Dieter Langewiesche
Der
gewaltsame
Lehrer
Europas Kriege in
der Moderne
C.H.Beck
Historische Bibliothek der GERDA HENKEL STIFTUNG
Die Historische Bibliothek der Gerda Henkel Stiftung wurde gemeinsam mit dem Verlag C.H.Beck gegründet. Ihr Ziel ist es, ausgewiesenen Wissenschaftlern die Möglichkeit zu geben, grundlegende Erkenntnisse aus dem Bereich der Historischen Geisteswissenschaften einer interessierten Öffentlichkeit näherzubringen. Die Stiftung unterstreicht damit ihr Anliegen, herausragende geisteswissenschaftliche Forschungsleistungen zu fördern – in diesem Fall in Form eines Buches, das höchsten Ansprüchen genügt und eine große Leserschaft findet.
Bereits erschienen:
Hermann Parzinger: Die frühen Völker Eurasiens
Roderich Ptak: Die maritime Seidenstraße
Hugh Barr Nisbet: Lessing
Jürgen Osterhammel: Die Verwandlung der Welt
Werner Busch: Das unklassische Bild
Bernd Stöver: Zuflucht DDR
Christian Marek: Geschichte Kleinasiens in der Antike
Jörg Fisch: Das Selbstbestimmungsrecht der Völker
Willibald Sauerländer: Der katholische Rubens
Manfred Hildermeier: Geschichte Russlands
Stefan M. Maul: Die Wahrsagekunst im Alten Orient
Friedrich Lenger: Metropolen der Moderne
Heinz Halm: Kalifen und Assassinen
David Nirenberg: Anti-Judaismus
Wolfgang Reinhard: Die Unterwerfung der Welt
Werner Plumpe: Carl Duisberg
Jörg Rüpke: Pantheon
Manfred Hildermeier: Geschichte der Sowjetunion 1917–1991
Bernd Roeck: Der Morgen der Welt
Hartmut Leppin: Die frühen Christen
Frank Rexroth, Fröhliche Scholastik
Europas Kriege haben die Welt verändert. Kriege erzwangen die Vorherrschaft Europas in der Welt, Kriege beendeten sie. Kriege waren die Geburtshelfer von Nationen und Nationalstaaten, Kriege verhalfen Revolutionen zum Erfolg. Warum die Menschen immer wieder auf Krieg und Gewalt setzten, um ihre Ziele zu erreichen, davon handelt das Buch des renommierten Historikers Dieter Langewiesche.
Dass der Krieg eine historische Gestaltungskraft ersten Ranges ist, gehört zu den unbequemsten Wahrheiten der Geschichte. Doch sie ist weiterhin aktuell. Nicht nur gibt es immer noch Kriege auf der Welt, selbst «humanitäre Interventionen» oder der Kampf gegen den Terror kommen ohne kriegerische Einsätze nicht aus. Warum aber greifen Menschen und Staaten überhaupt zum Mittel des Krieges? Wie haben Kriege Wandel ermöglicht oder verhindert? War der Krieg im europäischen Laboratorium der Staats- und Gesellschaftsordnungen sogar unverzichtbar? Der Tübinger Historiker Dieter Langewiesche beschäftigt sich seit vielen Jahren intensiv mit diesen Fragen und legt nun eine grundlegende Analyse vor, in der es nicht um Pulverdampf und Schlachtenlärm geht, sondern um den Ort des Krieges in der Geschichte der Moderne.
Dieter Langewiesche war bis zu seiner Emeritierung Professor für mittlere und neuere Geschichte an der Universität Tübingen. 1996 erhielt er den Leibniz-Preis. Bei C.H.Beck sind zuletzt die Bände «Nation, Nationalismus, Nationalstaat» (2000) und «Reich, Nation, Föderation» (2008) erschienen.
Vorwort
I. EINFÜHRUNG: OHNE KRIEG KEIN FORTSCHRITT – KONTINUITÄT IM DENKEN UND HANDELN
1. Immanuel Kant: Zur Notwendigkeit des Krieges in der Philosophie des Friedens
2. Fragen an die Geschichte
3. Nation und Nationalstaat: Fortschritt als Kriegsgeschöpf
4. Revolution: Krieg durchbricht Fortschrittsblockaden
5. «Humanitäre Intervention» – Die Rückkehr des Krieges als Fortschrittskraft im Denken und Handeln der Gegenwart
II. EUROPAS WELTKRIEGE GESTALTEN DIE GLOBALE ORDNUNG (18.–20. JAHRHUNDERT)
1. Europas Kriege in der Welt: 18. Jahrhundert
a. Gewinner und Verlierer unter den «Oceanokraten»
b. Kriegsräume, Kriegsparteien, Formen des Krieges, Kriegsziele
c. Die Weltkriege des späten 18. Jahrhunderts – Wahrnehmungen und Wirkungen
2. Die napoleonische Ära: Kampf gegen eine kontinentaleuropäische Hegemonialmacht
a. Formen des Krieges und Motive der Kriegsparteien
b. Imperium – nicht Nationalstaat, Staatenkrieg – nicht Nationalkrieg
c. Was bedeutet Volkskrieg?
d. Zur Überzeugungskraft der Nationalmythologien
3. Das Jahrhundert Europas 1815–1913
a. Das Europa des Wiener Kongresses – Selbstbeschränkung und globale Expansion
Paradoxien der Wiener Neuordnung Europas
Nationalisierung und Entstehung von Nationalstaaten – die Hauptherausforderung Kongreß-Europas und das erfolgreiche Krisenmanagement
b. Politik Kongreß-Europas: Bellizismus außerhalb Europas – Vermeidung des großen Krieges in Europa
4. Der Ort des Ersten Weltkriegs in der Geschichte der Kriege
a. Was macht den Großen Krieg groß?
b. Was war neu am Ersten Weltkrieg in der Geschichte des Krieges?
Totaler Krieg?
Eurozentrische Perspektivenverengung – europäischer Sonderweg des Krieges
c. Der Weg aus dem Ersten Weltkrieg – eine neue Erfahrung
5. Der Zweite Weltkrieg und seine Folgen
a. Absurdität als Sinnstiftung?
b. Europas national-ethnische Mischräume werden vereinheitlicht –staatliche Neuordnung durch «ethnische Säuberung»
Irredenta und Imperium – zwei Wege des territorialen und des rassistischen Revisionismus
c. Kriegserfahrung als Wille zur Neugestaltung Europas – ein europäischer Sonderweg?
6. «Krieg gegen Terror» – eine neue Form von globalem Krieg?
III. OHNE KRIEG KEINE ERFOLGREICHE REVOLUTION
1. Revolutionsmodelle: friedliche Revolution – Verfassungs- und Nationalrevolution – bolschewistische Revolution
2. Nationale Verfassungsrevolutionen – der Krieg im europäisch-nordamerikanischen Revolutionsmodell
a. Die englischen Revolutionen des 17. Jahrhunderts – Bürgerkrieg, Staatenkrieg, Anfänge des Empires
b. Krieg und Revolution im späten 18. Jahrhundert – Frankreich und Nordamerika
Nordamerikanischer Unabhängigkeitskrieg: Revolutions- und Bürgerkrieg, Staatsbildungs- und Kolonialkrieg
Französische Revolution – Zeitenwende durch Gewalt und Krieg
Menschheitsgeschichtlicher Fortschritt durch Gewalt –in zeitgenössischen Stimmen und Rückblicken
Gewalt und Krieg – wer, wann, wie, warum?
Ländliche Revolutionsbewegungen, städtische journées révolutionnaires, Krieg in der Vendée
Terror, Bürgerkrieg, Staatenkrieg – Formung der französischen Nation
c. 1848/49: Europäischer Krieg, begrenzter Krieg und Kriegvermeidung im Handlungsarsenal von Revolution und Gegenrevolution
3. Internationale Voraussetzungen für erfolgreiche Nationalrevolutionen im 19. Jahrhundert
4. Erster Weltkrieg – Kriegsniederlage, Revolution und Bürgerkrieg gestalten die Zukunft:Rußland, Deutschland, Türkei
a. Vorläufer – Pariser Commune 1871, Russische Revolution 1905
b. Rußland 1917–1921 – milde Verfassungsrevolution, radikale Bürgerkriegsrevolution
c. Deutschland 1918–1923 –
begrenzte Revolutionsgewalt, gescheiterte Bürgerkriege, demokratische Reform-Revolution
d. Vom Osmanischen Reich zur Türkei –Militärputsche, Verfassungs- und Kulturrevolution, Kriege
IV. OHNE KRIEG KEIN NATIONALSTAAT UND KEINE NATION
1. Idee Nation – warum ist sie so erfolgreich?
Nation als Ressourcengemeinschaft
2. Krieg in der Entstehung europäischer Nationalstaaten – historische Muster
a. Glückliches Nordeuropa – Nationalstaat durch Sezession ohne Krieg
b. Entstehung neuer Nationalstaaten – vier Verlaufstypen
c. Milder Vereinigungskrieg – Schweiz
d. Belgien und Polen – Frankreich und Rußland entscheiden Sezessionskriege
e. Griechenlands Staatsgründung und die Orientalische Frage –
Revolution, Bürgerkrieg, Staatenkrieg, humanitäre Intervention und ethnoreligiöse
Entmischung
f. Italien und Deutschland –
Vereinigungs- und Trennungskrieg, Eroberungs- und Unabhängigkeitskrieg
g. Kriegsraum «europäische Türkei» als Zukunftslaboratorium
V. OHNE KRIEG KEIN KOLONIALREICH UND KEINE DEKOLONISATION
1. Die «guten Despoten» aus Europa – John Stuart Mill und Alexis de Tocqueville
2. Entwicklungsmuster
3. Kriege in kolonialen Räumen
a. Charles Edward Callwell – «der Clausewitz der kolonialen Kriegskunst»
b. Typen von Kolonien – Arten des Krieges
4. Kolonialkriege in Afrika – ein deutscher Sonderweg des Genozids?
a. Das vorkoloniale Afrika – ein Kontinent des Krieges
b. Deutsche Kolonialkriege in Afrika – die Qual der Perspektiven
Die Ereignisse
Deutungen und wovon sie abhängen
Befragung der Kolonialstatistik
Waren die Kriege kolonialpolitischer Nachzügler gewaltsamer?
Kolonialismus, Kolonialkrieg und Genozid
Antikoloniale Kriege als Ursprung der Nation? Afrikanische Perspektiven
VI. RÜCKBLICK UND AUSBLICK
1. Das europäische 19. Jahrhundert – Versuch einer globalen Ortsbestimmung mit dem Wissen des 20. Jahrhunderts
2. Europa als nationalpolitisches Laboratoriumin der Gegenwart: Die Europäische Union als Ende des Europas der Kriege?
Dank
Literaturverzeichnis
Anmerkungen
I. Einführung Ohne Krieg kein Fortschritt – Kontinuität im Denken und Handeln
II. Europas Weltkriege gestalten die globale Ordnung (18.–20. Jahrhundert)
III. Ohne Krieg keine erfolgreiche Revolution
IV. Ohne Krieg kein Nationalstaat und keine Nation
V. Ohne Krieg kein Kolonialreich und keine Dekolonisation
VI. Rückblick und Ausblick
Bildnachweis
Register der Personen, Orte, Länder, Regionen, Staaten
Kriege ordnen den Blick auf die Geschichte. Kriege ziehen sich durch die Mythen der Völker, Kriege stehen am Beginn von Staaten und Nationen, bezeichnen Wendepunkte ihrer Geschichte. Von Kriegen gingen große Wirkungen aus, deshalb formen sie Geschichtsbilder. Im Klassischen Griechenland hatte man Krieg und Freiheit, äußere wie innere, verbunden gesehen. Spätere Zeiten ebenso. Anthropologen spüren ihm als Grundelement in der Geschichte der Menschheit nach, Philosophen und Soziologen würdigen ihn als kulturelle Triebkraft. Solche Fragen nimmt dieses Buch auf, wenn es auf Europas Kriege in der Moderne blickt. Kriege in Europa und Kriege in anderen Kontinenten auf den Spuren europäischer Staaten.
Es geht nicht um die Ereignisgeschichte der vielen Kriege, die europäische Staaten geführt haben. Wenngleich selbstverständlich auch Ereignisse und Abläufe dargestellt werden müssen. Doch um sie geht es nicht in erster Linie. Die Idee, die sich durch das Buch zieht, die Auswahl der Kriege und die Fragen bestimmt, die an sie gerichtet werden, ist schlicht – Warum haben Menschen immer wieder Krieg für unverzichtbar gehalten, um ihre Ziele zu erreichen? Bis heute, bis in unsere unmittelbare Gegenwart. Im Krieg wird getötet, gequält, geraubt, verwüstet, und dennoch werden immer wieder Kriege begonnen, um hehre Ziele anzustreben. Mit Revolutionen wollen Menschen Freiheit und ein besseres Leben erzwingen. Doch ohne Krieg keine erfolgreiche Revolution. Nationen und Nationalstaaten galten und gelten weiterhin als Garanten für staatsbürgerliche Selbstbestimmung und fairen Zugang zu den Ressourcen, die eine Gesellschaft erzeugt. Doch Nationen und Nationalstaaten sind in Kriegen entstanden und haben sich in Kriegen behauptet. Ohne Krieg keine Nation, ohne Krieg kein Nationalstaat. Kriege haben im 19. Jahrhundert die Europäisierung der Welt, Europas globale Dominanz ermöglicht, Kriege haben sie im 20. Jahrhundert beendet. Ohne Krieg kein Kolonialreich, ohne Krieg keine Dekolonisierung. Und heute: Ächtung des Krieges durch die Vereinten Nationen außer zur Selbstverteidigung, doch Krieg als letztes Mittel «humanitärer Intervention», um Menschheitsverbrechen zu verhindern oder zu beenden. Oder – Krieg gegen den Terrorismus. Die Geschichte des Krieges als Mittel zum Zweck, der für gut gehalten wird, geht weiter. Auch der Krieg, um den eigenen Staat zu erzwingen. Wenn er erfolgreich ist, werden aus Terroristen angesehene Staatsgründer.
Krieg als Gestaltungskraft, so läßt sich die Idee charakterisieren, die sich durch dieses Buch zieht und es strukturiert. Der Obertitel, Thukydides’ Peloponnesischem Krieg entnommen, spricht den Gestaltungswillen an, und die Gewalt, die von ihm ausgeht. Zunächst wird zum Einstieg in das weite Themenfeld erläutert, in welchen Bereichen die Vorstellung «Ohne Krieg kein Fortschritt» wirksam geworden ist. Dann wird dargestellt, wie Europas Kriege die globale Ordnung seit der Mitte des 18. Jahrhunderts gestaltet haben. Den größten Raum nehmen die Kapitel ein, welche die Bedeutung des Krieges für Revolutionen, für die Entstehung und Entwicklung von Nationen und Nationalstaaten, von Kolonialreichen und deren Bekämpfung untersuchen. Welche Art von Kriegen wo vorherrschten, ist eine durchgehende Frage. So wird ein Sonderweg des gehegten Krieges sichtbar – in Europa. Außerhalb führten auch die Europäer andere Kriege. Sie nannten sie savage wars, wilde, unzivilisierte Kriege, doch es waren auch ihre Kriege.
Krieg als Gestaltungskraft in der Geschichte ist ein brisantes Thema, in etlichen Bereichen hoch kontaminiert mit gegensätzlichen Wertungen und mit Verdächtigungen. Das Buch bezieht Stellung, maßt sich aber nicht an zu richten. Es beabsichtigt keine Gouvernanten-Historie, die zu wissen wähnt, wie die Altvorderen hätten handeln sollen, um den guten Weg in die Zukunft zu finden. Gefragt wird, wie Menschen damals das Geschehen wahrgenommen haben, warum sie meinten, Krieg führen zu müssen und welche Art von Krieg. Hat er ihre Einstellungen, ihr Handeln, ihren Weg in die Zukunft verändert? Darum geht es in diesem Buch.
Tübingen, Januar 2018
Dieter Langewiesche
Wer den Krieg aus der Politik verbannen will, tut gut daran, sich bei dem Philosophen Immanuel Kant Rat zu holen. Wie müssen Staaten im Innern und in den Beziehungen zueinander geordnet sein, um friedensfähig zu werden? Darüber hat Kant in der kriegsmächtigen Zeit der Französischen Revolution und Napoleons nachgedacht; bis heute unüberholt. Den Krieg sah er als den «Zerstörer alles Guten», die stärkste Barriere, die es zu überwinden gilt, um sich an «die ewige Norm für alle bürgerliche Verfassung», die republikanische, anzunähern. Nur sie sei nicht «kriegssüchtig»; sie anzustreben bestimmte Kant als die moralische Pflicht der Menschheit.[1]
Um dieses «Fortschreiten zum Besseren» in Gang zu setzen, könne allerdings Änderungsgewalt notwendig sein. In «wilden Kämpfen» werde die ideale Verfassung zwar nicht erreicht, doch den «Krieg von innen und außen», also Bürgerkrieg und Staatenkrieg, erkannte auch Kant als ein Mittel an, Fortschrittsblockaden auf dem Weg in eine bessere Zukunft zu durchbrechen. Dieses Notrecht zur Gewalt in der Gestalt von Krieg und Revolution wollte er jedoch möglichst eng begrenzen. Den Angriffskrieg, für Kant der Inbegriff amoralischer Gewalt, schloß er strikt aus. Andere Kriegsgründe hingegen konnte er sich um des Fortschritts willen durchaus vorstellen. Sein realistisches Bild vom Menschen setzte zwar auf dessen Fähigkeit, das moralische Ziel der Menschheitsgeschichte – Kant bestimmte es als eine republikanische Weltgesellschaft ohne Krieg – zu erkennen, doch es werde immer nur die «Annäherung zu dieser Idee» möglich sein. Mehr lasse die Natur des Menschen nicht zu: «aus so krummem Holze, […] woraus der Mensch gemacht ist, kann nichts gerades gezimmert werden».[2]
Die «ungesellige Geselligkeit der Menschen» macht sie, so Kant, bereit zum Krieg, doch ohne ihre «Begierde zum Haben» und «zum Herrschen» würden auch «alle vortrefflichen Naturanlagen in der Menschheit ewig unentwickelt schlummern». In Kants Anthropologie wird also der «Zwietracht», einschließlich des Krieges, ein Ort zugewiesen, an dem Gutes und Schlechtes aufeinander angewiesen sind. So hatte es schon, mehr als zweitausend Jahre zuvor, der Philosoph Heraklit gesehen: «Der Krieg ist aller Dinge Vater, aller Dinge König.» Und «alles Leben entsteht durch Streit und Notwendigkeit.»[3]
Ohne Krieg kein Fortschritt. So ungeschminkt hätte es Kant nicht formuliert. Doch seine Geschichtsphilosophie, die einen «Völkerbund» des ewigen Friedens entwirft, kommt ohne den Krieg als Fortschrittskraft auf dem Weg zu diesem hehren Ziel nicht aus. Auf der gegenwärtigen Kulturstufe galt auch ihm, dem großen Philosophen des Friedens, «der Krieg als ein unentbehrliches Mittel», das menschliche Geschlecht voranzubringen; «und nur nach einer (Gott weiß wann) vollendeten Kultur würde ein immerwährender Friede für uns heilsam und auch durch jene allein möglich sein.»[4]
Wie die Menschen aus Katastrophen lernen, so auch die Staaten. Kant hoffte auf den Völkerbund der Zukunft, der zwischen den Staaten ermöglicht, was innerhalb eines Staates Pflicht ist: An die Stelle individueller Gewalt tritt das gesetzmäßige Handeln. Doch den Weg dahin, sein Ende ist für den Menschen unabsehbar, begleitet der Krieg als blutiger Lehrmeister: durch «Verwüstungen» zu der Einsicht, nur das Gesetz könne aus dem «Zustande der Wilden», der im Krieg immer wieder aufs neue auflebt, in einen «weltbürgerlichen Zustand der öffentlichen Staatssicherheit» führen. Den letzten Schritt zum ewigen Frieden zwischen den Staaten sah Kant in der weltweiten föderativen «Staatenverbindung». Nicht ungefährlich, dieser ersehnte Weltfrieden, meinte er, denn die «Kräfte der Menschheit» könnten «einschlafen». Und zudem ein fernes Ziel – «Gott weiß wann» zu erreichen, also außerhalb jeder realistischen Planung, nur geschichtsphilosophisch als moralische Pflicht zu erkennen. Die «Gebrechlichkeit der menschlichen Natur» läßt in Kants Anthropologie den Weg zum Ziel werden. Als moralische Aufgabe der Menschheitsgeschichte jedem einzelnen vorgegeben, führt er über die Staaten der jeweiligen Gegenwart in die Staatenvielheit einer künftigen Weltföderation. Irgendwann, vielleicht.
Kant dachte nicht zentralistisch: nicht Weltstaat als Zwingherr zum Frieden auf dem «Kirchhofe der Freiheit»[5], sondern globaler Völkerbund autonomer Staaten; nicht auf Expansion angelegter Machtstaat, der Frieden mit Gewalt erzwingt, sondern friedenswilliger republikanischer Volksstaat. So nannte er einen Staat, der ungeachtet der Regierungsform die gesetzgebende von der vollziehenden Gewalt trennt. Den Nationalstaat als machtvolle Zentralisierungs- und imperiale Expansionsmaschine, wie er sich im 19. Jahrhundert durchsetzte, hatte Kant nicht vor Augen. Sein Ideal war auch nicht die ethnisch homogene Nation im eigenen Staat. Eine Nation – Ein Nationalstaat, dieses Leitbild, das die weitere Entwicklung prägen sollte, machte er sich nicht zu eigen. Er verstand zwar Nation als ethnisch-kulturelle Abstammungsgemeinschaft. Doch auf ihr wollte er den Staat der Zukunft nicht aufgebaut sehen, sondern auf dem Volk, das er als die Rechtsgemeinschaft der Staatsbürger bestimmte, die nur jenen Gesetzen gehorchen, die sie sich in ihren repräsentativen Organen selber gegeben haben.[6] Dieser Rechtsgehorsam sei am wirksamsten, wenn der Staat nicht zu groß ist. In seinen geschichtsphilosophischen Erörterungen warb Kant für den räumlich begrenzten Volksstaat. Einen «Völkerstaat», der mehrere Völker zusammenzwingt, konnte er sich nur als einen Staat des Krieges vorstellen.[7]
Sein republikanischer Idealstaat ließ sich durchaus als Nationalstaat entwerfen. Doch was seit dem 19. Jahrhundert zur Normalität werden sollte, hatte Kant nicht vorausgedacht: ohne Krieg kein Nationalstaat – Sezessionskrieg oder Vereinigungskrieg, nicht selten beides. Kant ordnete den Krieg trotz der Erfahrung mit der Französischen Revolution weiterhin ausschließlich dem monarchischen «Staatseigentümer» und seiner Regierung zu. Die «Staatsgenossen» hingegen, das Volk oder die Nation als Fürsprecher von Krieg waren in seiner Geschichtsphilosophie nicht eingeplant. Ist der Untertan zum Staatsbürger und damit auch zum «Staatsbürger in Waffen» geworden, so werde er den Krieg nur im äußersten Notfall beschließen. Auch den Nationalstaat als imperialistischen Machtstaat hatte Kant nicht vorausgesehen. Doch den Krieg als Fortschrittsmotor zum Wohle der Gesellschaft anzuerkennen, darin stimmte er überein mit den Liberalen des 19. Jahrhunderts, die sich gerne auf ihn beriefen. So auch Karl von Rotteck 1840 im «Staats-Lexikon», dem Grundbuch des deutschen Frühliberalismus:
«Die Erfüllung des Wunsches nach einem allgemeinen und ewigen Frieden ist jedoch kaum zu erwarten, und wenn sie je Statt fände, so würde es wahrscheinlich auf Unkosten noch höherer Güter geschehen, als diejenigen sind, deren Verlust der Krieg uns aussetzt. Der Preis dafür oder das Mittel seiner Herstellung möchte nämlich die Errichtung eines Weltreiches […] sein, folglich der Untergang aller Freiheit der Völker, wie der Einzelnen […]. Schon dadurch, daß er solches äußerste Unheil verhütet, erscheint der Krieg als unermeßlich wohlthätig. Er setzt nämlich voraus und erhält die Selbständigkeit der einzelnen Nationen, und nährt in ihnen die Kraft und den Muth, die sie solcher Selbständigkeit werth macht. Und trotz aller Leiden und Schrecknisse, trotz aller Grausamkeiten, Rechtsverachtungen, Verwüstungen und Verwilderungen, die er nach sich zieht, ist gleichwohl der Krieg die Quelle manches Guten und Heilsamen. […]
Der Krieg ruft alle menschlichen Kräfte zur Thätigkeit auf, setzt alle Leidenschaften in Bewegung und eröffnet allen Tugenden wie allen Talenten die weiteste Sphäre der Ausübung. Ohne Krieg, d.h. eingewiegt in allzu langen Frieden, würden die Völker erlahmen, in Feigheit, Knechtssinn und schnöden Sinnengenuß versinken, so wie das stehende Wasser faul wird […]. Jedenfalls ist der Kriegsmuth die unentbehrlichste Schutzwehr für Freiheit und Recht, und die Kriegskunst das Product wie das Bollwerk der Civilisation.»[8]
Karl von Rotteck, einer der prominentesten deutschen Liberalen der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, sprach aus, wovon die meisten überzeugt waren, vor allem wer mit den politischen und gesellschaftlichen Verhältnissen unzufrieden war, Reformer und erst recht Revolutionäre. Sie zögerten nicht, den Krieg in ihr Handlungsarsenal zur Verbesserung der Welt aufzunehmen. Mit der Radikalität des Veränderungswillens stieg (und steigt auch weiterhin) die Gewaltbereitschaft. Doch auch wer die Welt bewahren wollte, wie sie ist, setzte auf Krieg.
Krieg, um zu reformieren oder Reformen zu verhindern, Krieg als politisches Handlungsinstrument auf der Linken wie auf der Rechten – wie ist diese Bereitschaft aller zum Krieg zu erklären? Warum haben die bitteren Gewalterfahrungen im Europa der Französischen Revolution und Napoleons und dann in der Zeit der Weltkriege des 20. Jahrhunderts nicht zu einer Ächtung des Krieges im Denken der Menschen und im staatlichen Handeln geführt?
Kant hatte darauf gehofft. Seine Rechtfertigung der Revolution als gewaltigen Fortschrittssprung, der sich in der Menschengeschichte nicht mehr «vergißt», weil er «eine Anlage und ein Vermögen der menschlichen Natur zum Besseren aufgedeckt hat»[9], trennte er sorgfältig von der Gewalt, die sie durchdrang und auslöste. Er suchte der Erfahrung einer gewaltimprägnierten Revolutionsrepublik eine nach Gewaltfreiheit strebende Erwartung einzustiften. So folgte er seinem geschichtsphilosophischen Ziel, «den verborgenen Naturplan, der die Menschheit auf die Bahnen eines unbegrenzten Fortschritts zu drängen schien, in einen bewußten Plan der vernunftbegabten Menschen zu überführen».[10] Zu ihrem Handeln gehörte und gehört weiterhin der Krieg. Warum?
Warum glaubten und glauben weiterhin Regierungen und auch die Staatengemeinschaft der Vereinten Nationen, nicht auf den Krieg als ultima ratio verzichten zu können? Warum setzen auf ihn Menschen, die die Welt verbessern wollen? Diese Frage richtet dieses Buch an die letzten drei Jahrhunderte. Vorrangig mit Blick auf Nation und Nationalstaat. Denn sie entwickelten sich seit dem 18. Jahrhundert zu den wirkungsmächtigsten Leitbildern, mit denen Menschen kollektiv ihre Zukunft zu gestalten hofften. Im 19. Jahrhundert wurden sie zu mächtigen Akteuren. Und sie sind es weiterhin.
Woran maßen die Menschen politisch-gesellschaftlichen Fortschritt? Welche Aufgaben kamen dem Krieg in diesem Fortschrittsprozeß zu? Es waren vor allem drei Bereiche, in denen Menschen als nationale Kollektive Fortschritt, wie sie ihn verstanden, erfuhren:
Nation als Ordnungsidee – das demokratische Fortschrittsversprechen schlechthin und Legitimitätsgrundlage für die nationalstaatliche Neuordnung Europas; und auch der beiden Amerikas, Teilen Asiens und Afrikas.
Revolution als Instrument, um politische Fortschrittsblockaden mit Gewalt zu durchbrechen.
Expansion in fremde Räume: die Menschheit verbessern, «Uplifting Mankind» (Theodore Roosevelt 1899), und zugleich die nationalen «Schürfrechte für die Zukunft» bei der «Aufteilung der Welt» abstecken, wie der britische Außenminister die imperialistische Europäisierung der Welt im ausgehenden 19. Jahrhundert anschaulich in ein machtpolitisches Bild gefaßt hat.[11]
In allen drei Bereichen kam dem Krieg eine Schlüsselrolle zu: ohne Krieg kein Nationalstaat, ohne Krieg keine erfolgreiche Revolution, ohne Krieg kein Erfolg im globalen Wettbewerb. Aus dieser Erfahrung erklärt sich das Ja des 19. Jahrhunderts zum Krieg als politischem Handlungsinstrument. Es blieb jedoch nicht auf dieses fortschrittssichere Säkulum begrenzt. Die Kriege des 20. Jahrhunderts wurden ebenfalls aus dem Glauben, auf der Seite des Fortschritts zu stehen, gerechtfertigt. Jede Form von Staatsbildung blieb weiterhin auf Gewalt angewiesen. Deshalb verlief auch die Dekolonisierung als eine Kette von Gewalt und Krieg. Der eigene unabhängige Staat war ein Fortschrittsziel, für das Krieg und andere Formen von Gewalt als legitim galten – wie zuvor in Europa, in Latein- und Nordamerika. Krieg sollte Fortschritt erzwingen, indem er Blockaden durchbricht und Menschen auf ein gemeinsames Ziel vereint. In der Gegenwart schließlich, der mit der UNO eine Annäherung an Kants «Völkerbund» gelungen ist, scheint die Hoffnung auf den Krieg als Fortschrittskraft vollends zurückgekehrt und zum Handlungsinstrument einer Weltinnenpolitik geworden zu sein.
Deshalb gehört ein kurzer Blick (5.) auf die sogenannte «humanitäre Intervention» zu der Einführungsskizze, die den Rahmen absteckt, in dem die Symbiose von Fortschritt, verkörpert in der Idee Nation, und Krieg historisch nachgezeichnet wird. Im Mittelpunkt steht Europa. Doch auf den Expansionsspuren europäischer Mächte soll auch betrachtet werden, wie diese Symbiose in außereuropäische Räume getragen, dort aufgenommen und in eigenständige Politik umgesetzt wurde.
Die meisten Bereiche, welche die Einleitung in einem ersten Zugriff umreißt, werden in einem eigenen Kapitel detaillierter betrachtet.
Die Ordnungsidee Nation entwickelte sich seit dem späten 18. Jahrhundert zu einer umfassenden Fortschrittsverheißung. Als zukunftsoffene Ressourcengemeinschaft zeigt sie sich bis in die Gegenwart immer wieder fähig, neue Fortschrittserwartungen aufzunehmen.[12] Sie bestimmt, was als Fortschritt gilt, und sie verspricht, die Teilhaberechte daran zu demokratisieren. Doch damit ist von Beginn an jene Kriegsbereitschaft verbunden, ohne die auch in der Geschichtsphilosophie des Aufklärers Immanuel Kant das «Fortschreiten zum Besseren» nicht zu haben ist.
In der Gegenwart sind es die «ethnischen Säuberungen», die keinen Zweifel daran lassen, wie eng immer noch Gewalt und nationaler Autonomieanspruch verwoben sind. Man hat sie als die «dunkle Seite» des nationalen Fortschrittswillens in den Mittelpunkt gerückt.[13] Mit ihnen wird die Abgrenzung, auf die jede Gruppe für den eigenen Zusammenhalt angewiesen ist, extrem radikalisiert.
Nur wenn nach außen Grenzen gezogen werden, lassen sich nach innen Teilhaberechte demokratisieren. Hier gelingt mit dem Nationalstaat etwas, das sich bis heute als konkurrenzlos attraktiv erwiesen hat. Er erhebt die Idee Nation zum obersten Legitimitätsquell für die staatlich-gesellschaftliche Ordnung und auch für den Willen, sie zu verändern. Der Nationalstaat als eindeutig umgrenzter Raum ermöglicht die Zukunftsoffenheit des Gleichheitsversprechens innerhalb der Ressourcengemeinschaft Nation: Sicherheit und Macht, Recht und Politik, Kultur und Soziales, Geschlecht und schließlich Umwelt. Weiteres kann künftig hinzukommen.
Die Nation fungiert als ein Gleichheitsvehikel, das sich immer weitere Anwendungsbereiche sucht, offen für neue Entwicklungen in der Gesellschaft und somit prinzipiell unabgeschlossen, doch nach außen stets begrenzt und auch im Innern bereit, Gruppen als nationsfremd aufzuspüren und an den Pranger zu stellen. Das nationale Assimilationsgebot, unter das alle gestellt werden, zeigt eine weite Skala an Intoleranz. Im Krieg erreicht sie den Extrempunkt. Im Krieg entfaltet die Nation jedoch auch am stärksten eine Vorstellung von sich selbst. Sie beansprucht, als kollektiver Akteur zu handeln. Wer sich entzieht, gilt als illoyal im Augenblick existentieller Bewährung. Im Alltag hingegen ist die nationale Zugehörigkeit nicht mehr als eine soziale Rolle unter vielen, zwischen denen der einzelne je nach Situation zu wechseln gelernt hat. Im Krieg jedoch tritt sie an die Spitze der Rollenhierarchie und verlangt bedingungslose Unterordnung. Im Krieg verwandelt sich die Nation in eine Gemeinschaft auf Leben und Tod. Toleranz ist ihr dann fremd. Die Wertegemeinschaft Nation wird im Krieg zur Kampf- und Opfergemeinschaft. Ernest Renan, der französische Religionswissenschaftler, hat dies 1882 in seiner Rede «Was ist eine Nation?» eindringlich beschrieben.[14] Seine Rede wurde bereits damals berühmt, und sie blieb es bis heute.
Der Nationalstaat als Fortschrittsraum, der denen, die ihm zugehören, gleiche Zugangschancen zu den kollektiv erwirtschafteten Ressourcen verspricht, blickt auf eine lange Geschichte von Gewalt zurück. Sie hat Ernest Renan, der die Staatsbürgernation bildhaft ein tägliches Plebiszit («plébiscite de tous les jours») nannte, als unvermeidbar diagnostiziert, wenn der Prozeß der kulturellen Homogenisierung und staatlichen Zentralisierung gelingen soll. So hob er die Zentralisierungskriege, die den französischen Staat über Jahrhunderte hinweg formten, positiv ab von einem Gewaltdefizit, das es der Habsburgermonarchie verwehrt habe, die vielen Völker, die in ihr lebten, zu einer einheitlichen Nation zusammenzuzwingen. Der Nationalstaat als Zentralisierungsmaschine zieht sich als roter Faden durch dieses Buch.
Die Entstehung von Staaten ging überall in Europa der Nationsbildung voran, auch wenn die nationalen Gründungsmythen das Gegenteil behaupten.[15] Sie verankern die Geschichte der eigenen Nation im Dunkel der Geschichte als verpflichtendes Erbe für die Gegenwart. Im immer noch geläufigen Sprachbild vom nationalen «Erwachen» lebt die Vorstellung fort, die Nation sei ewig, der Staat nur eine wandelbare Hülle. Letzteres trifft zu, doch das gilt ebenso für die Nation. Nationen entstehen und vergehen; wie Staaten. Eine Geschichte fehlgeschlagener Versuche, Nationen und Nationalstaaten zu erschaffen, würde eine lange Liste ergeben. Auf ihr stünden die Preußen ebenso wie die Buren, die Bayern wie die Zulu oder als Nation ohne Nationalstaat die Schotten und Katalanen. Auch hier gilt: Der Krieg erschafft und zerstört. Ob die Zukunft manchen von ihnen doch noch den Weg zum eigenen Staat ebnet, ist offen. Zu hoffen ist, daß er im Gegensatz zu den Staatsbildungen der Vergangenheit friedlich zu verwirklichen sein wird.
Wie die Entstehung einer Nation und ihres Nationalstaates konkret verlief, hing vor allem davon ab, ob ein bestehender Staat in einen nationalen umgeformt werden konnte oder ob für den neuen Nationalstaat auch ein neues staatliches Gehäuse geschaffen werden mußte. Mit Gewalt war beides verbunden. Doch sie unterschied sich. Wo ein lang etablierter Staat revolutionär nationalisiert wurde, wie in Frankreich, richtete sich die Gewalt vornehmlich nach innen. Zum Bürgerkrieg trat jedoch der Staatenkrieg hinzu, mit dem das monarchische Europa die Republikanisierung Frankreichs rückgängig zu machen suchte. Vergeblich. Frankreichs Expansion zu einem kontinentaleuropäischen Imperium unter seinem erfolgreichsten General Napoleon, der sich dank seines Kriegserfolges zum Kaiser erhöhen konnte, wurde jedoch verhindert. Auch dazu war Krieg notwendig.
Frankreichs Scheitern legte die Grundlage für eine erstaunliche Erfolgsgeschichte. Der Kampf der Monarchen gegen ein Kontinentaleuropa unter französischer Hegemonie, wie es Napoleon in einer Kette von Kriegen erzwingen wollte, wurde im Rückblick zur nationalpolitischen Tat verklärt. Die Fürsten erschienen als nationale Bollwerke gegen ein Frankreich, das die staatliche Gestalt Europas ohne Rücksicht auf seine Nationen neu zu ordnen suchte. Auf dieser Grundlage gelang es den europäischen Fürsten im 19. Jahrhundert, zum Bundesgenossen ihrer Nationen zu werden. Für die fürstlichen Staatsoberhäupter war es ein Überlebensbündnis, für Nationen ohne Staat schuf es die einzige Möglichkeit, zur Staatsnation zu werden. Ohne monarchisches Haupt kein neuer Nationalstaat – eine eiserne Regel, der sich alle Nationen fügten. Nur die republikanischen Schweizer Kantone konnten sich ihr entziehen, als sie sich 1848 zu einem Bundesstaat zusammenschlossen. Auch dies erforderte Krieg.
In beiden Amerikas stand die Entstehung von Nationalstaaten anders als in Europa von vornherein im Zeichen der Republik. Dort führten die nationalstaatlichen Sezessionen von den europäischen Kolonialmächten – allesamt Monarchien – durchweg in die Republik. Mit wenigen Ausnahmen. In Kanada und Neuseeland gelang der lange Weg in die nationale Selbständigkeit ohne Sezessionskrieg, und die britische Monarchie wurde im 20. Jahrhundert zur Grundlage des staatenbündischen Commonwealth of Nations.[16]
Die Monarchie erfüllte also eine wichtige Aufgabe in der Geschichte der Nationalstaaten. Deshalb wird ihre Rolle und auch ihr Bedeutungsverlust seit dem Ersten Weltkrieg als eine Linie in der Symbiose von Nation und Krieg in allen Kapiteln betrachtet.
Staatlich unbehauste Nationen, die auf mehrere Staaten verteilt lebten, waren, wenn sie sich vereinen wollten, zur Sezession oder zur Union von Staaten gezwungen. Beides verlangte Krieg. Nicht selten verwoben mit Revolution und ihrer spezifischen Form von Gewalt. Die friedliche Trennung Norwegens von Schweden 1905 ist eine sehr seltene Ausnahme. Alle anderen Nationalstaaten des 19. Jahrhunderts – und auch die allermeisten des 20. – entstanden aus Sezessions- und Unionskriegen. In der Habsburgermonarchie, in Italien und Deutschland, auch im Osmanischen Reich verbanden sich beide.
Nur die Schweiz und Japan konnten sich mit kurzen und milden Einigungskriegen begnügen. Das Staatsterritorium mußte nicht verändert, alte Institutionen konnten nationalisiert werden. Das erleichterte es 1848, die Schweiz in einen föderativen Bundesstaat mit starker kantonaler Eigenständigkeit umzuformen, während die Meiji-Renovation seit 1868 tief in die Staats- und auch die Gesellschaftsstruktur eingriff, um aus dem Japan der Tokugawa-Zeit, eher eine Föderation aus autonomen Gebieten, in wenigen Jahren einen zentralisierten Nationalstaat mit kaiserlichem Haupt zu schaffen. Indem der Tenno sich dieser staatlichen Neuschöpfung zur Verfügung stellte, nahm er denen, die sich widersetzten, die Chance, ihren Widerstand durch Berufung auf die Geschichte zu legitimieren. Dies war generell eine der wichtigsten Aufgaben der Institution Monarchie auf den gewaltreichen Wegen in den Nationalstaat: Als Verkörperung der Vergangenheit umhüllte die Monarchie das Neue mit dem Mantel der Geschichte. Sie legitimierte das Zerstörungswerk, aus dem der Nationalstaat hervorging.
Der Umbau der überkommenen staatlichen Gestalt Europas in einen Kontinent von Nationalstaaten ließ sich nur durch Staatszerstörung erreichen. Dazu war die liberale Öffentlichkeit, die nach Fortschrittswegen ohne Revolution suchte, ebenso bereit wie die Marxisten, die im Nationalstaat eine geschichtsnotwendige Etappe in einem revolutionären Fortschrittsprozeß sahen. Schließlich konnten sich zunehmend auch die Konservativen mit der Nation und dem Nationalstaat als Fortschrittsbürgen abfinden, da die neuen Nationalstaaten zwar im Namen der Volkssouveränität geschaffen wurden, im 19. Jahrhundert jedoch bis auf die republikanische Schweiz alle ein monarchisches Oberhaupt erhielten. Die Monarchie versöhnte die Konservativen mit dem Bruch mit der Vergangenheit in Gestalt des Nationalstaates.
Das Jahrhundert der Nationalmonarchien endete mit dem Ersten Weltkrieg. Allerdings nur für die Verlierer. Die Sieger ermöglichten in Europa eine weitere Welle an Nationalstaatsgründungen, die erneut auf Staatszerstörung aufbauten. Auch dieser Neubau durch Zerstörung des Alten wurde im Namen des Fortschritts legitimiert. Präsident Woodrow Wilsons «Programm für den Weltfrieden» vom 8. Januar 1918 in Gestalt der Vierzehn Punkte verhieß als Zukunftsvision eine national-demokratische Selbstbestimmung, welche die Auflösung der Habsburgermonarchie und des Osmanischen Reiches verlangte.[17] Wie zuvor entstanden auch jetzt die Nationalstaaten, in denen die Nationen ein stabiles Fortschrittsgehäuse zu erhalten hofften, als Kriegsgeschöpfe.
Selbst dieser Krieg, dessen Vernichtungsgewalt sich allen Erfahrungen der Zeitgenossen entzog, vermochte die Symbiose von Krieg und Nationalstaatsgründung als Fortschrittswerk nicht aufzulösen. Dies gelang in Europa erst dem Zweiten Weltkrieg. Doch selbst dieser Krieg mit seinen unvorstellbaren Opferzahlen und dem Genozid an den europäischen Juden, den er ermöglicht hatte, selbst dieser Krieg hat nicht von sich aus die Verbindung von Staatsgründung und kriegerischer Gewalt gelöst. Es waren die beiden Supermächte, die Europas Staaten in zwei Ordnungssysteme einhegten, die sich zwar feindlich gegenüberstanden, ihre Gegensätze aber zu einem Kalten Krieg mäßigten. Außerhalb Europas gelang ihnen das nicht. Staatsbildung, nun meist mit Dekolonisierung verbunden, blieb dort weiterhin auf Gewalt angewiesen. Davon berichtet das Kapitel V.
Keine siegreiche Revolution ohne Krieg – von dieser blutigen Geschichtsregel sind erst die friedlichen Revolutionen der europäischen Gegenwart im Gefolge der Auflösung der Sowjetunion abgewichen. Bis dahin galt: Nur eine Revolution, die sich im Innern und nach außen fähig zeigt zum erfolgreichen Krieg, kann sich behaupten.
Die Nationalrevolutionen des 19. Jahrhunderts – Revolutionen, die einen neuen Nationalstaat erzwingen wollten – mußten von vornherein auf Krieg setzen, denn sie waren darauf angewiesen, aus multinationalen Imperien Nationalstaaten herauszusprengen oder mehrere Staaten zu einem einzigen Nationalstaat zu vereinen. Nicht selten verband sich beides, Sezession und Integration. Ohne Krieg bestand keine Chance, dieses Ziel zu erreichen. Deshalb stieg mit der Entschiedenheit des Willens zur Revolution die Bereitschaft zum Krieg. Revolution und Krieg bildeten zwei Seiten eines Prozesses. Daß es ein Fortschrittsprozeß war, stand für die Revolutionäre außer Zweifel. Sie setzten auf den Krieg als Schwungrad der Revolution.
Diese Erfahrung stand den Europäern seit der Französischen Revolution vor Augen, und 1848/49 verfestigte sie sich. Als die junge französische Republik, im Februar 1848 revolutionär erzwungen, gegen den Willen der entschiedenen Revolutionäre ablehnte, die Revolution über die Grenzen Frankreichs zu tragen, fiel damit eine doppelte Entscheidung.[18] Im Innern fiel sie zugunsten einer «bürgerlichen Republik», die den gemäßigten Weg begrenzter parlamentarisch legalisierter Reformen einschlug; nach außen gegen die polnische Nationalrevolution, die auf sich allein gestellt ohne militärische Hilfe wie schon 1830 nicht in der Lage war, gegen die Teilungsmächte Rußland, Habsburgermonarchie und Preußen den eigenen Staat zu erkämpfen.
Die Fortschrittskraft Revolution ist auf den Krieg als Weggefährten angewiesen. Das hatten Karl Marx und Friedrich Engels früh erkannt und ihre politischen Forderungen 1848/49 darauf ausgerichtet. Ohne einen Krieg gegen das mächtigste antirevolutionäre Bollwerk in Europa, das zarische Rußland, ließen sich die Revolutionen im Bereich des Deutschen Bundes, der Habsburgermonarchie und Italiens nicht gewinnen. Davon zeigten sich Marx und Engels überzeugt. Nur ein Krieg gegen Rußland könne «das ganze europäische Gleichgewicht in Frage stellen» und damit der Revolution den notwendigen Raum schaffen. Diese Einschätzung war realitätsgerecht. Ihre Hoffnung auf einen gemeinsamen Revolutionskrieg gegen Rußland, mit dem die revolutionierten Nationen ihre territorialen Rivalitäten lösen und den Sieg der Revolution in Europa sichern würden, blieb hingegen eine Illusion.
Durch Krieg die Revolution «auf demokratische Bahnen» zwingen – diese Hoffnung von Marx und Engels ging nicht auf, weil die liberal-demokratischen Revolutionäre Europas mehrheitlich keinen europäischen Krieg riskieren wollten, von dem sie eine unkalkulierbare Radikalisierung der Revolution befürchten mußten.[19] Bereit und fähig zum Krieg zeigte sich nur die Internationale der Gegenrevolution. Deshalb siegte sie. Und weil sie Kriege damals ausschließlich gegen die Revolution führte, ohne Staatsgrenzen und die vorrevolutionäre Machtbalance zwischen den Staaten verändern zu wollen, entwickelte sich daraus kein europäischer Staatenkrieg.
Eine kriegsfähige Internationale der Revolutionäre als Widerpart zur kriegsmächtigen Internationale der Gegenrevolution entstand nicht. Die Reformer, denen 1848 die Revolution den Weg in die Regierungen ermöglicht hatte, verfügten nicht über den Zugriff auf die Armee – so in Preußen und Österreich –, oder sie setzten die Armee ein, um die Revolution im eigenen Staat zu begrenzen. Das war in Frankreich der Fall. Allein die ungarische Revolution hatte sich eine kampffähige Armee aufgebaut, um die Nationalrevolution gegen die Habsburgermonarchie und ihre kroatischen Helfer im ungarischen Königreich zum Sieg zu führen. Diese Honved-Armee erwies sich den kaiserlichen Truppen gewachsen, nicht jedoch den zahlenmäßig weit überlegenen russischen, mit denen der Zar dem habsburgischen Kaiser zu Hilfe kam.
Nur die Habsburgermonarchie stand 1848/49 vor dem Problem, in Ungarn und in Italien mit Revolutionen konfrontiert zu sein, die über ein reguläres Militär geboten. Als Habsburg siegte, waren die europäischen Nationalrevolutionen gescheitert. Entscheidend war die russische Waffenhilfe. Die Niederlage der Ungarn ermöglichte es dem habsburgischen Militär, die italienische Nationalrevolution vollends niederzuschlagen, deren Fähigkeit, die Sezession von Habsburg zu erzwingen, an das Militär des Königs von Piemont-Sardinien gebunden blieb.
Fortschritt20