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Anmerkungen zur Transkription:
Schreibweise und Interpunktion des Originaltextes wurden übernommen; lediglich offensichtliche Druckfehler wurden korrigiert. Änderungen sind im Text gekennzeichnet, der Originaltext erscheint beim Überfahren mit der Maus.
Eines Morgens um acht Uhr stand ein junger Mann vor der Türe eines alleinstehenden, anscheinend schmucken Hauses. Es regnete. »Es wundert mich beinahe,« dachte der Dastehende, »daß ich einen Schirm bei mir habe.« Er besaß nämlich in seinen früheren Jahren nie einen Regenschirm. In der einen nach unten grad ausgestreckten Hand hielt er einen braunen Koffer, einen von den ganz billigen. Vor den Augen des scheinbar von einer Reise herkommenden Mannes war auf einem Emailleschild zu lesen: C. Tobler, technisches Bureau. Er wartete noch einen Moment, wie um über irgend etwas gewiß sehr Belangloses nachzudenken, dann drückte er auf den Knopf der elektrischen Klingel, worauf eine Person kam, allem Anschein nach eine Magd, um ihn eintreten zu lassen.
»Ich bin der neue Angestellte,« sagte Joseph, denn so hieß er. Er solle nur eintreten und hier, die Magd zeigte ihm die Richtung, nach unten ins Bureau gehen. Der Herr werde gleich erscheinen.
Joseph stieg eine Treppe, die eher für Hühner als für Menschen gemacht schien, hinunter und trat rechter Hand ohne weiteres in das technische Bureau ein. Nachdem er eine Weile gewartet hatte, ging die Türe auf. An den festen Schritten über die hölzerne Treppe und am Türaufmachen hatte der Wartende sogleich den Herrn erkannt. Die Erscheinung bestätigte nur die vorausgegangene Gewißheit, es war in der Tat niemand anderes als Tobler, der Chef des Hauses, der Herr Ingenieur Tobler. Er machte ziemlich große Augen, er schien ärgerlich zu sein und war es auch.
»Warum,« sagte er, Joseph strafend anblickend, »kommen Sie denn eigentlich heute schon? Ich habe Sie doch erst für Mittwoch bestellt. Ich bin noch gar nicht soweit eingerichtet. Haben Sie's so eilig gehabt? Wa?«
Für Joseph hatte dieses Weglassen des Schluß-s am Was etwas Verächtliches. So ein verstümmeltes Wort klingt ja auch nicht gerade wie eine freundliche Liebkosung. Er erwiderte, daß man ihn im Stellenvermittlungsbureau darauf aufmerksam gemacht habe, daß er heute, Montag früh, anzutreten habe. Wenn das ein Irrtum sei, so bitte er um Entschuldigung, er aber könne wahrhaftig nichts dafür.
»Sieh da, wie höflich ich bin!« dachte der junge Mann und mußte innerlich unwillkürlich über sein Betragen lächeln.
Tobler schien nicht geneigt, sofort entschuldigen zu wollen. Er redete noch einige Male um dieselbe Sache herum, wobei sein ohnehin roter Kopf empört zu erröten begann. Er »begriff« nicht, es nahm ihn dies und jenes »Wunder«, schließlich, nachdem sich sein Erstaunen über den vorgekommenen Fehler beruhigt hatte, meinte er zu Joseph schräg hinüber, er könne dableiben.
»Fortschicken kann ich Sie ja jetzt doch nicht mehr.« – »Haben Sie Hunger?« setzte er hinzu. Joseph bejahte ziemlich gleichmütig. Er wunderte sich aber sogleich über die Ruhe seiner Antwort. »Vor einem halben Jahr noch,« dachte er rasch, »würde mich die Hochbeschaffenheit einer derartigen Frage eingeschüchtert haben, und wie!«
»Kommen Sie,« sagte der Ingenieur. Mit diesen Worten führte er seinen neuangeworbenen Beamten ins Eßzimmer hinauf, das im Erdgeschoß gelegen war. Das Bureau lag unter der Erdlinie im Keller. Im Wohn- und Eßzimmer sprach der Herr folgendes:
»Setzen Sie sich. Irgendwo, das ist ganz egal. Und essen Sie, bis Sie satt sind. Hier ist Brot. Schneiden Sie soviel davon ab wie Sie wollen. Genieren Sie sich nur nicht. Schenken Sie nur mehrere Tassen ein. Kaffee ist genug da. Und da ist Butter. Die Butter ist zum Zugreifen da, wie Sie sehen. Und da haben Sie auch Konfitüre, falls Sie ein Liebhaber davon sind. Wollen Sie Bratkartoffeln dazu essen?«
»O ja, warum nicht, ganz gern,« hatte Joseph den Mut zu sagen. Worauf Herr Tobler nach Pauline, der Magd, rief und ihr auftrug, das Gewünschte rasch zuzubereiten. Nachdem das Frühstück beendet war, gab es unten im Kontor, inmitten der Zeichenbretter und Zirkel und umherliegenden Bleistifte, zwischen beiden Männern ungefähr folgende Auseinandersetzung:
Er müsse, sagte Tobler in rauhem Ton, einen Kopf als Angestellten haben. Eine Maschine könne ihm nicht dienen. Wenn Joseph planlos und geistlos in den Tag hineinarbeiten wolle, so solle er so gut sein und es gleich auf der Stelle sagen, damit man von Anfang an wisse, woran man mit ihm sei. Er, Tobler, benötige eine Intelligenz, eine selbständig arbeitende Kraft. Wenn Joseph glaube, er sei keine solche, so möge er so freundlich sein, usw. Hier drückte sich der technische Erfinder in Wiederholungen aus.
»Ach,« sagte Joseph, »warum sollte ich denn keinen Kopf haben, Herr Tobler? Was mich betrifft, ich glaube und hoffe des Bestimmtesten, daß ich jederzeit dasjenige zu leisten imstande sein werde, was Sie glauben werden, von mir verlangen zu dürfen: Übrigens, meine ich, bin ich hier oben (das Haus Tobler stund auf einem Hügel) ja vorläufig nur probeweise. Die Art unseres gegenseitigen Übereinkommens hindert Sie in keiner Weise, mit mir, wenn Sie es für notwendig erachten, augenblicklich Schluß zu machen.«
Er wolle, fand es Herr Tobler für passend zu sagen, nicht hoffen, daß es soweit komme. Joseph möge nichts für ungut nehmen von dem, was er, Tobler, da soeben gesagt habe. Er habe eben nur geglaubt, gleich von Anfang an klaren Wein einschenken zu sollen, und er sei der Meinung, daß das für beide Teile nur vom Guten könne gewesen sein. Alsdann wisse jeder, woran er mit dem andern sei, und so sei es am besten.
»Gewiß,« bekräftigte Joseph.
Nach dieser Rücksprache wies der Vorgesetzte dem Untergebenen den Platz an, woran er schreiben »könne«. Es war dies ein etwas zu enges, schmales und zu niedrig gebautes Sitzpult mit einer Schieblade, worin sich die Markenkasse und einige kleinere Bücher befanden. Der Tisch, denn nur ein solcher war's und gar kein wahrhaftiges Pult, stand dicht an einem Fenster und an der Gartenerde. Darüber hinaus erblickte man in der Tiefe den ausgedehnten See, weiter das anderseitige Seeufer. Das alles sah heute sehr trübe aus, denn es regnete noch immer.
»Kommen Sie,« sagte plötzlich Tobler, und er lächelte in etwas, wie es Joseph schien, unziemlicher Art zu seinen Worten, »meine Frau muß Sie doch nun auch bald endlich einmal zu Gesicht bekommen. Kommen Sie mit, ich werde Sie ihr vorstellen. Und dann müssen Sie auch das Zimmer sehen, wo Sie schlafen werden.«
Er führte ihn hinauf in die erste Etage, wo den beiden eine schlanke, hohe Frauenfigur entgegentrat. Das war »sie«. »Eine gewöhnliche Frau,« wollte rasch der junge Angestellte denken, aber er setzte sogleich in Gedanken hinzu: »und doch nicht.« Die Dame betrachtete den »Neuen« ironisch und gleichgültig, aber ohne Absicht. Beides, das Kalte und das Ironische, schien ihr angeboren zu sein. Sie streckte ihm nachlässig, ja sogar träge die Hand dar, er ergriff sie und verneigte sich vor der »Herrin des Hauses«. So nannte er sie im geheimen, nicht, um sie zu etwas Schönerem zu erheben, im Gegenteil, um sie rasch im stillen zu kränken. Diese Frau benahm sich in seinen Augen entschieden zu hochmütig.
»Ich hoffe, es wird Ihnen hier bei uns gefallen,« sagte sie mit einer seltsam hochklingenden Stimme und verzog dazu ein wenig ihren Mund.
»Ja, sag du das nur. Sehr hübsch. Ei seht mal, wie freundlich. Wollen ja sehen.« Auf diese Art hielt es Joseph für angezeigt, für sich über jene wohlwollenden Worte nachzudenken. Alsdann wurde ihm sein Zimmer gezeigt, es lag oben im kupfernen Turm, es war also ein Turmzimmer, gewissermaßen ein romantisches und vornehmes. Übrigens erschien es hell, luftig und freundlich. Das Bett war sauber, o ja, in solch einem Zimmer würde sich's wohnen lassen. Nicht übel. Und Joseph Marti, so hieß er mit seinem ganzen Namen, legte den Koffer, den er mit hinaufgenommen hatte, auf dem Parkettboden ab.
Später wurde er in die Geheimnisse der Toblerschen geschäftlichen Unternehmungen kurz eingeweiht und mit den Pflichten, die er zu erfüllen hatte, im allgemeinen vertraut gemacht. Es ging ihm dabei eigentümlich, er verstand nur die Hälfte. Was denn nur mit ihm sei, dachte er und machte sich Vorwürfe: »Bin ich ein Betrüger, ein Schwätzer? Will ich Herrn Tobler hintergehen? Er verlangt einen ›Kopf‹ und ich, ich bin heute absolut kopflos. Vielleicht daß es morgen früh oder bereits heute abend besser geht.«
Das Mittagessen schmeckte ihm ausgezeichnet.
Wiederum dachte er besorgt. »Wie? Hier sitze ich und esse, wie es mir seit vielleicht Monaten nicht mehr gemundet hat, und kapiere nichts von den Winkelzügen der Unternehmungen Toblers? Ist das nicht Diebstahl? Das Essen ist wundervoll, es erinnert mich lebhaft an zu Hause. Solche Suppe hat Mutter gemacht. Wie kräftig und saftig das Gemüse ist, und das Fleisch. Wo kriegt man in der Großstadt dergleichen?«
»Essen Sie, essen Sie,« trieb Tobler an, »in meinem Haus wird tapfer gegessen, haben Sie das verstanden? Nachher wird aber auch gearbeitet.«
Der Herr sehe, er esse ja, erwiderte Joseph mit einer Schüchternheit, die ihn beinahe zornig machte. Er dachte: »Wird er mich nach acht Tagen auch noch zum Essen antreiben? Wie schmachvoll, zu empfinden, wie sehr mir dieses fremde Essen schmeckt. Werde ich diesen unverschämten Appetit durch entsprechende Leistungen rechtfertigen?«
Er nahm sich von jeder Speise noch einmal auf seinen Teller. Ja, er kam aus den Tiefen der menschlichen Gesellschaft her, aus den schattigen, schweigsamen, kargen Winkeln der Großstadt. Er hatte seit Monaten schlecht gegessen.
Ob man ihm dies etwa anmerke, dachte er und errötete.
Ja, ein ganz klein wenig merkten das Toblers sicher. Die Frau betrachtete ihn mehrfach fast mitleidig. Die vier Kinder, zwei Mädchen und zwei Knaben, sahen ihn wie etwas Wildfremdes und Sonderbares von der Seite her an. Diese ungeniert fragenden und forschenden Blicke entmutigten ihn. Solche Blicke erinnern eben an die Angeflogenheit an etwas Fremdes, an die Behäbigkeit dieses Fremden, das für sich eine Heimat darstellt, und an die Heimatlosigkeit desjenigen, der nun so dasitzt und die Pflicht hat, sich möglichst rasch und guten Willens in das behagliche fremde Bild heimatlich einzufügen. Solche Blicke machen einen frieren im heißesten Sonnenschein, sie dringen kalt in die Seele, bleiben da einen Moment kalt liegen und verlassen sie wieder, wie sie gekommen sind.
»So. Jetzt an die Arbeit,« rief Tobler. Und beide verließen den Tisch und begaben sich, der Herr voran, in das Bureau hinunter, um da, wie der Befehl lautete, zu arbeiten.
»Rauchen Sie?«
Ja, Joseph rauche ganz gern.
»Nehmen Sie sich einen Zigarrenstumpen aus dem blauen Paket dort. Sie dürfen während der Arbeit ruhig rauchen. Ich tu's ja auch. So. Und nun sehen Sie einmal hierher, das da, aber sehen Sie sie ordentlich an, sind die zur ›Reklame-Uhr‹ erforderlichen Papiere. Können Sie gut rechnen? – Dann um so besser. Es handelt sich nun in erster Linie – was tun Sie da? Mein junger Mann, die Asche gehört in den Aschenbecher. Ich habe gern Ordnung zwischen meinen eigenen vier Wänden – also in erster Linie handelt es sich, nehmen Sie einen Bleistift zur Hand, nun, sagen wir, um die Zusammenstellung, um die genaue Gewinnberechnung dieses Unternehmens. Nehmen Sie Platz hier, ich werde Ihnen sogleich die nötigen Angaben machen. Und daß Sie mir gefälligst aufpassen, denn ich sage meine Sachen nicht gern zweimal.«
»Werde ich taugen?« dachte Joseph. Es war wenigstens gut, daß zu einer so schwierigen Arbeit geraucht werden durfte. Ohne Zigarrenstumpen würde er jetzt an der Rechtbeschaffenheit seines Kopfes ehrlich gezweifelt haben.
Während der Angestellte nun schrieb, wobei ihm der Prinzipal von Zeit zu Zeit über die Schulter in die entstehende Leistung hinabblickte, spazierte dieser, eine krumme, langstielige Zigarre zwischen den schönen, blendend weißen Zähnen tragend, im Bureau auf und ab, um allerhand Zahlen anzugeben, die jeweils flink von einer heute noch ein wenig ungeübten Angestelltenhand nachgezeichnet wurden. Der bläuliche Rauch hüllte beide arbeitende Gestalten bald gänzlich ein, draußen vor den Fenstern schien sich das Wetter aufhellen zu wollen, Joseph warf ab und zu einen Blick durch die Scheibe und merkte die Veränderung, die sich leise am Himmel vollzog. Einmal bellte der Hund vor der Türe. Tobler trat auf einen Moment hinaus, um das Tier zu beruhigen. Nach Verlauf zweier Arbeitsstunden ließ Frau Tobler durch eines der Kinder zum Nachmittagskaffee rufen. Es sei draußen im Gartenhaus gedeckt, weil das Wetter sich gebessert habe. Der Chef ergriff seinen Hut und sagte zu Joseph, er solle jetzt Kaffeetrinken gehen und nachher das flüchtig Geschriebene ins reine setzen, bis er damit fertig sei, werde es wohl Abend geworden sein.
Dann ging er. Joseph sah ihn den Hügel durch den abstürzenden Garten hinuntergehen. Welch eine stattliche Figur er hat, dachte er, er blieb noch eine ganze Weile so stehen und begab sich dann zum Kaffee in das hübsche, grünangestrichene Gartenhaus.
Während des Imbisses fragte ihn die Frau: »Sind Sie stellenlos gewesen?«
»Ja,« antwortete Joseph.
»Lange?«
Er gab ihr Auskunft, und sie seufzte jedesmal, wenn er von gewissen kläglichen Menschen und Menschenverhältnissen sprach. Sie tat das ganz leicht und obenhin, und sie behielt außerdem die jeweiligen Seufzer länger als gerade nötig war im Mund, als habe sie sich jedesmal an der Annehmlichkeit dieses Tons und Empfindens weiden können.
»Gewissen Menschen,« dachte Joseph, »scheint es Vergnügen zu machen, an bedauerliche Dinge zu denken. Wie diese Frau Nachdenklichkeit mimt. Sie seufzt, wie andere lachen, genau so fröhlich. Ist das jetzt meine Herrin?«
Später stürzte er sich in seine Reinschrift. Es wurde Abend. Morgen früh würde es sich ja zeigen, ob er eine Kraft oder eine Null, eine Intelligenz oder eine Maschine, ein Kopf oder ein Hohlkopf sei. Für heute war es seines Erachtens nach genug. Er räumte seine Arbeit zusammen und ging in sein Zimmer, froh darüber, für eine kleine Zeitlang allein sein zu dürfen. Er fing nicht ohne Wehmut an, seinen Handkoffer, seine ganze Besitzung, langsam, Stück für Stück, auszupacken, wobei er der unzählbaren Umzüge gedachte, zu deren Erledigung er sich nun schon so viele Male dieses Köfferchens bedient hatte. Schlichte Sachen werden einem so lieb, das empfand der junge Angestellte. Wie es ihm hier bei Tobler wohl gehen werde, fragte er sich, während er die paar Wäschestücke, die er besaß, in absichtlich säuberlichster Manier in den Schrank legte: »Gut oder schlecht, ich bin einmal da, gehe es wie es gehen kann.« Er gelobte sich im stillen, sich Mühe zu geben, indem er ein Knäuel alter Faden, Bindfadenteile, Halsbinden, Knöpfe, Nadeln und abgerissene Leinenfetzen auf den Fußboden warf. »Wenn ich nun schon einmal hier esse und schlafe, will ich mich geistig und körperlich dafür auch anstrengen,« murmelte er weiter, »wie alt bin ich jetzt? Vierundzwanzig! Das ist keine nennenswerte Jugend mehr. Ich bin zurückgeblieben im Leben.« Er hatte den Koffer geleert und stellte ihn in eine Ecke. Sobald er glaubte, daß es ungefähr Zeit sei, ging er zum Abendessen, später noch zur Post ins Dorf hinein, später schlafen.
Im Laufe des nächsten Tages glaubte er sich mit dem Wesen der »Reklame-Uhr« dadurch bekannt gemacht zu haben, daß er begreifen lernte, daß dieses gewinnbringende Unternehmen eine dekorative Uhr sei, die Herr Tobler im Begriff war an Bahnverwaltungen, Restaurateure, Hoteliers &c. zu verpachten. Solch eine wirklich äußerst hübsch aussehende Uhr, kalkulierte Joseph, wird beispielsweise in einen oder in mehrere Straßenbahnwagen gehängt, und zwar an eine möglichst in aller Menschen Augen stechende Stelle, damit die fahrenden und reisenden Mitmenschen ihre Taschenuhren danach richten können und jederzeit wissen, wie spät oder wie früh es am Tage ist. Diese Uhr ist wahrhaftig nicht schlecht, meinte er allen Ernstes, um so weniger, als sie den Vorzug hat, mit dem Reklamewesen verbunden zu sein. Zu diesem Behufe hat man ihr ja ein einfaches oder doppeltes Adlerflügelpaar aus scheinbarem Silber oder gar Gold angehängt, zwecks zierlicher Bemalung. Und was wird man anderes darauf malen wollen als die genauen Adressen von Firmen, die sich dieser Flügel oder Felder, wie der technische Ausdruck lautet, zur nutzbringenden Insertion bedienen. »Solch ein Feld kostet Geld; infolgedessen hat man sich, wie mein Herr, der Herr Tobler, ganz richtig sagt, an nur erste Handels- und Fabriksfirmen zu wenden. Die Beträge sind jeweilen zum voraus, und zwar laut auszustellender Verträge, in monatlichen Raten, zu bezahlen. Die Reklame-Uhr kann übrigens beinahe überall im In- und Ausland Aufstellung finden. Auf sie setzt, wie es mir schien, Tobler die wichtigsten Hoffnungen. Freilich kostet die Herstellung der Uhren und deren kupfernen und zinnernen Zieraten viel Geld, auch der Dekorationsmaler will ja sein Geld haben, dafür aber laufen eben die Inseratengelder hoffentlich und sehr wahrscheinlich regelmäßig ein. Was sagte doch heute früh Herr Tobler? Er hat ziemlich viel Geld geerbt, hat nun aber bereits sein gesamtes Vermögen in die ›Reklame-Uhr geworfen‹. Ein sonderbarer Spaß, zehn- bis zwanzigtausend Mark in Uhren zu werfen. Gut, daß ich mir dieses Wort ›werfen‹ gemerkt habe, es scheint mir ein stark im Gebrauch bestehendes, übrigens sehr klipp und klares Wort zu sein, das ich vielleicht schon in nächster Zeit in meinen Korrespondenzen werde anwenden müssen.«
Joseph steckte sich einen Stumpen in Brand.
»Eigentlich ein ganz netter Aufenthalt, dieses technische Bureau hier. Das meiste an der hiesigen Geschäftsführung ist mir allerdings noch ganz unverständlich. Ich habe immer das Neue und Fremde schwer begriffen. Ich erinnere mich, o ja. Im allgemeinen werde ich von den Leuten für klüger gehalten als ich bin, manchmal auch nicht. Das alles ist ja überhaupt so merkwürdig.«
Er nahm einen Streifen Papier zur Hand, strich den Firmenkopf mit ein paar Federstrichen durch und schrieb rasch folgendes:
Liebe Frau Weiß!
Sie sind wahrhaftig der erste Mensch, an den ich von hier oben aus schreibe. Der Gedanke an Sie ist der erste und leichteste und natürlichste von allen den vielen Gedanken, die mir gegenwärtig im Kopf surren. Sie werden sich oft über mein Betragen gewundert haben in der Zeit, die ich bei Ihnen zubrachte. Wissen Sie noch, wie Sie mich oft aus meinem dumpfen, einsiedlerischen Dasein, aus all meinen üblen Gewohnheiten haben aufrütteln müssen? Sie sind eine so liebe, gute, einfache Frau, und vielleicht erlauben Sie mir, Sie lieb zu haben. Wie oft, ja beinahe alle vier Wochen, bin ich zu Ihnen ins Zimmer getreten, um Sie kurz zu ersuchen, mit der monatlichen Miete Geduld zu haben. Sie haben mich nie gedemütigt, doch ja immer, aber mit Güte. Wie dankbar ich Ihnen bin und wie froh ich bin, Ihnen dies sagen zu dürfen. Was machen und leben Ihre Fräulein Töchter? Die Größere ist ja nun wohl bald verheiratet. Und Fräulein Hedwig, ist sie immer noch in der Lebensversicherungsgesellschaft tätig? Wie ich frage! Sind diese Fragen nicht äußerst dumm, da ich Sie doch erst vor zwei Tagen verlassen habe! Mich dünkt, liebe, verehrte Frau Weiß, ich sei jahre- jahre- und jahrelang bei Ihnen gewesen, so schön, ruhig und lang mutet mich der Gedanke an das Bei-Ihnen-gewesen-sein an. Kann man Sie kennen gelernt haben, ohne daß man Sie hat lieben lernen müssen? Sie haben immer zu mir gesagt, ich sollte mich schämen, so jung zu sein und dazu so wenig unternehmenslustig, weil Sie mich stets haben in meinem dunkeln Zimmer sitzen und liegen sehen. Ihr Gesicht, Ihre Stimme, Ihr Lachen haben mich immer getröstet. Sie sind zweimal so alt wie ich und haben zwölfmal so viel Sorgen und erscheinen nur so jung, jetzt noch viel mehr als da ich noch bei Ihnen war. Wie konnte ich immer so wortkarg zu Ihnen sein. Übrigens bin ich Ihnen ja noch Geld schuldig, nicht wahr, und ich bin beinahe froh darüber. Äußere Beziehungen können dann innere lebendiger erhalten. Zweifeln Sie nie an meiner Achtung vor Ihnen. Wie dumm ich spreche. Ich wohne hier in einer hübschen Villa und kann des Nachmittags jeweilen im Gartenhaus, wenn schönes Wetter ist, Kaffee trinken. Mein Chef ist zurzeit ausgegangen. Das Haus liegt auf einem, man darf sagen, grünen Hügel, unten neben der Landstraße, hart am Seeufer, führt die Eisenbahn vorbei. Ich wohne sehr nett in einem, es kommt mir ganz herrschaftlich vor, hochgelegenen Turmzimmer. Mein Herr scheint ein braver Mann zu sein, etwas hochtrabend. Möglich, daß es zwischen uns eines Tages persönliche Keilereien gibt. Ich wünsche es nicht. Wirklich nicht, denn ich möchte in Frieden leben. Leben Sie wohl Frau Weiß. Ich habe mir ein schönes, wertvolles Bild von Ihnen bewahrt, es läßt sich nicht einrahmen aber ebenso wenig vergessen.
Joseph faltete den Streifen zusammen und steckte ihn in ein Kuvert. Er lächelte. Für ihn hatte das Andenken dieser Frau Weiß etwas Freundliches, warum, darüber wußte er selber kaum recht Bescheid. Da hatte er nun an eine Frau geschrieben, die dem Eindruck zufolge, den er ihr von seiner Person hinterlassen hatte, einen so raschen und beinahe gefühlvollen Brief gar nicht erwarten durfte und sicher auch nicht gewärtigte. Hatte die zufällige Menschenbekanntschaft einen so großen Einfluß auf ihn? Liebte er es, zu überraschen und zu behexen? Aber der Brief schien ihm nach kurzer Durchsicht und Prüfung passend und er machte sich, da es ohnehin Zeit dazu war, auf den Weg zur Post.
Mitten im Dorf blieb plötzlich ein von oben bis unten rußiger junger Mensch vor ihm stehen, schaute ihn lachend an und streckte ihm die Hand entgegen. Joseph spielte den Erstaunten, da er sich wirklich nicht entsinnen könnte, an welchem Ort und zu welcher Zeit im bisherigen Leben ihm diese schwarze Erscheinung konnte begegnet sein. »Du auch hier, Marti?« rief der Mensch, und nun erkannte ihn Joseph, es war ein Kamerad aus der kürzlich erst überstandenen Militärdienstzeit, er begrüßte ihn, schützte aber dringende Aufträge vor und verabschiedete sich wieder.
»Ja, das Militär,« dachte er, indem er seines Weges weiter ging, »wie wirft es die Menschen aus allen nur denkbaren Lebensgebieten auf einen einzigen Empfindungspunkt zusammen. Kein so feinerzogener, im übrigen gesunder, junger Mensch lebt im Lande, der es sich nicht eines Tages müßte gefallen lassen, aus seiner bisherigen, sortierten Umgebung herauszutreten, um mit dem erstbesten, ebenfalls jungen Bauern, Kaminfeger, Arbeiter, Kommis oder gar Tunichtgut gemeinschaftliche Sache zu machen. Und welche gemeinschaftliche Sache! Die Luft in der Kaserne ist für einen jeden dieselbe, sie wird für den Baronensohn für gut genug, und für den geringsten Landarbeiter für angemessen befunden. Die Rang- und Bildungsunterschiede fallen unbarmherzig in einen großen, bis heute noch immer unerforschten Abgrund, in die Kameradschaft. Diese herrscht, denn sie faßt alles zusammen. Die Hand des Kameraden ist für keinen eine unreine, sie darf es nicht sein. Der Tyrann Gleichheit ist oft ein unerträglicher, oder scheint es zu sein, aber was für ein Erzieher ist er, was für ein Lehrer. Die Brüderlichkeit kann mißtrauisch und kleinlich im kleinen sein, sie kann aber auch groß sein, und sie ist groß, denn sie besitzt die Meinungen, die Gefühle, die Kräfte und Triebe aller. Wenn ein Staat es versteht, den Sinn der Jugend in diesen Abgrund zu lenken, der groß genug wäre für die Erde wieviel mehr für ein einzelnes Land, so hat er sich damit nach allen offenen Richtungen hin, an allen vier Grenzen, mit Festungen umgeben, die unbezwinglich sind, weil es lebendige, mit Füßen, Gedächtnissen, Augen, Händen, Köpfen und Herzen ausgestattete Festungen sind. Den jungen Leuten tut wahrhaftig eine strenge Lehre not.«
Hier unterbrach der Angestellte seine Gedanken.
In der Tat, er rede und denke da wie ein Feldhauptmann, dachte er lachend. Bald darauf befand er sich wieder zu Hause.
Joseph hatte in einer Elastique-Fabrik gearbeitet, ehe er zum Militär kam. Er erinnerte sich jetzt jener vormilitärischen Zeit und sah vor sich ein altes, längliches Gebäude, einen schwarzen Kiesweg, eine enge Stube und ein bebrilltes, strenges Prinzipalengesicht. Er war dort, wie man sagt, aushilfsweise engagiert gewesen, nur so vorübergehend. Er schien mit seiner ganzen Persönlichkeit nur ein Zipfel, ein flüchtiges Anhängsel zu sein, ein nur einstweilen geschlungener Knoten. Beim Antritt der Stellung war ihm bereits lebhaft der Austritt aus derselben vor Augen getreten. Der Lehrling im Elastique-Geschäft war ihm in allem »über«. Joseph mußte diesen unausgewachsenen Menschen bei jeder Gelegenheit um Rat fragen. Aber eigentlich kränkte ihn das nicht einmal. O er war schon an so vieles gewöhnt gewesen. Er arbeitete kopflos, das heißt, er mußte sich gestehen, daß ihm mancherlei durchaus notwendige Kenntnisse abhanden gekommen waren. Gewisse, für andere Menschen erstaunlich leicht zu erfassende Dinge prägten sich ihm so merkwürdig schwer ein. Was war da zu machen gewesen. Sein Trost und sein Gedanke war die »Vorübergänglichkeit« der Stellung. Er wohnte bei einem alten, spitznasigen und -mundigen Fräulein, die eine sehr sonderbare, hellgrün gestrichene Stube bewohnte. Auf einer Etagere befanden sich einige alte und moderne Bücher. Das Fräulein war, wie es schien, eine Idealistin, aber keine feurige, sondern eher eine durch und durch erfrorene. Joseph bekam rasch heraus, daß sie einen eifrigen Liebesbriefwechsel unterhielt, und zwar, wie er eines Tages aus einem achtlos auf dem runden Tisch liegenden, langen Schreiben ersah, mit einem nach Graubünden ausgewanderten Buchdrucker oder Architektenzeichner, er konnte sich dessen jetzt nicht mehr so recht genau entsinnen. Er las rasch den Brief, er hatte das Gefühl, daß er dadurch keine sehr bedeutende Ungerechtigkeit begehe. Übrigens war der Brief kaum der verstohlenen Lektüre wert, man hätte ihn ruhig dürfen an alle Säulen der Stadt plakatieren, so wenig Geheimnisvolles und dem Fernstehenden Unverständliches enthielt er. Er war den Büchern, die die Welt liest, nachgeschrieben und enthielt vorzugsweise kühnlinierte und schraffierte Reisebeschreibungen. Die Welt sei doch herrlich, hieß es da, wenn man sich die Mühe nehme, sie zu Fuß zu durchwandern. Dann wurden der Himmel, die Wolken, die Halden, die Geißen, Kühe, Kuhglocken und die Berge beschrieben. Wie wichtig das alles war. Joseph hatte eine kleine Stube nach hinten gehend inne, dort las er. Sowie er nur dieses Stübchen betrat, fing ihm auch gleich die Bücherlektüre über den Kopf zu flattern an. Er las da so einen von jenen großen Romanen, an denen man monatelang lesen kann. Die Kost hatte er in einer Pension von Technikumsschülern und Kaufmannslehrlingen. Er hatte große Mühe, sich mit dem jugendlichen Volk einigermaßen zu unterhalten und schwieg daher meist bei Tisch. Wie war das alles für ihn erniedrigend. Auch da war er ein Knopf, der nur lose hing, den man gar nicht mehr festzunähen sich abmühte, da man zum voraus wußte, daß der Rock doch nicht lange getragen werde. Ja, seine Existenz war nur ein provisorischer Rock, ein nicht recht passender Anzug. Nahe bei der Stadt lag ein runder, mäßig hoher Rebhügel, der oben mit Wald gekrönt war. Nun, das war fürs Spazierengehen ganz artig. Die Sonntagvormittage verlebte Joseph regelmäßig dort oben, während welcher Erholung er sich jedesmal in ferne, beinahe krankhaft schöne Träumereien verwickelt sah. Unten in der Fabrik ging es weniger schön zu, trotz des zunehmenden Frühlings, der seine kleinen duftenden Wunder an den Bäumen und Sträuchern zu entfalten begann. Der Prinzipal machte Joseph eines Tages ganz gehörig herunter, ja, er machte ihn schlecht, er nannte ihn geradezu einen Betrüger, und weswegen? Das war auch wieder so eine Kopfträgheit gewesen. Hohle Köpfe können ja nun allerdings einem Handelsgeschäft erheblichen Schaden zufügen. Man kann schlecht rechnen, oder aber, und das ist das Schlimme, man rechnet einfach gar nicht. Für Joseph war es so schwer gewesen, eine in englischer Pfundwährung aufgestellte Zinsenrechnung zu prüfen. Dazu fehlten ihm die paar Kenntnisse, und statt das nun offen dem Geschäftsherrn einzugestehen, wovor er sich schämte, setzte er unter die Rechnung, ohne sie wahrhaft geprüft zu haben, die lügnerische Bestätigung. Er schrieb mit Bleistift ein M zu der Schlußzahl, was so viel zu bedeuten hatte als die feste und ruhige Tatsache des Richtigbefundes. An diesem einen Tage nun kam es plötzlich durch eine mißtrauische Frage seitens des Prinzipals heraus, daß die Prüfung nur geschwindelt, und daß ja Joseph gar nicht imstande war, eine derartige Rechnung im Kopf zu lösen. Das waren eben englische Pfund, und Joseph wußte mit solchen absolut nicht umzugehen. Er verdiene, sprach der Vorgesetzte, mit Schimpf und Schande fortgejagt zu werden. Wenn er etwas nicht verstehe, so sei das keine Unehrenhaftigkeit, wenn er aber Verständnis lüge, so sei das Diebstahl. Man könne es nicht anders nennen, und Joseph solle sich in Grund und Boden hinab schämen. O das war ein tobendes Herzklopfen für ihn gewesen. Er spürte eine schwarze, fressende Welle über seinem ganzen Dasein. Die eigene, sonst, wie ihm immer schien, nicht schlechte Seele schnürte ihn von allen Seiten zu. Er zitterte so heftig, daß die Zahlen, die er eben schrieb, nachher ungeheuerlich fremd, verschoben und groß aussahen. Aber nach einer Stunde war ihm so wohl. Er ging zur Post, es war eben schönes Wetter, er ging so, und da meinte er, küsse ihn alles. Die kleinen süßen Blätter schienen alle in einem liebkosenden, farbigen Schwarm auf ihn zuzufliegen. Die vorübergehenden, im übrigen ganz alltäglichen Menschen sahen so schön aus, zum rein An-den-Hals-werfen. Er schaute glücklich in alle Gärten hinein, zum offenen Himmel hinauf. Wie rein und schön waren die weißen, frischen Wolken. Und das satte, süße Blau. Joseph hatte das eben Vorgefallene, das Wüste, nicht vergessen, er trug es beschämt mit sich, aber es hatte sich in etwas Unbekümmert-Leidvolles, in etwas Ebenmäßig-Verhängnisvolles verwandelt. Er zitterte noch ein wenig und dachte: »Also muß man mich mit Demütigungen zur reinen Freude an der Welt Gottes aufpeitschen?« Nach Feierabend trat er gemütlich in einen ihm wohlbekannten Zigarrenladen. Eine Frau hauste dort, eine womöglich, ja wahrscheinlich und nur zu sehr wahrscheinlich käufliche Frau. Joseph pflegte sich in ihrem Laden Abend für Abend auf einen Stuhl zu setzen, eine Zigarre dazu zu rauchen und zu plaudern mit der Inhaberin. Er gefiel ihr, das merkte er bald. »Wenn ich dieser Frau gefalle, so erweise ich ihr einen kleinen Dienst, regelmäßig bei ihr zu sitzen,« dachte er und tat auch so. Sie erzählte ihm ihre ganze Jugend und manches Schöne und Unschöne aus ihrem Leben. Sie alterte schon und hatte ein ziemlich häßlich geschminktes Gesicht, aber gute Augen leuchteten aus demselben hervor, und ihr Mund: »wie oft wird er geweint haben,« dachte Joseph. Er blieb immer artig und höflich bei ihr, als ob dieses Betragen selbstverständlich gewesen wäre. Einmal streichelte er ihr die Wangen, und er bemerkte die Freude, die sie über dieser Bewegung empfand, sie errötete und ihr Mund zuckte, als ob sie hätte sagen wollen: »zu spät, mein Freund.« Sie war früher eine Zeitlang Kellnerin gewesen, aber was hatte das alles zu bedeuten, da doch der ganze Anhängezipfel nach ein paar Wochen abgetrennt wurde. Der Chef schenkte Joseph zum Abschied eine Gratifikation, trotz jenes Vorfalles mit der englischen Geldwährung, und wünschte ihm Glück in die Kaserne. Jetzt kommt eine Eisenbahnfahrt durch ein frühlingverzaubertes Land, und dann weiß man nichts mehr, denn von da an ist man nur noch eine Nummer, man bekommt eine Uniform, eine Patronentasche, ein Seitengewehr, eine regelrechte Flinte, ein Käppi und schwere Marschschuhe. Man ist nichts mehr Eigenes, man ist ein Stück Gehorsam und ein Stück Übung. Man schläft, ißt, turnt, schießt, marschiert und gestattet sich Ruhepausen, aber in vorgeschriebener Weise. Selbst die Empfindungen werden scharf überwacht. Die Knochen wollen anfänglich brechen, aber nach und nach stählt sich der Körper, die biegsamen Kniescheiben werden zu eisernen Scharnieren, der Kopf wird frei von Gedanken, die Arme und Hände gewöhnen sich an das Gewehr, das den Soldaten und Rekruten überall hin begleitet. Im Traum hört Joseph Kommandoworte und das Knattern der Schüsse. Acht Wochen lang dauert das so, es ist keine Ewigkeit, aber bisweilen scheint es ihm eine.
Doch was soll das alles, da er doch jetzt in Herrn Toblers Hause lebt.
Zwei oder drei Tage sind noch keine gar so sehr lange Zeit. Dieser Zeitraum genügt nicht einmal, um sich in einem Zimmer ganz zurechtzufinden, wie viel weniger in einem immerhin stattlichen Haus. Joseph war ja ohnehin schwer von Begriff, wenigstens bildete er sich das ein, und Einbildungen sind nie gänzlich ohne grundlegende Berechtigung. Das Toblersche Haus war überdies noch zweiteilig, es bestund aus einem Wohnhaus sowohl wie aus einem Geschäftshaus, und Josephs Pflicht und Schuldigkeit war, beide Sorten Häuser ergründen zu lernen. Wo Familie und Geschäft so nah beieinander sind, daß sie sich, man möchte sagen, körperlich berühren, kann man das eine nicht gründlich kennen lernen und zugleich das andere übersehen. Die Obliegenheiten eines Angestellten liegen in solch einem Haus weder ausdrücklich da noch ausdrücklich dort, sondern überall. Auch die Stunden der Pflichterfüllung sind keine exakt begrenzten, sondern erstrecken sich manchmal bis tief in die Nacht hinein, um bisweilen plötzlich mitten am Tag für eine Zeitlang aufzuhören. Wer das Vergnügen haben darf, nachmittags draußen im Gartenhaus in Gesellschaft einer gewiß gar nicht üblen Frau Kaffee zu trinken, muß nicht böse werden, wenn er abends nach acht Uhr rasch noch irgend eine dringende Arbeit erledigen soll. Wer so schön zu Mittag ißt, wie Joseph, muß dies durch verdoppelte Leistungen wieder gut zu machen suchen. Wer Stumpen rauchen darf während der Geschäftsstunden, der darf nicht brummen, wenn ihn die Herrin des Hauses um einen häuslichen oder familiären Dienst kurz ersucht, auch wenn der Ton, womit dieses Gesuch ausgesprochen wird, eher ein befehlshaberischer als ein schüchtern bittender sein sollte. Wer hat alles Annehmliche und Schmeichelnde immer zusammen? Wer wird so anmaßend der Welt gegenüber sein, von ihr nur Kissen zum Daraufruhen zu verlangen, ohne zu bedenken, daß die samtenen und seidenen, mit feinem Flaum gefüllten und gestopften Kissen Geld kosten? Aber Joseph denkt gar nicht so. Man muß bedenken, daß Joseph nie viel Geld auf einmal besessen hat.
Frau Tobler fand an ihm etwas Seltsames, sozusagen Unalltägliches, ohne ihn aber auch nur im geringsten gut zu beurteilen. Sie fand ihn ziemlich lächerlich in seinem dunkelgrün gefärbten, abgetragenen und erbleichten Anzug, aber auch in seinem Benehmen wollte sie etwas Komisches entdeckt wissen, worin sie in gewisser Beziehung recht hatte. Komisch war sein undezidiertes Auftreten, sein augenscheinlicher Mangel an Selbstbewußtheit, und komisch waren auch seine Manieren. Hinwiederum muß bemerkt werden, daß Frau Tobler, eine Bürgersfrau von echtester Abstammung, sehr leicht geneigt war, vieles komisch zu finden, was auch nur ein ganz klein wenig ihre Anschauungsweise fremd berühren konnte. Wenn das aber so ist, so wollen wir uns weiter nicht darüber aufregen, daß eine solche Frau einen solchen jungen Menschen komisch fand, sondern berichten, was sie zusammen redeten. Versetzen wir uns wieder in das Gartenhäuschen und in die Fünf-Uhr-Abend-Stunde.
»Es ist doch ein prächtiger Tag heute,« sagte Frau Tobler.
O ja, es sei wirklich herrlich, sagte seinerseits der Gehülfe. Er drehte sich, am Tisch sitzend, halb um, und schaute in die bläuliche Ferne. Der See war ganz blaßblau. Ein Dampfschiff mit klingender Musik fuhr gerade vorüber. Man konnte die wehenden Tücher unterscheiden, die dort unten von den Vergnügungsreisenden geschwenkt wurden. Der Rauch des Dampfschiffes flog nach hinten und wurde von der Luft eingesogen. Die Berge am andern Ufer waren in dem Dunst, den der vollendet schöne Tag über den See verbreitete, kaum zu sehen. Sie schienen aus Seide gewoben zu sein. Ja, die ganze runde Aussicht war blau, selbst das nahe Grün und das Rot der Dächer sahen sich bläulich an. Man hörte ein einziges Gesumme, wie wenn die ganze Luft, der ganze durchsichtige Raum leise gesungen hätten. Auch das Summen und Surren hörte und sah sich blau an, beinahe! Wie schmeckte wieder einmal der Kaffee. »Warum denke ich an zu Hause, an die Kindheit, wenn ich diesen sonderbaren Kaffee trinke?« dachte Joseph.
Die Frau fing an, von der letztjährigen Sommerfrische am Vierwaldstädtersee zu reden. Dieses Jahr gebe es, sagte sie, leider nichts aus so etwas. Keinen Gedanken! Und dann sei es ja hier wirklich auch ganz schön. Man brauche eigentlich gar keine Sommerfrische mehr, wenn man so wohnen könne, wie sie. Im Grunde genommen sei man fast immer sehr unbescheiden, man habe stets Wünsche, und das sei ja auch ganz natürlich – Joseph nickte – aber zuweilen ähnele es einer wirklichen Arroganz.
Sie lachte. »Wie seltsam sie lacht,« dachte der Untergebene und fuhr fort zu denken: »An diesem Lachen könnte einer, der sich darauf versteifen wollte, Geographie studieren. Es bezeichnet genau die Gegend, wo diese Frau her ist. Es ist ein behindertes Lachen, es kommt nicht ganz natürlich zum Mund heraus, als wäre es früher durch eine allzupeinliche Erziehung stets etwas im Zaum gehalten worden. Aber es ist schön und fraulich, ja, es ist sogar ein bißchen frivol. Nur hochanständige Frauen dürfen so lachen.«
Inzwischen hatte die Frau längst weitergesprochen, und zwar von jener geradezu ideal schönen und traulichen Sommerfrische. Ein junger Amerikaner habe sie jeden Tag in der Gondel auf den See hinausgerudert. Das sei noch ein Kavalier gewesen. Und dann war es doch für eine verheiratete Frau, wie sie eine sei, reizvoll und neu, einmal ein paar Wochen ganz allein sein zu können und dazu noch in solch einer schönen Gegend. Ohne Mann und ohne die Kinder. Man brauche dabei noch lange nicht an was Unfeines zu denken. Man tue den ganzen Tag nichts, esse köstlich und liege da so im Schatten, unter solch einem herrlichen, breitästigen Kastanienbaum, wie dort, wo sie das letzte Jahr gewesen sei, einer war. Solch ein Baum. Immer wieder sähe sie ihn und sich selbst drunter. Sie habe auch ein kleines, weißes Hündchen gehabt, sie habe es immer zu sich ins Bett genommen. So ein feines, sauberes Geschöpfchen. Nun, dieses Tier habe sie in dem reizenden Gefühl, das ihr vorgegaukelt habe, sie sei eine Dame, eine wirkliche Dame, noch bestärkt. Später habe sie es weggeben müssen.
»Ich muß an die Geschäfte gehen,« sprach Joseph und erhob sich.
Ob er so fleißig sei?
»Nun, man tut, was man für seine Pflicht hält.« Mit diesen Worten entfernte er sich. Im Bureau trat ihm eine unsichtbar-sichtbare Erscheinung entgegen: die Reklame-Uhr. Er setzte sich an den Schreibtisch und fing an zu korrespondieren. Der Briefbote kam, um eine Nachnahme zu präsentieren, es war ein geringer Betrag, Joseph bezahlte aus seiner Privattasche. Dann schrieb er ein paar Briefe im Interesse der Reklame-Uhr. Was man für so eine Uhr nicht alles aufwenden mußte!
»Sie ist wie ein kleines oder großes Kind, solch eine Uhr,« dachte der Angestellte, »wie ein eigensinniges Kind, das der beständigen, aufopfernden Pflege bedarf, und das nicht einmal dankt dafür. Gedeiht denn eigentlich dieses Unternehmen, wächst dieses Kind? Man merkt wenig davon. Ein Erfinder liebt seine Erfindungen. Diese kostspielige Uhr ist Tobler beinahe ans Herz gewachsen. Was aber denken andere Leute von dieser Idee? Eine Idee muß hinreißen, muß überwältigen, sonst ist es eine schwere Sache, sie zu praktizieren. Was mich selber betrifft, so glaube ich fest an die Möglichkeit einer Realisierung derselben, und ich glaube deshalb daran, weil es meine Pflicht ist, weil ich dafür bezahlt werde. Zwar, wie steht es denn nun mit meinem Gehalt?«
Es war in diesem Punkt tatsächlich noch nichts abgemacht worden.
Bis zum Sonntag verlief alles ruhig. Was hätte passieren sollen? Joseph war folgsam und bemühte sich, ein heiteres Gesicht an den Tag zu legen. Aber warum hätte er besonders mißmutig sein sollen, wo ja doch vorläufig nur Ursache zur Zufriedenheit für ihn vorhanden war. Im Militärdienst ist er auch nicht verzärtelt worden. In das Wesen der Reklame-Uhr drang er immer tiefer ein und glaubte bereits, sie vollständig erfaßt zu haben. Was hatte es zu bedeuten, daß zwei Wechsel zu je vierhundert Mark nicht bezahlt wurden. Man schob den Verfalltag dieser Billetts einfach auf einen Monat hinaus, es war sogar riesig nett für Joseph, an den Aussteller der Akzepte schreiben zu dürfen: »Bitte, haben Sie noch Geduld. Die Finanzierung meiner Patente läßt nur noch kurze Zeit auf sich warten. Bis dahin wird es mir möglich geworden sein, die fälligen Verpflichtungen prompt einzulösen«.
Er hatte mehrere solcher Briefe zu schreiben, und er freute sich über die Leichtigkeit, mit der er den gesamten kaufmännischen Stil beherrschte.
Das Dorf hatte er bereits halb durchstöbert. Zur Post zu gehen war ihm jedesmal ein großes Vergnügen. Es gab zwei Wege, einen dem See entlang, auf der breiten Landstraße, und einen über den Hügel, an Obstbäumen und Bauernhäusern vorbei. Er wählte fast immer den letztern. Ihm schien das alles sehr einfach.
Am Sonntag erhielt er von Tobler eine gute, deutsche Zigarre nebst fünf Mark Taschengeld, damit er sich hie und da »etwas leisten könne«.
Das Haus lag so schön da in dem hellen Sonnenschein. Es schien Joseph ein wahres Sonntagshaus zu sein. Er ging den Garten hinunter, die Badehose in der Hand schwenkend, an den See, zog sich in einer verfallenen Badehütte, durch deren Bretterritzen die Sonne hineinleuchtete, behaglich aus und warf sich nachher ins Wasser. Er schwamm weit hinaus, es war ihm so wohl zumute. Welchem Badenden und Schwimmenden, wenn er nicht gerade am Ertrinken ist, ist es nicht wohl zumut? Es kam ihm vor, als wölbe und runde sich die heitere, warme, glatte Seeoberfläche. Das Wasser war frisch und lau zugleich. Vielleicht strich ein leiser Windzug darüber her, oder irgend ein Vogel flog über seinem Kopf, hoch in der Luft, daher. Einmal kam er einem kleinen Boot nahe, ein einzelner Mann saß drin, ein Fischer, der friedlich den Sonntag verangelte und verschaukelte. Welche Weichheit, welche schimmernde Helle. Und mit den nackten empfindungsvollen Armen macht man Schnitte in dieses nasse, saubere, gütige Element. Jeder Stoß mit den Beinen bringt einen ein Stück vorwärts in diesem schönen, tiefen Nassen. Von unten her wird man von warmen und kühlen Strömen gehoben. Den Kopf taucht man, um den Übermut in der Brust zu bewässern, auf kurze Zeit, den Atem und den Mund und die Augen zudrückend, hinab, um am ganzen Leib dieses Entzückende zu spüren. Schwimmend möchte man schreien, oder nur rufen, oder nur lachen, oder nur etwas sagen, und man tut's auch. Und dann von den Ufern her, diese Geräusche und hohen, fernen Formen. Diese wundervollen hellen Farben an solch einem Sonntagsmorgen. Man plätschert mit den Händen und Füßen, steht im Wasser schwebend und trapezturnend, möchte man sagen, aufrecht, immer dazu die Arme bewegend. Und es gibt da kein Untersinken. Nun preßt man noch einmal die Augen geschlossen in das flüssige, grüne, feste Unergründliche hinab und schwimmt ans Land. –
Wie herrlich das war!
Zum Mittagessen hatten sich Gäste eingefunden.
Dieses mit den Gästen ist Folgendes: Josephs Vorgänger im Amt war ein gewisser Wirsich gewesen. Diesen Wirsich hatten die Toblers sehr lieb gewonnen. Sie erkannten in ihm einen anhänglichen Menschen und schätzten seine Tüchtigkeit hoch. Er war ein exakter Mensch, aber er war es nur in der Nüchternheit. Solange er nüchtern war, verfügte er über fast alle, ja man darf sagen, alle Angestelltentugenden. Er war über die Maßen ordnungsliebend, er besaß Kenntnisse sowohl auf kaufmännischem wie auf dem juristischen Gebiet, er war fleißig und energisch. Seinen Chef wußte er zu jeder Zeit und in beinahe allen vorkommenden Fällen in vertrauenerweckender und überzeugender Weise zu vertreten. Zudem hatte er eine saubere Handschrift. Hell von Verstand und mit lebhaftem Interesse begabt war es diesem Wirsich ein Leichtes gewesen, die Geschäfte seines Brotherrn zu dessen vollkommener Zufriedenheit ganz selbständig zu führen. In der Führung der Bücher war er sogar mustergültig. Alle diese Eigenschaften nun konnten zuzeiten mit einem Mal gänzlich verschwimmen, und zwar in der Trunkenheit. Wirsich war kein junger Mann mehr, er zählte ungefähr fünfunddreißig Jahre, und das ist ein Alter, wo gewisse Leidenschaften, wenn sie der Träger nicht vorher gelernt hat zu bezwingen, ein schreckliches Aussehen und eine furchtbare Ausdehnung anzunehmen pflegen. Der Alkoholgenuß machte jeweils, das heißt von Zeit zu Zeit aus diesem Menschen ein wildes, unvernünftiges Tier, mit dem begreiflicherweise nichts anzufangen war. Mehrfach wies ihm Herr Tobler auch die Tür und befahl ihm, seine Sachen zu packen und sich nie wieder blicken zu lassen. Wirsich ging dann auch, fluchend und Beleidigungen ausstoßend, zum Haus hinaus, kehrte aber jeweils, sobald er wieder er selber geworden war, mit einem zerknirschten Armesündergesicht zu der Schwelle zurück, die nie wieder zu betreten er ein paar Tage vorher im Unfug und Wahnsinn seiner Betrunkenheit heftig geschworen hatte. Und Wunder: Tobler behielt ihn immer wieder. Er hielt ihm bei solcher Gelegenheit je eine gesalzene Strafpredigt, wie man sie auch ungezogenen Kindern gegenüber anwendet, sagte ihm aber dann, er könne dableiben, man wolle über das Vergangene einen Schleier werfen und es nochmals mit ihm probieren. Das geschah vier oder fünf Male. Wirsich hatte etwas Unwiderstehliches an sich. Dies trat besonders hervor, wenn er den Mund zu einer Bitte oder Abbitte auftat. Er erschien in diesem Fall so vollkommen reuig und unglücklich, daß es den