen, genauso wie die Psalmen. Je länger ich spreche, desto kräftiger wird meine Stimme und desto besser fülle ich die Tracht aus. Auch Þórarinn macht seine Sache gut, aber Þórgunnur gerät immer wieder ins Stocken. Einige der anderen Kinder auch. Da fange ich plötzlich mitten in der Kirche an zu grinsen. Merke, wie sich in mir etwas freut. Da fällt mir Gott ein, der jedes kleinste Detail sieht, ich werde rot und senke den Blick. Lasse meine Augen aus dem Winkel schnell über die Kirchengäste wandern. Kann Magga nicht entdecken. Sehe überall nur ernst dreinblickende Frauen mit schwarzen Schultertüchern. Ob eine von ihnen Magnea vom Bali-Hof ist?

Wieder zu Hause gibt es Kaffee und Pfannkuchen für alle. Sogar die alte Kristbjörg erhebt sich aus den Federn. Sie strahlt, sagt kein einziges Schimpfwort. Schwester Ninna sieht schick aus, ist gekämmt und geschniegelt. Ich befürchte, dass dem Sommerknecht vor lauter Entzücken die Pfannkuchen im Hals stecken bleiben. Jetzt küsst Gauja Þórarinn auf beide Wangen. Als hätte sie ihn erst jetzt plötzlich erblickt. Þórarinn wird tiefrot, und seine Ohren glühen.

An diesem sonnigen Sommertag spielt Papa Akkordeon, und während die Sonne hinter dem Abendgipfel verschwindet, wird im Gesellschaftszimmer gesungen. Þórarinn und ich gehören jetzt zur Christengemeinschaft, und das Leben fängt gerade erst so richtig an.

Das Lächeln und Strahlen, das den kleinen Einar umgibt, folgt mir, wohin ich auch gehe. Selbst wenn er nicht in der Nähe ist, spüre ich seine kräftigen Händchen an meinem Hals. Er möchte uns beiden ein Schloss bauen und ist so überzeugend, dass ich mich mitreißen lasse. Er wird König und ich Königin. Da spielen diese neun Jahre zwischen uns keine Rolle.

Ich denke oft an Magga, kann den Spott der Kinder beim Pfarrer nicht vergessen. Sehe sie vor mir in einem Kreis auf dem Hofplatz. Höre ihre Stimmen und das gemeine Lachen. Halldóra ist nicht geschwätzig. Ich setze mich zu ihr aufs Bett, schlinge meine Arme um ihre Schultern und bitte sie, mir zu helfen, das Weltbild zusammenzufügen. Sie stopft wie besessen, schweigt. Dann sieht sie mich lange an.

«Engelchen. Du bist so groß geworden, und ich weiß, dass ich dir vertrauen kann», sagt sie schließlich. So ernst habe ich Halldóra noch nie gesehen. Sie sucht Satz für Satz. Langsam und vorsichtig.

«Papa, du hast doch nie einem Geächteten die Kehle durchgebissen, oder?», frage ich, als ich ihm bei der Heuernte etwas zur Stärkung bringe.

«Ja, was denkst denn du?» Er ist so stolz, dass er fast abhebt.

Ich antworte nicht, sehe ihm beim Lachen zu.

«Hat köstlich geschmeckt, der Kerl!», fügt er hinzu, lacht und bekommt Schluckauf.

Ich sehe ihn immer noch schweigend an. Habe ich vielleicht gehofft, dass er verneint? Dann ist es, als würde er bemerken, wie ernst ich bin, denn plötzlich fragt er scharf: «Von wem hast du das?»

Ich tue, als würde ich nichts hören. Was Halldóra mir gesagt hat, geht ihn nichts an.

«Was glaubst du eigentlich, wie viele Mädchen gerne einen so starken Mann zum Vater hätten?», fragt er. «Stattdessen müssen sie sich mit Heuhosen und Schwächlingen begnügen.» Er greift nach dem Tabakhorn und nimmt eine kräftige Prise Schnupftabak.

Ich will nicht über die Geächteten sprechen. Etwas ganz anderes brennt mir unter den Nägeln, aber als ich danach fragen müsste, verlässt mich der Mut.

Halldóra wusste noch mehr. Magga hat ein Mädchen bekommen, aber diesmal lief es nicht so gut wie bei Einars Geburt. Papa gab zu, dass er der Vater des Mädchens war, das auf den Namen Valdís getauft wurde und nach einem Monat starb. Daraufhin soll Magga nach Ostisland gegangen sein, für immer gegangen. Einar bleibt bei uns. Immer noch weiß ich nicht, wer Magnea ist, und hoffentlich wird ihr Junge nicht hierher geschickt.

Als ich so dastehe und an Magga denke, weht ihr Duft zu mir. Er ist stark und erfüllt meine Nase. Dann sehe ich Papa an und würde am liebsten schreien: Was denkst du dir eigentlich, wenn du in eine Kirche gehst, auf deiner Bank sitzt und lauthals singst? Hast du die Gebote vergessen? Und wie kannst du das bloß Mutter antun?

Doch ich bringe kein Wort heraus. Der Kloß verstopft meinen Hals. Maggas Duft verschwindet. Ich suche ohne Erfolg die Wolken über dem Gletscher ab, finde weder Pálmar noch Valdís.

«Diese Geächtetengeschichte glaube ich nicht», bringe ich endlich über die Lippen. Versuche, ihn mit festem Blick anzusehen und auch nicht zu zögern, als ich hinzufüge: «Das sagst du nur, um dich zu schmücken.»

«Der Teufel hat mich angegriffen. Ich musste mein Leben retten», antwortet er und baut sich auf.

Papa ist klein und stämmig. Er hat blondes Haar und einen Vollbart. Jetzt röten sich seine Wangen. Dann sieht er jünger aus. Seine Hände sind kräftig, und ich weiß, wie warm sie sein können.

«Das war ein Spiel um Leben und Tod, Engelchen. Wir waren auf dem Weg über einen Gletscher, und es gab ein Unwetter. Sie waren zu dritt, wir nur zu zweit», sagt er und sieht mit entrücktem Blick in Richtung Berge.

«Aber das ist Mord», schreie ich und merke, dass meine Stimme zittert. «Das fünfte Gebot!»

«Nicht, wenn es Selbstverteidigung ist», wirft er schnell ein. «Diesen Abschaum des Leibhaftigen hätte ich noch fester in die Mangel nehmen sollen!»

Während er flucht, sehe ich Mutter vor mir, gewissenhaft, mit groben Gesichtszügen, und ein Stückchen größer als er. In dem Moment wird mir klar, wie unähnlich die beiden einander sind.

«Vielleicht frage ich mal Mutter nach dieser Geächtetengeschichte», sage ich mit ekelhaftem Beigeschmack im Mund.

«Das kannst du dir sparen, Engelchen, das war lange vor ihrer Zeit. Da war ich noch jung und mutig.» Dann streckt er sich, gibt mir den leeren Krug, nimmt die Sense und legt wie mit doppelter Kraft los.

Das war lange vor ihrer Zeit, hallt es in meinem Kopf nach, als ich dort stehe und ihn im Heu schuften sehe. Wann war ihre Zeit?

Ich schaue hoch zum Berg, lasse meine Augen über die Felsenkette bis zum Gletscher und wieder zurück wandern, als würde ich damit rechnen, Geächtete zu Gesicht zu bekommen. Dann drehe ich mich um, mache mich auf den Heimweg und schaue hinaus zum Sander.

«Engel», höre ich ihn von der Wiese hinter mir herrufen. «Was ist denn heute mit dir los?»

Antworte nicht, gehe schneller.

«Ich würde vielleicht nicht direkt sagen, dass ich ihm die Kehle durchgebissen habe, ein bisschen geknabbert habe ich an ihm. Und die Lumpen in die Flucht geschlagen!», ruft er eifrig.

Als wären mir diese Geächteten nicht verdammt egal! Die Wut brodelt in mir, und ich gehe noch schneller. Warum kann ich nicht nach dem fragen, was mir so unter den Nägeln brennt?

Halldóra hat noch mehr gesagt. Als junger Mann kam Papa aus dem Westbezirk. Es hieß, eine Elfenfrau habe sich in ihn verliebt. Er schloss sich ihr an, verschwand spurlos und blieb eine Zeit lang bei ihr. Man suchte nach ihm, schließlich wurde er abgeschrieben. Doch Papa wollte nicht für immer ins Elfenreich ziehen. Eines Tages tauchte er wieder auf. Da erlegte ihm die Elfenfrau einen Fluch auf, der dafür sorgte, dass er niemals Frieden bei einer Frau finden würde. Mit diesem Fluch zog er in den Ostbezirk. Je länger ich über diese Geschichte nachdenke, desto verständlicher wird mir Papas Verhalten.

Am liebsten würde ich ihn schlagen, aber ich weiß trotz allem, dass ich das nicht tun werde. Er ist wieder da, der Kloß in meinem Hals, und ich laufe nach Hause, ohne zurückzublicken.

II