Ilana Casoy | Raphael Montes
Tot ist sie dein
Thriller
Aus dem Portugiesischen
von Philipp Diepmans
FISCHER E-Books
Unverkäufliches und unkorrigiertes Leseexemplar zu
ISBN 978-3-651-00118-3, ca. 16,00 Euro (Klappenbroschur)
ISBN 978-3-10-491480-0, ca. 12,99 Euro (E-Book)
Voraussichtlicher Erscheinungstermin: 31. August 2022
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Als endlich das Pseudonym der Autoren des Megasellers »Bom dia, Veronica« in Brasilien gelüftet wird, schreibt darüber sogar die Presse. Niemand anders als der junge Bestsellerautor Raphael Montes und die bekannte True-Crime-Journalistin Llana Casoy stecken hinter dem Namen Andrea Kilamore. Seit dem Riesenerfolg auf Netflix treten die beiden offiziell als Schriftstellerduo auf.
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Erschienen bei FISCHER E-Books
Die Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel »Bom dia, Verônica« bei DarkSide® Entretenimento LTDA., Rio de Janeiro.
© Andrea Killmore 2016
Die Veröffentlichung erfolgt durch die freundliche Vermittlung der Marianne Schönbach Literary Agency
Für die deutschsprachige Ausgabe:
© 2022 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstraße 114, D-60596 Frankfurt am Main
Lektorat: Susanne Kiesow
Illustrationen: Retina 78
Covergestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich
Coverabbildung: Photocase, Adobe Stock und Shutterstock
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-491480-0
»Lass deine linke Hand nicht wissen,
was die rechte tut.«
Matthäus 6.3
Ich kann mit meinen Füßen den Boden nicht berühren, denkt er, während er in die Dunkelheit hinausschreit.
Er ist schon heiser. Er fleht seine Großmutter an, ihn zu befreien, aber die Schreie verstummen in der stinkenden Vogelkiste, die über seinem Kopf sitzt. Der starke Geruch, eine ekelerregende Mischung aus Holz und tierischem Kot, lässt ihn schwindeln – er hat das Gefühl, jeden Augenblick ohnmächtig zu werden.
Warum bestraft sie ihn? Er versteht das nicht. Er macht doch alles, was sie sagt, einschließlich der täglichen Reinigung der Kisten für die Volieren. Er reinigt das Holz und sogar die Schaumstoffverkleidung im Inneren der Kisten. Aber nichts, was er macht, ist ihr gut genug.
Seine Großmutter ist anspruchsvoll, sie nutzt die Kisten dazu, den Vögeln das Singen beizubringen. Sie lässt sie so lange darin sitzen, isoliert in der Dunkelheit, bis sie es von den Älteren gelernt haben.
Wieder kam er ohne seine Mutter vom Busbahnhof nach Hause. Seit diese Verräterin nach São Paulo gefahren ist, mit dem Versprechen, bald zu ihm zurückzukehren, lässt ihn seine Großmutter Tag für Tag dort auf sie warten. Auf einer Plastikbank zwischen anderen Menschen eingezwängt, sieht er Reisende in Bussen ankommen und abfahren, Menschen, die in das riesige Reich zwischen dem Rio de la Plata und dem Amazonas aufbrechen. Er ist gerade einmal acht Jahre alt, aber sie schickt ihn jeden Tag allein dorthin. In jedem Gesicht sucht er nach der Frau, an die er sich nur dank eines einzigen Fotos erinnern kann: seine Mutter. Er erinnert sich an ihre dunkle Haut, die dunklen Haare, die leuchtend grünen Augen und die schmalen, sinnlichen Lippen. Und an den Leberfleck am Kinn. Bei jeder Frau schaut er zuerst auf das Kinn, und jedes Mal, wenn er dort nicht findet, was er sucht, spürt er die Wut, die in ihm aufsteigt. Er weiß, was als Nächstes kommt.
Mit Seilen hängt ihn seine Großmutter an die Haken unter der Kellerdecke. Um die Strafe für ihn noch schlimmer zu machen, setzt sie ihm eine Kiste auf den Kopf, damit er nachdenken, grübeln kann. Die Vögel in den anderen Kisten leisten ihm Gesellschaft, sie sind seine Partner, mit denen er Strafe und Angst teilt. Stunden verbringt er dort oben, hängt unter der Decke, als könne er fliegen. Nach und nach keimt in ihm ein Gefühl des Widerstands auf. Er hasst seine Mutter und stellt sich immer wieder vor, wie sie auf unterschiedliche Weise ums Leben kommt. Er weiß, dass es nicht die Schuld seiner Großmutter ist –, die arme alte Frau, sie liebt ihn, sie ist der einzige Mensch auf der Welt, der für ihn da ist. Des Schreiens müde, pfeift er neben den Vögeln ein trauriges Lied, und erst, wenn er die Töne perfekt trifft, nimmt ihm seine Großmutter die Kiste vom Kopf.
Ich kann mit meinen Füßen den Boden nicht berühren, denkt er erneut. Aber diesmal kann er aus irgendeinem Grund nicht mehr pfeifen. Er presst seine Lippen zusammen, es gelingt ihm, einzelne Töne hervorzubringen, aber sie klingen nicht, wie sie sich sonst anhören. Sein Unvermögen treibt ihn nur noch weiter in die Verzweiflung. Seine Haut beginnt, an den Händen zu reißen, seine Lungen betteln um Luft. Nachdem er krampfhaft versucht hat zu pfeifen, hat er nun den Geschmack von Blut im Mund. Er weiß nicht genau, wann sie das erste Mal zugepickt haben. Oder das zweite, das dritte Mal. Es ist, als hätten ihn sämtliche Vögel gleichzeitig angegriffen, ihre kleinen Schnäbel in seinen Körper geschlagen, in seine Brust und seine Oberschenkel. Vor Schmerz macht er sich in die Hose, aber seine Großmutter kommt nicht.
Die Vögel machen immer weiter, in ihrer Wut angetrieben durch sein unvollkommenes Pfeifen. Ihre spitzen Schnäbel sind scharf und stoßen auf keinen Widerstand. Sie durchdringen seine Haut, picken an seinem Fleisch. Die kleinen Vögel beginnen, ihn in der Kiste hängend bei lebendigem Leib aufzufressen.
Keuchend wacht Brandão in schweißgetränkten Laken auf. Das Fieber ergreift seinen ganzen Körper. Mit rauen Händen streicht er sich über die Brust, dann über Arme und Beine, um sicherzugehen, dass es nur ein Traum war. Er setzt sich auf, erholt sich allmählich von dem Schreck und blickt in den Spiegel: Das Kind ist jetzt ein Mann. Ein gebrochener Mann, auf dem Boden zerschellt in kleine Stücke.
Vor dem Fenster geht die Sonne unter. Mit zittrigen Beinen steht er auf, reibt sich die Augen. Ohne zu duschen oder etwas zu essen, zieht er seine Uniform an und setzt sich in den Corsa. Er fährt, achtet dabei nicht auf den Verkehr, die anderen Fahrer hupen, fluchen, beinahe stößt er mit einem anderen Auto zusammen. Er bremst erst, als er am Busbahnhof Tietê ankommt. Als er aus dem Auto steigt, schwankt er wie ein Betrunkener, obwohl er nicht einen Tropfen angerührt hat.
Auf der Tafel mit den Ankünften findet er einen Bus, der aus dem Norden kommt und gerade in den Busbahnhof einfährt. Mit schnellen Schritten geht er zum richtigen Bussteig, verschränkt seine Arme, wischt sich den Schweiß aus dem Gesicht und mustert die Frauen, die aus dem Bus steigen. Er wartet zehn Minuten. Zwanzig Minuten. Freunde begrüßen sich, Familienangehörige fallen sich um den Hals, der Bus fährt davon, der nächste kommt an, diesmal aus dem Süden. Wo ist Janete?
»Janeteeeeee!«, ruft er.
Passagiere mit ihren Koffern in den Händen schauen ihn irritiert an. Was gucken sie so?
Er dreht sich um und rennt zwischen den wartenden Bussen hindurch. Immer wieder ruft er den Namen seiner Frau. Er schlägt auf den Informationsschalter, rempelt junge Frauen an, tritt wütend einen Mülleimer um. Wo ist sie?
Ein Mitarbeiter des Sicherheitsdiensts nähert sich ihm, hält ihn am Arm fest und redet auf ihn ein. Brandão hört gar nicht, was der Mann sagt. Noch bevor er seinen Satz beenden kann, hat er ihm seine Faust ins Gesicht gerammt und ist weitergelaufen. Immer mehr Männer laufen hinter ihm her, er taucht in der Menschentraube unter, die sich in Richtung U-Bahnhof bewegt, und versteckt sich dann hinter einem schmutzigen, orangefarbenen Müllcontainer.
Dort, an die Wand gelehnt, während lediglich Beine an seinen Augen vorbeiziehen, lichtet sich der Nebel in seinem Kopf und nimmt die Erkenntnis der realen Ereignisse Gestalt an. Was hat er getan? Er sieht, wie Janetes Haar Feuer fängt, er hört ihre Schreie, die aus ihrem brennenden Körper dringen, und erinnert sich, wie ihm der Anblick gefallen hat: Ihre Arme werden von der Hitze verschlungen, bis sie nur noch Kohle sind. Wie konnte er nur so dumm sein? Er hat die Kontrolle über sich selbst verloren.
Janete hat ihn verraten, denn sie hat ihm genommen, was ihm am wertvollsten war. Er hatte keine andere Wahl gehabt. Sie hat verdient, was sie bekommen hat, aber er nicht. Seine Bestimmung war es, sich um seine Großmutter zu kümmern, bis sie hundert Jahre alt war. Er sollte die verlogenen Frauen bestrafen, die ihre Familien zurücklassen und an diesem dreckigen Busbahnhof die Stufen heruntersteigen. Wer wird sie jetzt ansprechen und zum Mitgehen überreden? Wer wird sich jetzt den Sarg mit ihm teilen, den er heimlich im Keller für sie beide gebaut hat? Brandão fährt sich mit der Hand über die Glatze, ein junger schwarzer Mann kommt auf ihn zu und fragt, ob alles in Ordnung sei. Nichts ist in Ordnung, siehst du das nicht? Meine Großmutter ist tot, Janete ist tot. Sonst gibt es niemanden mehr.
»Warum hat sie mir das angetan?«, fragt er den jungen Mann.
Am liebsten hätte er ihm seine Faust ins Gesicht gerammt, wie er es bei dem Wachmann getan hat, aber der Mann versteht ihn und lässt ihn allein. Janete war die perfekte Ehefrau gewesen, sie hatte alles für ihn getan, ihn respektiert und seine Vorlieben mit ihm geteilt. Warum hatte sie sich in letzter Zeit so verändert?
Die Erklärung traf ihn wie ein Schlag: Das war nicht sie, nicht allein. Jemand musste ihr das Gift besorgt haben, jemand musste sie ermutigt und angestachelt haben. Er schüttelt den Kopf und hält Ausschau nach den Männern vom Sicherheitsdienst. Als er niemanden sieht, steht er langsam auf, geht zu seinem Auto und fährt heim.
Entschlossen durchsucht er das ganze Haus, der Hass wütet in ihm. Er muss die Quelle des Verrats finden. Auch ohne eine Spur glaubt er, die Antwort bereits zu kennen. Er durchsucht die beiden Nachttische, den Küchenschrank, den Kleiderschrank im Schlafzimmer. Er schaut unter das Bett und sieht dort ihren schwarzen Regenschirm. Hatten sie nicht wegen des Schirms aus der Wäscherei angerufen? Er geht zum Telefon, öffnet die Liste mit den eingegangenen Anrufen und ruft die Nummer zurück.
»Polizeirevier São Paulo, guten Abend.«
Eine Frauenstimme. Intuitiv verstellt er seine Stimme: »Bitte, mit wem spreche ich?«
»Verônica Torres, wie kann ich Ihnen helfen?«
Brandão legt auf, als wäre die Verbindung abgebrochen. Und wie du mir geholfen hast, Süße. Er gibt »Verônica Torres« und »Polizeirevier São Paulo« bei Google ein und hat schon bald alle Informationen, die er benötigt. Er notiert sie auf einem Blatt Papier und erledigt ein paar Telefonate. Dann kontrolliert er seine Munition und verlässt das Haus.
Er hat nur einen einzigen Gedanken. Bevor er sie tötet, wird er sie bestrafen, wie er es bisher noch mit keinem Menschen getan hat.
Das war der erste Tag vom Ende meines Lebens.
Natürlich wusste ich davon noch nichts, als ich am Morgen meine Augen aufschlug und sofort sah, dass ich zu spät war. Schon in der vergangenen Woche hatte ich mir wegen ein paar Minuten, die ich länger geschlafen hatte, einen ordentlichen Rüffel von meinem Chef geholt – in seiner Welt war es vollkommen undenkbar, dass noch jemand nach ihm im Büro erschien. Da ich nicht in der Stimmung war, mir das Gemecker des Alten schon wieder anzuhören, schlüpfte ich schnell in eines meiner schwarzen Kleider, zog mir meine Armreifen an (ohne die ich nie aus dem Haus gehe), warf mir meine zentnerschwere Tasche über die Schulter und knallte die Tür hinter mir zu, ohne auch nur einen Kaffee getrunken zu haben.
Obwohl es nur wenige Kilometer bis zum Polizeipräsidium von São Paulo waren, machte der Verkehr alle meine Versuche, pünktlich zu sein, zunichte. Ich traf eine Dreiviertelstunde zu spät im Kommissariat ein und stolperte beinahe noch über meine hohen Absätze.
»Guten Morgen, Verônica«, rief mir jemand vom Empfang aus zu. Ich reagierte lediglich mit einer einstudierten Geste. Ich bin niemand, der morgens gerne redet. Ich lächelte andeutungsweise, gerade genug, damit hinter meinem Rücken niemand behaupten konnte, ich wäre unfreundlich gewesen. Während der Aufzug in den elften Stock hinauffuhr, hörte ich ein tiefes Knurren in meinem Magen und zählte die Menge an Kalorien, die ich heute zu mir nehmen durfte. Es waren nicht viele. Wenn ich ehrlich bin, waren es wenige, sehr wenige. Glauben Sie mir, es ist nicht leicht, eine achtunddreißigjährige Frau mit ein paar Pfund zu viel zu sein. Und als würde das nicht reichen, war es montags meistens am schlimmsten, wenn ich mir selbst die Schuld dafür gab, am Wochenende alle Erfolge zunichtegemacht zu haben.
Ich schleuderte die Tasche auf meinen Schreibtisch und schaute zum Büro des Chefs hinüber. Der Alte war schon da, aber die Tür zu seinem Büro war geschlossen, und die Vorhänge waren zugezogen. Die Nachricht war eindeutig: »Nicht stören!« Carvana machte die Regeln, ich hatte sie zu befolgen. Er genoss das bisschen Macht, mich herumzukommandieren, ich genoss meine wahre Macht, ihn im Stillen zu manipulieren, ohne dass er es jemals bemerken würde.
Nach einigen Jahren im Dienst des Sekretariats der Zivilpolizei des Bundesstaats São Paulo lernt man es zu schätzen, unsichtbar zu sein. Niemand achtet auf einen. Man ist zu unwichtig. Alle Mitarbeiter eilen zu ihren Schreibtischen, schieben ihre eigenen Sorgen und Probleme vor sich her, leihen sich hier einen Locher, fragen da, was es Neues gibt oder wie es einem geht, ohne eine andere Antwort als »Alles super!« zu erwarten. Sie kommentieren das Spiel vom Wochenende, aber niemand von ihnen – passen Sie gut auf, was ich sage –, niemand von ihnen achtet wirklich auf mich. Ich bin unsichtbar.
»Guten Morgen, Verônica«, sagte irgendjemand im Vorbeigehen.
Ich machte mir nicht einmal die Mühe zu antworten. Ich war viel zu sehr damit beschäftigt, zum Kühlschrank auf dem Flur zu gehen. Ich wusste, dass in der Tür zwei Puddingteilchen warteten, die von irgendeiner Geburtstagsfeier übrig geblieben waren. Ich schaute sie sehnsüchtig an und entschied mich dann seufzend für eine kalorienreduzierte Götterspeise. Zurück am Schreibtisch lutschte ich frustriert auf der wabbeligen, nach Erdbeere schmeckenden Masse herum und erwartete, dass diese Woche mit den Bergen an Anfragen und Formularen, die sich vor mir türmten, genauso frustrierend verlaufen würde wie immer. Ich überlegte, meine WhatsApp-Nachrichten durchzugehen, brauchte aber so lange, bis ich mein Handy gefunden hatte, dass ich beschloss, zunächst das Chaos in meiner Handtasche zu beseitigen.
Mein Mann machte immer Scherze darüber, dass ich mein ganzes Leben in dieser Handtasche mit mir herumtragen würde. Ich könnte die Tasche austauschen, aber nicht das Durcheinander darin. All meine Träume, meine Ängste und meine Eitelkeiten waren darin verstaut, verborgen unter einem Reißverschluss. Ich mochte dieses Bild, und mir kam der Gedanke, dass er vielleicht recht damit hatte. Das Gewicht der Tasche bestätigte, dass es wirklich nicht leicht war, sein ganzes Leben auf einer Schulter zu tragen. Man konnte sogar auf den Gedanken kommen, dass ich eine Leiche mit mir herumtrage.
Ich breitete den Inhalt der Tasche auf meinem Schreibtisch aus, legte sie, leer wie sie jetzt war, auf meinen Schoß und begann mit dem Aufräumen.
»Guten Morgen, Verônica«, sagte das Mädchen, das mir jeden Tag Kaffee anbot. Ich wusste nicht, wie sie hieß, und war mir sicher, dass sie meinen Namen auch nur wegen des Schilds auf meinem Schreibtisch kannte. Sie war wie ich eine Unsichtbare.
Ich hob den Kopf, lächelte sie an und machte mich dann wieder an meine Arbeit. Ein Haufen Kreditkartenabrechnungen: Müll. Werbebroschüren: Müll. Leere Bonbon- und Kaugummipapiere: Müll. Ich fand einen roten Lippenstift, den ich seit Tagen gesucht hatte, und sortierte die Geldscheine, achtete darauf, dass das Gesicht auf ihnen immer in die gleiche Richtung schaute, und machte einen kleinen Haufen mit den für mich wichtigen Dingen.
Ich weiß nicht, wie lange es dauerte, für Ordnung zu sorgen. Ich glaube, es waren nur ein paar Minuten, es ist aber durchaus möglich, dass es eine halbe Stunde war. Ich weiß nur, dass sich plötzlich die Tür zum Büro von Carvana öffnete und eine magere, in Tränen aufgelöste Frau heraustrat. Ich erinnere mich, dass ich Carvana einen fragenden Blick zuwarf. Er wedelte mit der Hand und gab mir damit zu verstehen: »Kümmere du dich darum!« Wie immer. Der Alte war ein gefühlloser Mistkerl. Das und nichts anderes.
Die Frau zog sich in eine Ecke in der Nähe der Kaffeemaschine zurück, die kurz davorstand, den Geist aufzugeben. Auch die Frau sah so aus, als würde sie kurz davorstehen, den Geist aufzugeben. Sie zitterte am ganzen Körper und hielt den Kopf gesenkt. Als ich näher kam, hob sie den Kopf, und ich konnte mir ihr Gesicht genauer anschauen. Ich sah nichts anderes als ihren schrecklich zugerichteten Mund. Ihre Lippen waren geschwollen, dunkelrot, mit eitrigen Pusteln übersät. Nach einiger Zeit gelang es mir, die Aufmerksamkeit von ihrem Mund abzuwenden und der Frau in die Augen zu sehen. Ich schaute den Menschen gerne in die Augen.
Später erfuhr ich, dass ihr Name Marta Campos war. Noch etwas später wusste ich alles über sie. Mehr, als ich mir hätte vorstellen können. Doch in diesem Moment wusste ich gar nichts, und dennoch spürte ich Mitleid mit dieser Frau mit dem widerlichen, von eitrigen Pickeln überzogenen Mund. Heute verstehe ich, warum. Für Marta war ich nicht unsichtbar. An diesem Montag, an dem das Ende meines Lebens begann, war sie der erste Mensch, der mir wirklich »Guten Morgen« wünschte. Sie sagte es mit ihren Augen, als sie mich ansah, als würde sie in einen Spiegel schauen.
Ich versuchte, Marta zu beruhigen, sagte ihr, dass alles gut werden würde. Ich ging schnell zum Kühlschrank, um ihr ein Glas Wasser zu holen. Als ich zurückkam, war es schon zu spät. Vielleicht war ich zu langsam gewesen, vielleicht hätte ich besser auf sie achtgeben müssen, aber irgendetwas sagte mir, dass ich alles richtig gemacht hatte. Jetzt stand ich dort und hielt mich an dem Glas in meiner Hand fest, respektierte ihren Wunsch, Martas Schicksal.
Wenige Meter von mir entfernt nahm sie ihre Brille ab und legte sie auf das Fensterbrett aus Marmor. Bevor Sie auf die Kante stieg, schaute sie mir ein letztes Mal in die Augen.
»Jetzt wird er mich lieben können«, sagte sie und seufzte dabei schwer.
Dann breitete Marta ihre Arme aus und warf ihren Körper nach hinten. Ich lief los. Ich schwöre, dass ich loslief. Ich erreichte das Fenster, aber nur noch rechtzeitig, um zu sehen, wie sie nach ihrem Fall aus dem elften Stockwerk auf dem Boden aufschlug.
Sie hatte tatsächlich endgültig ihren Geist aufgegeben.
»Ich hoffe, du hast gute Neuigkeiten, Verô!«, sagte Carvana, sobald ich sein Zimmer betrat.
Vor den Fenstern war es bereits dunkel geworden, und ich fühlte mich erschöpft, verschwitzt, meine Kleider kniffen, meine Haare klebten mir in der Stirn. Das Betreten von Carvanas Büro war jedes Mal wie das Betreten eines Schlachtfelds, und er war bereits kampfbereit. Ein Glas Whisky in der Hand, die Füße auf dem Schreibtisch, direkt neben dem kleinen Schild, auf dem zu lesen war »Polizeichef Dr. Wilson Carvana«.
Ich versuchte, seine wie üblich fehlende Sensibilität zu ignorieren. Ich kannte das schon seit Jahren, die Haltung von einem, dem alles scheißegal ist, und eigentlich hätte ich mich längst daran gewöhnen müssen. Aber das war nicht irgendein Nachmittag: Eine Frau war in den Tod gesprungen, nachdem sie mehr als eine Stunde in seinem Zimmer verbracht hatte, und alles, was der Alte von mir hören wollte, waren gute Neuigkeiten. »Die Leiche ist gerade abtransportiert worden. Ich habe mich um alles gekümmert, Doc.«
»Endlich!« Carvana lächelte sein Lächeln der gelben Zähne und drehte sich in meine Richtung. »Hast du die Fotos für mich gemacht?«
Ich bejahte seine Frage und übergab ihm den Papierkram. Auf der ersten Seite ein Foto von Marta Campos’ leblosem Gesicht, ihr eitriger, ausgefranster Mund. Er betrachtete die Fotos, während das Telefon wie wild schrillte, und schleuderte sie dann mit einem angewiderten Ausdruck auf seinen Tisch.
»Verdammt, ist das eklig! Kann dieses Scheißtelefon nicht einmal still sein? Die Pressegeier feiern unten schon ihren Leichenschmaus. Sind noch viele von ihnen da?«
Ich reckte meinen Hals und spürte sofort das aufkommende Schwindelgefühl beim Blick aus dem Fenster in die Tiefe. In der Lobby hatten sich zahlreiche Reporter und Sensationsgierige versammelt, auch wenn die Leiche längst nicht mehr hier war.
»Immer mit der Ruhe, Doc, es war Selbstmord. Die Presse weiß, dass sie darüber nicht schreiben darf«, sagte ich und versuchte, die Sache herunterzuspielen.
»Einen Scheiß weiß sie! Diese Geier wollen Aas. Und wir haben hier einen prall gefüllten Teller. Es wird nicht mehr lange dauern, bis mich die Interne auseinandernehmen wird. Und das kurz vor meiner Pensionierung. Was habe ich getan, um das zu verdienen?«
Dich wie ein Riesenrindvieh verhalten, wie immer, schoss es mir in den Sinn. Aber ich musste gar nichts sagen, Carvana wollte sich nur selbst reden hören. Er war ein vom System geförderter Egomane.
Und jetzt war er am Arsch, gerade wo er sich auf der Zielgeraden befand. Ohne zu fragen, schenkte er mir ein Glas Whisky ein, prostete mir zu, verzweifelt bemüht, unser Bündnis zu erneuern. Ich hätte ihm am liebsten das Glas ins Gesicht geschleudert.
»Wir müssen unsere Versionen abstimmen«, sagte Carvana, während er sich eine Zigarre anzündete. »Wir werden der Internen sagen, dass diese Marta vollkommen durchgeknallt war, dass sie nichts gesagt hat. Schau dir nur dieses Gesicht an, ihr Mund ist so unfassbar widerlich. Sie war verrückt, das reicht völlig aus. Wir müssen die Sache schnell abschließen. Kümmere dich darum, Verô!«
»Kümmere dich!« war Carvanas Lieblingssatz, den er voller Stolz und unangenehmer Überlegenheit immer und immer wiederholte. In letzter Zeit hatte er sich mehr und mehr aus den Ermittlungen zurückgezogen. Er hatte den Willen verloren, die Wahrheit zu suchen, und dachte nur noch daran, wie er in Mato Grosso angeln gehen würde, sobald er im Ruhestand war, weit weg von der Fuchtel seiner Frau.
Ich musste so tun, als würde ich mitmachen. Mit einem geschmeichelten Ego würde er aufhören, mich als Boxsack zu benutzen, und seinen Mund öffnen, ohne es überhaupt zu merken. Er mochte es, Doc genannt zu werden. Der alte Trottel fühlte sich eh schon wie eine Figur aus CSI Miami, alles, was ihm fehlte, war die dunkle Sonnenbrille.
»Alles klar, Doc. Lass mich nur machen. Aber verrate mir noch, was die Frau bei dir wollte. Sie war ganz schön lange in deinem Büro, und du hast nicht einmal angerufen, damit ich Protokoll schreibe. Das macht mich neugierig.«
»Verô. Ich möchte nicht darüber reden …«
Ich streckte meine Hand nach Carvana aus, um einen Zug von seiner Zigarre zu nehmen. Er wusste, dass ich nicht rauche, aber es war wichtig, dass er mich als Komplizin betrachtete, die denselben Rauch und dieselben Sorgen mit ihm teilte. Ich hob die Augenbrauen und machte deutlich, dass mich seine Abfuhr nicht zufriedenstellen würde.
»Verdammt, Doc, Marta hat sich direkt vor meinen Augen in den Tod gestürzt. Verrate mir, was ihr so Sorgen bereitet hat! Ich muss es verstehen, damit ich dir helfen kann. Sie kam weinend aus deinem Büro.«
»Frauen weinen doch immer«, erwiderte er und räkelte sich in seinem Stuhl. Er blies seinen Mundgeruch direkt in meine Richtung. »Diese Marta wollte Anzeige erstatten. Sie war eine von diesen Frauen, die immer noch keinen abbekommen haben, einsam, verletzlich, hilfsbedürftig. Dann hat sie sich mit so einem Penner auf einer dieser Online-Partnerbörsen eingelassen. Sie dachte, sie hätte ihren Mann fürs Leben gefunden. Der Typ tischte ihr eine Lüge nach der anderen auf, lieh sich Geld von ihr, mit dem Versprechen, es bald zurückzuzahlen, und im Laufe der Zeit hatte er sie komplett ausgenommen. Ich frage dich: Was geht mich das an? Hat sie jemand gezwungen, sich dem Typen an den Hals zu werfen? Nein. Sie hat sich ihm zu Füßen geworfen, weil sie eine Idiotin war, die förmlich dafür bezahlt hat, dass sie jemand ›Liebling‹ nennt. Und dann rennt sie zur Polizei, um Anzeige zu erstatten und mir ans Bein zu pinkeln?«
Ich war jeden Tag aufs Neue überrascht davon, was für ein Arschloch Carvana war. Ich überspielte meine Entrüstung und nahm den Faden wieder auf: »Und was hatte sie an ihrem Mund?«
»Sie hat gesagt, dass sie das von diesem Typen hatte. Wahrscheinlich war es einfach nur Herpes.«
»Die beiden haben sich also tatsächlich getroffen?«
»Scheint so. Anscheinend aber nur einmal. Nachdem sie monatelang gechattet haben, hat der Typ ein Date vorgeschlagen, und sie haben sich zum Abendessen verabredet. Er hat sie nach Strich und Faden verarscht, sie hat ihm noch mehr Geld gegeben oder was auch immer, und – puff! – hat er sich in Luft aufgelöst. Dann hat sich zu allem Überfluss noch ihr Mund entzündet! Sie wollte, dass ich diesen Typen finde. Ich habe ihr gesagt, dass er schon längst über alle Berge sei und sie ihre Wunde versorgen und die Sache auf sich beruhen lassen solle. Wenn überhaupt, könnten wir eine Anzeige wegen Diebstahls und Betrugs aufnehmen. Ich war ganz ruhig und freundlich zu ihr. Du kennst mich, Verô, ich bin ein guter Kerl. Ich sagte ihr, dass ich verstehen kann, was sie durchgemacht hat und so. Ich war fucking charming zu ihr, und was ist ihr Dank?«
»Die Frau war absolut verzweifelt, Doc.«
»Sie war verrückt, ich sag es dir. Auf einmal taucht ein Prinz auf, sagt ihr alles, was sie hören will, und bittet sie um etwas Geld. Was glaubt sie denn? Dass der Typ sich in das Foto auf der Webseite verliebt hat? In ihre Chatbeiträge? Das ist ein Fall für den Psychiater, nicht für die Polizei. Verô, diese Frauen brauchen eine Therapie. Und jemanden, der sie richtig durchvögelt, damit sie wieder runterkommen.«
Ich rang mir ein Lächeln ab und stimmte ihm zu. So ein Macho. Ich wusste, wie schwer es für jede Frau war, ein Polizeirevier zu betreten, ihre Scham zu überwinden und Anzeige zu erstatten, um zuzugeben, wie dumm sie gewesen war, auf einen solchen Lügner hereinzufallen, der ihr über das Internet seine Liebe gestanden hatte. Alles, woran ich denken konnte, war, wie Marta sich gefühlt haben muss, als sie von Carvana empfangen wurde, sein abfälliger Ton in der Stimme, seine Verachtung für den Schmerz, den sie empfand. Ich konnte gut nachvollziehen, warum das arme Ding aus dem Fenster gesprungen ist.
Jetzt wird er mich lieben können, hatte sie gesagt und mich mit einem letzten verzweifelten Blick angeschaut, der nach Gerechtigkeit rief. Mich erfüllt es jedes Mal mit Zufriedenheit, wenn ich für Gerechtigkeit sorgen kann. Deswegen habe ich mich vor Jahren für die Polizei entschieden. Ich wurde Aushilfe als Protokollantin, und nach einigem Durcheinander bekam ich den Job als Assistentin. Aber das ist eine andere Geschichte.
Ich schob meinen Körper weit nach vorne und stützte mich auf der Stuhllehne ab, wohlwissend, dass der nächste Schritt mit einem hohen Risiko verbunden war.
»Doc, darf ich in dieser Sache ermitteln?«
Er verdrehte die Augen, erstickte fast am Rauch seiner Zigarre, und bevor er irgendetwas sagen konnte, fuhr ich fort: »Ich stimme dir zu, dass die Frau verrückt war, aber wir haben sogar eine eigene Abteilung, die sich genau auf solche Fälle spezialisiert hat. Wir können das nicht einfach ignorieren, zumindest nicht den Teil mit dem Geld. Hast du die Unterhaltung mit Marta auf deinem Computer gespeichert? Kann ich da mal einen Blick drauf werfen? Du weißt, dass ich dir helfen kann, den Kerl zu schnappen, ohne dass irgendwo mein Name auftaucht …«
Ich war zum Angriff übergegangen. Carvana war nicht darauf vorbereitet gewesen. Ich hatte ihn überrumpelt. Er zog eine Grimasse, stieß einen Pfiff aus und ließ mich wieder einmal wissen, dass er es war, der mich in der Hand hatte.
»Verô, du lernst es wirklich nicht! Mit einem Selbstmordversuch in deiner Akte wirst du nie an einem richtigen Fall arbeiten können! Wie glaubwürdig wärst du? Gar nicht! Sekretärin ist noch das Beste, was ich für dich tun konnte, um dich bei mir zu behalten. Das habe ich nicht für dich getan, sondern einzig und allein für meinen Freund Júlio! Aber damit muss auch gut sein. Kein Einsatz auf der Straße, keine Ermittlungen. Kümmer dich einfach darum, dass der Fall zu den Akten gelegt wird! Wenn die Leiche abkühlt, kühlen auch die Gemüter der Journalisten wieder ab!«
Jetzt schenkte er mir auch noch dieses süffisante, bösartige Grinsen. Aber so ist das Leben halt: Man macht hundert Dinge richtig, aber diese Idioten halten einem den einzigen Fehler, den man gemacht hat, immer und immer wieder vor. Es ist so unglaublich ungerecht! Diese Ungerechtigkeit traf mich tief in meinem Innersten. Ich spürte den Schmerz in meiner Brust. Eine Woge der Beklommenheit, die ich nur allzu gut kannte.
Ich wollte weiterargumentieren, aber das Klingeln des Telefons hinderte mich daran. Der Polizeipräsident. Es tat mir gut zu sehen, wie der Alte beim Anruf seines Vorgesetzten förmlich schrumpfte. Er lief eifrig von einer Seite seines Büros zur anderen, räusperte sich, während er seinem Chef berichtete.
»Natürlich nicht, Chef … Wie kommen Sie darauf? Ich habe alles unter Kontrolle … Sie müssen sich keine Sorgen machen. Nein … Es ist nichts in den Akten. Ich war auch fassungslos. Wir haben der armen Frau jede Unterstützung angeboten, Chef. Ich weiß, dass im Fernsehen darüber berichtet wird … Das Mädchen war leider nicht ganz bei Verstand. Ja, ich weiß, Chef. Ja … Ja … Ja … Nein. Natürlich nicht. Ich komme.«
Er legte auf, er war geschlagen. Mit einem Gesicht, aus dem seine Bitte um Hilfe für jeden zu erkennen war, sah er mich an. »Der Polizeipräsident sitzt mir im Nacken. Ich muss ein bisschen Politik machen, Verô. Bringst du den Fall für mich zu den Akten?«
»Ja.«
»Und versprich mir, dass du die ganze Geschichte ruhen lässt.«
»Ich verspreche es.«
Ich lächelte, als der Alte gegangen war. Innerlich und äußerlich. Ich nahm meinen USB-Stick aus der Tasche, steckte ihn in seinen Computer und zog das Backup des Tages. Ohne Zeit zu verschwenden, ging ich danach in die Asservatenkammer. Das Kommissariat war nahezu menschenleer, niemand würde mich vermissen, wenn ich nicht an meinem Schreibtisch saß. Vorsichtig öffnete ich den Karton mit der Handtasche von Marta Campos, der dort in einem Regal wartete. Ich machte mir nicht einmal die Mühe, Handschuhe überzustreifen. Meine Fingerabdrücke würden bei einer Untersuchung nicht berücksichtigt werden, da ich hier im Gebäude arbeitete. Ich bezweifelte, dass jemand etwas merken würde. In Brasilien wird ohnehin nie irgendetwas kontrolliert. Bei einem Selbstmord einer Frau ohnehin nicht … Akte zu. Fall gelöst.
Sorgfältig kontrollierte ich den Inhalt der Tasche und fotografierte alles mit meinem Handy. Zum Glück war Marta Campos viel besser organisiert als ich. In ihrer Tasche fand ich sogar ein weiteres Täschchen, alles war sorgfältig an seinem richtigen Platz verstaut. Ich fand eine Heilsalbe (zweifellos wegen der schrecklichen Wunde an ihren Lippen), Autoschlüssel und ein kleines Notizbuch von Moleskine. Ich blätterte die Seiten durch, sah, dass einige Notizen mit einem Textmarker hervorgehoben waren. Intuitiv steckte ich das Büchlein in meine Handtasche. Niemand würde es vermissen. Außerdem fand ich in einem kleinen Etui einen weiteren Schlüssel, wahrscheinlich ihr Haustürschlüssel. Ein paar Hygieneartikel, eine Zahnbürste, Zahnpasta, Zahnseide.
Ich ging einige der Kreditkartenbelege durch, konnte aber nichts finden, was mir auf Anhieb ins Auge gefallen wäre. Dann widmete ich mich ihrem Handy. Heutzutage war darin das ganze Leben eines Menschen enthalten. Zum Glück für mich hatte Marta sich nicht einmal die Mühe gemacht, ihr Telefon mit einem Passwort zu sichern.
Ein kurzer Blick in ihre E-Mails, und schon fand ich, was ich gesucht hatte: eine elektronische Quittung des Taxiunternehmens mit der Anschrift des Zielorts, der Adresse des Kommissariats. Sie ist also nicht mit dem eigenen Auto gekommen. Mir fielen mehrere E-Mails mit dem Hinweis »Delivery Failure« auf. Mails, die nicht an den angegebenen Empfänger gesendet werden konnten. Alle Mails waren an die Adresse sexystudent88@gmail.com geschickt worden. Das war zweifellos die Adresse des Typen, der Marta verarscht hatte. Selbst nach allem, was er ihr angetan hatte, hat sie nicht aufgehört, ihm Nachrichten zu schicken, immer noch in der verzweifelten Hoffnung, dass alles nur ein Missverständnis und ihre Geschichte noch nicht zu Ende war. Sie musste verzweifelt geglaubt haben, dass er sie wirklich geliebt hatte. Ich wollte mehr sehen, musste mich aber beeilen. Jederzeit könnte jemand hereinkommen, und ich hatte keine Lust darauf, irgendeine Erklärung erfinden zu müssen. Ich steckte ihre Schlüssel in meine Tasche, schloss den Karton, löschte das Licht und verließ den Raum. Ich schaute auf meine Uhr: fast neun Uhr abends.
Im leeren Aufzug rief ich meinen Mann an: »Liebling, es gab ein Problem auf dem Revier. Ich muss heute etwas länger bleiben. Kannst du die Kinder bei deiner Mutter abholen? Ich liebe dich.«
Als ich auflegte, musste ich unweigerlich an Marta denken: Jetzt wird er mich lieben können …
Vor der Tür des Gebäudes wartete immer noch eine Gruppe von Reportern. Ich sah mich gezwungen, vor den Kameras einige Worte über den Fall zu sagen, immer darauf bedacht, Martas Namen nicht zu erwähnen. Ich zog es vor, den Selbstmord nicht zu kommentieren, und verwies auf die laufenden Ermittlungen –, nicht ohne zu betonen, dass wir nicht ruhen würden, bevor die Wahrheit ans Tageslicht gebracht wurde.
Eilig ging ich zum Parkplatz und war gerade in meinen kleinen Honda gestiegen, als mein Handy zu vibrieren begann. Carvana. Zweifellos wollte er hören, dass ich den Fall zu den Akten gelegt, der Presse keinen Mist erzählt und einen Schlussstrich gezogen hatte.
Ich zündete den Motor und ließ das Handy vibrieren. Fick dich, Carvana!
Das Navi war mein Lebensretter. Ich wurde ohne jeglichen Orientierungssinn geboren und verlief mich schon, wenn ich nur eine Runde um den Block ging. Doch diese wunderbare Erfindung brachte mich ohne Stress und Umwege an mein Ziel. Trotz des schrecklichen Tages hatte ich das Glück, in der Nähe von Martas Haus auf Anhieb einen Parkplatz zu finden. Das größere Problem ließ allerdings nicht lange auf sich warten: Ihr Haus befand sich in einer schönen Anlage in São Paulo, die Zufahrt allerdings war verschlossen. Im Schatten eines Baumes wartete ich auf meine Gelegenheit. Immer mehr Menschen kamen von der Arbeit nach Hause, irgendjemand von ihnen müsste doch bald das elektronische Tor aktivieren, um mit dem Auto in die Anlage zu fahren. Meine Füße schmerzten. Wenn ich heute Morgen gewusst hätte, wie anstrengend es sein würde, mit diesen hohen Absätzen hier herumzustehen und zu warten, hätte ich mich für Sneakers entschieden. Wirklich. Jedes Riemchen meiner Schuhe schnitt mir wie ein Messer in die Haut, aber Marta verdiente diese Qualen und meine Anstrengung herauszufinden, was ihr zugestoßen war.
Es dauerte tatsächlich nicht lange, bis einer der Bewohner von der Arbeit nach Hause kam und sich das Tor automatisch öffnete. Ich hatte mir bereits eine gute Position gesucht und betrat die Anlage, sobald er an mir vorübergefahren war. Kurz darauf stand ich vor Martas Haus. Nummer acht, klein, weiß und gelb gestrichen. Es sah aus wie ein Puppenhaus. Von außen.
Im Inneren des Hauses zeigte sich mir ein ganz anderes Bild. Ich sage immer, dass der Ort, an dem wir leben, genauso viel über uns aussagt wie ein Fingerabdruck. Martas Haus spiegelte deutlich die zitternde, weinende Frau wider, die sich am Anfang des Tages vor meinen Augen in den Tod gestürzt hatte: Es herrschte ein heilloses Durcheinander, wie in meiner Handtasche, nur schlimmer. Ich betrat ihr Haus und stolperte über die Falte eines Teppichs. Ich zog mein Handy hervor, stellte meine Tasche auf den Schaukelstuhl am Eingang und erlöste meine Füße von ihren Peinigern. Ermittlungen, die man barfuß machen kann, sind die besten Ermittlungen.
Ich fotografierte alles, was mir wichtig erschien, um das Leben von Marta Campos verstehen zu können. Unter dem oberflächlichen Bild des Chaos zeigte mir die Einrichtung, dass das Haus bis vor kurzem aufgeräumt und organisiert gewesen sein musste: Die Möbel waren geschmackvoll aufeinander abgestimmt, an den Wänden eine hübsche Tapete und geschmackvolle, etwas verstaubte Bilder. Offensichtlich hatte sich vor kurzem etwas Grundlegendes in ihrem Leben geändert – ein Ereignis, das zu dem unerklärlichen Widerspruch zwischen dem schönen, aber verlassenen Haus und ihrer gut organisierten Tasche geführt hat. Litt Marta vielleicht an Depressionen?
Ich ging direkt ins Bad. Verschmierte Fliesen, der Abfluss voller Haare, feuchte Handtücher. Marta hatte die letzten Tage gelebt wie ein Zombie. Am Waschbecken standen ranzige Cremetiegel, Flaschen mit Shampoo und Spülung, die bis zum Rand mit Wasser gefüllt waren. Sie war gepflegt gewesen, hatte aber aufgehört, sich um sich selbst zu kümmern. Ich öffnete den kleinen Schrank und fand zwei Antidepressiva, Citalopram und Cymbalta. Daneben kleine Fläschchen Frontal, kein Wunder: Eine Frau über dreißig, die keine Medikamente gegen Angstzustände im Haus hat, verdient eine Medaille. Ich fotografierte alles und machte mich dann auf die Suche nach ihrem Schlafzimmer.
Bevor ich die Tür öffnete, zögerte ich einen Augenblick. Im Geiste entschuldigte ich mich bei Marta, dass ich in ihr Privatleben eindrang. Das seltsame Gefühl, tot zu sein, während eine unbekannte Person meine Habseligkeiten durchwühlt, überwältigte mich. Das war nicht cool. Ich musste mir ins Gedächtnis rufen, dass ich es für einen guten Zweck tat: Ich musste das Arschloch finden, das ihr das angetan hatte.
Das Zimmer war für meinen Geschmack ein wenig übertrieben. An den Wänden Poster von Elvis und Madonna. Auf dem Fußboden und dem Doppelbett zahlreiche Kissen mit bekannten Gesichtern: Marilyn Monroe, James Dean und andere Mitglieder des Klubs 27 – berühmte Musiker, die im jungen Alter von siebenundzwanzig Jahren gestorben sind: Jim Morrison, Janis Joplin, Kurt Cobain, Jimmy Hendrix und Amy Winehouse lächelten mir erwartungsvoll entgegen. All diese Promis waren an einer »Überdosis Leben« gestorben. Hatte Marta schon früher Selbstmordphantasien gehabt? Wahrscheinlich. Ich schaute in die Schubladen und Schränke. Kein Abschiedsbrief, keine Hinweise darauf, dass sie an jenem Morgen das Haus bereits in dem Wissen verlassen hatte, dass sie sich aus einem Hochhaus stürzen würde. Alles, was sie wollte, war, Hilfe zu bekommen. Aber ihr Gespräch mit Carvana hatte für sie tödlich geendet.
Obwohl ich vollkommen erschöpft war, versuchte ich, mich zu konzentrieren. Ich nahm eine Wasserflasche aus dem Kühlschrank und nutzte die Gelegenheit, dessen Inhalt zu kontrollieren. Mehrere Flaschen Coca-Cola, nur wenige Lebensmittel, ein furchtbarer Geruch von etwas Verdorbenem aus der Trattoria do Sargento, Reste von Resten in großen Schachteln ohne die hier sonst so übliche Ordnung. Im Spülbecken türmte sich das Geschirr, Krümel auf der Arbeitsfläche. In der Speisekammer weitere Colaflaschen. Kein Gras, kein Koks, kein Alkohol. Nur Coca-Cola. Endlich etwas, nach dem sie süchtig gewesen ist.
Ich betrat das nächste Zimmer und stellte fest, dass sie gelegentlich am Schreibtisch gearbeitet hat. In den Regalen eine bunte Mischung unterschiedlicher Bücher: einige Klassiker, einige Sammlerexemplare, vieles, was sich nicht zu lesen lohnt, Schnulzen, Liebesromane. Ich machte von allem ein Foto, um mir später die Bilder noch einmal in Ruhe ansehen zu können. Ich blätterte hastig durch die Fotoalben. Darin waren nur wenige Fotos, alle alt mit alten Menschen – Onkel, Tanten, Großeltern. Anscheinend hatte Marta keine Kinder, sie war nur selbst Kind gewesen; eine traurige Realität, die wir erkennen, wenn wir älter werden.
Ich setzte mich vor den Computer, der mich am meisten interessierte. Er war noch eingeschaltet und surrte im Ruhemodus. Ich steckte meinen USB-Stick hinein, und während ich alle Daten kopierte, sah ich mir den Webverlauf an. Ich brauchte nicht lange, um festzustellen, dass Marta sich bis vor zwei Monaten fast ausschließlich auf der Partnerbörse AmorIdeal.com angemeldet und ihre Besuche dort dann plötzlich eingestellt hatte. Zweifelsohne war das der Zeitpunkt, an dem sie dem Dreckskerl begegnet war. Ich versuchte, ihr Profil auf der Webseite zu öffnen, jedoch ohne Erfolg. Ihr Profil war bereits gelöscht worden. Wahrscheinlich hatte sie es selbst gelöscht, in dem Glauben, ihre große Liebe gefunden zu haben. Die letzten zwei Monate mussten ihr wie ein Glücksrausch vorgekommen sein, angefeuert von falschen Komplimenten und Liebesschwüren. Es fühlte sich lächerlich an, war aber gleichzeitig tragisch und real.
Ich öffnete einige Mails mit dem Absender sexystudent88@gmail.com und stellte fest, dass es sich dabei tatsächlich um den Hurensohn mit seinen falschen Liebesbekundungen handelte. Er nannte sich Pietro, aber ich war mir sofort sicher, dass es ein falscher Name war. In einer seiner letzten Mails bat er sie für verschiedene, angeblich dringende Untersuchungen um tausendfünfhundert Real. Leider war er nicht krankenversichert. Ich weiß nicht, wer gesagt hat, dass Liebe blind macht, aber hier war ich mir ziemlich sicher, dass es stimmte. Jede Frau sah im Fernsehen immer wieder solche Betrugsfälle, und jede von ihnen dachte, dass das nur anderen passieren konnte, ihnen aber nicht. In ihrer eigenen Realität glaubten sie beim erstbesten Typen, der ihnen begegnete, er sei ihre große Liebe. @sexystudent88 war schlau, er flutete Martas Postfach mit leidenschaftlichen Nachrichten, die er ihr mitten in der Nacht schickte.
Es ist vier Uhr morgens, und ich bin mit dem Gedanken an dich aufgewacht =) Die Begegnung mit dir hat mein Leben verändert. Du bist meine Traumfrau. Ich sage dir nur nicht, dass ich mich in dich verliebt habe, weil du weglaufen würdest, wenn ich es doch täte … Aber ich kann nicht anders, ich liebe dich, meine Prinzessin. Du bist so schön, du begegnest mir in meinen Träumen … Ich kann es nicht erwarten, dich wiederzusehen! Pietro.
Eine weitere Mail von ihm kam nur wenige Minuten später.
Meine Liebste, ich kann nicht schlafen. Du gehst mir nicht aus dem Kopf. Wie soll ich damit nur leben? Ich bin ein Glückspilz, dass du mir begegnet bist. Ich wünsche mir, dass ich dich wirklich für mich gewinnen kann. Pietro.
Und um acht Uhr morgens eine weitere Mail.
Ich bin mit einem Lächeln im Gesicht aufgewacht. Es fühlt sich wunderbar an, geliebt zu sein und jemanden von ganzem Herzen zu lieben. Ich danke dir, dass du mir die Hoffnung geschenkt hast, wieder lieben zu können, meine Prinzessin! =)
Bei Martas Antworten fiel mir auf, dass sie zunächst sehr vorsichtig und schüchtern war, sich aber dann mehr und mehr den Komplimenten und Zärtlichkeiten öffnete, bis er sie eindeutig um seinen Finger gewickelt hatte und begann, sie auszunutzen und Geld von ihr zu verlangen.
Meine Prinzessin, ich schäme mich, dich um etwas bitten zu müssen. Wir kennen uns noch nicht einmal persönlich, aber ich spüre eine so starke Verbindung zwischen uns, dass ich glaube, es wagen und dich in einem so dringenden Moment um Hilfe bitten zu können. Ich weiß nicht, an wen ich mich sonst wenden sollte, es ist wirklich ernst. =( Kannst du mir fünfhundert Real leihen? Mein Bankkonto wurde wegen eines Rechtsstreits mit meiner Familie gesperrt, und ich brauche das Geld, um meine Studiengebühren zahlen zu können. Ich verspreche, dir das Geld zurückzugeben, sobald alles geregelt ist. Tausend Küsse von Pietro!
Ich erschrak, als mein Telefon zu vibrieren begann. Schon wieder versuchte mein Mann, mich zu erreichen. Zum vierten Mal. Ich konnte nicht länger hierbleiben, ich hatte keine Lust auf einen weiteren Streit zu Hause. Das fehlte mir gerade noch. Paulo war noch nie gut damit klargekommen, mit einer Polizistin verheiratet zu sein. Da konnte er sagen, was er wollte. Manchmal, wenn ich ihm zu Hause von meinem Tag im Kommissariat erzählte, sah er mich manchmal an wie eine Außerirdische. Er konnte nicht nachvollziehen, was in einem vorgeht, wenn man einen rätselhaften Fall vor sich hat. Es ist wie ein Adrenalinschub, ein Wissensdurst, dem man unbedingt nachgeben muss. Ich hatte mich immer darauf gefreut, als Ermittlerin aufs Spielfeld zurückzukehren. Und jetzt war der Anpfiff erfolgt.
Eilig machte ich den Computer aus und hatte bereits das Licht ausgeschaltet, als ich hinter der Schlafzimmertür eine Pinnwand bemerkte. Dort, verborgen unter Post-its und Pinnnadeln fand ich, was ich gesucht hatte. Meinen Schatz. Zwischen verschiedenen Zetteln, Speisekarten und anderen, auf den ersten Blick nutzlosen Dingen schien Marta versucht zu haben herauszufinden, wer hinter @sexystudent88 und Pietro steckte. An der Pinnwand fand ich verschiedene ausgedruckte Facebook-Chats und E-Mails, handschriftliche Notizen zu ihm und eine amateurhafte Skizze seines Gesichts – ein weiterer Hinweis, dass Marta nicht einmal ein Foto von ihm hatte. Ich nahm den ganzen Papierkram, um ihn mir später genauer anzusehen und die Spreu vom Weizen zu trennen. Zweifellos hatte sie bereits einiges hiervon zu ihrem Gespräch mit Carvana mitgenommen, aber entweder hat der alte Sack es vor mir verheimlicht oder direkt in den Müll geworfen.
Ich machte mich auf, das Haus zu verlassen. Ich stellte meine Tasche auf den Stuhl und packte mein Telefon, den USB-Stick und die Papiere hinein – noch mehr Dinge, die ich mit mir herumtragen musste. Ich entschied, meine Schuhe nicht wieder anzuziehen. Meine Füße hatten eine solche Folter einfach nicht verdient. Neben der Tür fiel mein Blick auf einen kleinen Tisch, auf dem sich einige Briefumschläge und Werbebroschüren stapelten. Ich hatte das Haus so hastig und gierig nach Informationen betreten, dass ich den Tisch übersehen hatte. Ich griff nach den Umschlägen und sah sie durch: Stromrechnung, Gasrechnung, Telefonrechnung, Standardbriefe von Wohltätigkeitsorganisationen, die sie ebenfalls um Geld baten, und zuletzt ein bereits geöffneter Umschlag von einem Labor. Es handelte sich um das Ergebnis einer Untersuchung ihres Mundes und ihrer Vagina: Positiver Befund des Pilzes Defungi vermibus. Ich fotografierte den Zettel und sah zu, dass ich verschwand.
Auf dem Weg durch die Wohnanlage drückte ich immer wieder auf Martas Autoschlüssel, um zu sehen, wo sie ihr Auto geparkt hatte. Ich verstand nicht, warum sie mit dem Taxi zum Revier gekommen war, wenn sie doch ein Auto hatte. War sie nicht in der Lage gewesen zu fahren? Meine Suche führte zu dem Ergebnis, dass ihr Auto weder in der Nähe des Hauses noch woanders in der Anlage stand. Ich drehte eine weitere Runde durch die Wohnanlage: nichts. Erstaunt schmiss ich den Schlüssel in meine Handtasche und stieg in meinen Honda.
Bevor ich losfuhr, warf ich erneut einen Blick auf mein Handy – weitere drei Anrufe von meinem Mann. Ich öffnete Google und suchte nach Informationen über Defungi vermibus. Innerhalb von Sekunden hatte ich die Antwort. Defungi vermibus, der Pilz der Toten, von dem bekannt ist, dass er nur auf Leichen vorkommt. Ich las die weiteren Ergebnisse, bei vielen ging es um die Geschichte vom »Kuss des Nekrophilen«.