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Sophienlust - Die nächste Generation
– Staffel 4 –

E-Book 31-40

Diverse Autoren

Impressum:

Epub-Version © 2022 Kelter Media GmbH & Co. KG, Averhoffstraße 14, 22085 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © Kelter Media GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: https://ebooks.kelter.de/

E-mail: info@keltermedia.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74099-391-7

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Ein Papa für Leonie

Ihr größter Wunsch geht in Erfüllung

Roman von von Meierhofen, Birgitta

Wie betäubt nahm Aurora Fischer die Kondolenzbezeugungen der Trauergäste entgegen, die ihre sieben Jahre jüngere Schwester auf ihrem letzten Weg begleitet hatten. Sie konnte noch immer nicht fassen, dass Erika nicht mehr unter ihnen weilte. Eine Sepsis, die sie sich bei der Gartenarbeit zugezogen hatte, war der Achtundzwanzigjährigen zum Verhängnis geworden.

Mühsam schluckte Aurora die Tränen hinunter. Vor Leonie, ihrer gerade mal fünf Jahre alten Nichte, wollte sie nicht weinen. Die Kleine begriff noch nicht richtig, dass die Mama nicht mehr da war, und ließ die Beerdigung mit seltsamer Ruhe, ja fast ein wenig gelangweilt über sich ergehen.

»Es tut mir leid, was mit deiner Mama geschehen ist«, sagte eine ältere Frau und strich dem Mädchen mitfühlend über den dunklen Lockenschopf. »Aber deine Tante wird sich sicher gut um dich kümmern.« Sie warf der jungen Frau einen auffordernden Blick zu, worauf diese pflichtschuldig nickte.

Trotz ihrer Trauer stieg Ingrimm in Aurora auf. Daran musste man sie nicht erinnern. Sie liebte ihre Nichte und würde sie niemals im Stich lassen!

»Warum denn?«, fragte Leonie die alte Dame mit unschuldigem Augenaufschlag. »Meine Mama kommt doch wieder. In dem Märchen, das sie mir immer vorliest, geht die Mama der Kinder auch in eine andere Welt und kommt dann zurück. Meine Mama hat versprochen, immer bei mir zu sein und auf mich aufzupassen. Also ist sie schon bald wieder da.«

»Aber Kind …«, flüsterte die Frau bestürzt und setzte zu einer Erklärung an.

»Wir müssen jetzt gehen«, nahm Aurora der Fremden den Wind aus den Segeln, bevor sie noch mehr Unheil anrichtete. Besser, Leonie glaubte an ihr Märchen, als dass man sie noch mehr verstörte. Später, wenn sie selbst den Schock überwunden hätte, den der plötzliche Tod ihrer bis dahin kerngesunden Schwester ausgelöst hatte, würde sie ihre Nichte behutsam über die Endgültigkeit des Todes aufklären.

Sie verließen den Friedhof und gingen zu einem nahen Lokal, in dem Aurora eine kleine Feier für die wenigen Trauergäste hatte vorbereiten lassen, die der Verstorbenen nahestanden. Verwandte gab es fast keine mehr, und ihre beiden Eltern waren schon seit vielen Jahren tot. Bis auf die direkten Nachbarn, ein schon älteres Ehepaar, hatte Erika auch keine engen Freunde gehabt. Sie hatte mit ihrer Tochter sehr zurückgezogen in dem Häuschen auf dem Land gelebt, das einst den Eltern gehörte.

Aurora hatte ihrer Schwester das gemeinsame Erbe gern überlassen, als diese hochschwanger und ohne feste Arbeit nach einer Bleibe suchte. Leonie war das Resultat einer oberflächlichen Affäre mit einem Mann, von dem Erika gerade mal den Vornamen kannte. Das hatte sie jedenfalls Aurora gegenüber behauptet, als diese sie drängte, im Interesse ihrer Tochter mit dem Vater Kontakt aufzunehmen. Natürlich hatte Aurora ihrer Schwester die Lüge nicht abgekauft. Erika war alles andere als leichtfertig gewesen und hätte sich niemals auf ein flüchtiges Abenteuer mit einem Wildfremden eingelassen. Aber offenbar hatte sie Angst gehabt, der Mann könnte Anspruch auf sein Kind erheben, und ihn deshalb verleugnet. In Leonies Geburtsurkunde stand ›Vater unbekannt‹.

Erika hatte ihre Tochter abgöttisch geliebt. Doch als Leonie älter wurde, hatte sie selbst wissen wollen, wer ihr Papa war, und nicht aufgehört, nachzubohren. Daraufhin hatte Erika vorgegeben, der Vater wäre mit dem Motorrad verunglückt, bevor Leonie geboren wurde. Sie hatte der Kleinen ein Medaillon geschenkt mit einem Bild, das sie mit einem attraktiven Mann Mitte dreißig zeigte. Aurora zweifelte, ob es wirklich Leonies Vater war, der darauf zu sehen war. Aber die Kleine war glücklich und hütete das Medaillon wie einen Schatz.

Argwöhnisch wandte Aurora nun den Kopf. Leonie war ungewöhnlich still. Die Worte der Frau auf dem Friedhof hatten wohl doch Wirkung gezeigt, der Schutzpanzer der Kleinen bekam Risse. Um ihre Lippen zuckte es verdächtig. Sanft drückte Aurora die Hand ihrer Nichte und lächelte ihr aufmunternd zu.

»Ist Mama nun ein Engel?«, fragte Leonie plötzlich.

Aurora zögerte, dann nickte sie. »Ja, aber deshalb ist sie trotzdem bei dir, in deinem Herzen und in deinen Gedanken. Sie wird dich niemals ganz verlassen.«

Die Kleine nickte ernsthaft, und erstmals seit dem Tod ihrer Mutter rannen Tränen über ihre Wangen.

*

Das Kinderheim Sophienlust nahe dem Dörfchen Wildmoos war ein schlossähnliches Anwesen mit einem weitläufigen Park drum herum, der den Kindern viel Platz zum Spielen bot. Aurora verliebte sich sofort in diese Idylle. Simone Weber, eine Bekannte, hatte ihr das Heim empfohlen. Sie hatte ihre Drillinge dort untergebracht, als sie selbst schwer erkrankt war und sich selbst nicht um sie kümmern konnte.

Aurora lächelte zufrieden. Hier war Leonie bestimmt gut aufgehoben, während sie ihrer Arbeit nachging. Sie war Chefstewardess einer großen Fluggesellschaft und viel unterwegs. In ihrem unsteten Leben war eigentlich kein Platz für ein kleines Kind. Aber sie hatte ihrer Schwester in die Hand versprochen, gut für ihre Nichte zu sorgen, und daran würde sie sich halten. Der Aufenthalt im Heim sollte auch nur vorübergehend sein. Aurora wollte künftig nicht mehr fliegen und in der Verwaltung der Fluggesellschaft arbeiten, um Leonie zu sich holen zu können. Ebenso musste sie sich nach einer eigenen Wohnung umsehen. In der Wohngemeinschaft, in der sie zurzeit mit einer Kollegin lebte, war es für eine weitere Person zu eng.

Sie seufzte. Es würde ihr nicht leichtfallen, ihren Beruf aufzugeben, sie war gern Flugbegleiterin. Aber für ihre geliebte Nichte war ihr kein Opfer zu groß.

Aurora stieg aus dem Auto, das sie vor der großen Freitreppe geparkt hatte, und stieg die Stufen zum Eingangsportal hinauf. Denise von Schoenecker, die Verwalterin des Kinderheims, erwartete sie sicher schon.

»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte ein junges Mädchen und kam näher. »Ich bin Pünktchen, also … eigentlich heiße ich Angelina.«

Man musste Aurora nicht erst sagen, wie das Mädchen, das sie auf knapp sechzehn Jahre schätzte, zu seinem Spitznamen gekommen war. Unzählige Sommersprossen zierten ein hübsches Gesicht, das von seidigen rotblonden Locken umrahmt wurde.

»Ich möchte zu Frau von Schoenecker«, antwortete Aurora und stellte sich ihrerseits vor.

»Oh, dann sind Sie Leonies Tante«, erwiderte Pünktchen lächelnd. Als Aurora verwundert die Augenbrauen hochzog, fügte sie rasch hinzu: »Tante Isi, ich meine Frau von Schoenecker, informiert bei Neuaufnahmen alle Heimbewohner und erklärt, warum das betreffende Kind zu uns kommt. Dann können wir uns schon mal mit seinem Schicksal vertraut machen und ihm besser helfen, sich schnell einzugewöhnen. Viele Kinder tun sich in einer fremden Umgebung mit fremden Menschen anfangs schwer und versuchen, sich abzukapseln, besonders, wenn sie vielleicht schlimmes Leid erfahren haben.« Ein Schatten huschte über ihr Gesicht, der verriet, dass auch sie ihr Päckchen zu tragen hatte.

»Ja, der Tod meiner Schwester kam sehr plötzlich. Deshalb hat es die Kleine noch immer nicht richtig begriffen«, erwiderte sie traurig. »Eben noch hat sie mit ihrer Mutter im Garten herumgetollt und dann …« Sie schluckte schwer. »Meine Schwester hatte sich bei der Gartenarbeit eine Blutvergiftung zugezogen, die sie leider nicht ernst genommen hat. Erst als es zu spät war, ging sie zum Arzt.«

»Das tut mir sehr leid«, erwiderte Pünktchen ehrlich betrübt. Sie wies mit der Hand auf einen Korridor. »Gehen Sie bitte dort entlang, das Empfangszimmer befindet sich am Ende des Flurs. – Aber da kommt Frau von Schoenecker schon.«

Eine zierliche Frau mit dunkelbraunem Haar kam mit verhaltener Eile daher. Sie war dezent elegant gekleidet, und ihre Bewegungen waren so grazil, dass Aurora unwillkürlich an eine Tänzerin denken musste. Aber hatte Simone nicht gesagt, dass die gebürtige Französin früher Balletttänzerin gewesen war? So recht konnte sich Aurora nicht erinnern. Aber Simone hatte sich mit der Verwalterin des Heims ein wenig angefreundet, als sie während der schweren Zeit ihrer Krankheit ihre Kinder regelmäßig besuchte, um nicht ganz den Kontakt zu verlieren. Daher kannte sie ein wenig die Lebensgeschichte der Leiterin von Sophienlust.

»Wenn Sie mich bitte entschuldigen würden«, lächelte Pünktchen. »Ich muss mich sputen. Magda, unsere Köchin, mag es nicht, wenn man zu spät zum Mittagstisch kommt, und ich will nicht riskieren, dass sie mir die Ration kürzt. Gerade heut, wo mir ohnehin schon der Magen knurrt.« Sie lächelte, nickte verabschiedend, dann eilte sie davon.

Denise von Schoenecker, die inzwischen heran war und Pünktchens Befürchtung vernommen hatte, lachte herzlich, als Aurora skeptisch die Stirn runzelte.

»Keine Sorge, unsere Magda ist eine Seele von Mensch und tut alles für die Kinder«, erkannte sie die Sorge der Besucherin, dass die Köchin vielleicht ein allzu strenges Regiment führte. »Hungern muss bei uns niemand. Aber sie hasst Unpünktlichkeit und Schlendrian, was auch verständlich ist. Sie ist von früh bis spät auf den Beinen und um das Wohlergehen ihrer Lieblinge bemüht, kennt die Abneigungen und kulinarischen Vorlieben jedes Einzelnen. Niemals würde sie einem Kind etwas aufzwingen, das es nicht mag. Doch um jeden zufriedenzustellen, braucht es nun mal einen gut organisierten Arbeitsablauf.« Sie reichte Aurora die Hand. »Ich freue mich, Sie persönlich kennenzulernen, Frau Fischer.«

»Ganz meinerseits«, erwiderte Aurora und ergriff die schmale Hand der Frau, die ihre mit warmem Händedruck umschloss. Simone hatte nicht übertrieben. Die Verwalterin von Sophienlust war sehr sympathisch, sie strahlte Herzlichkeit und Güte, aber auch Kompetenz und Entschlossenheit aus. Es war bestimmt keine leichte Aufgabe, ein Heim zu verwalten und dabei den Kindern die Geborgenheit einer großen Familie zu vermitteln.

»Bitte folgen Sie mir«, bat Denise und ging zu ihrem Büro voraus. »Mein Sohn Dominik lässt sich übrigens entschuldigen. Normalerweise ist er bei solchen Gesprächen immer dabei. Er studiert allerdings gleichzeitig zu seinen Pflichten hier in Sophienlust und muss sich auf eine Klausur vorbereiten.«

Aurora nickte verstehend. »Pünktchen, oder besser Angelina, ist ein außergewöhnliches und freundliches Mädchen«, begann sie das Gespräch. »Das findet man in dem Alter selten. Ich selbst habe da keine Ausnahme gemacht …« Sie verdrehte bei der Erinnerung die Augen. »Meine Eltern hatten es nicht immer leicht mit mir. Besonders, wenn ich auf meine sieben Jahre jüngere Schwester aufpassen musste, mich aber lieber mit Freunden treffen wollte, habe ich oft rebelliert.«

Denise wandte den Kopf und lächelte nachsichtig. »Auch hier bei uns gibt es mitunter Auseinandersetzungen. Alles andere wäre unnatürlich, hier leben Kinder und keine Engel. Pünktchen ist allerdings die rühmliche Ausnahme. Sie ist unglaublich rücksichtsvoll und geduldig. Ich kann mich kaum erinnern, sie in den vielen Jahren, die sie nun schon bei uns ist, jemals zornig oder unwirsch erlebt zu haben, jedenfalls nicht den Kindern gegenüber.« Flüchtig dachte Denise an jene Szene im vergangenen Herbst, als die Neckereien eines Mitschülers bezüglich ihrer Sommersprossen Pünktchen zu einer sinnlosen Verzweiflungstat getrieben hatten, die glücklicherweise glimpflich ausgegangen war. »Ja, Angelina, so heißt sie eigentlich, will Erzieherin werden«, fuhr Denise fort, »ein Beruf, der ihr auf den Leib geschneidert ist. Niemand kann so gut mit traurigen oder störrischen Kindern umgehen wie sie. Sie wird auch von allen heiß und innig geliebt.« Denise öffnete die Tür zum Empfangszimmer und ließ Aurora den Vortritt.

Der Besucherin brannte die Frage auf der Zunge, warum Pünktchen in Sophienlust lebte. Aber der Anblick, der sich ihr nun bot, ließ sie verstummen. Sie hatte einen nüchternen Raum erwartet, doch das hier ähnelte einem Salon im Biedermeierstil. Antike Möbel, die wunderbar zum Charakter des Gebäudes passten, sowie hübsche Pflanzenarrangements verliehen dem Raum eine behagliche Atmosphäre. Dazu schmückten zahlreiche Gemälde die Wände. Alte Meister hingen geschmackvoll neben Zeichnungen der Kinder, die in Sophienlust lebten oder dort eine Zeit lang gelebt hatten. Alles strahlte Harmonie, Fröhlichkeit und Geborgenheit aus. Nicht umsonst nannte man Sophienlust wohl auch das Haus der glücklichen Kinder.

Denise von Schoenecker wies auf einen gemütlich wirkenden Stuhl, der an einem geschmackvollen Tischchen stand.

»Nehmen Sie bitte Platz«, bat sie und erkundigte sich zugleich: »Möchten Sie etwas trinken, Kaffee oder Tee?«

»Vielen Dank, aber ein Glas Wasser genügt«, erwiderte Aurora mit Blick auf die Wasserkaraffe auf dem Tisch, die mittels eines Eisbehälters kühl gehalten wurde. Sie ließ sich nieder und betrachtete verstohlen ihre Gastgeberin, während diese das Getränk einschenkte.

Aurora fühlte sich der sympathischen Frau, die eine so wohltuende Gelassenheit ausstrahlte, immer mehr zugeneigt. So stellte sie sich eine verantwortungsvolle Heimleitung vor, die die Verwaltung voll im Griff hatte, für die aber das Wohl der Kinder an erster Stelle stand. Hier würde sich Leonie bestimmt wohl fühlen, wenn sie erst mal ihre Bockigkeit abgelegt hatte. Sie seufzte bekümmert, sodass Denise irritiert aufsah.

Sie reichte Aurora das Glas Wasser zu und setzte sich ihr gegenüber. »Gibt es ein Problem? Haben Sie den Eindruck, dass unser Haus nicht ganz Ihrer Vorstellung entspricht?«

Aurora trank einen Schluck Wasser. Dann stellte sie das Glas ab und legte die Hände in den Schoß. »Das Heim ist wundervoll«, schwärmte sie. »Was ich bisher gesehen habe, hat mich begeistert. Die Kinder machen einen glücklichen, aber auch wohlerzogenen Eindruck. Dazu wirkt das Gebäude hell und freundlich, nicht so düster, wie es oftmals bei alten Gemäuern der Fall ist.«

Denise lächelte. »Wir haben uns mit dem Umbau des alten Gutshauses auch große Mühe gegeben.« Sie beugte sich vor und sah ihrem Gast forschend in die Augen. »Wo drückt nun der Schuh?«

»Leonie selbst ist das Problem. Sie sträubt sich vehement gegen die Heimunterbringung, weint und tobt«, gestand Aurora bedrückt. Sie rang die Hände. »Ich habe versucht, meiner Nichte zu erklären, dass es mir im Moment nicht möglich ist, sie bei mir zu behalten, und dass sie sich ein wenig gedulden muss, bis ich mein Leben neu eingerichtet habe. Aber sie hat Angst, auch ich würde sie verlassen, und außerdem fürchtet sie sich vor den fremden Kindern im Heim.« Sie seufzte und nippte abermals an ihrem Getränk, bevor sie fortfuhr: »Auch den Kindern meiner Freundin gelang es nicht, Leonie diese Angst zu nehmen, obwohl sie ihr von der schönen Zeit in Sophienlust vorschwärmten.« Sie lächelte. »Übrigens soll ich Ihnen Grüße von Simone Weber ausrichten.«

Denise dankte mit einem Lächeln, blieb aber beim Thema. »Sie sagten am Telefon, dass Leonie keine Spielkameraden gewohnt ist?«

Aurora nickte bekümmert. »Die Kleine lebte mit ihrer Mutter sehr abgeschieden auf dem Land, und der nächste Kindergarten war kilometerweit entfernt. Meine Schwester besaß aber kein Auto, und der Bus fuhr sehr unregelmäßig.«

»Das haben wir öfter«, beruhigte Denise die besorgte Frau. »Natürlich gibt es anfangs Probleme mit kontaktscheuen Kindern. Aber mit der Zeit tauen fast alle auf und fühlen sich in der Gemeinschaft wohl. Dafür sorgt schon der Zusammenhalt unter unseren Schützlingen, die Großen sind für die Kleinen da. Ich werde Sie später herumführen, dann können Sie sich selbst vom harmonischen Miteinander in Sophienlust überzeugen.« Sie griff nach der Wasserkaraffe und schenkte sich selbst ein Glas voll, während sie beschwichtigte:

»Natürlich geht es auch bei uns nicht nur friedlich zu, und es gibt auch manchmal Streit. Aber Meinungsverschiedenheiten sind nötig, um das Kind in seiner Persönlichkeit zu festigen.« Sie runzelte die Stirn und wandte den Kopf: »Malt oder zeichnet Leonie gern?«

Für einen Moment war Aurora verwirrt, doch dann begriff sie. Malen konnte auch Therapie für ein Kind sein. Sie lächelte weich. »Sie ist eine kleine Künstlerin.«

»Dann haben wir einen Ansatzpunkt, um Leonie den Aufenthalt bei uns schmackhaft zu machen«, meinte Denise zufrieden und lehnte sich zurück, während sie weiter erklärte: »In Sophienlust gibt es ein Malzimmer, wohin sich die Kinder zurückziehen können, wenn sie ein Bedürfnis nach Ruhe und Abgeschiedenheit haben. Eine Betreuerin, manchmal auch eines der älteren Mädchen, achtet darauf, dass niemand herumtobt oder die anderen ärgert.«

Interessiert nahm Aurora ein paar Bilder näher in Augenschein. »Wie kommt es, dass diese Gemälde so heiter und farbenfroh sind, da doch gewiss manche Kinder eine schwere Vergangenheit haben?«

»Darauf sind wir sehr stolz«, erwiderte Denise lächelnd. »Anfangs sind die Bilder tatsächlich oft düster und verraten uns, wie verwundet die Seele des betreffenden Kindes ist, besonders, wenn es aus einer zerrütteten Familie kommt oder gerade die Eltern verloren hat. Aber je länger das Kind in Sophienlust weilt, desto fröhlicher, bunter und hoffnungsvoller werden die Bilder. Das zeigt uns, dass die Wunden langsam heilen und unser Schützling sich bei uns wohl und geborgen fühlt. Oft sehen wir diese positive Veränderung auch bei Kindern, die nur zeitweise bei uns wohnen. Wenn wir sie dann wieder in ihr gewohntes Umfeld entlassen, sind sie meist zufriedener und in ihrer Persönlichkeit gestärkt, sodass sie mit ihren Problemen besser zurechtkommen.«

Sie lehnte sich zurück und verschränkte die feingliedrigen Finger ineinander, während sie fortfuhr: »Auch Simones Kinder hatten anfangs Kontaktschwierigkeiten. Die Drillinge hatten die Scheidung ihrer Eltern nicht verkraftet, besonders die Hartherzigkeit ihres Vaters, der jeglichen Kontakt zu ihnen einstellte, hatte sie verstört. Daraufhin bildeten die drei eine verschworene Gemeinschaft, was sie schnell zu Außenseitern machte. Aber glücklicherweise gelang es unseren Kindern hier, mit Beharrlichkeit und viel Verständnis, die Mauer, die die drei um sich aufgebaut hatten, zu überwinden.«

Sie machte eine Pause und lächelte in sich hinein, ehe sie weitersprach: »Simone besuchte in ihren Behandlungspausen ihre Kinder regelmäßig und konnte kaum glauben, wie sehr sich ihre vorher so aufmüpfigen Drillinge immer mehr zu ihrem Vorteil veränderten. Als sie die drei nach gut einem Jahr wieder zu sich holen konnte, waren sie zwar immer noch eine wilde Bande, aber sie hatten gelernt, ihr Temperament zu zügeln und Rücksicht auf andere zu nehmen.«

Aurora nickte beifällig. Das hatte ihr die Freundin alles selbst erzählt.

»Simone hat inzwischen einen neuen Partner, einen sympathischen Mann, der ihren Kindern mehr treusorgender Vater ist, als es der eigene je war«, berichtete sie eifrig, um der gutherzigen Frau auch die letzte Sorge zu nehmen.

Ein Strahlen erhellte die Miene der Verwalterin. »Ich bin froh, dass Simone ein neues Glück gefunden hat«, entgegnete sie erfreut, machte aber ein schuldbewusstes Gesicht. »Ich hatte mir vorgenommen, sie einmal wieder anzurufen. Aber manchmal nimmt einen der Alltag so sehr in Anspruch, dass man selbst liebgewonnene Bekanntschaften vernachlässigt. Ich wünsche ihr aus tiefstem Herzen, dass sie mit ihrem Partner ebenso glücklich wird wie ich mit meinem zweiten Mann Alexander.«

Für einen Moment versank Denise in zärtlichen Erinnerungen, wie ihr abwesender Blick zeigte. Dann besann sie sich und fügte rasch hinzu: »Übrigens befindet sich Schoeneich, das Gut und Gestüt meines Mannes, in unmittelbarer Nähe zu Sophienlust, was natürlich praktisch ist. Ich lebe mit meinen Kindern Nick und Henrik auf Gut Schoeneich, kann mich aber weiterhin um das Heim kümmern, während mein Mann seinen Hof bestellt. Er ist mit Leib und Seele Landwirt und ein Pferdenarr.«

Wieder huschte ein verträumtes Lächeln über ihr Antlitz, als sie gestand: »Die Liebe zu den Pferden hat uns unter anderem zusammengebracht. Früher bin ich selbst geritten, heute sind meine Söhne und viele Kinder von Sophienlust begeistert dabei. Für die Kleinen haben wir Ponys angeschafft. Nick, der sich hervorragend mit seinem Adoptivvater versteht, gibt den Kindern oft Reitunterricht.«

»Das trifft sich gut«, erwiderte Aurora begeistert. »Leonie liebt Pferde über alles. Das wird ihr das Eingewöhnen erleichtern.« Jetzt verstand sie, warum die Heimleiterin so zufrieden und in sich gefestigt wirkte. Ihre glückliche Ehe gab ihr Rückhalt.

*

Ein Klopfen an der Tür riss Aurora aus ihren Gedanken. Denise bat herein und Dominik von Wellentin-Schoenecker steckte den Kopf durch den Türspalt. »Störe ich?« Als die Mutter verneinte, betrat er das Zimmer.

»Das ist mein Sohn Dominik, der Leiter von Sophienlust«, stellte Denise nicht ohne Stolz den Achtzehnjährigen vor. »Ich habe ihn gebeten, herzukommen, sodass Sie ihn ebenfalls kennenlernen können.«

Aurora lächelte dem groß gewachsenen, noch etwas schlaksigen jungen Mann freundlich zu. »Ich bin Aurora Fischer, freut mich Ihre Bekanntschaft zu machen, Herr von Wellentin-Schoenecker.«

»Bitte keine Förmlichkeiten, sagen Sie Nick zu mir«, entgegnete der junge Mann mit breitem Lächeln. »Das tun alle.« Er reichte Aurora die Hand.

»Seid ihr euch einig geworden, dürfen wir unser neues Kind demnächst in Sophienlust begrüßen?«, wandte sich Nick an seine Mutter, drehte sich aber zugleich Aurora zu: »Sie müssen wissen, wir sind hier mehr eine große Familie als ein Heim im üblichen Sinn.« Das Lächeln, das seine Worte begleitete, ließ ihn so jung erscheinen, wie er war.

»Ihre Mutter deutete es bereits an«, gab Aurora zurück und nickte beifällig. »Das wird Leonie ein wenig die Scheu nehmen. Sie ist es nicht gewohnt, mit vielen Menschen zusammenzuleben, war immer mit ihrer Mama allein. Deshalb macht ihr alles Fremde erst einmal Angst. Ich fürchte, sie wird sich anfangs in ihr Schneckenhaus zurückziehen.«

»Das tun viele Kinder, wenn sie hier ankommen«, entgegnete Nick ernst. »Aber bisher ist es uns noch immer gelungen, die kleine Schnecke wieder aus ihrem Haus herauszulocken.« Er lächelte, lehnte sich mit dem Rücken an die Fensterbank und verschränkte die Arme vor der Brust, bevor er in ernstem Ton fortfuhr: »Die Kinder, die hier wohnen, sind bis auf wenige Ausnahmen sehr verständnisvoll und bedrängen niemanden, solange er nicht von sich aus Kontakt sucht. Wenn sich Leonie der Gruppe nicht anschließen will, lässt man sie erst mal in Ruhe. Doch sobald sie Vertrauen gefasst hat, wird sie ohne viel Federlesen in die Gemeinschaft aufgenommen. Ich bin zuversichtlich, dass es uns mit der Zeit schon gelingen wird, Leonie ihre Scheu zu nehmen.«

Er wechselte einen kurzen Blick mit seiner Mutter. »Ist es dir recht, wenn ich Frau Fischer durchs Haus führe, Mama?« Als Denise nickte, wandte er sich wieder dem Besuch zu und machte eine einladende Handbewegung zur Tür. »Ich halte es für sinnvoll, dass Sie sich Sophienlust ansehen und sich selbst ein Bild von dem Heim und seinen Bewohnern machen, bevor Sie sich endgültig für uns entscheiden.«

»Oh, das ist sehr freundlich«, freute sich Aurora. Sie war in der Tat neugierig.

*

Der Rundgang durch die Einrichtung beruhigte Auroras schlechtes Gewissen gänzlich. Hier würde sich Leonie bestimmt nicht abgeschoben fühlen. Sie würde Glück haben, wenn ihre Nichte nach dem Aufenthalt in Sophienlust überhaupt noch bei ihr leben wollte. Natürlich waren nicht alle Kinder immer so friedfertig. Im Spielzimmer waren sich zwei Fünfjährige in die Haare geraten und fochten mit viel Geheul und Geschrei einen wilden Kampf miteinander aus. Schließlich flüchtete sich der Unterlegene schluchzend zu Nick, der ihn in den Arm nahm und dann beide Kinder nach dem Grund des Streits fragte. Nachdem alles geklärt war, bat er die Kampfhähne, sich wieder zu vertragen, was sie nach einigem Zögern auch taten. Wenig später waren sie wieder in ein gemeinsames Spiel vertieft.

Nick war der geborene Erzieher, fand Aurora, so, wie er mit den Kindern umging: einfühlsam und fürsorglich, aber auch konsequent, wenn es sein musste. Von seiner Mutter wusste sie, dass er in einem Fernstudium Kinderpsychologie studierte, um seiner Aufgabe noch besser gerecht zu werden.

Er öffnete die Tür zu einem Schlafraum und ließ Aurora einen Blick hineinwerfen. »Das ist ein typisches Mädchenzimmer«, erklärte er schmunzelnd angesichts der kreativen Unordnung, die darin herrschte. Die Betten waren fein säuberlich gemacht, aber mit diversen Kleidungsstücken überladen, welche die Mädchen bei ihrer Suche nach etwas Passendem aus dem Kleiderschrank genommen, aber nicht wieder zurückgehängt hatten.

Aurora lächelte verständnisvoll. Sie war im Teenageralter auch nicht anders gewesen.

»Sind alle Räume so bestückt, oder gibt es auch Schlafsäle?«, erkundigte sie sich. Bei dem Gedanken an einen Schlafsaal wie sie es aus dem Schullager kannte, fühlte sie sich unwohl. Für wenige Übernachtungen waren solche Unterkünfte durchaus vertretbar. Aber nicht für einen dauerhaften Aufenthalt. So etwas wollte sie Leonie ersparen.

Dominik erriet ihre Gedanken. »Keine Sorge, das größte Zimmer verfügt über drei Doppelstockbetten, die aber ausschließlich Jungen vorbehalten sind, die mit ihren Freunden zusammen sein wollen«, beruhigte er sie. »Sonst sind die Zimmer mit maximal zwei Kindern gleicher Altersgruppe belegt. Das hier gehört den Schwestern Vicky und Angelika Langenbach. Es gibt aber auch Einzelzimmer. Pünktchen hat zum Beispiel eines.«

Aurora lächelte. »Pünktchen habe ich schon kennengelernt. Sie ist ein nettes Mädchen.«

»Das sind die anderen auch«, stellte Nick klar. »Alle unsere Teenager sind sehr kinderlieb und kümmern sich in rührender Weise um die jüngeren Bewohner. Aber Pünktchen ist was ganz Besonderes, da haben Sie recht.«

Überrascht zog Aurora die Augenbrauen hoch. Seine Stimme hatte seltsam zärtlich geklungen. Offenbar galt dem jungen Mädchen seine besondere Zuneigung. Süß – unter ihrem nachdenklichen Blick wurde Nick ein wenig rot. Das machte ihn gleich noch sympathischer und bewies, wie sensibel er war.

Nick räusperte sich. »Hier drüben sind die Waschräume.« Er deutete auf die gegenüberliegenden Türen, die mit entsprechenden Symbolen für Buben und Mädchen gekennzeichnet waren. »Wenn Sie da noch einen Blick hineinwerfen wollen?«

Aurora nickte und folgte Nick zum Badezimmer der Mädchen. Auch hier gab es nichts zu beanstanden. Das Bad, das neben einer Reihe Waschbecken über mehrere Duschen und Toilettenkabinen verfügte, war freundlich und hell. Dazu war alles penibel sauber.

»Sehr hübsch«, lobte sie und zog sich wieder zurück.

»Hier im Obergeschoss sind wir fertig«, erklärte Dominik und wies zur Treppe. »Gehen wir hinunter in die Küche. Ich könnte jetzt einen Kaffee vertragen, habe vom vielen Reden schon eine trockene Kehle.« Er lachte leise. »Sie mögen doch sicher auch eine Tasse Kaffee oder vielleicht Tee?«

»Kaffee wäre wunderbar«, freute sich Aurora. Sie folgte Dominik nach, der mit großen Sätzen die Treppe hinuntersprang. Hier kam noch ein wenig der ungestüme Junge in ihm durch, und Aurora verstand, warum ihn die Kinder so liebten. Trotz der Verantwortung als Heimleiter, die nun auf seinen jungen Schultern lastete, hatte er sich seine Unbekümmertheit und seinen Humor bewahrt. Er war und blieb ihr Nick, wie sie ihn kannten.

Wenig später betraten sie die Küche im Erdgeschoss, einen großen, freundlich eingerichteten Raum, der Aurora sofort an die Wohnküche ihrer Großmutter erinnerte. An den Wänden befanden sich Einbauschränke und Regale, auf denen sich Dosen mit verschiedenen Inhalten türmten wie Nudeln, Reis und dergleichen.

In einem Schrank, der offenbar noch aus der Zeit der alten Gutsbesitzer stammte, war ein Regal mit Porzellanschüben eingelassen. Die großen waren mit Mehl, Zucker sowie Salz beschriftet und die kleineren trugen die Namen verschiedener Gewürze. Aurora wurde ganz warm ums Herz. Auch einen solchen Schrank hatte ihre Oma besessen.

An einem großen Herd stand eine rundliche Frau mit einem rosigen Gesicht und freundlichen Augen. Hingebungsvoll rührte sie in einem großen Topf. Als sie die Anwesenden bemerkte, sah sie kurz auf und nickte ihnen freundlich zu.

Dann wies sie mit dem Kopf zur Kaffeemaschine. »Bediene dich, Nick, und kümmere dich auch um unseren Gast. In der Warmhaltekanne befindet sich Malventee, falls dieser gewünscht wird. Ich bin gleich so weit, muss nur noch den Pudding umrühren, sonst brennt er an.«

»Dann gibt’s heute Abend also zum Nachtisch Pudding«, freute sich Nick und rieb sich den Bauch.

Die Köchin nickte. »Vanillepudding mit Himbeersauce«, verriet sie.

Nick seufzte vor Vorfreude. Dann besann er sich auf seinen Gast. »Das ist übrigens unsere Magda«, stellte er vor. »Sie ist die beste Köchin im weiten Umkreis, abgesehen von Martha, ihrer Schwester, die Köchin drüben auf Schoeneich ist.«

»Ha«, knurrte die Frau gespielt beleidigt und stellte den Topf beiseite. Sie trocknete ihre Hände an der Schürze ab und kam lächelnd näher.

»Magda, das ist Aurora Fischer, Leonies Tante«, machte Nick weiter bekannt.

Aurora staunte. Wie selbstverständlich man über ihre Nichte sprach, als wäre sie bereits ein Mitglied der Gemeinschaft. Sie selbst fühlte sich inmitten dieser herzlichen Menschen kein bisschen fremd und hoffte, dass Leonie ebenso empfinden würde. Sie ergriff die dargebotene Hand der Köchin, die einen mütterlichen Eindruck machte, und drückte sie herzlich.

»Es freut mich, die Frau kennenzulernen, die für das leibliche Wohl der Kinder sorgt«, sagte sie warm.

»Nicht nur für das leibliche Wohl«, berichtigte Nick und nahm die Kaffeekanne von der Warmhalteplatte. »Auch für seelische Wunden hat unsere Magda stets das richtige Pflaster parat. Für die einen sind es ein paar einfühlsame Worte oder eine liebevolle Umarmung, und der andere bevorzugt eine große Portion Eis zum Trost.«

Er lachte leise und vergewisserte sich mit einem fragenden Blick zu Magda, ob diese ebenfalls einen Kaffee begehrte. Als sie nickte, angelte er drei große Kaffeebecher vom Bord über der Maschine und goss das aromatisch duftende Getränk ein. Er stellte die Tassen zusammen mit einem Kännchen Milch und der Zuckerdose auf ein Tablett und trug dieses ins Esszimmer.

Dort stand in der Mitte des Raumes ein riesiger Tisch. Außerdem gab es ein paar kleinere Sitzgruppen, wenn die älteren Kinder das Bedürfnis hatten, sich mit ihren Freunden ein wenig abzugrenzen. Er stellte das Tablett auf einen Tisch mit vier Stühlen und verteilte die Kaffeebecher.

»Jedes Kind hat seine Vorlieben und Abneigungen und das nicht nur in kulinarischer Hinsicht«, seufzte die Köchin und bat Aurora, Platz zu nehmen. »Im Moment herrscht grad ein bisserl Ruhe, das sollten wir ausnutzen«, sagte sie und setzte sich ebenfalls. »Aber in einer halben Stunde geht hier wieder die Post ab. Dann wollen die Kinder ihre Zwischenmahlzeit, die Kleinen bevorzugen Kakao mit Kuchen und die Großen meist Obst oder Tee mit Gebäck.« Ihr Blick streifte die große Wanduhr, deren Zeiger auf vierzehn Uhr dreißig stand.

Aurora hob eine Augenbraue. Die Köchin schien wirklich rund um die Uhr im Einsatz. Trotzdem wirkte sie kein bisschen gestresst, sondern schien viel Spaß an ihrer Arbeit zu haben. Man merkte ihr an, wie gern sie die Kinder bemutterte.

»Hat Leonie eine kulinarische Vorliebe oder gibt es etwas, das sie nicht mag?«, fiel Magda in ihre Gedanken ein.

»Sie mag keinen Milchreis«, erwiderte Aurora spontan und gab etwas Milch in ihren Kaffee, den Zucker verschmähte sie. Sie zuckte mit der Schulter. »Aber sonst ist mir nichts weiter bekannt. Sie isst eigentlich alles.«

»Dann ist sie eine Ausnahme«, schmunzelte die Köchin und süßte ausgiebig ihren Kaffee. »Die meisten Kinder, besonders die Älteren, sind mitunter schon etwas heikel. Pünktchen mag keinen Möhreneintopf, Kim keine Radieschen und so geht es weiter. Ist manchmal etwas anstrengend, jedem gerecht zu werden.« Sie gab noch reichlich Milch in ihr Getränk und rührte um, während sie fortfuhr: »Aber sind wir doch mal ehrlich, auch wir waren als Kinder wählerisch, mochten dies und jenes nicht, und dann wieder konnten wir von einer bestimmten Speise nicht genug kriegen.«

»Für deine Rouladen mit selbst gemachten Klößen würde ich durchs Feuer gehen«, bemerkte Nick trocken. »Und nicht nur ich. Für die Hälfte der Belegschaft ist es das Lieblingsessen, und um den letzten Kloß wird geknobelt.« Er feixte. »Meist gewinne ich.«

»Ja, aber du überlässt deine Siegestrophäe dann doch wieder den anderen.« Magda lachte und wandte sich erklärend an Aurora: »Nick kann einfach nicht mit ansehen, wenn jemand noch einen hungrigen Eindruck macht, obwohl eigentlich alle satt sein sollten. Viele der Kinder, die in Sophienlust eine neue Heimat gefunden haben, wissen, was Hunger ist. Oft war in ihren Familien am Monatsende Schmalhans Küchenmeister.«

Aurora nickte mitfühlend. Sie trank ihre Tasse aus und bedankte sich für den Kaffee. Bedauernd fügte sie hinzu: »Leider muss ich los, hab mich schon viel zu sehr vertrödelt. Aber hier herrscht eine so wunderbare Atmosphäre, dass man gar nicht mehr fort will.«

Nick lächelte erfreut. »Danke, das ist ein nettes Kompliment und bestärkt uns in unseren Bemühungen, Sophienlust zu einem Zuhause für die Kinder zu machen und nicht nur zu einem Heim, in dem sie vorübergehend Schutz und Frieden finden.« Er erhob sich. »Kommen Sie, ich bringe Sie zu meiner Mutter. Es gibt noch einige Formalitäten zu erledigen.«

»Oh natürlich, das hätte ich fast vergessen«, entfuhr es Aurora verlegen. Sie eilte Nick hinterher, der mit großen Schritten vorausging.

*

Drei Tage später fuhr Aurora erneut zum Kinderheim. Leonie saß auf dem Rücksitz des Wagens und lamentierte fortwährend.

»Ich will nicht in das doofe Heim«, jammerte sie. »Warum kann ich denn nicht bei dir bleiben, Tante Aura?«

Ein Lächeln huschte um Auroras Lippen. Seit Leonies ersten Sprachversuchen war sie für die Kleine ›Tante Aura‹.

Sie seufzte leise. »Schneckchen, das haben wir doch schon besprochen. Der Aufenthalt in Sophienlust ist nur vorübergehend, bis ich meine neue Arbeitsstelle antreten kann und eine Wohnung für uns beide gefunden habe. Das geht leider nicht so schnell. Außerdem muss ich übermorgen zu einem Fortbildungskurs nach Amerika fliegen und bin erst in zwei Wochen wieder zurück. Also hab noch ein wenig Geduld.«

»Warum kannst du mich denn nicht mitnehmen?«, blieb Leonie hartnäckig. »Ich bin auch ganz brav, und Angst vorm Fliegen hab ich auch nicht.«

Aurora hob eine Augenbraue und musterte ihre Nichte im Rückspiegel. Leonies Gesichtsausdruck widersprach ihrem Mut. Sie kaute nervös auf ihrer Unterlippe und drückte ihr Stoffpüppchen fest an sich. Als sie den Blick ihrer Tante bemerkte, senkte sie ertappt den Kopf.

»Dora fürchtet sich, aber ich nicht«, schob sie ihren Bammel auf die Puppe.

»Natürlich, du bist ja auch ein tapferes Mädchen«, ging Aurora sofort darauf ein und nutzte Leonies Stolz für ihre Zwecke: »Deshalb hast du auch keine Angst vor dem Heim, oder?« Bevor Leonie, deren Gesichtchen sich wieder verfinsterte, erneut protestieren konnte, zeigte sie auf eine Pferdekoppel, die schon zu Sophienlust gehörte: »Sieh mal, hier gibt es Pferde. Die liebst du doch, besonders die Ponys. Sind die nicht süß?« Zwei Islandponys grasten unmittelbar am Zaun.

Prompt vergaß Leonie ihren Kummer und drückte sich die Nase an der Scheibe platt. »Darf man die auch reiten?«

Aurora nickte. »Soviel ich weiß, ja. Nick, der Heimleiter, ist ein Pferdenarr. Du wirst ihn mögen, er ist wirklich sehr nett.«

Leonie runzelte skeptisch die Stirn, sagte aber nichts.

Sie hatten Sophienlust erreicht und Aurora stellte ihren Wagen auf dem dafür vorgesehenen Parkplatz in der Nähe der Freitreppe ab. Sie wandte sich zu ihrer Nichte um, die plötzlich ganz blass um die Nase war und sie aus großen Augen bang anblickte. Es kostete Aurora einige Beherrschung, ihr Mitleid mit dem verängstigten Mädchen nicht allzu sehr zu zeigen. Trotz ihrer Trauer fühlte sie einen leisen Groll auf ihre Schwester, die ihre Tochter mit ihrer übertriebenen Fürsorge zu einem unsicheren Menschen erzogen hatte.

Sie gab sich einen Ruck. Da musste Leonie jetzt durch. Sie, Aurora, konnte beim besten Willen nicht ihre Reise absagen oder gar ihre Arbeit aufs Spiel setzen, um das unglückliche Kind zu hätscheln.

»Nun komm schon, Schneckchen«, drängte sie. »Du musst keine Angst haben. Die Leute hier sind alle sehr freundlich. Ich garantiere dir, du wirst dich so wohlfühlen, dass du gar nicht mehr fort willst, und ich habe dann das Nachsehen.« Sie zog eine Grimasse und rollte die Augen.

Doch Leonies Miene erhellte sich trotzdem nicht. »Ich will nicht mit fremden Kindern spielen und mit ihnen in einem großen Saal schlafen müssen«, wand sie sich kläglich. »Dann hänseln sie mich, wenn ich nachts weinen muss, weil ich Mama vermisse.«

Aurora erschrak. Sie hatte nicht geahnt, dass sich ihre Nichte in den Schlaf weinte. Zurzeit wohnte sie mit der Kleinen noch im Haus ihrer Schwester, und dort schlief Leonie im Kinderzimmer im Obergeschoss, während sie selbst im Gästezimmer im Parterre nächtigte. Sie brachte es nicht über sich, Erikas Zimmer zu benutzen, das direkt neben dem von Leonie lag. Doch jetzt fühlte sie sich schuldig, nicht für ihre Nichte da gewesen zu sein, als diese Trost brauchte.

»Wieso glaubst du eigentlich, in einem Schlafsaal untergebracht zu werden?«, fasste sie verwundert nach.

»Aber das ist doch in einem Waisenhaus so«, gab Leonie stirnrunzelnd zur Antwort. »In den Märchen, die Mama mir vorgelesen hat, leben die Waisenkinder in großen Räumen zusammen. Die Kinder haben keine eigenen Zimmer, so wie ich daheim, und müssen auch ihr Spielzeug mit den anderen teilen. Ich will aber mein Püppchen nicht hergeben. Das hat Mama selbst gemacht und …« Sie schniefte trocken.

Aurora fuhr mit der Hand tröstend über die seidigen dunklen Locken des Mädchens, die einen so wunderbaren Kontrast zu ihren blauen Augen bildeten, die ein Erbe ihrer Mutter waren.

»Liebes, Sophienlust ist kein Waisenhaus im üblichen Sinn, sondern ein gemütliches Heim für Kinder, die aus irgendeinem Grund in Not geraten sind. Viele haben keine Eltern mehr, aber andere sind hier nur vorübergehend untergebracht, weil es die Umstände erfordern, so wie bei dir. Und es gibt auch keine Schlafsäle, sondern hübsche kleine Zimmer, die die Kinder allein oder zu zweit bewohnen. Da ist genug Raum für Privatsphäre und deine persönlichen Dinge.« Sie gab der Kleinen einen zärtlichen Nasenstüber. »Jetzt lächele mal, Miesepeter sind hier nicht willkommen.«

Als Leonie noch immer gequält dreinblickte, sah sich Aurora gezwungen, zu einer List zu greifen: »Oder soll ich Simone fragen, ob sie dich in ihre Familie aufnimmt, bis ich dich zu mir holen kann? Platz genug hätte sie in ihrem großen Haus.«

»Oh nein!« Leonie riss bestürzt die Hände hoch. »Dann schon lieber das Heim.« Sie löste den Sicherheitsgurt und schlüpfte hastig aus dem Auto.

Aurora feixte. Die Drohung, mit Simones wilden Drillingen zusammenleben zu müssen, hatte gefruchtet. Mit diesen kam Leonie gar nicht zurecht und fühlte sich von deren Temperament überfordert.

*

Kaum war Leonie neben ihrer Tante die Freitreppe hinaufgestiegen und mit ihr durch die große Eingangstür gegangen, da sauste ein riesiges braun-weißes Ungetüm auf sie zu und stieß sie beinahe um.

»Igitt, du sabberst«, schimpfte sie, als der Hund sie freudig abschleckte. Sie stemmte sich gegen seinen gewaltigen Körper und versuchte, ihn von sich zu schieben.

Da war Nick auch schon heran. Er packte den großen Bernhardiner am Halsband und zog ihn von Leonie weg. »Aus, Barri!«, befahl er streng. Der so Gemaßregelte setzte sich und schaute Leonie treuherzig an.

»Entschuldige, aber so begrüßt Barri Leute, die er mag. Dabei hat er jedoch übersehen, dass du noch ein Floh und seinem Körpergewicht kaum gewachsen bist.«

Leonies Gesicht verdunkelte sich. »Ich bin kein Floh, ich bin ein kleines Mädchen«, protestierte sie.

»Nicht zu übersehen«, grinste Nick. »Und ein hübsches noch dazu.« Er reichte der Kleinen die Hand. »Ich bin Nick.«

»Der Heimleiter?«, staunte Leonie und musterte den jungen Burschen ungläubig.

»Ja, warum verwundert dich das?« Nick lächelte.

»Du bist doch viel zu jung«, grübelte Leonie und runzelte die Stirn. »Die Heimväter in meinem Märchenbuch sind weise alte Männer mit Bart und grauem Haar. Auch sind sie sehr streng.«