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Corrado Augias

DIE
GEHEIMNISSE
ITALIENS

Roman einer Nation

Aus dem Italienischen von
Sabine Heymann

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Verlag C.H.Beck

Zum Buch

Zahllose Genies, noch mehr Gauner und ein korrupter Staat: Um die rätselhafte Mentalität der Italiener zu ergründen, begibt sich Corrado Augias ebenso charmant wie kurzweilig auf geheime Nebenwege der italienischen Geschichte.

„Wir sind alt, sehr alt. Es sind zum mindesten fünfundzwanzig Jahrhunderte, die wir auf den Schultern das Gewicht hervorragender, ganz verschiedenartiger Kulturen tragen“, sagt der „Gattopardo“ in Lampedusas berühmtem Roman. Die alten Traditionen sind bis heute wirksam, meist aber nur unbewusst. In einer höchst spannenden historischen Spurensuche legt Corrado Augias diese Geheimnisse Italiens frei und erklärt, warum sich viele Italiener, zumal im Mezzogiorno, bis heute mit der Demokratie und der Freiheit so schwer tun. Er beschreibt scharfsichtig die Macht der Familien, das tiefe Misstrauen gegenüber dem Staat und die träge Schicksalsgläubigkeit vieler Italiener – den Nährboden, auf dem die Mafia und korrupte Politiker prächtig gedeihen. Auf seinem Weg vom Mittelalter bis heute und von Palermo bis Venedig versteht er es meisterhaft, von verschütteten historischen Episoden und vergessenen literarischen Monumenten aus die verborgenen Triebkräfte der italienischen Geschichte verständlich zu machen.

„Corrado Augias … erzählt dem Leser die tiefe Wahrheit über Italien, die sich hinter dem Selbstverständlichen verbirgt. Seine ‚Geheimnisse’ eben.“ Dario Fertilio, Corriere della Sera

„Ein Chronist von beneidenswertem Format und ein scharfsinniger Erforscher der italienischen Seele.“ Nello Ajello, La Repubblica

Über den Autor

Corrado Augias, geb. 1935 in Rom, ist einer der bedeutendsten politischen und Kulturjournalisten in Italien, wo er außerdem als Fernsehmoderator, Kriminalschriftsteller und Theaterautor bekannt ist. Bei C.H.Beck erschien von ihm bereits „Die Geheimnisse des Vatikan“ (2011, BsR 2012).

Über die Übersetzerin

Sabine Heymann ist Kulturjournalistin und Übersetzerin mit Schwerpunkt Italien. Seit 2001 ist sie Geschäftsführerin des Zentrums für Medien und Interaktivität der Universität Gießen.

INHALT

AN DIE DEUTSCHEN LESER

DIE ITALIENER, GIBT ES SIE ÜBERHAUPT?
Eine Art Vorwort

I. EIN LAND VOLLER ÜBERRASCHUNGEN
Die Italiener, von außen besehen

II. DE AMICIS’ HERZ UND D’ANNUNZIOS LUST
Die Italiener, von innen besehen

III. LEOPARDI IN ROM
Eine Stadt zum Davonlaufen?

IV. PALERMO CITTÀ MISTERIOSA
Zwischen zwei Welten, vielleicht auch drei

V. MEZZOGIORNO
Die Entdeckung des Südens

VI. NEAPEL
Das Paradies und seine Teufel

VII. FRANZISKUS DER ERNEUERER
«Ich zögerte ein wenig und ging dann aus der Welt …»

VIII. DUCHESSA DI PARMA
Die gute Herzogin

IX. GESICHTER MAILANDS
Der Krieg, der Wiederaufbau, der Boom

X. NICHT NUR GIOTTO UND MICHELANGELO
Die Drohkulisse der Jüngsten Gerichte

XI. LA SERENISSIMA
Shylock und die Erfindung des Ghettos

ANHANG

Danksagung der Übersetzerin

Anmerkungen

Literatur

Bildnachweis

Personenregister

Ortsregister

AN DIE DEUTSCHEN LESER

Dieses Buch ist eher eine Erzählung als ein historischer Essay. Eine Reise durch den Raum und die Zeit – und durch die Literatur, die Raum und Zeit manchmal besser zu erkennen vermag als die Historiker. Es ist auch eine Verbeugung vor dem berühmtesten Ausländer, der die italienische Halbinsel bereist hat, Johann Wolfgang von Goethe, der mit seiner «Italienischen Reise» Maßstäbe gesetzt hat. Er war einer der ersten, die – für immer – einige der Wesenszüge unseres Landes und seiner Bewohner festgehalten haben.

Zu den Prämissen dieses Buches gehört auch Benedetto Croce, der idealistische Philosoph, Freund und Kollege Karl Vosslers, des großen Philologen und Italienkenners, Übersetzers der Divina Commedia. Croce hat auf die Frage, was denn der Charakter eines Volkes sei, geantwortet: «Der Charakter eines Volkes ist seine Geschichte, seine ganze Geschichte.»

Urteile über Italien (und seine Bewohner) zu fällen ist leicht. Alle Vorzüge, alle Fehler des Landes liegen offen zutage, und im Übrigen tun auch die Italiener selbst nichts, um sie zu vertuschen. Das gilt vor allem für die Fehler. Man vergleiche nur, welch breiter Raum der Berichterstattung über Politskandale in den italienischen Zeitungen eingeräumt wird und welch viel geringerer etwa in der französischen oder deutschen Presse.

Hinter den Vorzügen, hinter den Fehlern aber steht die Geschichte, die zu ergründen zum gegenseitigen Verständnis beitragen kann. Unsere Reise durch Italien erzählt von Ereignissen, Personen, dramatischen Momenten, die erlebt und nicht selten erlitten wurden, von dem immensen und permanenten Aufruhr, der die Geschichte der Halbinsel seit den Zeiten des Römischen Reiches geprägt hat. Es soll hier darum gehen, das Italien der Vergangenheit und das der Gegenwart verstehen zu lernen, angefangen bei den Problemen, die aus seiner prekären Geografie erwachsen sind: ein zu langes, zu schmales Land, in dem die Kommunikation immer problematisch gewesen ist und in dem sich Hunderte von Kulturen und Völkern vermischt haben.

Ich schulde Sabine Heymann großen Dank und große Anerkennung. Sie hat sich nicht darauf beschränkt, das Buch zu übersetzen, sondern den Originaltext, wo es notwendig erschien, mit Scharfsinn und Respekt ergänzt, um dem deutschen Leser ein besseres Verständnis und damit auch ein größeres Vergnügen bei der Lektüre dieses «italienischen Romans» zu ermöglichen.

Meine Hoffnung ist, dass dieses Buch für den Leser in vieler Hinsicht eine echte Entdeckungsreise wird und dazu beiträgt, Marcel Prousts Empfehlung umzusetzen, das bereiste Land «mit neuen Augen zu sehen».

Rom, im Juli 2013

Corrado Augias

DIE ITALIENER, GIBT ES SIE ÜBERHAUPT?

Eine Art Vorwort

Ich möchte mit einem Ereignis beginnen, das einen tiefen Eindruck bei mir hinterlassen hat und seine Bedeutung bis heute bewahrt. Eine entfernte Erinnerung, die sich in meinem Gedächtnis aber mit einer Klarheit eingeprägt hat, wie es nur Erlebnissen aus frühester Jugend vorbehalten ist, insbesondere dann, wenn sie sich in einem historischen Moment zugetragen haben. Die Villa Celimontana[1] in Rom ist zwar ein wunderschöner Ort, aber nicht gerade eine Touristenattraktion. Die Anlage mit dem Palazzo Mattei ist zu Unrecht viel weniger berühmt als die Villa Borghese oder der Gianicolo, denn der Park mit den von römischen Ruinen gesäumten Wegen, den Wäldchen, dem kleinen versteckten Obelisken, der Renaissance-Palazzina, in der heute die Italienische Geografische Gesellschaft ihren Sitz hat, mit der Fassade direkt gegenüber den gewaltigen Ruinen der Caracalla-Thermen – all dies macht die Villa Celimontana zu einem der zauberhaftesten Ensembles, die die Stadt jedem zu bieten hat, der sie aufzuspüren weiß. Es ist einer der in Rom gar nicht so seltenen Orte, an denen neoklassische und romantische Stilelemente ineinander übergehen und kaum noch zu unterscheiden sind.

Die Villa erhebt sich, wie schon der Name sagt, auf dem Gipfel des Caelius, einem der sieben Hügel Roms. Einst von Weingütern bedeckt, verwandelte ihn die Familie Mattei im 16. Jahrhundert in eine Oase aus Gärten und ländlicher Idylle. Der Haupteingang grenzt an die Basilika Santa Maria in Domnica (auch: Santa Maria alla Navicella), eine der alten frühchristlichen Basiliken, die so viel schöner sind als die barocken Prachtkirchen, die später das Stadtbild dominieren sollten. Ich kann einen Besuch dort nur empfehlen.

Im Juni 1944 hatten die Amerikaner die Villa Celimontana besetzt und dort eines ihrer Lager aufgeschlagen. Sie thront am oberen Ende der abschüssigen Via Navicella und ist von einer robusten Backsteinmauer umgeben, die das Straßenbild bestimmt. Dass sie zum Quartier der Truppe auserkoren wurde, lag also nahe: Hinter der Mauer befanden sich Zelte, Baracken, die unvermeidliche Fahnenstange mit dem Stars-and-Stripes-Banner, Trompetensignale und alles, was zu einem Militärlager gehört. Diese Flagge war übrigens die erste, die ich auf Halbmast wehen sah. Meine Mutter erklärte mir, warum: «Der amerikanische Präsident ist gestorben», sagte sie. Es muss also im April 1945 gewesen sein. Am 12. des Monats war Franklin Delano Roosevelt gestorben, der Mann, der sein Land durch den endlosen Krieg geführt hatte.

Das Ereignis aber, dessen Erinnerung ich heraufbeschwören möchte, liegt noch weiter zurück und ist von ganz anderer Art. Es war an einem weder besonders kalten noch besonders warmen Sonntag, vermutlich im Herbst 1944, als die Stadt nach dem Ende der deutschen Besetzung wieder zu leben versuchte. An der Hand meiner Mutter ging ich nach dem Besuch bei einer Freundin nach Hause. Über die Mauer der Villa Celimontana gelehnt sah ich eine Gruppe amerikanischer Soldaten in Feierlaune, in ihren schönen Uniformen mit den scharfen Falten, die das Bügeleisen auf den Hemden hinterlassen hatte. Ich war an den Anblick unserer Infanteristen gewöhnt, mit ihren ausgebeulten Hosen, deren Bügelfalten meist plattgedrückt waren, mit ihren Uniformen aus unnötig schwerem, grobem Tuch. Diese frisch gebügelten Hemden, die chicen Gürtel aus solidem Khaki-Geflecht, der Duft von Seife, Tabak, Brillantine, das alles kam mir vor wie der Gipfel der Eleganz, ja: echten Reichtums. Wie sie von da oben auf uns herabsahen, schienen sich diese Soldaten köstlich zu amüsieren. Sie warfen Zigaretten auf die Straße, die sie einzeln aus der Packung zogen. Eine Zigarette, noch eine Zigarette, ohne Hast, zwischen einem Zug und dem nächsten. Zu Füßen der Mauer eine dichtes Knäuel italienischer Jugendlicher, die bei jedem Wurf laut aufschrien und sich, die anderen beiseite stoßend, genau dahin stürzten, wo die Zigarette am Boden landen musste. Ein bisschen Spiel, ein bisschen Wettstreit, ein bisschen Gerangel, Tumult. Meine Mutter zerrte mich weg und beeilte sich, auf die andere Straßenseite zu kommen, und wahrscheinlich blickte ich mich um, weil ich das Spektakel sehen wollte – um es dann in einem Schlupfwinkel der Erinnerung lange Zeit zu vergessen.

Viele Jahre später, wieder an einem Sonntag, ging ich mit meiner Tochter in den Zoo. Vor einem der Käfige warfen die Besucher, auch sie in sehr ausgelassener Stimmung, mit Nüssen nach den Affen. Die Analogie der Bewegungen ließ die weit zurückliegende Erinnerung wieder hochkommen. Nicht dass ich die armen jugendlichen Römer von 1944 auch nur im Entferntesten mit den Affen vergleichen will. Die Erinnerung kam hoch, weil den Verhaltensweisen eine ähnliche Rollenverteilung zugrunde lag: eine Mischung aus Spaß und Komplizenschaft, Spiel und Wettstreit, auf der einen wie der anderen Seite.

Wiederum viele Jahre später, als ich über die Geschichte Roms arbeitete, bin ich über Vergils hinreißende Verse aus dem 6. Buch der Aeneis gestolpert. Aeneas hat den Schatten seines Vaters getroffen und vergeblich versucht, ihn zu umarmen. Anchises erklärt ihm die Theorie der Zyklen, auf der das Universum beruht, und prophezeit die großen Männer, die von ihm abstammen werden. Er fügt hinzu, dass andere Völker durch Künste und Wissenschaften Ruhm erlangen, die Römer dagegen die Welt dank der Weisheit der Gesetze regieren werden: «Tu regere imperio populos, Romane, memento (hae tibi erunt artes) pacique imponere morem, parcere subiectis et debellare superbos» – «Du aber, Römer, bedenke, dass du mit deiner Macht die Völker lenken sollst! Darin wird deine Kunstfertigkeit bestehen. Und in den Frieden sollst du Gesittung pflanzen, schonen die Unterlegenen und die Anmaßenden mit Krieg überziehen.»[2]

Natürlich haben die Amerikaner uns geschont nach dem unsinnigen Krieg, der ihnen durch Mussolini im Dezember 1941 in einem Moment von Leichtsinn und geistiger Umnachtung erklärt worden war. In meiner Erinnerung aber hatten diese unbekümmerten Soldaten, die sich langweilten, weil sie den Sonntag im Lager verbringen mussten statt in ihren frisch gebügelten Hemden auf der Jagd nach schönen Mädchen durch die Stadt zu ziehen, eine wohl unbewusste Art gefunden, mit ein paar Zigaretten klarzumachen, wer hier den Krieg gewonnen und wer ihn verloren hatte – trotz der uneindeutigen Position als «Alliierte» der letzten Stunde.

Parcere subiectis, die Unterlegenen schonen, gewiss, aber mit den subiecti kann man ruhig auch ein bisschen Spaß haben.

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«Geheimnis» ist ein großes Wort, noch dazu, wenn es sich um die «Geheimnisse Italiens» handelt, mit allem, was sich über die Jahrhunderte in diesem Land ereignet hat. Eine Bibliothek würde nicht ausreichen, sie alle zu erzählen, wenn man bedenkt, dass allein von den hundert Rätseln des 20. Jahrhunderts fast alle ungelöst geblieben sind. In unserem Falle muss das Wort «Geheimnis» jedoch eines Teils seiner Emphase entledigt und in seiner Dimension reduziert werden. Aus den unzähligen Geheimnissen der Geschichte Italiens aber kann man sich eines aussuchen, das Geheimnis aller Geheimnisse, und das lässt sich schlicht so zusammenfassen: Warum sind die Dinge so gelaufen, wie sie gelaufen sind? Warum gibt es in der Geschichte dieser Halbinsel eine so ungewöhnliche Häufung von Irrungen und Wirrungen, Leidenschaften, Katastrophen und verpassten Gelegenheiten? Und warum hat gleichzeitig ausgerechnet dieser schmale Landstreifen, der wie hingeworfen ins Mittelmeer hineinragt und eine gefährliche, problematische Nahtstelle zwischen Balkan, Nordafrika und Europa bildet, eine so große Zahl an Genies hervorgebracht? Was ist so besonders an Italien, dass es, so lange man denken kann, in einem außergewöhnlichen Maße das Interesse der Ausländer auf sich zog, mal schwärmerisch, mal feindselig, mal verächtlich? Mit anderen Worten, aus welchem Grund ist dieser «Roman einer Nation» so abenteuerlich und kontrovers? In der internationalen Wertschätzung ist der Kurswert Italiens ähnlichen Schwankungen unterworfen wie die Börsenkurse in schwierigen Zeiten: Er kann sehr hoch steigen, aber auch sehr tief fallen.

Für diese Schwankungen sind an allererster Stelle die Italiener selbst verantwortlich, die sich über ihre Rolle nicht ganz im Klaren sind. Wer sind die Italiener? Die Emigranten, die in fernen Ländern mit einem Sack voller Lumpen auf dem Buckel an Land gingen? Die armen Schlucker, die sich für ein paar Groschen zu den niedrigsten und gefährlichsten Arbeiten verdingten? Oder die brillanten Architekten, die großen Stilisten, die überragenden Künstler, denen die Bewunderung der ganzen Welt zuteil wurde? Es gibt – zumindest in Europa – kein zweites Volk, das sich in solchen Extremen bewegt hat. Das ist unser eigentliches Geheimnis, das (fast) alle übrigen Geheimnisse einschließt. Gibt es eine Methode, mit der man zumindest versuchen kann, ihm auf den Grund zu gehen?

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Italien ist ein Land, das aus Städten besteht. Großen und kleinen, ruhmreichen und berüchtigten, die aber alle unsere Aufmerksamkeit verdienen, vor allem wegen der geballten Ladung an Vergangenheit, die sie bewahren; manch einer spricht sogar von einem Übermaß an Vergangenheit. Wenn man Frankreich Paris wegnimmt und Großbritannien London, bleibt nicht allzu viel übrig. Wenn man Italien dagegen Rom wegnimmt, bleibt noch ziemlich viel. Deshalb sind in diesem Roman einer ganzen Nation die hundert Romane ihrer hundert Städte enthalten, Romane nicht nur als Metapher, sondern im eigentlichen Sinne, also die durch Geschichten und Figuren der Literatur erzählten Geschichten.

Dieses Buch beginnt mit den Italienern, von außen besehen: mit den Augen der ausländischen Reisenden. Gleich darauf werden die Italiener von innen besehen: durch die Brille zweier Ausnahme-Bücher, Romane, deren Helden das kollektive Bewusstsein der Italiener nachhaltig geprägt haben. Sind das Geschichtsbücher? Im engeren Sinne nicht; vielleicht sind sie aber noch wichtiger, denn die Romanfiguren sind Archetypen der Italiener, deren Nachfahren sich bis in unsere Tage unter uns tummeln, man kann ihnen jeden Tag irgendwo begegnen, im Bus oder in den Zeitungsnachrichten.

Über Rom und Mailand, die beiden Hauptstädte, ist viel geschrieben worden. Es ist also nicht ganz einfach, einen Zugang zu finden, der nicht bereits ausführlich unter die Lupe genommen wurde. Aber nicht unmöglich. Die großen Städte sind riesige Geschichten-Archive, Orte, wo selbst die Mauern sprechen. Über Rom wird Giacomo Leopardi erzählen. Wie er diese Stadt sah, als er dort auf dem weitläufigen, heruntergekommenen Anwesen der Verwandtschaft seiner Mutter zu Gast war, in den traurigen Jahren der Restauration, als das Papsttum nach den Revolutionen am Ende des 18. Jahrhunderts gerade wieder Atem geschöpft hatte und ein Dichter wie Giuseppe Gioachino Belli, der große Spötter und Lästerer, sich als päpstlicher Zensor verdingen musste, um sein Leben zu fristen. Mailand dagegen wird uns aus einer Perspektive gezeigt, die marginal erscheinen mag, es aber nicht ist, in einer Momentaufnahme der Zeit direkt nach 1945, als es die Mailänder und ganz allgemein die Italiener schafften, aus Trauer und Ruinen heraus einen Boom in Gang zu setzen, der die Physiognomie Italiens grundlegend verändern sollte – und ein wenig auch den Charakter des Landes. Die Energie, die Visionen dieser Jahre wirken im Lichte der dumpfen Mittelmäßigkeit, der Kurzsichtigkeit und Resignation zu Beginn dieses 21. Jahrhunderts schier unglaublich. Es hat sie aber gegeben, sowohl die Energie als auch die Visionen. Mit verschlissenen Kleidern am Leib und abgemagert bis auf die Knochen ist es den Italienern gelungen, alles gleichzeitig wiederaufzubauen: die Häuser, die Fabriken, die Kultur und die Zivilgesellschaft mit dem Wunder der Verfassung.

Dann ist da das weite, ganz Unteritalien umfassende Gebiet, das einmal Königreich beider Sizilien hieß, bis zur Einigung Italiens der größte und zugleich ärmste Teilstaat, aus dem nach 1861 der Mezzogiorno wurde. In dem Kapitel über den Süden stößt der Leser möglicherweise auf einige echte Überraschungen. Wenn er zum Beispiel die Berichte und Ergebnisse der parlamentarischen Untersuchungen kurz nach der Einheit Italiens liest, als die in den Süden versetzten Piemonteser Beamten und Funktionäre unverhohlen ihre Besorgnis darüber zum Ausdruck brachten, welcher Einsatz und welcher Aufwand an Ressourcen erforderlich wären, um die katastrophalen Zustände in der Region zu beheben – ein Fass ohne Boden. Im Jahre 2011 sind anlässlich der 150-Jahr-Feier der nationalen Einheit Italiens einige Publikationen erschienen, die die Geschichte des Risorgimento aus der Perspektive des Südens neu erzählt haben. Diesen sudisti zufolge haben die Piemonteser den Mezzogiorno Italiens kolonisiert und ausgeplündert und damit zur Unterentwicklung verdammt. Das ist aus der Luft gegriffen, kann aber als Symptom für die politische Stimmung im Land gelten. Unter anderem wird von den sudisti behauptet, die Piemonteser hätten den gewaltigen, in den Banken Süditaliens gelagerten Staatsschatz des Königreichs beider Sizilien geraubt und in den Norden verbracht. Ernstzunehmende historische Quellen belegen oder erwähnen das nicht. Wenn die Geschichte stimmt, ist das natürlich ein äußerst schwerwiegender Tatbestand. Ich füge aber hinzu, dass die Bourbonen, selbst wenn die Geschichte nicht stimmt, deshalb nicht etwa entlastet sind. Denn über einen gewaltigen Staatsschatz zu verfügen und ihn im Tresor zu lassen, wäre angesichts des Elends und der miserablen Lebensbedingungen der Bevölkerung des Mezzogiorno bei Garibaldis Ankunft – es herrschte eine unvorstellbare Armut bei einer Analphabetenquote von 87 Prozent – sicher nicht weniger gravierend als eine Überführung dieser Ressourcen nach Turin.

Nehmen wir eine Stadt wie Parma, die man aufgrund ihrer geografischen Lage, des Einkommens ihrer Bewohner, der Qualität ihrer Produkte mit Fug und Recht eigentlich als vom Glück verwöhnt bezeichnen kann. Stattdessen ist sie auf obskure Weise korrumpiert durch die beinahe irrsinnigen Vorkommnisse der letzten Jahre. Parmalat, einer der größten Lebensmittelkonzerne Europas (Milch und Milchprodukte), vom eigenen Gründer und Eigentümer um Hunderte von Millionen Euro betrogen; eine skandalös unfähige Stadtverwaltung mit einem Lackaffen an der Spitze, dessen Leichtfertigkeit schon an Gewissenlosigkeit grenzt – inzwischen steht er unter Hausarrest, die Staatsanwaltschaft ermittelt wegen Veruntreuung öffentlicher Gelder und Korruption. Eine gewisse Tendenz zum Wahnsinn bleibt in diesem Falle nicht auf ein einzelnes Individuum und einige seiner Familienangehörigen beschränkt, denn immerhin wurde er von einer ausreichend großen Anzahl von Bürgern zum Bürgermeister gewählt. Als Reaktion darauf folgte eine Stadtverwaltung, die man vielleicht als innovativ bezeichnen könnte, die vielleicht aber auch nur exzentrisch ist.[3] Und doch hat Parma in der Vergangenheit Persönlichkeiten und Geschehnisse vorzuweisen, die aus der Stadt einen der faszinierendsten kleinen Höfe Europas gemacht haben, einen mythischen Ort des Geistes, was Stendhal erkannt hatte, als er in seinem Roman Die Kartause von Parma mit Fabrizio del Dongo einen der Protagonisten der Weltliteratur schuf. Wieder einmal sind es Bücher von solchem Niveau, die uns das Porträt einer idealisierten Stadt liefern.

Die Art und Weise, wie die Republik Venedig, La Serenissima Repubblica di San Marco, unterging, ist von schmerzhaft exemplarischem Charakter. Unter dem Eindruck der aktuellen Situation könnte man in einem Anfall von Pessimismus versucht sein, darin ein Modell für die gesamte wechselvolle Geschichte Italiens zu sehen: die Unfähigkeit, die Egoismen des Kastendenkens zu überwinden, den engen Horizont des unmittelbaren Eigeninteresses, der selbst in den Momenten der schlimmsten Krise nicht aufgebrochen und erweitert wurde. Die einstige Seehandelsmetropole war nach dem militärischen und ökonomischen Niedergang für Napoleon während seines Italienfeldzugs eine leichte Beute. Kampflos wurde sie von ihm den Österreichern überlassen in einem Kuhhandel, auf dessen Aktivseite nichts als die Gründung der Cisalpinischen Republik stand. Möglicherweise lag diesem Tauschgeschäft Weitsicht zugrunde, womit es zu einer Art Präambel für die spätere Einheit Italiens würde – und dies wäre nicht der schlechteste Aspekt. Der schlechteste aber ist die Art und Weise, wie diese Abtretung, oder der Verrat, erfolgte: der Doge verängstigt, die Stadtaristokratie rückgratlos, das Volk ohnmächtig. Hinzu kamen die widersprüchlichen Befehle, die Untätigkeit, die Flucht – typisch auch für andere Momente der italienischen Geschichte. Zum Beispiel der 24. Oktober 1917, Beginn der Schlacht von Caporetto, der letzten von zwölf blutigen Auseinandersetzungen zwischen Italien und Österreich-Ungarn im Ersten Weltkrieg (die sogenannten Isonzoschlachten), die mit der schlimmsten Niederlage endete, die Italien jemals hinzunehmen hatte. «Caporetto» bedeutet deshalb im italienischen Sprachgebrauch heute das, was «Waterloo» im Deutschen ist: ein Synonym für vernichtende Niederlage.[4] Oder der 8. September 1943, als Mussolinis Nachfolger im Amt des Ministerpräsidenten, Pietro Badoglio, einen einseitigen Waffenstillstand mit den Alliierten schloss und Italien aus dem Krieg ausstieg, mit der Folge, dass die deutschen Truppen das Land besetzten. Ippolito Nievos großer Roman Le confessioni di un italiano (Die Bekenntnisse eines Italieners)[5] über die Katastrophe von Venedig ist sehr aufschlussreich; mit erschreckender Präzision leuchtet er die historische und die menschliche Dimension des Desasters aus.

Bei Palermo ist der Diskurs ein anderer. Jede italienische Stadt hat ihre ganz eigene Geschichte, und die Geschichte Palermos ist von dem Meer bestimmt, an dem es liegt – und das ist nicht nur räumlich Welten entfernt von der nördlichen Adria. Ich spreche nicht so sehr über das Palermo der Mafia und der Attentate, von denen die Titelseiten der Zeitungen voll sind. Mein eigentliches Interesse richtet sich auf die alte Geschichte der Stadt, die mit den Römern und Griechen beginnt und den Arabern, den Normannen, den Anjouern, den Bourbonen und schließlich den Piemontesern weitergeht – und ihre Gegenwart vorwegnimmt. Ich meine ihre sprichwörtlich gewordene vena di follia, den «Wahnsinn», der ihr «im Blut» steckt, den man dort immer wieder findet, angefangen bei den Aristokraten in ihren pompösen, baufälligen Residenzen, die ihr Vermögen beim Spiel oder mit Tänzerinnen und Chansonetten, den demi-mondaines, durchbrachten und die launenhaft waren wie Kinder. Der «Wahnsinn» übertrifft hier jede individuelle Dimension, er findet seine Erklärung einzig in jener corda pazza, der «verrückten Uhrfeder» oder der «verrückten Saite» der Sizilianer, über die von Pirandello bis Sciascia so viele Schriftsteller und Intellektuelle geschrieben haben.[6]

Palermo ist eine von düsterer, pathetischer oder, wenn man so will, zügelloser Religiosität durchdrungene Stadt, mit Traditionen, die schon so lange bewahrt und überliefert werden, dass sie zu einem Teil der kollektiven Identität geworden sind, sich in eine Art zweite Natur verwandelt haben. Ernst Bloch spricht von Ländern mit einem «Überschuss an Vergangenheit». Über das hinaus, was von der Vergangenheit vergangen sei, gebe es da noch «jenen unabgegoltenen Überschuß an Zukunft in der Vergangenheit», schreibt Bloch.[7] Dabei dachte er gewiss nicht an Palermo, doch kann man seine Aussage gut auf die sizilianische Hauptstadt anwenden, so sehr ist dieser Überschuss an Vergangenheit in der Stadt mit Händen zu greifen.

Aus den zahlreichen Quellen zu Art und Umfang der (geheimen) historischen Verflechtungen zwischen den Städten der Halbinsel möchte ich an dieser Stelle nur eine Episode herausgreifen: Als der große Kaiser Friedrich II. («stupor mundi» – «Staunen der Welt») 1248 in Parma eine entscheidende Schlacht verlor, bemächtigten sich die Einwohner seines Harems, der ihm überallhin gefolgt war, und teilten alle 300 Konkubinen unter sich auf. Die Konkubinen des Kaisers, die aus ganz Europa nach Palermo gekommen waren, endeten also in Parma.[8]

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Die oben zitierten Verse Vergils verweisen auf die Methode, mit der die Geschichten dieses Buches erzählt werden. Immer wieder habe ich die Geschichte, die sich real ereignet hat, mit den Geschichten aus der Literatur vermischt. Der Literatur gelingt es nämlich, auch wenn sie aus Phantasie gewebt ist, die Realität zu potenzieren, und das ist ihre Stärke. Attilio Brilli, der große Reiseliteratur-Experte, hat in seinem Buch In viaggio con Leopardi (Reise mit Leopardi) bemerkt, die Seite eines Buches könne ein Instrument sein, mit dem man sich auch durch die Zeit bewegt:

[Die] Seite eines Buches kann für uns Reisende durch eine gleichförmige Welt, in der die Unterschiede auf Null reduziert sind, zum besten Reisepass werden. Einen Ort zu besuchen wird dann also bedeuten, sich jenseits des Augenscheins, des Selbstverständlichen zu begeben, um das Echo der Erinnerungen zu hören, die sich dort verdichtet haben, ihn also mit unseren Augen zu betrachten und gleichzeitig mit den entfernten Blicken derer, die uns vor langer Zeit zuvorgekommen sind, mit ihren Vorlieben, ihrem Geschmack, in einem faszinierenden Spiel von Verdoppelungen und Rekompositionen.[9]

Der Name Giacomo Leopardis fällt hier nicht von ungefähr, wie man im Kapitel über Rom gut sehen wird. Der Dichter, so kränklich er auch war, reiste viel, ließ sich tagelang auf scheußlichen Straßen in extrem unbequemen Karossen durchrütteln. Auf all seinen Wegen begleitete ihn eine Unzufriedenheit, gegen die er nur eine einzige Arznei kannte. Am 23. Juli 1827 schreibt er:

Da ich öfters meinen Aufenthaltsort gewechselt habe und dort länger, hier kürzer, Monate oder Jahre, verweilt habe, ist mir aufgefallen, dass ich mich niemals zufrieden, nie in meinem Element, nirgendwo heimisch fühlte, mochte der Ort auch vorzüglich sein, solange ich nicht bestimmte Erinnerungen mit diesem Orte verknüpfen konnte – mit den Räumen, die ich bewohnte, mit den Gassen, mit den Häusern, in denen ich verkehrte; und diese Erinnerungen bestanden nur darin, sagen zu können, hier war ich vor so langer Zeit; hier tat, sah, hörte ich dies vor so vielen Monaten – etwas, das sonst ohne jede Bedeutung sein mochte; doch die Erinnerung, das Mich-entsinnen-Können machte es mir wichtig und lieb.[10]

Die «Erinnerungen» als Raster, das er braucht, um sich nicht in einer unkontrollierbaren Dimension zu verlieren – Erinnerungen und Phantasien, die er «Vorspiegelungen» oder «Illusionen» nennt. 1828, im Alter von dreißig Jahren, notierte er im Zibaldone (etwa: Sammelsurium) den folgenden Gedanken:

Für einen mit Empfindungs- und Vorstellungskraft begabten Menschen, der – wie ich während langer Zeit – auch beständig in seinen Empfindungen und Vorstellungen lebt, ist die Welt, sind die Gegenstände gewissermaßen doppelt. Mit den Augen sieht er einen Turm, eine Landschaft; mit den Ohren hört er den Klang einer Glocke; und gleichzeitig sieht er in seiner Vorstellung einen anderen Turm, eine andere Landschaft und hört einen anderen Klang. In dieser zweiten Ordnung der Dinge liegt all ihre Schönheit und Annehmlichkeit.[11]

In diesem Sinne hilft die Phantasie, die Realität besser zu erkennen, und sie kann Geschichte gewinnbringend in einen Roman verwandeln, nicht um die Ideen durcheinanderzuwirbeln, sondern um sie zu klären.

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Dieses Buch ist eine Reise durch die Zeit, die Geschichte, die Literatur, inspiriert auch von den Berichten der großen Reisenden, den Gründen, die sie zum Reisen bewegt haben, den Spuren, die sie in ihren Texten hinterlassen haben. 2008 ist bei Mondadori ein Merian erschienen, das den italienischen Reiseschriftstellern der Jahre 1700–1861 gewidmet war, mit einem schönen Vorwort von Luca Clerici.[12] Hier habe ich einige kuriose Ansichten über das Reisen gefunden. Zum Beispiel in den Abenteuern Vincenzo Coronellis, der eine bizarre Persönlichkeit war, Franziskanerbruder, aber auch Kartograph und Enzyklopädist. Zwischen 1681 und 1683 konstruierte er in Paris, wo sich der unternehmungslustige Frater eigens hinbegeben hatte, im Auftrag des Sonnenkönigs Ludwigs XIV. zwei riesige Globen. Auf dem ersten, einem Erdglobus mit einem Durchmesser von beinahe vier Metern, ist unser Planet mit den zur damaligen Zeit bekannten Ländern und Erdteilen dargestellt. Der zweite ist ein Himmelsglobus mit einer Abbildung der Konstellationen im Augenblick der Geburt des Königs. Diese beiden ausgeklügelten Geräte, die zusammen ein Gewicht von rund vier Tonnen haben, gehören heute zur Sammlung der französischen Nationalbibliothek. Der ruhelose Frater macht eine interessante Bemerkung über die Nützlichkeit des Reisens. Es diene dazu, «den Genius der Nationen kennenzulernen, ihre Gesetze, ihre Manufakturen, ihre Gebräuche». Dies also ist ein möglicher Nutzen: sich anderen Erfahrungen zu öffnen oder, wie wir es heute lieber ausdrücken, anderen Kulturen.

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Vincenzo Coronelli konstruierte 1681–1683 zwei Globen für Ludwig XIV.: Der eine ist ein Erdglobus und stellt unseren Planeten mit den damals bekannten Ländern und Erdteilen dar; der andere, ein Himmelsglobus, zeigt die Konstellationen zum Zeitpunkt der Geburt des Königs.

Ganz anderer Ansicht ist der Dichter und Literat Ippolito Pindemonte, der sich in seinem satirischen Diskurs I viaggi («Die Reisen») Ende des 18. Jahrhunderts als überzeugter Verfechter der Sesshaftigkeit outet: «Glücklich, wer nie einen Fuß außerhalb seines Geburtslandes setzte!» Doch es gibt auch Carlo Silvestri, einen Adeligen aus Rovigo, in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts Autor eines Werkes mit dem ellenlangen Titel Istorica e geografica descrizione delle antiche paludi Adriane, ora chiamate Lagune di Venezia, e del corso di que’ fiumi, che i varj tempi hanno contributto al loro interramento (Historische und geografische Beschreibung der alten adriatischen Sümpfe, heute Lagune von Venedig genannt, und des Laufs jener Flüsse, die zu unterschiedlichen Zeiten zu ihrer Trockenlegung beigetragen haben), – dann folgt noch der Untertitel –, dem Bischof von Adria gewidmet. Darin bekundet er seine Neigung zu Reisen, sofern sie zielgerichtet sind. Dagegen lehnt er Reisende ab, die

… schwitzen und sich abplacken, um mit dem größten Eifer Kunde … aus Indien, Japan, Neuseeland, Australien und anderen eher märchenhaften als bekannten Orten zu erlangen, sich aber nicht darum scheren (eine schwerwiegende Nachlässigkeit), die Ereignisse und Katastrophen in Erfahrung zu bringen, die dem eigenen Vaterland zugestoßen sind; die sie so sehr ignorieren, dass sie überhaupt nichts darüber wissen, fast als würden sie zu einem unbekannten, in den imaginären Räumen des Mondes gelegenen Lande befragt.

Dies also mit den Worten des heute vergessenen Silvestri eine weitere bemerkenswerte Ansicht über das Reisen beziehungsweise die «echte Entdeckungsreise», die, wie der bereits zitierte Marcel Proust in seinem großen Romanwerk schreibt, «nicht darin besteht, neue Länder zu suchen, sondern diese mit neuen Augen zu sehen». Die echte Reise also liegt zwischen Phantasie und Realität, und es ist nicht gesagt, dass die sogenannte Realität immer der wichtigere Aspekt ist. In Italien ist die Vergangenheit, wie ich bereits gesagt habe, von solchem Gewicht, dass man sie nur selten beiseite lassen kann, wenn man ernsthaft um Verstehen bemüht ist.

Ich habe weit ausgeholt und bin verschlungene Wege gegangen, um am Ende wieder zur Anfangsfrage der «Geheimnisse» zurückzukehren. Dieses Buch erzählt Geschichten über Orte, Personen, Charaktere, reale und imaginäre Momente, die den Chroniken und der Literatur entnommen wurden. Genauso gut könnten es andere Quellen sein, genauso gut könnten es zwei- oder drei- oder hundertmal so viele Erzählungen sein. Die italienische Geschichte ist von einer so dramatischen Reichhaltigkeit, dass sich Beispiele wie die auf den Seiten dieses Buches in Hülle und Fülle finden ließen. Tausende von Jahren, Millionen von Protagonisten, Dutzende von Heeren, Hunderte von Städten, ganze Zivilisationen, die auf diesem winzigen Fleckchen Erde, «dem schönen Land, welches der Apennin teilt und das Meer und die Alpen umgeben»,[13] um es mit Petrarca zu sagen, geboren und gestorben, entstanden und vergangen sind. Ich habe also eine sehr persönliche, eine willkürliche Auswahl getroffen, beeinflusst von Eindrücken, Erinnerungen, Jugendlektüren. Das einzige, sagen wir: objektive Kriterium war ein gewisses Gleichgewicht zwischen dem Norden, dem Zentrum und dem Süden in diesem so langen und schmalen Land.

Es reicht eben nicht, wenn man sich Italien ansieht, wie es heute ist. Wer wirklich verstehen will, muss sich den vielen Ereignissen der Vergangenheit, Leopardis «Schimären», nähern auf einer Reise, die sich sowohl im Raum als auch in der Zeit vollzieht.

I. EIN LAND VOLLER ÜBERRASCHUNGEN

Die Italiener, von außen besehen

George Gordon Byron kommt im November 1821 in Pisa an, wohnt im Palazzo Lanfranchi am Ufer des Arno und findet sofort Anschluss in dem kultivierten und exzentrischen Kreis um das Ehepaar Shelley, zu dem auch die Geschwister Teresa und Pietro Gamba gehören. Die Zeit verbringt er aufs Angenehmste mit literarischen Aktivitäten, langen Ausritten, Tontaubenschießen auf einem Anwesen außerhalb Pisas. Im Dezember 1821 schreibt er an seinen Verleger und Freund John Murray:

Ich bin hier in einen berühmten alten, feudalen Palazzo geraten, am Arno, groß genug für eine Garnison, mit Verliesen unten und Zellen in den Mauern und so voll von Geistern, dass der gelehrte Fletcher (mein Kammerdiener) um Erlaubnis gebeten hat, sein Zimmer zu wechseln, und dann weigerte er sich, sein neues Zimmer zu bewohnen, weil es da noch mehr Geister gebe als in dem anderen. Es ist ganz richtig, dass es die ungewöhnlichsten Geräusche gibt (wie in allen alten Gebäuden), die die Diener derart erschreckt haben, dass es für mich extrem lästig war.[1]

Ein Geist hat sich sehr lange herumgetrieben, und im Bewusstsein der Italiener treibt er sich noch heute herum: Es ist die Art und Weise, in der sie als Volk von außen, von den Ausländern betrachtet und beschrieben werden. Die Italiener bewohnten die langgestreckte Halbinsel seit langem, lange Zeit vor der Proklamation des Königreichs Italien. Wenn man streng und ein wenig provokatorisch sein wollte, könnte man Massimo d’Azeglios Prophezeiung «Pur troppo s’è fatta l’Italia, ma non si fanno gl’Italiani.» – «Italien ist geschaffen, aber leider schafft man nicht die Italiener» umkehren: Es waren die Italiener, die schon geschaffen waren, aber nicht Italien – was noch zu schaffen war, waren also nicht sie, die Italiener, sondern eben Italien.[2]

Externe Beobachter der italienischen Halbinsel waren sich dieser Tatsache immer bewusst. Sie waren imstande, gewisse Verhaltenskonstanten der Bewohner zu erkennen in einer geografischen und gesellschaftlichen Wirklichkeit, die zerklüftet, widersprüchlich, in gewissen Aspekten faszinierend, in anderen dagegen abstoßend wirkte. Dabei war der Abstand zwischen einem sehr positiven und einem sehr negativen Pol so groß wie sonst fast nirgendwo in Europa. Kein anderes Volk hat jemals so gegensätzliche Bewertungen erfahren, auch deshalb, weil kein anderes Volk sich selbst so gegensätzlich bewertet hat.

Die Art und Weise, wie die Ausländer die Italiener gesehen haben, ist also zu einem Gutteil die logische Konsequenz der Art und Weise, wie die Italiener sich selbst gesehen haben. Das war früher nicht anders als heute, und heute kann man das unter anderem daran sehen, dass Urteile über Italien, die von Zeit zu Zeit von «maßgeblichen» Publikationsorganen im Ausland gefällt werden, im Allgemeinen auf Beobachtungen und Einschätzungen beruhen, die vorher schon in italienischen Zeitungen zu lesen waren.

Vor etlichen Jahren haben Studenten der Princeton University, nach einer Definition der italienischen Wesensart befragt, mit breiter Mehrheit die folgenden drei Adjektive gewählt: artistic, impulsive, passionate. Die sozialpsychologische Untersuchung, zu der die Antworten gehörten, liegt zwar schon fast dreißig Jahre zurück, ich glaube aber nicht, dass sich das Urteil seither wesentlich geändert hat, nicht zuletzt deshalb, weil es zweihundert Jahre zuvor auch nicht sehr viel anders ausgefallen war – in einigen Fällen sogar noch krasser, da Impulsivität und Leidenschaftlichkeit meist auf Verbrechen, Verrat, Korruption bezogen wurden. Ich habe diese Untersuchungsergebnisse bereits in einem meiner vorhergehenden Bücher zitiert, und ich wiederhole sie hier, weil ihre Gültigkeit, wie auch immer man diese bewerten mag, auch durch meine eigenen Erfahrungen während langjähriger Auslandsaufenthalte bestätigt wurde. Diese oder ähnliche Adjektive in Bezug auf Italien habe ich immer wieder gehört. Lucio Sponza, ein aus Venedig stammender, in England lehrender Ökonomie-Professor, hat sich lange Zeit mit der Frage beschäftigt, aufweiche Weise und mit welchem Resultat sich im 19. Jahrhundert in Großbritannien das Bild Italiens geformt hat. Eine mögliche Synthese ist folgende: «Auf der einen Seite der Medaille ist da ‹Italien›, das Land der Schönheit und der Kultur; auf der anderen sind da die ‹Italiener›, eine geniale, aber korrupte, unzuverlässige und undisziplinierte Spezies.»[3] Diese Bewertung ist in sich so widersprüchlich, dass sie jede der beiden Einzelaussagen ad absurdum führt: Wie soll ein so «korruptes, unzuverlässiges und undiszipliniertes» Volk eine solche Tradition nicht nur der Schönheit, sondern einer harmonischen, kohärenten, liebenswürdigen Schönheit zustande gebracht haben? Die Macht der Vorurteile liegt aber gerade darin, dass sie von jeglicher Kohärenz absehen und nur dem Bedürfnis folgen, in einem Urteil, so brutal es auch sein mag, eine Menge ungleichartiger Eindrücke griffig zusammenzufassen. Mario Praz, einer der größten Anglisten Italiens, berichtet in seinem Essay Scoperta dell’Italia (Entdeckung Italiens), wie die Italiener gegen Ende des 18. Jahrhunderts von englischen Schriftstellern gesehen werden:

Die Italiener des Volkes schmutzig, träge und kriminell; die der hohen Klassen arm, unhöflich und im Allgemeinen Ehebrecher; Plebs und Aristokratie abergläubisch und charakterlos gegenüber den Tyrannen. Die Venezianer versetzten bei der geringsten Provokation meuchlings Dolchstöße, die Neapolitaner waren von Natur aus diabolisch und so weiter. Vor allem die Art der religiösen Hingabe der Italiener irritierte die Engländer dieser Epoche.[4]

Einhellig berichteten die von der Grand Tour durch Italien nach England zurückgekehrten Reisenden, die Halbinsel sähe aus wie ein riesiges Ruinenmuseum und sei bevölkert von bettelarmen, lasterhaften Menschen, die sich lärmend auf den Straßen drängten und dank des milden Klimas praktisch im Freien lebten, nur mit Lumpen bedeckt oder halbnackt, ohne die geringste Ahnung von ihrer glanzvollen Vergangenheit. Diese Mischung aus Faszination und Grauen war typisch vor allem für die Sicht auf die Länder des Papsttums und des Mezzogiorno, die stets als äußerst armselig beschrieben wurden, bewohnt von einer hungernden, untätigen Bevölkerung, die sich nur im Umgang mit dem Messer durch Schnelligkeit auszeichnete.

Eines der spannendsten Beispiele des Genres Schauerroman ist Ann Radcliffes The Italian or the Confessional of the Black Penitents (Der Italiäner oder Der Beichtstuhl der schwarzen Büßermönche[5]), bei dem bereits im Titel die wichtigsten Elemente des Plots zusammengefasst sind. Die Handlung beginnt 1764 in einem Kloster in der Nähe Neapels, den düsteren Hintergrund bildet das Tribunal der Inquisition. Die Geschichte dreht sich um die mysteriöse Figur des Mönchs Schedoni und um zwei unglücklich Liebende, Elena Rosalba und Vincenzo di Vivaldi. Ingredienzien sind schaurige Abenteuer, undurchsichtige Verhältnisse, Sünde, Verrat, Verbrechen. Schedoni ist immer schwarz gekleidet, die Kapuze trägt er tief ins Gesicht gezogen. Ein schauerromantischer Schurke, mit Mönchskutte und italienischer Nationalität ausgestattet:

Der Unbekannte war in eine Mönchskutte gehüllt, und sein im Dunkel der Nacht ohnehin schon unkenntliches Gesicht wurde von der Kapuze vollends verborgen … Wie sie ihren Schatten auf die fahle Blässe seines Antlitzes warf, vertiefte nur noch dessen Düsternis und verlieh den großen, melancholischen Augen einen Ausdruck, der ans Erschreckende grenzte. Solche Schwermut entsprang aber keinem empfindsamen, verletzten Herzen, sondern ganz augenscheinlich einer düster brütenden Grausamkeit …, unser Mönch besaß die Gabe, sich auf das Wesen und die Leidenschaften derjenigen Personen, die er für sich gewinnen wollte, mit erstaunlicher Leichtigkeit einzustellen, was dann zumeist seinen vollkommenen Triumph zur Folge hatte.

An anderer Stelle heißt es: «Die Augen halb geschlossen, Symptom von Verrat, gelegentlich Blitze schleudernd.»[6] Bereits Ende des 18. Jahrhunderts finden wir also in einem englischen Erfolgsroman das Modell des Italieners als Manipulator und Verräter, das nicht nur eine bemerkenswerte Literaturkarriere machen sollte, sondern sein Pendant durchaus auch in der Zeitgeschichte hat. Zum Beispiel im Verrat der Regierungen des 20. Jahrhunderts, etwa als Italien im Ersten Weltkrieg zu Frankreich und Großbritannien überlief, nachdem es zunächst an der Seite der Mittelmächte gekämpft hatte; oder im Seitenwechsel während des Zweiten Weltkriegs durch Badoglios Waffenstillstandsabkommen vom 8. September 1943.

In einer alten Notiz finde ich, ohne Hinweis auf die Quelle allerdings, was ein englischer Kritiker gegen Ende des 19. Jahrhunderts schrieb: «Die Klöster wirkten wie subtile sadistische Gefängnisse, die Beichtstühle wie Schlupfwinkel zum Schmieden geheimnisvoller Komplotte.» Nicht zuletzt aufgrund seiner lärmenden und heidnischen Religiosität – so haben es die Engländer immer gesehen – wird Italien zum bevorzugten Schauplatz für Horrorgeschichten, Verschwörungen, Betrug, ruchlose Mörder. Dazu noch einmal Praz:

Diese Skandale mit ihrer ganzen finsteren Begleitatmosphäre mussten durch die «schwarzen» Romane, für die Horace Walpole mit Castle of Otranto (1765) die Rezeptur vorgegeben hatte und die Ann Radcliffe gegen Ende des Jahrhunderts perfektionieren sollte, einfach wieder hochkommen. Dazu wurden auf der Suche nach möglichst pittoresken Beschreibungen der italienischen Landschaft die Rückkehrer von Italienreisen ausgeplündert und das elisabethanische Drama nach dem Porträt des finsteren machiavellistischen Italieners durchforstet.

Ein großer romantischer Dichter wie Percy Bysshe Shelley, ein Mann von höchster Sensibilität, schrieb in einem seiner Briefe aus Italien: «The people here, though inoffensive enough, seem both in body & soul a miserable race. The men are hardly men, they look like a tribe of stupid & shrivelled slaves, & I do not think I have seen a gleam of intelligence in the countenance of men since I have passed the Alpes.» («Die Leute hier sind zwar ziemlich harmlos, sie scheinen mir aber in Körper und Geist ein armseliges Volk zu sein. Die Männer, die man kaum als solche bezeichnen kann, kommen einem eher vor wie ein Rudel dummer, verschrumpelter Sklaven, und ich glaube nicht, dass ich auch nur einen Hauch von Intelligenz in den Gesichtern der Menschen gesehen habe, seit ich die Alpen überquert habe.») Und über die Frauen: «The fact is, that first, the Italian woman are perhaps the most contemptible of all who exist under the moon; the most ignorant, the most disgusting, the most bigotted, the most filthy.» («Tatsache ist, dass die italienischen Frauen vielleicht die verachtenswertesten Geschöpfe sind, die unter dem Mond existieren, die ignorantesten, unappetitlichsten, scheinheiligsten, schmutzigsten.»)[7] Krasse, überzogene Urteile, selbst wenn man bedenkt, dass der Autor die erbarmungswürdigen Lebensbedingungen der Italiener der damaligen Zeit vor Augen hatte.

Der Schweizer Schriftsteller Karl Viktor von Bonstetten, der sich für alle Aspekte der europäischen Kultur interessierte, schrieb 1824 einen Essay mit dem Titel L’homme du midi e l’homme du nord (Der Mensch im Süden und im Norden[8]). Einer der zentralen Gedanken darin ist, dass der Mensch des Nordens, den das strenge Klima ins Haus oder jedenfalls in geschlossene Räume zwingt, offenbar in wesentlich stärkerem Maße zur Reflexion, zu Ruhe und Ausgeglichenheit neigt und auf kollektiver Ebene dazu, das gesellschaftliche Leben auf harmonische Weise zu organisieren. Der Mensch des Südens dagegen, der umgeben von einer gnädigen Natur in einem paradiesischen Klima lebt, sonnig, mild – im «Land der Sonne», wie es in einem populären neapolitanischen Lied heißt (Chist’ è ‹o paese d› o sole) –, verwandelt sich mit der Zeit in eine «leichte Fliege, die in den Tag hinein lebt vom Nektar der Blumen, die das von ihr bewohnte Land bedecken».

Aus Bonstettens recht naiver Sicht ist «Süden» alles, was südlich der Alpen liegt, wodurch der Italiener zu einem Einheitsmodell wird, bei dem soziale Klassen ebenso wie geografische und berufliche Unterschiede ignoriert werden. Der Schweizer Schriftsteller teilt also das im 19. Jahrhundert weit verbreitete Vorurteil, wonach Italien ausschließlich wegen des Klimas, der «Landschaft», seiner faszinierenden «Ruinen» geschätzt wird, die als Projektionsfläche für eine idealisierte Vergangenheit dienen, wenn sie nicht auf den «pittoresken Hintergrund» für irgendein Aquarell reduziert werden. Die dort lebenden Italiener sind nichts als eine anthropologische Größe und werden im Übrigen als lästige Begleiterscheinung hingenommen, manchmal sogar als Störfaktor in einer außerordentlichen Bühnenarchitektur aus Natur und Kultur empfunden. Unter den hundert möglichen Beispielen für das verklärte Bild der italienischen Landschaft braucht man nur an die Gemälde von Jean-Baptiste Camille Corot zu denken, in denen eine zugleich üppige und herbe Natur eine x-beliebige imposante Ruine aus dem klassischen Zeitalter zum Hintergrund hat. Es sind die Mauern und die Bögen, die Säulen, die Standbilder und die Türme, von denen Leopardi spricht, die aber nichts mehr mit dem alten «Ruhm» zu tun haben, dem sie ihre Entstehung verdanken.[9] Mehr als ein Jahrhundert lang ist es nur dies, nichts anderes, was die Augen des fremden Besuchers von Italien wahrzunehmen imstande sind.

Im Übrigen hat selbst Marcel Proust bei seiner Rückkehr aus Italien geschrieben: «[Das] wahre Land der Barbaren ist nicht das, welches die Kunst nie kennengelernt hat, sondern das, welches, übersät von Meisterwerken, diese weder zu schätzen noch zu bewahren weiß.» Das ist zwar eine andere Perspektive, dennoch wird hier dasselbe, unzählige Male in Sachbüchern und in der Belletristik geäußerte Urteil wieder aufgegriffen.

Marie-Henri Beyle, wie Stendhal eigentlich hieß, vertieft diese Diagnose in einem Eintrag seiner Passeggiate romane (Römische Spaziergänge), indem er einen der möglichen Gründe für diese Unzulänglichkeit identifiziert. Er schreibt:

[Wir trafen] eben zwei junge Römer mit ihren Geliebten und deren Familien, die auf einem Karren saßen und von einer Vergnügungspartie auf dem Monte Testaccio zurückkehrten. Sie sangen, gestikulierten und waren wie toll, Männer und Weiber; es war keine leibliche Betrunkenheit, aber der geistige Rausch kann nicht weiter gehen.[10]

(ebrietà morale)La dolce vita.