VORWORT
DUNKLE AKTEURE IM KOSMOS
Unser heutiges Standardmodell der Kosmologie hat sich in den vergangenen 20 Jahren zu einer erstaunlich präzisen Theorie entwickelt. Bis zum Ende des Jahrtausends noch stritten führende Kosmologen heftig über den Wert der Hubble-Konstante, der aktuellen Ausdehnungsrate des Universums. Während das eine Lager einen Wert von 50 Kilometer pro Sekunde und Megaparsec (rund drei Millionen Lichtjahren) vertrat, kam das andere auf einen Wert von 100. Eine Diskrepanz, die sich direkt auf die Berechnung des Weltalters übertrug. Zudem tauchte ein scheinbar unüberwindliches Dilemma auf: Das Universum schien jünger zu sein als seine ältesten Sterne. Innerhalb kurzer Zeit hat sich das Blatt dank einer Fülle von neuen Beobachtungs- und Analysemöglichkeiten vollständig gewendet: Die Kosmologie hat sich zu einer Präzisionswissenschaft entwickelt, deren zentrale Größen bis auf wenige Prozent genau bekannt sind. Das gilt auch für die Hubble-Konstante und das Alter des Universums, das Altersparadoxon ist ebenfalls beigelegt. Ein erstaunlich rasanter Fortschritt.
Aber: Das Standardmodell der Kosmologie funktioniert nur dann und ist auch nur dann in sich konsistent, wenn man zwei Ingredienzen einbezieht, über die wir so gut wie nichts wissen: Dunkle Materie und Dunkle Energie. Zusammen machen sie 95 Prozent der Materie aus. Die Entdeckung und Erforschung dieser rätselhaften Substanzen wurde zweimal mit dem Physik-Nobelpreis veredelt: 2019 erhielt ihn der Dunkle-Materie-Pionier James Peebles, 2011 ging er an Saul Perlmutter, Brian Schmidt und Adam Riess für die Entdeckung der beschleunigten Expansion des Universums, ausgelöst durch die Dunkle Energie. Unsere Kosmologie basiert also zum größten Teil auf zwei Akteuren, von denen nur die Auswirkungen erkennbar sind. Vor ähnlichen Problemen stand die Astronomie jedoch auch schon früher.
Mitte des 19. Jahrhunderts etwa bemerkten Forscher, dass die Bewegung des Planeten Uranus von der Vorhersage der Newtonschen Mechanik abwich. Theoretiker vermuteten bald die Schwerkraftwirkung eines unbekannten Planeten. Als Johann Gottfried Galle diesen später Neptun genannten Himmelskörper 1846 tatsächlich entdeckte, war die Newtonsche Theorie noch einmal gerettet. Man könnte dies als den ersten Fall von Dunkler Materie bezeichnen. Ein halbes Jahrhundert später erfuhr ein ähnlich gelagertes Problem eine andere Lösung. Die Umlaufbahn des Planeten Merkur wies ebenfalls unerklärbare Abweichungen von der Vorhersage auf. Die Suche nach einem weiteren Planeten, den man Vulkan nannte, blieb allerdings erfolglos. Auch die Schwerkraftwirkung von Staub ließ sich bald ausschließen. Hier bestand die Lösung des Problems in einer neuen Theorie der Gravitation, Einsteins Allgemeiner Relativitätstheorie aus dem Jahr 1915.
Auch das heutige Problem der fehlenden Masse lässt sich prinzipiell auf diese beiden Arten lösen: Entweder gibt es große Mengen an unsichtbarer Materie, oder die Allgemeine Relativitätstheorie muss entsprechend geändert werden. Beide Varianten werden in diesem Buch behandelt. Allerdings untersucht nur eine kleine Gruppe von Theoretikern die Möglichkeit eines abgeänderten Gravitationsgesetzes, die überwiegende Mehrheit steht hinter dem Konzept der Dunklen Materie in Form einer unbekannten Art von Elementarteilchen. Ein entscheidender Grund dafür ist die Konsistenz innerhalb des Standardmodells der Kosmologie.
Die Hinweise auf das Wirken von Dunkler Materie kommen aus ganz unterschiedlichen Bereichen der Astrophysik:
All diese Phänomene benötigen Dunkle Materie und zwar immer in den gleichen Mengen. Das macht unser heutiges Standardmodell so überzeugend. Eine abgeänderte Gravitation funktioniert dagegen nur im ersten Punkt richtig.
Dennoch bleibt das Problem, dass bislang kein einziges Dunkle-Materie-Teilchen zweifelsfrei nachgewiesen werden konnte. Und das, obwohl mutmaßlich in jeder Sekunde rund eine Milliarde Partikel der Dunklen Materie unseren Körper durchqueren, ohne dass wir davon auch nur das Geringste spüren. Das erscheint unglaublich, relativiert sich aber, wenn man bedenkt, dass im gleichen Zeitraum weit mehr Neutrinos unbemerkt durch uns hindurchschießen. Beide Teilchensorten interagieren kaum mit normaler Materie, was sie so flüchtig und vor allem schwer nachweisbar macht.
Die Dunkle Materie als unsichtbarer und unbekannter Pfeiler der Kosmologie ist eines der Topthemen der Forschung. Woraus besteht sie? Handelt es sich nur um eine Teilchensorte oder sind es vielleicht mehrere? Sind die Dunkle-Materie-Teilchen stabil oder zerfallen sie langsam? Warum ist ihre Häufigkeit gerade so wie beobachtet? Gibt es Zusammenhänge mit Problemen in der Teilchenphysik? Viele Fragen mit vielen möglichen Antworten. Für die vergangenen zehn Jahre verzeichnet das Astrophysics Data System fast 34.000 Veröffentlichungen zu diesem Thema – Tendenz steigend. Andere aktuelle Themen wie extrasolare Planeten brachten es im gleichen Zeitraum auf 20.000 Arbeiten.
In diesem Buch beschreibe ich die verschiedenen Beobachtungen, welche die Existenz von Dunkler Materie belegen, und zahlreiche Experimente, mit denen sie aufgespürt werden soll. Dabei ist die Dunkle-Materie-Forschung gar nicht einmal so jung. Der Begriff tauchte schon vor hundert Jahren auf. Ein rein chronologischer Buchaufbau erschien mir aber nicht sinnvoll, weil sich das Thema über so viele verschiedene Bereiche erstreckt. Dies hätte häufige Wechsel zwischen verschiedenen Entwicklungen erzwungen. Eine Gliederung nach Themen hielt ich daher für sinnvoller, wenngleich auch hier in manchen Kapiteln Vor- und Rückgriffe sowie Wiederholungen nötig sind. Die Erkenntnisse und Erklärungen aus verschiedenen Bereichen greifen eben häufig ineinander. Das betrifft vor allem Aspekte der Allgemeinen Relativitätstheorie und der Teilchenphysik.
Die Dunkle Energie ist nicht das eigentliche Thema dieses Buches, sie gehört aber zum Standardmodell und kann deswegen nicht ignoriert werden. Ihre Erforschung erfährt eine zusätzliche spannende Note, weil ihre Geschichte bis in die Frühzeit der Allgemeinen Relativitätstheorie zurückreicht, in der Einstein einige Jahre lang eine Kosmologische Konstante erwog, die heute in ähnlicher Form als Dunkle Energie wieder in die Kosmologie zurückgekehrt ist.
Ein Wort zum Schluss zur gendergerechten Schreibweise. Es ist ohne Zweifel sinnvoll und nötig, die Leistungen von Wissenschaftlerinnen genauso anzuerkennen und zu ehren wie die ihrer männlichen Kollegen. Das war und ist für mich eine Selbstverständlichkeit. Auch in diesem Buch tauchen viele Astronominnen auf. Derzeit gibt es viele unterschiedliche Versuche, eine gendergerechte Sprache zu realisieren, wie Sternchen, Unterstrich, Doppelpunkt oder andere Symbole zur Kennzeichnung mehrgeschlechtlicher Bezeichnungen. Umständlich und länglich sind Formulierungen wie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Möglich sind zudem neutrale Begriffe wie Forschende und Studierende. Letzteres funktioniert aber nicht, wenn man explizit von Astronomen oder Kosmologen sprechen möchte. Wie also habe ich es in diesem Buch gehalten?
Der Rat für deutsche Rechtschreibung, der für die Einheitlichkeit der Rechtschreibung im deutschen Sprachraum zuständig ist, hat im März 2021 seine Sichtweise deutlich zum Ausdruck gebracht: Die Nutzung von Gendersymbolen „innerhalb von Wörtern beeinträchtigt die Verständlichkeit, Vorlesbarkeit und automatische Übersetzbarkeit sowie vielfach auch die Eindeutigkeit und Rechtssicherheit von Begriffen und Texten. Deshalb können diese Zeichen zum jetzigen Zeitpunkt nicht in das Amtliche Regelwerk aufgenommen werden.“ Kurz: Er empfiehlt sie nicht. In einem Sachbuch wie diesem werden oft komplexe Sachverhalte beschrieben. Deren Verständnis sollte nicht durch komplizierte Wortkonstruktionen zusätzlich erschwert werden. Deshalb habe ich die klassische Schreibweise beibehalten. Wenn ich von Astronomen und Kosmologen spreche, meine ich den Beruf, den Frauen ebenso ausüben wie Männer. Entscheidend ist ihr aller Beitrag zur Erkenntnis.
KAPITEL 1
GALAXIEN DREHEN SICH – ABER ZU SCHNELL
Die Sterne in den äußeren Bereichen unserer Milchstraße und in anderen Galaxien bewegen sich viel schneller, als es die Schwerkraft der sichtbaren Materie „erlaubt“. Schon in den 1920er-Jahren tauchte deshalb erstmals der Verdacht auf, dass es große Mengen an unsichtbarer Materie geben muss. Doch erst ein halbes Jahrhundert später war klar, dass Dunkle Materie die Dynamik von Galaxien dominiert.
Hat man das mittlerweile selten gewordene Glück, einen dunklen Nachthimmel fernab von störenden Lichtquellen genießen zu können, so erkennt man zu bestimmten Zeiten das schwache Schimmern der Milchstraße. Sie tritt als Band in Erscheinung, das die gesamte Himmelssphäre umspannt. Die Galaxis, wie man sie auch nennt, hat schon die alten Gelehrten beschäftigt und zu ganz unterschiedlichen Deutungen ihrer Natur geführt.
Abb. 1.1: Wir leben inmitten einer Spiralgalaxie, die wir am Himmel als schimmerndes Milchstraßenband erkennen können.
© ESA/Gaia/DPAC; CC BY-SA 3.0 IGO, A. Moitinho
DIE RÄTSELHAFTE NATUR DER NEBEL
Die Idee, dass die am Himmel verstreuten Sterne und die Milchstraße gemeinsam ein räumliches System bilden, kam Mitte des 18. Jahrhunderts auf. Der Engländer Thomas Wright, der Deutsche Immanuel Kant und der Elsässer Johann Heinrich Lambert hatten bereits die qualitative Vorstellung einer scheibenförmigen Anordnung der Gestirne. Die erste wissenschaftlich quantitative Untersuchung aber gelang Friedrich Wilhelm Herschel.
Abb. 1.2: Friedrich Wilhelm Herschel entdeckte den Planeten Uranus und erstellte eine erste Karte der Milchstraße.
© wikimedia/Paul Fouch
Der 1738 in Hannover geborene Herschel war nach England geflohen, um dem Krieg gegen Frankreich zu entgehen. Dort verdiente er sein Geld als erfolgreicher Komponist und Organist und wurde 1766 sogar Musikdirektor in Bath. Doch dann entdeckte er seine Leidenschaft für die Himmelskunde, der er mehr und mehr verfiel. Da er mit der Qualität der damals käuflichen Fernrohre nicht zufrieden war, begann er, eigene Spiegelteleskope zu bauen. Schon bald übertrafen sie alle bis dahin verfügbaren Instrumente. Im Jahr 1781 wurde er schlagartig weltberühmt, als er den Planeten Uranus entdeckte. Erstmals hatte ein Mensch ein weiteres Mitglied des Sonnensystems jenseits des Saturn erblickt.
Wegweisend war seine Untersuchung der Milchstraße, die er wenig später begann. Um die räumliche Verteilung der in der Milchstraße erkennbaren Sterne zu ermitteln, müssen ihre Entfernungen bekannt sein. Zur damaligen Zeit gab es jedoch keine Möglichkeit, diese zu messen. Herschel war deswegen auf eine rein statistische Methode angewiesen. Dabei ging er davon aus, dass alle Sterne so hell sind wie unsere Sonne und nur deswegen verschieden hell erscheinen, weil sie unterschiedlich weit von uns entfernt sind. Für diese Hypothese gab es keinerlei Beweise, sie war lediglich die einfachste aller denkbaren Voraussetzungen. Heute wissen wir, dass diese Annahme nicht ganz stimmt. Sterne können unterschiedlich massereich und leuchtkräftig sein. Aber die Sonne ist ein gewöhnlicher Sterntyp, und die meisten Sterne sind zumindest ähnlich hell. Deshalb kam Herschel mit seiner Methode zu einem immerhin qualitativ stimmigen Bild von der Struktur der Milchstraße.
In der Praxis ging er folgendermaßen vor: Er stellte sein Fernrohr fest auf, zählte die Sterne, die durch sein Blickfeld zogen und schätzte ihre Helligkeit. Je lichtschwächer ein Stern erschien, desto weiter war er seiner Meinung nach entfernt. Hierfür musste Herschel eine Skala einführen, in die er die Helligkeiten der Sterne relativ zu unserer Sonne einstufte. Da er glaubte, wirklich alle Gestirne zu erblicken, versuchte er auf diese Weise, die äußeren Grenzen des die Sonne umgebenden Sternsystems abzustecken. Nacht für Nacht saß er im Garten seines Hauses im kleinen Ort Datchet, wobei ihm seine Schwester Caroline zur Seite stand und seine Sternangaben notierte. Sie wurde selbst eine berühmte Astronomin und ging insbesondere als Entdeckerin mehrerer Kometen in die Geschichte ein.
Nach jahrelangen Beobachtungen, in denen Herschel insgesamt 116.000 Sterne charakterisiert hatte, veröffentlichte er 1785 das Ergebnis. Demnach besaß die Milchstraße eine scheibenähnliche Form mit einer Ausdehnung von einigen hundert Lichtjahren und war am Rand ausgefranst (Abbildung 1.3). Wie wir heute wissen, sind dichte Staubnebel, die den Blick auf dahinter liegende Sterne verdecken, die Ursache für diese „Einbuchtungen“. Interessant war auch, dass sich unser Sonnensystem nicht genau im Zentrum der Milchstraße befand. Das war ein weiterer Schlag gegen die Vorstellung, der Mensch lebe im Mittelpunkt des Universums. Herschel hatte damit zwar die wahren Ausmaße der Milchstraße von 100.000 Lichtjahren weit unterschätzt, qualitativ jedoch ihre räumliche Form bereits recht gut ermittelt.
Abb. 1.3: Herschels Karte der Milchstraße mit dem Sonnensystem etwas rechts vom Zentrum
© F. W. Herschel, Phil. Trans. 75, 213 (1785)
Entscheidend für den weiteren Verlauf der Geschichte war aber auch, dass Herschel sozusagen „nebenbei“ mehr als 2500 Nebel entdeckte, sie nach ihrer Form ordnete und katalogisierte. Einige waren kugelförmig, andere diffus und wieder andere wiesen eine Spiralform auf (Abbildung 1.4). Um die Natur dieser Nebel entbrannte ein heftiger Streit. Herschel selbst vermutete, dass es sich zumindest in einigen Fällen um Gaswolken handele, in denen neue Sterne entstehen. Die Vorstellung, dass Sterne geboren werden und vielleicht auch sterben, stieß bei den meisten Kollegen auf heftigen Widerstand. Doch 1796 veröffentlichte der französische Mathematiker Pierre Simon de Laplace eine Theorie, in der er die Entstehung der Sonne und ihrer Planeten aus einer rotierenden Wolke beschrieb. So konnte er beispielsweise erklären, warum alle Planeten die Sonne in der gleichen Richtung umkreisen. Diese Interpretation der Nebel hatte eine entscheidende Konsequenz: Sie müssten sich alle innerhalb unserer Milchstraße befinden. Die Anhänger von Laplace waren daher der Meinung, dass es im gesamten Universum nur ein einziges umfassendes Sternsystem gab: die Milchstraße.
Abb. 1.4: Einige der über 2500 Nebel, die Friedrich Wilhelm Herschel am Himmel entdeckte
© Royal Society and the Royal Astronomy Society: The Scientific Papers of Sir William Herschel, 1912 via The University of Chicago Library
Es gab jedoch auch eine andere Deutung der Nebel. Sie ging auf den Philosophen Immanuel Kant zurück. In seiner Allgemeinen Naturgeschichte und Theorie des Himmels behauptete er schon 1755, dass es sich dabei um eigene Milchstraßensysteme handele. Diese seien jedoch so weit entfernt, dass die darin befindlichen Sterne nicht einzeln wahrnehmbar seien. Das war für die damalige Zeit vor Herschels Beobachtungen eine äußerst gewagte Hypothese. Sie implizierte, dass das Universum von einer unermesslichen Zahl an Milchstraßen erfüllt sein müsse, die Kant Welteninseln nannte.
Immer wieder beschäftigten sich bedeutende Astronomen mit den ominösen Nebeln, insbesondere fertigten sie detaillierte Zeichnungen an, um möglicherweise Veränderungen zu entdecken, die sich vielleicht erst im Verlauf von Jahren oder Jahrzehnten zeigten. Für Aufsehen sorgte 1845 Lord Rosse, der mit seinem „Leviathan“ genannten Riesenteleskop in einem Nebel mit der Bezeichnung Messier 51 eine Spiralstruktur entdeckte (Abbildung 1.5). Doch Klarheit über die Ursache und Natur dieser Form brachte auch diese Beobachtung nicht. Dazu bedurfte es neuer technischer Errungenschaften: der Spektroskopie und der Fotografie.
Abb. 1.5: Der Nebel Messier 51 in einer Zeichnung von Lord Rosse, rechts daneben ein Foto des Hubble-Weltraumteleskops
© links: William Parsons, Observations on the Nebulae, Philosophical Transactions of the Royal Society, 140, 499-514 (1850); rechts: NASA, ESA, S. Beckwith (STScI) and the Hubble Heritage Team (STScI/AURA)
Dem englischen Astronomen William Huggins gelang es 1864 erstmals, das Licht eines Nebels mit einem Prisma in seine Spektralfarben zu zerlegen. 16 Jahre später nahm der amerikanische Astronom Henry Draper das erste Foto des Orion-Nebels auf. Damit hatten diese beiden Pioniere die Tür zur modernen Astrophysik aufgestoßen. Die Spektralanalyse ermöglichte es erstmals, die chemische Zusammensetzung eines Nebels oder eines Sterns zu ermitteln. Darüber hinaus ließen sich nun auch andere Größen wie die Geschwindigkeit eines Himmelskörpers oder dessen Temperatur aus dem Spektrum herauslesen. Die Fotografie ersetzte das Auge. Sie brachte mehr Objektivität in die astronomische Diskussion und ließ bei sehr langen Belichtungszeiten lichtschwache Details erkennen.
Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts lagen von einigen hellen Nebeln Spektren vor. Sie zeigten eindeutig, dass etliche von ihnen (wie der Orion-Nebel) aus Gas bestehen. Durch Vergleich mit den Spektren heißer Gase im Labor konnte Huggins sogar die Elemente Wasserstoff und Stickstoff identifizieren. Nicht so jedoch beim Andromeda-Nebel, der auch als Messier 31 (M 31) bezeichnet wird. Wie Julius Scheiner, Direktor des Astrophysikalischen Observatoriums Potsdam, 1899 herausfand, wies dieser ein reines Sternspektrum auf. Damit konnten sich die Astronomen sicher sein, dass dieser Nebel tatsächlich eine Sternansammlung ist, obwohl er auf Fotos nach wie vor nebulös erschien.
Die wahre Natur dieser fahlen Wölkchen blieb umstritten. Um zwischen den Theorien von Kant und Laplace unterscheiden zu können, benötigten die Astronomen eine zuverlässige Methode der Entfernungsbestimmung. Befanden sich die Nebel innerhalb der Milchstraße, waren sie vielleicht einige hundert oder tausend Lichtjahre entfernt, handelte es sich hingegen um ferne Welteninseln, so mussten uns Millionen Lichtjahre oder mehr von ihnen trennen.
SPIRALNEBEL – ROTIERENDE STERNKARUSSELLS
Noch bevor diese Frage endgültig geklärt wurde, fanden Astronomen heraus, dass sich die Spiralnebel drehen. 1914 gelang es Vesto Slipher am Lowell Observatory in Arizona und Max Wolf an der Sternwarte auf dem Königstuhl in Heidelberg, Spektren vom Andromeda-Nebel und von Messier 104 (heute als Sombrerogalaxie bekannt) aufzunehmen – allerdings nur vom hellen Zentralteil. Der Rest des Nebels war zu lichtschwach.
Welcher Aufwand für eine solche Aufnahme nötig war, schildert Francis Pease, der mit dem 60-Zoll-Teleskop des Mount-Wilson-Observatoriums ebenfalls den Andromeda-Nebel ins Visier nahm, um höher aufgelöste Spektren zu erhalten. Für das erste Spektrum belichtete er eine Fotoplatte im August, September und Oktober 1916 insgesamt 84 Stunden lang, im folgenden Jahr erzielte er ein zweites Spektrum mit 79 Stunden Belichtungszeit. Doch auch hiermit konnte er nur die hellsten, inneren zwei Prozent von Messier 31 abdecken.
Die Spektren enthalten Fingerabdrücke von einigen chemischen Elementen, die als dunkle Linien erkennbar sind. Bewegen sich die Sterne relativ zu uns, so verschieben sich diese Linien: Kommt ein Stern auf uns zu, wandern sie zu kürzeren Wellenlängen und damit zum blauen Bereich des Spektrums. Fliegt ein Stern von uns weg, verschieben sich die Linien zu größeren Wellenlängen, also zum roten Bereich. Aus der Größe der Blau- oder Rotverschiebung ergibt sich direkt die Geschwindigkeit des Sterns relativ zu uns.
Wir kennen diesen Doppler-Effekt aus dem Alltag: Wenn ein Polizeiauto mit eingeschaltetem Martinshorn auf uns zufährt, klingt der Ton höher, als wenn es sich von uns entfernt. Stellt man sich die Schallwellen des Martinshorns als gleichmäßige Folge von Wellenbergen und Wellentälern vor, so erreichen unser Ohr beim Herannahen mehr Wellenzüge pro Sekunde als beim Entfernen. Das bedeutet, die Frequenz der akustischen Welle nimmt zu (die Wellenlänge wird kleiner), beim Entfernen nimmt sie ab (die Wellenlänge wird größer). Wir nehmen dies als Änderung der Tonhöhe wahr. Dieser Effekt funktioniert auch bei jeder Art von elektromagnetischer Welle wie Licht. Die Wellenlängenänderung im Spektrum misst man relativ zu einer in Ruhe befindlichen Lampe im Spektrografen.
Mit dieser Methode konnten die Astronomen damals nicht nur qualitativ die Rotation der Nebel nachweisen (vgl. Abbildung 1.13), sondern auch Rückschlüsse auf die Masse in ihrem Zentralbereich ziehen. Grundlage hierfür waren die Newtonsche Physik und das Keplersche Bewegungsgesetz, wie wir es aus dem Sonnensystem kennen. Hier ruht im Zentrum die Sonne. Würden die Planeten stillstehen, so würden sie durch die Schwerkraft in unser Zentralgestirn hineingezogen. Durch ihren Umlauf wirkt jedoch die Zentrifugalkraft auf sie, die genauso groß wie die Schwerkraft, jedoch genau entgegengesetzt gerichtet ist. Die beiden Kräfte heben sich gegenseitig auf, so dass die Planeten auf stabilen Bahnen die Sonne umlaufen. Dabei nimmt die Geschwindigkeit von innen nach außen ab.
Das Newtonsche Gesetz besitzt eine interessante Eigenschaft. Die Umlaufgeschwindigkeit eines Planeten hängt nämlich nur von der Masse des Zentralgestirns und von der Entfernung zu ihm ab. Die Masse des Planeten hat auf die Geschwindigkeit keinerlei Einfluss: Auf einer bestimmten Bahn bewegt sich ein Planet mit der gleichen Geschwindigkeit um die Sonne wie ein Staubkorn. Oder falls die Erde der Zentralkörper ist: Bei einem Außenbordeinsatz schweben Astronauten neben der Internationalen Raumstation, weil beide gleich schnell kreisen. Deshalb lässt sich beispielsweise die Masse der Sonne berechnen, wenn die Umlaufgeschwindigkeit eines Planeten und der Radius seiner Bahn bekannt sind. Dieses Kepler-Gesetz gilt für alle Systeme, in denen Körper einen Zentralbereich umkreisen.
Genau genommen muss man sagen: Es zählt die gesamte Materie innerhalb der jeweiligen Planetenbahn. Beim innersten Planeten Merkur ist dies nur die Sonne, bei der Erde aber befinden sich innerhalb ihrer Bahn zusätzlich zur Sonnenmasse noch diejenigen von Merkur und Venus. Deren Massenanteil ist indes so gering, dass man ihn meist vernachlässigen kann.
Bei den Galaxien ist es sehr ähnlich. Allerdings ruht hier im Zentrum nicht eine einzige dominierende Masse, um die sich die Sterne bewegen, sondern die Spiralgalaxien weisen eine bestimmte Massenverteilung auf, die man bereits auf den Aufnahmen beispielsweise des Andromeda-Nebels erkennt (vgl. Abbildung 1.7). Er besitzt einen nahezu kugelförmigen Kernbereich, den die Astronomen auch „Bulge“ (englisch für Wulst oder Bauch) nennen. Darin sind so viele Sterne versammelt, dass sie nicht mehr einzeln erkennbar sind. Je weiter ein Stern vom Zentrum entfernt ist, desto mehr Sterne befinden sich innerhalb seiner Umlaufbahn. Deshalb erwartet man hier, im Gegensatz zum Sonnensystem, dass die Umlaufgeschwindigkeit mit dem Abstand wächst. Genau das konnten Slipher, Wolf und Pease mit ihren Spektren vom Bulge des Andromeda-Nebels und von Messier 104 bestätigen. Allerdings konnten sie nicht die Masse darin bestimmen, denn dafür hätten sie die Entfernungen kennen müssen.
Im April 1920 trafen sich führende Astronomen zu einer Tagung der National Academy of Sciences in Washington, um über die Entfernungen der Nebel und deren Natur zu diskutieren. Diese „Große Debatte“ ging in die Geschichte der Kosmologie ein, brachte aber auch kein unumstößliches Ergebnis. Die beiden Lager der Nebel- und der Welteninselfraktion blieben unversöhnlich. Den Gordischen Knoten durchschlug drei Jahre später einer der bedeutendsten Astronomen seiner Zeit: Edwin Hubble.
Abb.1.6: Edwin Hubble entdeckte die Galaxienflucht und legte damit den Grundstein für die Urknalltheorie.
© Calisphere/California Institute of Technology
Der 1889 in Marshfield, Missouri, geborene Hubble studierte auf Wunsch seines Vaters Jura, doch weiter als bis zu einer bestandenen Zwischenprüfung kam er nicht. Die Rechtslehre war nicht sein Fall, und nach anfänglichen Versuchen, als Sprachlehrer zu arbeiten, besann er sich plötzlich auf seine alte Leidenschaft: die Astronomie. Kurzentschlossen bemühte er sich um eine Doktorarbeit und wurde tatsächlich am Yerkes-Observatorium angenommen, das damals über das größte Linsenfernrohr der Welt verfügte. Nach einem brillanten Doktorexamen und einem kurzen Einsatz im Ersten Weltkrieg nahm er eine Stelle am Mount-Wilson-Observatorium an. Dort verfügte er über die leistungsstärksten Teleskope seiner Zeit und konzentrierte sich ganz auf die Untersuchung von Nebeln. Hier entwickelte er auch die noch heute gebräuchliche Klassifikation von Spiral- und elliptischen Nebeln.
Die entscheidende Entdeckung gelang ihm im Oktober 1923: Auf einer Aufnahme des Andromeda-Nebels fand er einen Stern, dessen Helligkeit periodisch schwankte. Es handelte sich um einen Vertreter des Typs Delta Cephei. Diese Sterne weisen einen charakteristischen Zusammenhang zwischen ihrer absoluten Leuchtkraft und der Periode ihrer Helligkeitsschwankung auf, wie die amerikanische Astronomin Henrietta Leavitt schon 1912 herausgefunden hatte. Dies eröffnete die einzigartige Möglichkeit, die Entfernung des Andromeda-Nebels zu ermitteln. Hubble vermaß dazu die Periodendauer des entdeckten Delta-Cepheiden zu 31,4 Tagen sowie dessen scheinbare Helligkeit, also wie hell der Stern auf der Aufnahme erschien. Nun konnte er aus Leavitts Perioden-Helligkeits-Beziehung seine absolute Leuchtkraft bestimmen, und aus dem Unterschied von scheinbarer zu absoluter Helligkeit ergab sich seine Entfernung.
Abb. 1.7: Die Andromeda-Galaxie, in der Hubble einen Delta-Cephei-Stern entdeckte
© Martin Gertz, Sternwarte Welzheim
Der ermittelte Wert von sagenhaften 900.000 Lichtjahren beendete die jahrhundertealte Debatte zumindest über die Natur der Spiralnebel mit einem Schlag: Der Andromeda-Nebel ist eine Galaxie wie unsere Milchstraße, und damit sind auch alle anderen Spiralnebel ferne Welteninseln im Sinne Kants. Sie bevölkern ein möglicherweise unendlich großes Universum. Als der prominenteste Gegner der Welteninsel-Hypothese, Harlow Shapley, von dieser Entdeckung erfuhr, sagte er zu seiner Doktorandin Cecilia Payne: „Hier ist der Brief, der mein Universum zerstört hat!“ Gasnebel, wie derjenige im Schwert des Orion, befinden sich hingegen innerhalb der Milchstraße. Einige von ihnen sind tatsächlich Sternentstehungsgebiete, womit auch Laplace nicht ganz Unrecht gehabt hat.
Mit der nun bekannten Entfernung konnte Hubble aus den zuvor gemessenen Rotationsgeschwindigkeiten auch die Masse der Sterne im zentralen Bulge der Andromeda-Galaxie berechnen. Demnach befanden sich innerhalb eines Radius von 650 Lichtjahren vom Zentrum 240 Millionen Sonnenmassen. Hubble schätzte zudem, dass die Milchstraße größer sei als die Andromeda-Galaxie. Diese Fehleinschätzung lag zum Teil daran, dass Messier 31 in Wirklichkeit fast dreimal weiter von uns entfernt ist als von ihm berechnet.
Von dieser neuen Erkenntnis über den Andromeda-Nebel beflügelt, untersuchte Hubble weitere Galaxien, wobei ihm 1929 erneut eine bahnbrechende Entdeckung gelang: Fast alle Galaxien streben von uns fort, und ihre Geschwindigkeit wächst mit der Entfernung (Abbildung 1.8). Bald wurde klar, dass wir hier die Ausdehnung des Raumes beobachten. Daraus ergab sich folgerichtig die Entstehung des Universums aus einem Punkt heraus.
Abb. 1.8: Das Diagramm, das die Kosmologie revolutionierte: die von Edwin Hubble gemessene Galaxienflucht
© Gerhard Weiland, Köln/KOSMOS
STERNE ÜBERSCHREITEN DAS TEMPOLIMIT
Galaxien gerieten nun verstärkt ins Interesse der Astronomen. Eine zentrale Frage war: Inwiefern sind die Milchstraße und die Spiralgalaxien vergleichbar? Die Struktur unserer Galaxis lässt sich ungleich schwerer ermitteln als die der Spiralgalaxien, weil wir uns innerhalb des Systems befinden und dadurch nur bedingt einen Überblick erhalten können. So war nicht klar, ob die bei vielen Galaxien erkennbare Spiralstruktur in gleicher Form auch bei der Milchstraße auftritt.
Das Mittel der Wahl blieb die Spektroskopie der fernen Sternsysteme, weil sie Aufschluss über die Bewegung und Masse der Sterne lieferte. Doch die Aufnahme von Spektren gestaltete sich weiterhin mühsam. Insbesondere war es kaum möglich, die Geschwindigkeiten von Objekten in den lichtschwachen Außenbereichen der Scheiben zu bestimmen. Im Vergleich zu den hellen Zentralgebieten waren hier offenbar nicht mehr sehr viele Sterne zu erwarten. Man ging deshalb davon aus, dass die Sterne und Gaswolken in den äußeren Regionen das Zentralgebiet fast genau dem Kepler-Gesetz entsprechend umkreisten. Dann müssten die Geschwindigkeiten mit wachsendem Abstand vom Galaxienzentrum in einer Weise abnehmen, wie man es im Sonnensystem findet. Der gesamte Verlauf der Geschwindigkeiten vom Zentrum ausgehend bis hin zu den Außenbereichen wird Rotationskurve genannt.
In diese Phase der Stagnation kam ein Student namens Horace Babcock an das Lick-Observatorium in Berkeley, wo ihm für seine Doktorarbeit ein neuer Spektrograf zur Verfügung stand. Mit diesem Gerät wollte er die Rotationskurve der Andromeda-Galaxie bis in große Entfernungen vom Zentrum messen. Das Ergebnis war überraschend: Statt des erwarteten Abfalls schienen die Geschwindigkeiten bis in die Außenbereiche eher zuzunehmen, allenfalls blieben sie unverändert hoch. Babcock schloss seine Arbeit, die er 1939 im Lick Observatory Bulletin veröffentlichte, mit den Worten: „Die nahezu konstante Winkelgeschwindigkeit in den Außenbereichen von M 31 ist das Gegenteil von der ‚Planetentyp-Rotation‘, wie man sie in den Außenbereichen unserer Galaxis erwartet.“
Babcock vermutete jedoch, dass die wenigen Objekte, die er in den Außenbezirken noch hatte nachweisen können, möglicherweise in ihrer Bewegung von der Spiralstruktur und einer nicht weiter erklärten „internen Gravitationsviskosität“ beeinflusst sein könnten. Überdies kam das spektroskopisch analysierte Licht nicht von Sternen, sondern von hellen Gasnebeln, deren Bewegung zum Beispiel durch Magnetfelder gestört sein konnte. Für die Massenbestimmung der Andromeda-Galaxie ignorierte Babcock die äußersten Bereiche und kam auch ohne sie auf den erheblichen Wert von 100 Milliarden Sonnen.
Babcock war damit auf die mögliche Existenz einer unsichtbaren Materie gestoßen, konnte sich aber zu dieser Hypothese nicht durchringen. Denn wenn die Geschwindigkeiten der Körper mit wachsendem Abstand vom Zentrum nicht abnehmen, sondern konstant bleiben, muss sich innerhalb der Umlaufbahnen dieser Körper unsichtbare Materie befinden, die eine erhebliche Schwerkraft ausübt. Mit anderen Worten: Die Galaxie dreht sich mit Blick auf die sichtbare Materie viel zu schnell. Man kann dies entfernt mit einem Kettenkarussell vergleichen, dessen Sessel so schnell herumsausen, dass die Ketten reißen. Aber die Spiralgalaxien hielten ganz offensichtlich zusammen, man sah jedenfalls keine einzige auseinanderfliegen.
Im gleichen Jahr stieß der niederländische Astronom Jan Hendrik Oort von der Sternwarte Leiden auf das gleiche Problem. Er hatte Spektren seines Kollegen Milton Humason ausgewertet, die dieser am Mount-Wilson-Observatorium von der Galaxie NGC 3115 aufgenommen hatte. Sie zählt zu den linsenförmigen Galaxien mit einem zentralen Bulge und einer ausgeprägten Scheibe, aber ohne Spiralarme. Auch in diesem Sternsystem schienen die Umlaufgeschwindigkeiten der Sterne mit wachsendem Abstand vom Zentrum nicht abzunehmen. Auf einem Symposium am McDonald-Observatorium in Texas sagte Oort: „Die Massenverteilung scheint fast keine Beziehung zu der des Lichts zu haben.“ Oort vermutete als Ursache sehr lichtschwache und damit nicht mehr erkennbare Zwergsterne oder große Mengen an interstellarer Materie. Dieses überraschende Ergebnis einer zu schnellen Rotation bestätigten zwei Jahre später zwei Astronomen bei der Andromeda-Galaxie.
Die Messdaten waren jedoch mit großen Fehlern behaftet, weshalb die meisten Astronomen den Ergebnissen misstrauten. Noch 1959 schloss der namhafte Kosmologe Gérard de Vaucouleurs im Handbuch für Physik: „In allen Fällen besteht die Rotationskurve aus einem geraden inneren Bereich [...], jenseits dessen die Rotationsgeschwindigkeit mit zunehmendem Abstand vom Zentrum abnimmt und zum dritten Keplerschen Gesetz tendiert.“ Also alles so, wie vermutet.
Ebenfalls im Jahr 1959 unternahmen Franz Kahn und Lodewijk Woltjer von der Universität Princeton einen originellen Versuch, die Massen der Milchstraße und der Andromeda-Galaxie zu bestimmen. Letztere ist die einzige große Galaxie, die sich nicht nach dem Hubble-Gesetz und der Expansion des Raums von uns entfernt, sondern auf uns zukommt. Die Schwerkraft musste also in diesem Fall die Expansion übertreffen. Aus der damals gemessenen Geschwindigkeit von 125 Kilometer pro Sekunde rechneten die Forscher aus, wie viel Masse die beiden Galaxien zusammen besitzen müssten, damit dies der Fall ist. Das Ergebnis von 1,2 Billionen Sonnenmassen übertraf die damaligen Schätzungen basierend auf der Gesamthelligkeit aller Sterne um das Sechsfache. Wo sich diese fehlende Materie befinden könnte, blieb rätselhaft.
In dieser Phase, in der die ersten Rotationskurven von Spiralgalaxien auf die Existenz einer unsichtbaren Substanz hindeuteten, betrat Vera Rubin die wissenschaftliche Bühne. Ihre Beobachtungen sollten den Durchbruch bringen. Rubin wurde 1928 in Philadelphia, Pennsylvania, geboren und zog im Alter von zehn Jahren mit ihrer Familie nach Washington. Schon als Kind entdeckte sie ihr Interesse an der Astronomie und baute sich ein Fernrohr. Fasziniert beobachtete sie den Sternenhimmel. „Wie kann man nur auf der Erde leben und diese Dinge nicht erforschen wollen?“, fragte sie später einmal rhetorisch. Am Vassar College im Staat New York nahm sie ihr Studium auf und schloss es 1948 als einzige Astronomie-Studentin ihrer Klasse ab. Noch im gleichen Jahr heiratete sie. Ihren Masterabschluss machte sie an der Cornell-Universität.
Abb. 1.9: Vera Rubin vermaß gemeinsam mit Kent Ford exakt die Rotationskurven von Spiralgalaxien.
© beide: Carnegie Institution for Science
Als Frau und Mutter von drei Kindern hatte sie es nicht leicht in der Astronomie. Zunächst wollte sie in Princeton studieren, wurde aber abgelehnt, weil die Universität keine Frauen aufnahm. (Im Jahr 2005 verlieh diese Universität ihr die Ehrendoktorwürde). Später wollte sie mit dem Hale-Teleskop am Palomar-Observatorium in Kalifornien beobachten, wurde aber abgewiesen, weil die Einrichtung bis in die 1960er-Jahre hinein ebenfalls keine Frauen zuließ. Schließlich gelang es ihr dennoch, als erste Frau dort zu beobachten (zuvor hatte nur Margaret Burbidge diesen Zugang bekommen, indem sie ihren Mann als Strohmann vorgeschickt hatte). All das schreckte sie nicht. Mit ihrer Familie zog sie nach Washington, wo sie 1954 an der Georgetown University über Galaxienhaufen promovierte.
Vera Rubin hat sich als Frau in einer damaligen Männerdomäne durchgeboxt. Neben vielen anderen Auszeichnungen erhielt sie 1996 die Goldmedaille der Royal Astronomical Society – als erste Frau nach Caroline Herschel im Jahr 1828. Bis zu ihrem Lebensende im Jahr 2016 setzte sie sich für ihre Kolleginnen in der Forschung ein. Wenn bei einer Tagung zu wenige Frauen als Rednerinnen aufgelistet waren, verlangte sie von den Organisatoren, weitere einzuladen und sagte: „Weltweit steckt die Hälfte aller Gehirne in Frauen.“ Und als sie 2002 die höchste Auszeichnung für Arbeiten in der Kosmologie – den Gruber-Preis – erhielt, lobte man neben ihren Forschungserfolgen ausdrücklich ihre Vorbildfunktion für Frauen in der Wissenschaft.
In Georgetown hatte Rubin Vorlesungen über die innere Dynamik von Galaxien gehört und war von dem Thema so fasziniert, dass es sie ihr Leben lang nicht mehr losließ. Zunächst aber beobachtete sie nicht ferne Galaxien, sondern unsere eigene Milchstraße. Es war mittlerweile bekannt, dass die Milchstraße der Andromeda-Galaxie M 31 ähnelt. Auf der einen Seite waren die großräumige Struktur und die Bewegung der Sterne in unserer Heimatgalaxie schwerer zu beobachten als in M 31. Auf der anderen Seite ist M 31 aber sehr weit entfernt, weshalb sich Einzelsterne kaum erkennen lassen, während dies in der Milchstraße gut möglich ist. Daher fertigte Rubin mit einem Diplomanden eine Studie über die Geschwindigkeiten von etwa 1000 Sternen an, die sich jenseits der Sonnenbahn um das galaktische Zentrum bewegen. Sie wählte besonders helle Objekte aus, da sich diese bis in große Entfernungen beobachten lassen und damit die Rotationskurve auch in den Außenbezirken der Galaxis zugänglich wurde.
1965 kam sie zu der Erkenntnis: Die beobachteten Sterne kreisen bis in 45.000 Lichtjahren Entfernung vom Zentrum mit konstanter Geschwindigkeit. Die Rotationskurve ist flach und nimmt nicht ab, wie man es für Kepler-Bahnen erwartet. Eine bemerkenswerte Feststellung, mit der sie die vagen Ergebnisse von Babcock, Humason und Oort bestätigte. Jedoch nahm sie niemand zur Kenntnis. Spekulationen über die möglichen Ursachen dieses überraschenden Befunds, der im Grunde sehr gut zu den bisherigen Beobachtungen der Andromeda-Galaxie passten, machte Rubin nicht.
DER ERSTE VERDACHT AUF „DUNKLE MATERIE“
Tatsächlich waren schon Jahrzehnte zuvor erste Spekulationen über die Existenz von Dunkler Materie in der Milchstraße aufgetaucht. Der Urheber dieser Idee war Jacobus Kapteyn von der Universität Groningen. Er hatte es sich zur Aufgabe gemacht, die Struktur der Milchstraße zu untersuchen. Im Grunde setzte er Herschels akribische Arbeit fort, jedoch mit wesentlich genaueren Daten. Dabei griff er auf große fotografische Himmelsdurchmusterungen zurück, denen er die Himmelspositionen, Farben und Helligkeiten der Sterne entnahm. Diese Daten kombinierte er mit ihren Entfernungen und Bewegungen. Für dieses Vorhaben benötigte er mehr als zwei Jahrzehnte.