Für meine Familie und im Gedenken an 傅惠民 (1932–2019)
Zu Beginn des Romans ist Meilin eine junge Mutter, deren Mann im Krieg ist. Ihr Leben ändert sich schlagartig, als sie gezwungen ist, mit ihrer Familie aus ihrer Stadt zu fliehen. Meilin ist unerschütterlich und schlagfertig, hartnäckig und wehrhaft, und sie würde alles tun, um ihren Sohn zu beschützen – ob er an ihrer Seite steht oder auf der anderen Seite der Welt.
Renshu begegnet uns zuerst als pummeliger, aufgeweckter Knirps, verspielt und voller Schalk. Er liebt seine Mama, vergöttert seine Cousine Liling und seinen Onkel Longwei. Als einziger Sohn eines Sohns in der Dao-Familie erfüllt er alle mit Stolz. Renshu wächst auf und emigriert in die USA, wo er sich Henry Dao nennt. Zerrissen zwischen seiner Vergangenheit in China und der Gegenwart mit seiner Familie in den USA, sucht er nach einem Weg, beide Seiten zu beschützen und zu vereinen.
Longwei ist Meilins Schwager und Renshus Onkel. Er ist ein mächtiger Mann, gewieft und charmant – aber nicht vollkommen vertrauenswürdig. Ist er eine Hilfe, ist er ein Hindernis? Wie Meilin tappen wir im Dunkeln. Sie vertraut ihm, weil es scheint, als bliebe ihr keine Wahl, bis sie einsieht, dass sie ihn vielleicht gar nicht braucht. Longwei bleibt unergründlich bis zum Schluss.
Lily ist Meilins Enkelin. Sie ist neugierig, eifrig und unerschrocken, das Leben kostet sie aus. Lily sehnt sich danach, mehr über ihre Großmutter Meilin und die Vergangenheit ihres Vaters zu erfahren, aber Henry erzählt kein Wort. Er wünscht sich nichts sehnlicher, als seiner Tochter die Sicherheit und Stabilität geben zu können, die er als Kind nie erfahren hat. Aber Lily will etwas ganz anderes.
Erzähl’s uns, sagen sie, erzähl uns, woher du kommst.
Er kommt vom Gehen, Gehen und Gehen. Er kommt von löchrigen Schuhen, rissigen Fersen und wunden Zehen, die mit unebenen Wegen ebenso vertraut sind wie mit wohltuendem Gras und mit Stroh. Er kommt von Tag für Tag wechselnden Nachtlagern, mal in der Stadt, mal auf dem Land. Von Pfaden, die sich um Berge winden und durch Täler ziehen. Von Wasserstraßen in Dunst und Nebel.
Er kommt vom Durchqueren Chinas.
Erzähl uns deine Erinnerungen, sagen sie.
Er erinnert sich an schwach brennende Petroleumlampen, an den Geruch von Holzrauch, an kalte Steinböden unter den nackten Füßen. An erregte Stimmen, klimpernde Münzen und knarzende Karren in der Nacht. Er erinnert sich an ein Vexierbild aus Sandelholz. Es zeigte hundert Affen, doch wenn man es auf den Kopf drehte, waren es neunundneunzig. Wie konnte dieser eine Affe zugleich da sein und nicht da sein? Er kommt von diesem Rätsel.
Erzähl uns mehr, sagen sie und rücken an ihn heran. Wie bist du hierhergekommen?
Er hat Flüsse überquert und Meere.
Er trug eine Armbanduhr bei sich, die er einem Seemann abgekauft hatte, einen Brief, der ihm Türen öffnen sollte. Einen Koffer, ein Päckchen hellblaue Luftpostbriefe, ein einzelnes Paar Wollsocken.
Er folgte dem Ruf eines schönen Landes, einem verlockenden Traum, einem in der Luft liegenden Versprechen. Es zog ihn hin zum Flügelschlag von Vögeln und einem Kaleidoskop von Jahreszeiten, die er sich nie hätte vorstellen können.
Und jetzt, sagen sie mit leuchtenden Augen und schmeichelnden Stimmen, jetzt erzähl uns eine Geschichte.
Eine Geschichte zu kennen, heißt, über die seidene Oberfläche des Verlusts zu streichen, das Gewicht der Schönheit in den Händen zu spüren.
Eine Geschichte zu kennen, heißt, sie immer in sich zu tragen, wie eine Gravur in den Knochen, auch wenn sie für Jahrzehnte vergessen scheint.
Erzähl sie uns, drängen sie.
Eine Geschichte zu erzählen, so wird ihm klar, heißt, einen Samen auszusäen und ihn keimen zu lassen.