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Hermann Kurzke

Georg Büchner

Geschichte eines Genies

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C.H.Beck

Zum Buch

Aufsässig und melancholisch, satirisch aggressiv und romantisch verträumt, politisch gescheitert und steckbrieflich gesucht, in mindestens zwei Frauen verliebt, Naturliebhaber und eiserner Arbeiter, im französischen und schweizerischen Exil steile Karriere als Anatom, dann der schreckliche Typhustod mit 23 Jahren, gerade als das erste Berufsziel erreicht war – dieses Leben verschlägt einem den Atem. Die politische Flugschrift, deren Verfasser er war, löst eine Verfolgungs- und Verhaftungswelle aus. Er kann fliehen, fühlt sich aber schuldig, meidet fortan politische Aktionen und steckt seine Kraft in Wissenschaft und Dichtung. Er schreibt seine Dramen (Dantons Tod, Leonce und Lena, Woyzeck) und seine Erzählung (Lenz) autobiographisch und quellengestützt, das erklärt sein Tempo. Die autobiographischen Elemente wurden bisher unterschätzt. Sie bilden die wichtigste Quelle dieses Buchs. Es sucht nach dem Bedingungsgeflecht der Genialität.

Da spielt vieles mit: Büchners Herkunft aus einer großen Ärztedynastie, die aus der Angst vor Verrat und Verhaftung herrührende Klaustrophobie, eine allzu frühe Verlobung, die ihn einengte, eine geheime Liebe zu einer Unbekannten, die er ins dichterische Werk hineinversteckte, Frauen im Plural überhaupt, wissenschaftlicher Ehrgeiz und Wissenschaftssatire im Widerspruch, hohe Maßstäbe (Goethe, Shakespeare) und ein verzweifelndes Christentum. Die Kräfte, für die das Leben keinen Raum bietet, drängen ins Werk. Den Abschluß bildet eine eingehende Darstellung der dreiwöchigen Krankheit zum Tode, ausklingend in Visionen der Unsterblichkeit.

Über den Autor

Hermann Kurzke ist Professor em. für Neuere deutsche Literatur an der Universität Mainz.

Einer breiten Leserschaft bekannt ist er durch seine große Biographie Thomas Manns. Bei C.H.Beck ist von ihm lieferbar: Thomas Mann. Das Leben als Kunstwerk; Novalis; Unglaubensgespräch (zus. mit Jacques Wirion), Geistliches Wunderhorn (Hrsg.),

Thomas Mann. Epoche-Werk-Wirkung ; Die kürzeste Geschichte der deutschen Literatur;

Thomas Mann. Ein Porträt für seine Leser.

Inhalt

1
Steckbrief

Im Betretungsfalle festnehmen

Filtrierungen

Imaginationen

Phantasien

Projektionen

Kind seiner Zeit

Das Junge Deutschland

Romantik

Klassik und Antike

Aufklärung und Christentum

Trotzdem ein Genie

Wenn Büchner den Büchnerpreis bekäme

2
Der Hessische Landbote

Der Tod des Dr. Weidig

Schaeffer, Schulz und Noellner

Die Verhaftung Minnigerodes

Verräter

Die Wende des Lebens

Georg gedenkt der Gefangenen

August Becker packt aus

Der Hessische Landbote

Neobabouvismus?

Der Fatalismusbrief

3
Was ihn prägte

Großherzogtum Hessen-Darmstadt

Der Vater

Mutter und Mütter

In der Geschwisterreihe, im Geschwisterblick

Als Gymnasiast

Phantasie über den Verrat

Kindsein

1813

4
Dantons Tod

Straßburg leuchtet, Gießen nicht

Alexis Muston

Gefängnisse, Befreiungsaktionen

Fliehen, Flüchtling

Wie Pallas Athene aus dem Haupt des Zeus

Georg Büchner in Georg Danton gespiegelt

Der Schreibprozeß

Gewalt und Gewissen

Theodizee

Obszönitäten

Karl Gutzkow

5
Liebesgeschichten

Wie?

Mosaik

Die Blonden und die Schwarzen

Frauen

Huren

Wilhelmine Jaeglé (1)

Une fille perdue

Amalie Weidig

Liebe und Ehe

Minna (2): der Verlobungsbrief

Wollust, Sexualität

Männlichkeit

Marion

Julie

Lucile

Minna (3): im Exil

Friederike und Lena

Marie

Minna (4): der Donnerschlag

6
Lenz

Das Riesige und das Winzige

Die Ordnung des Wahnsinns

Waldbach. Eine Imagination

Immer darben, um einmal zu genießen

Phantasie, Psychose, Depression

Büchner und Oberlin

Entstehungslegende

Psychosomatik

Schmerzen heiß und kalt

Angst

Willkür

Zuckungen

Kunstgespräch

Sentimentalisch und naiv

Christentum

Gott

Beten Singen

7
Wissenschaft

Der Doktorgrad im 19. Jahrhundert

Elf Semester

Kurswechsel

Finanzen und Bilanzen

Student sein

Eugenia

Anatomie

Sur le système nerveux du barbeau

Über Schädelnerven

Zootomische Demonstrationen

Philosophische Schriften

L’homme machine

Gottesbeweise

8
Leonce und Lena

Im Elysium

Georgs Traum

Immer noch die Ständeklausel

Lachfabrik

Weltschmerz und Wortspiel

Prinz und Narr

Wer ist dieser Büchner?

E la fame?

Ponce und Leonce

Peter und Vater

Romantische Satire

Archäologie und Philologie

Notabene Weidig

Drei Alpträume

Heiraten

Signalement

Gewissen

Abgründige Unkeuschheit

Epitaph auf eine Verlorene

9
Woyzeck

Tintenfluß

Das lebende Skelett und der dogmatische Atheist

Ein dressiertes Pferd

Der Professor

Der Doktor

Der Hauptmann

Medizin und Militär

Darmstadt, Gießen, Straßburg

Der historische Woyzeck

Wie könnte es gewesen sein?

Wir arme Leut

Genialität

Ein langer Weg zum Ruhm

Schwarz-Rot-Gold 1875

Karl Emil Franzos

Büchner und die Moderne

Büchner unter Hitler

Juden

Im real existierenden Sozialismus

Im westdeutschen Verbalradikalismus

Lehrplan

10
Sterben und Unsterblichkeit

Zürich

2. bis 7. Februar 1837

Thanatologie

8. bis 12. Februar 1837

Apokalyptik

13. bis 16. Februar 1837

Himmel und Hölle, Teufel und Engel

17. bis 19. Februar 1837

Die Erde müßte eine Wunde bekommen von dem Streich

19. bis 23. Februar 1837

Im himmlischen Garten

Unsterblichkeit

Anhang

Anmerkungen

Literaturverzeichnis

Abgekürzt zitierte Literatur

Weitere Quellenwerke

Weitere Sekundärliteratur

Dank

Abbildungen

Namenregister

1
Steckbrief

Im Betretungsfalle festnehmen

Steckbrief. Der hierunter signalisirte Georg Büchner, Student der Medicin aus Darmstadt, hat sich der gerichtlichen Untersuchung seiner indicirten Theilnahme an staatsverrätherischen Handlungen durch die Entfernung aus dem Vaterlande entzogen. Man ersucht deßhalb die öffentlichen Behörden des In- und Auslandes, denselben im Betretungsfalle festnehmen und wohl verwahrt an die unterzeichnete Stelle abliefern zu lassen.

Darmstadt, den 13. Juni 1835.

Der von Großherzogl. Hess. Hofgericht der Provinz

Oberhessen bestellte Untersuchungsrichter,

Hofgerichtsrath Georgi.

Personal-Beschreibung

Alter: 21 Jahre,

Größe: 6 Schuh, 9 Zoll neuen Hessischen Maases,

Haare: blonde,

Stirne: sehr gewölbt,

Augenbraunen: blonde,

Augen: graue,

Nase: stark,

Mund: klein,

Bart: blond,

Kinn: rund,

Angesicht: oval,

Gesichtsfarbe: frisch,

Statur: kräftig, schlank,

Besondere Kennzeichen: Kurzsichtigkeit.[1]

Ein berühmter Dichter, steckbrieflich verfolgt: Heute hört sich das abenteuerlich, verwegen, romantisch an. Damals war es eine Katastrophe, die das Leben eines hochbegabten jungen Mannes spaltete in ein Davor und ein Danach, in eine aufsteigende und eine absteigende Hälfte, eine politisch aktive und eine politisch passive, eine ziehende und eine fliehende, eine treibende und eine getriebene Zeit. Ein solcher Steckbrief macht schockartig erwachsen. Büchners Lebenslauf erscheint dachförmig, mit einem Knick in der Mitte, der genialitätsfördernd war.

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Steckbrief zwischen Lotterielosen und Eau des Princesses: Frankfurter Journal 18. Juni 1835

So geometrisch aufgeräumt ist das wirkliche Leben freilich selten. Das Datum des Steckbriefs fällt nicht genau mit dem Knick zusammen. Die amtliche Bekanntmachung geschah im Juni 1835, die Lebenswende lag schon acht oder neun Monate zurück, der Steckbrief hatte seinen Schatten vorausgeschickt. Büchner hatte Angst, schon lange, und sich deshalb, wie im Steckbrief bürokratisch vermerkt, «der gerichtlichen Untersuchung seiner indicirten Theilnahme an staatsverrätherischen Handlungen durch die Entfernung aus dem Vaterlande entzogen». Als kaum Einundzwanzigjähriger so gebrandmarkt zu werden, ist keine Kleinigkeit. Die Flucht aus der Heimatstadt Darmstadt in das damals französische Straßburg war bereits im März 1835 erfolgt, weil ersichtlich war, daß die Verfolger ihre Schlinge langsam zuzogen. Der Entschluß, sich aus der konspirativen Tätigkeit künftig herauszuhalten, lag einige weitere Monate zurück, ausgelöst durch die Verhaftung des mitverschworenen Freundes Karl Minnigerode, der am 1. August 1834 am Gießener Stadttor mit 139 Exemplaren des Hessischen Landboten erwischt worden war. Georg Büchner hatte sich auf dünnes Eis begeben und war eingebrochen. Die Begegnung mit dem Mühlwerk der realen Staatsmacht bewirkte erst Wut und Trotz, dann Verzweiflung und Depression. Alle Versuche, Minnigerode zu befreien, scheiterten, und was an Nachrichten aus den Gefängnissen herausdrang, zeugte von einer pedantischen Grausamkeit, die Büchner bis in den Schlaf verfolgte. Im Herbst 1834 brach er mit der Politik und verfolgte von da an nur noch ein Ziel: sein Studium abzuschließen und ein angesehener Naturwissenschaftler zu werden. Die poetischen Arbeiten sind als Freizeitbeschäftigung zu betrachten: das Drama Danton’s Tod (entstanden Januar/Februar 1835), die Novelle Lenz (1835), die Komödie Leonce und Lena (1836) und das Dramenfragment Woyzeck (1836/37). Sie alle gehören in die Phase der Abwendung von der Politik. In die aufsteigende Zeit fällt unter den fünf Hauptwerken Georg Büchners lediglich der Hessische Landbote.

Es sind vier Orte und fünf Ortswechsel, die Büchners kurzes Leben bestimmen: Darmstadt (Jugend und Gymnasialzeit bis Oktober 1831) – Straßburg (vier Semester Studium der Medizin, November 1831 bis August 1833) – Gießen (Oktober 1833 bis August 1834) – Darmstadt (Herbst und Winter 1834/35) – Straßburg (März 1835 bis Oktober 1836) – Zürich (Oktober 1836 bis Februar 1837). Darmstadt ist das Symbol der Realität, Straßburg aber der Sitz des Traumes. Dort wird die Utopie geboren. Der Studienbeginn im Ausland bedeutete Befreiung aus der Haft von Vaterhaus und Vaterstadt. Frankreich hatte seinen Anspruch, an der Spitze des Menschheitsfortschritts zu marschieren, mit der Julirevolution von 1830 noch einmal bekräftigt. Dazu kam Liebe, die alles verklärende, zu Wilhelmine Jaeglé, der Tochter seines Hauswirts, eines evangelischen Pfarrers, und die heimliche Verlobung mit ihr. Er trug deshalb, als er zum Weiterstudium nach Gießen versetzt wurde, einen Traum im Herzen: Straßburg leuchtete, politisch wie persönlich. Gießen erschien daneben trist. Der Kontrast vertiefte die Empörung über die deutschen Zustände. Die Sehnsucht nach Straßburg grundierte alles. Als er fliehen mußte, war das Ziel klar: Straßburg. Dort machte er dann entschieden Karriere, arbeitete fleißig, baute Verbindungen auf, schrieb seine Doktorarbeit, reichte sie an der Universität Zürich ein, hielt eine Probevorlesung dort und wurde zügig habilitiert. Dreiundzwanzigjährig hatte er die Scharte ausgewetzt, die der Steckbrief hinterlassen hatte. Er hätte ein angesehener Mann der Wissenschaft werden können. Der Typhus beendete ein Leben, als es gerade beginnen sollte.

Filtrierungen

Der Meteor war erloschen. Am Tag nach dem betäubenden Donnerschlag des Schicksals lasen Caroline Schulz und Wilhelmine Jaeglé «in einer Art Tagebuch, das sich unter Bs. Papieren gefunden hatte», und das, wie Caroline hinzufügt, die zusammen mit ihrem Mann Wilhelm Schulz zu den engsten Vertrauten der letzten Tage zählte, «reiche Geistesschätze» enthielt.[2] Wir kennen nur wenige von Wilhelm Schulz aus dem Gedächtnis überlieferte Zeilen aus ihm. Büchner habe «ein Vorgefühl seines frühen Endes» gehabt, denn er schließe, nachdem er den Zustand seiner Seele «mit einem Herbstabende» verglichen habe, eine Eintragung mit den Worten: «Ich fühle keinen Ekel, keinen Ueberdruß; aber ich bin müde, sehr müde. Der Herr schenke mir Ruhe!»[3] Vom Verbleib dieses Tagebuchs gibt es keine Nachricht. Auch ein weiteres Drama aus Büchners Feder[4] entzog sich der Nachforschung von Anfang an wie ein Spuk und hat vielleicht nie existiert. Sein Gegenstand soll Pietro Aretino gewesen sein, ein spottlustiger italienischer Satiriker des 16. Jahrhunderts, der für antiklerikale Pasquille und erotische Sonette berühmt war. Alexis Muston, der piemontesische Freund, könnte es angeregt haben.[5] Der Bruder Ludwig Büchner, der den Hinweis auf das verlorene Drama in Umlauf gebracht hat, will ihn «mündlichen Mittheilungen des Dichters an seine Braut»[6] entnommen haben. Er hatte das Wintersemester 1844/45 in Straßburg verbracht[7] und mag von Fräulein Jaeglé etwas erfahren haben, was er so interpretierte. Diese geriet später in den Verdacht, das Stück unsittlicher oder gottloser Stellen wegen (das vermutete Karl Emil Franzos)[8] zum Verschwinden gebracht zu haben. Sie nahm 1837 den Nachlaß an sich. Dessen genauer Bestand ist unbekannt,[9] umfaßte aber jedenfalls die vier großen Dichtungen. Von Lenz und von Leonce und Lena fertigte sie Abschriften für Karl Gutzkow an, die ebenso wie ihre Vorlagen nicht erhalten sind.[10] Die Manuskripte von Danton’s Tod und Woyzeck hat sie Ludwig Büchner für die Nachgelassenen Schriften (1850) zur Verfügung gestellt.[11] Diese Papiere überlebten, lagen auch Karl Emil Franzos vor, wurden zusammen mit dem restlichen noch im Familienbesitz liegenden handschriftlichen Nachlaß 1918 von Ludwigs Sohn Georg an Anton Kippenberg, den Inhaber des Insel-Verlags verkauft, der sie 1924 dem Goethe- und Schiller-Archiv (heute Stiftung Weimarer Klassik) überließ, in dessen Safes sie bis heute ruhen.[12] Wilhelmine, die auch von den ursprünglichen Empfängern Büchner-Briefe einsammelte, gab, was sie besaß, für literarisch unbedeutend aus. Als Karl Emil Franzos vierzig Jahre später seine Büchner-Ausgabe plante und bei ihr nach Manuskripten fahndete, schrieb sie ihm:[13]

Straßburg, 2. April 1877.

Geehrtester Herr!

In Ihrem geehrten Schreiben vom 17. Februar reden Sie von der moralischen Verpflichtung, die ich habe, durch Mittheilung derjenigen Papiere G. Büchner’s, die in meinen Händen sind, die Herausgabe seiner Werke zu befördern.

Hierauf habe ich die Ehre, Ihnen zu antworten, daß ich durchaus keine moralische Verpflichtung fühle, die besagten Papiere zur Oeffentlichkeit zu bringen, theils sind es solche, die nur mich persönlich angehen, und die es eine Indiscretion wäre drucken zu lassen, theils sind es unvollständige Auszüge und unvollendete Notizen. Das Andenken an G. Büchner ist mir zu theuer, als daß ich wünschen könnte, etwas Unfertiges von ihm der Kritik der Recensenten auszusetzen.

Durch schwere Krankheit verhindert, Ihnen früher zu antworten, mußte ich es bis heute aufschieben.

Sie werden mich, geehrter Herr, verpflichten, wenn Sie sich für die Zukunft mit dieser Erklärung genügen lassen wollten.

Hochachtungsvoll zeichnet

L. W. Jaeglé

Sie will nicht. Sie besitzt 1877 noch Büchner-Handschriften – Werkabschriften, Notizen, Entwürfe, Briefe, vielleicht die Tagebuchblätter, vielleicht sogar den Pietro Aretino –, aber als sie drei Jahre später stirbt, findet sich in ihrem Nachlaß keine Zeile mehr davon.[14] Auch ihr Testament weiß nichts von dem einst so Geliebten.[15] Sie hat alles vernichtet oder beiseitegeschafft – vielleicht aus religiösen Gründen, unter dem Einfluß einer immer radikaler werdenden Frömmigkeit,[16] vielleicht aus Haß gegen die aufdringlichen «Nachlaßmarder»,[17] vielleicht, weil sich inzwischen eine «tötliche Verfeindung mit der Familie Büchner» entwickelt hatte,[18] vielleicht, weil Georg selbst ihr inzwischen fremd geworden war, vielleicht auch, weil sie als Elsässerin den Deutschen nichts lassen wollte. Dafür gab es Gründe. 1870 hatten preußische Kanonen die Straßburger Stadtbibliothek in Brand geschossen, einen Büchner-Ort. Was Deutsche am Elsaß gesündigt haben, mag auch in den folgenden Generationen die Nachlaßsuche behindert haben. Vielleicht hat Wilhelmine Jaeglé ihre Büchneriana doch nicht liquidiert, sondern unter strengen Auflagen Menschen ihres Vertrauens in Verwahrung gegeben. Dafür spricht immerhin, daß die Briefe Karl Gutzkows an Georg Büchner, die 1897 ans Licht kamen, aus ihren Beständen stammten.[19] Vielleicht gibt es irgendwo noch ein gut verschnürtes Konvolut. Nicht nur bei Nachfahren jener Vertrauten, sondern auch bei den weitverstreuten Erben der Straßburger Verwandten und Bekannten Georg Büchners können noch Schätze liegen, die nicht gehoben wurden, weil die Nachfragenden nicht vertrauenswürdig erschienen.

Was immer Wilhelmine besessen hat – auch ein Verzeichnis hat sie nie preisgegeben – es waren jedenfalls die Originale der vielen Briefe dabei, die Georg aus Darmstadt, Gießen und Zürich an sie geschrieben hatte. Es waren Briefe von poetischem Wert. Büchner erprobte im Dialog mit seiner Verlobten auch seine stilistischen Fähigkeiten und notierte sich so manche gelungene Wendung aus Briefen an Minna, um sie später in seinen Dichtungen ein zweites Mal zu verwenden.[20] Eine kleine Anzahl dieser Briefe sind in Abschriften von Abschriften bekannt: Als Karl Gutzkow gleich nach Büchners Tod als erster versuchte, Material für eine Ausgabe und ein biographisches Porträt zu sammeln, schickte Wilhelmine ihm ein Heft mit Briefexzerpten,[21] aus denen sie freilich alles aus ihrer Sicht Belanglose, allzu Private oder aus anderweitigen Vorsichten und Rücksichten nicht Erwünschte bereits eliminiert hatte. Wir kennen ihre Kriterien nicht wirklich, aber Büchners Briefe müssen ebenso Heiligtümer für sie gewesen sein, wie die von ihr geschriebenen Heiligtümer für Büchner sind. Den hatte es empört, daß sie Berührung mit «den Händen dießer schmutzigen Menschen»[22] gehabt hatten, als die Universitätsjustiz es im August 1834 für geboten hielt, sein Gießener Zimmer durchzukämmen.

Aber auch Wilhelmines Exzerpte existieren nicht mehr, ein Brand hat das Heft 1851 zerstört.[23] Was wir von ihm wissen, verdanken wir Ludwig Büchner, der im November 1850 Nachgelassene Schriften seines Bruders veröffentlichte, die auch eine Abteilung «Briefe» enthielten: «An die Familie» (43 Druckseiten) und «An die Braut» (6 Druckseiten). Er hat Minnas Abschriftenheft ein zweites Mal redigiert. Auslassungen sind durch Pünktchen markiert – selbst gesetzte oder von Minna übernommene. Damals 26 Jahre alt, war Ludwig Büchner schon ein entschiedener Vertreter des Materialismus und auch politisch ein Oppositioneller. Die Revolution von 1848 war ein Ziel seiner Wünsche gewesen. Er machte seinen älteren Bruder posthum zum Mitkämpfer und Vorläufer des eigenen Wollens.[24] Das Private und Persönliche fiel aus dieser Optik durch die Maschen. Da seine Vorlagen nicht erhalten sind, lassen sich Quantität und Qualität seiner Redaktion und Selektion nicht genauer beurteilen. Denn nicht nur Minnas Sammelhandschrift, sondern auch die vielen Briefe an die Familie, die Büchner aus Straßburg, Gießen und Zürich nach Darmstadt geschrieben hatte, sind in der Nacht vom 21. auf den 22. Mai 1851 in einem Hinterbau des elterlichen Anwesens, wo die Familie einen Teil ihrer Büchneriana verwahrte, jenem Brand zum Opfer gefallen. Wieder kennen wir aus dem Familienbriefwechsel nur die Briefe und Briefauszüge, die Ludwig Büchner in den Nachgelassenen Schriften mitteilt: Er habe «beinahe nur das gegeben, was zur Kenntniß der politischen Bewegungen jener Zeit und des Antheils, den Büchner daran hatte, wichtig erschien».[25] Ludwig Büchner will ein harmonisches Bild malen. Die schweren Konflikte, die Büchner infolge seiner heimlichen Verlobung und seiner «staatsverrätherischen Handlungen» mit seinem Vater hatte, sind herausgefiltert. Der Vater, eine starke Persönlichkeit, lebte ja noch, waltete als Clanchef und mußte alles absegnen. Auch vielen weiteren im Briefwechsel genannten Personen gegenüber war Diskretion geboten. Georgs Tod lag ja erst dreizehn Jahre zurück. Daß Ludwig Büchner sensible Stücke aus dem Brautbriefe-Heft ohne ihre Zustimmung veröffentlichte, hat Wilhelmine Jaeglé so empört, daß sie von da an nichts mehr hergab und keinem Editor mehr traute.

«Vor allen Dingen, vertilgen Sie meine Briefe!» schrieb Gutzkow an Büchner am 5. März 1835.[26] Gott sei Dank geschah das nicht. Minna hatte sie zunächst verwahrt. Aus ihrem Besitz gelangten sie über nicht mehr nachweisbare Stationen in den Autographenhandel[27] und liegen heute im Archiv der Stiftung Weimarer Klassik. Von Büchners Gegenbriefen sind einige in Auszügen bekannt, meistens aus Gutzkows Nekrologen. Nur ein einziges Original blieb erhalten. Vermutlich hat die verlorenen Gutzkow selbst vernichtet. Er hatte Grund zur Vorsicht. Als einer der meistbespitzelten Oppositionellen der Vormärzzeit mußte er 1835/36 zweieinhalb Monate im Gefängnis absitzen. Auch Büchner selbst hat Briefe vernichtet und Vernichtungen angeordnet, in seiner konspirativen Zeit, als geheime Verbindungen geschützt werden mußten. Wie sinnvoll solche Maßnahmen waren, bestätigt die Gießener Zimmerdurchsuchung, die für die Behörden nichts Greifbares erbrachte, weil Büchner vorher aufgeräumt hatte. Die Folge ist, daß es aus der politisch besonders heißen Zeit, dem Jahr vor der Flucht nach Straßburg, besonders wenige briefliche Zeugnisse gibt – hauptsächlich solche, die das politische Tun vertuschen und verharmlosen.

Aber auf die Behörden ist Verlaß … Was über den politischen Büchner zuverlässig bekannt ist, stammt aus den Vernehmungsprotokollen der Gerichte, die Büchners Mittäter verhörten, vor allem aus dem Prozeß gegen Friedrich Ludwig Weidig, den führenden Kopf der Landboten-Aktion, der 1837 im Gefängnis Selbstmord beging. Das Großherzogtum sah sich massiven Vorwürfen ausgesetzt – von Justizmord war die Rede[28] – und erlaubte deshalb 1844 einem ihrer hohen Juristen, die gesamten Akten des Weidig-Prozesses zu veröffentlichen.[29] Es wurde ein 800 Seiten starkes Buch von hoher Authentizität daraus, wenngleich auch dieses Material interessengesteuert ist. Es sollte die Rechtsstaatlichkeit und sogar Humanität der Praktiken der Untersuchungsgerichte beweisen, belegte aber ungewollt das Gegenteil.

Tagebücher, Briefe, Akten, Erinnerungen und indirekte Spuren im literarischen Werk, die üblichen Quellengruppen für eine Dichterbiographie, haben im Fall Büchners schwere Dezimierungen erfahren und substanzverändernde Filter durchlaufen. Die Überlieferungslage gleicht dem Zustand eines Gemäldes nach einem Säureattentat. Die Tagebuchblätter sind verloren. Von Büchners Briefen, deren ursprüngliche Anzahl bei dreihundert gelegen haben mag,[30] sind nur vierzehn im Original erhalten,[31] 46 sind in längeren oder kürzeren, oft undatierten Auszügen aus sekundären Quellen bekannt. Briefe an Büchner kennen wir derzeit 25 – von etwa dreihundert, die einmal existiert haben könnten. Nur die Aktenlage ist relativ gut; einiges blieb in Archiven verwahrt, sehr vieles wurde von den Behörden selbst publiziert. Das Wenige, was die Familie noch hatte, verbrannte in der Nacht des 11. September 1944 bei einem Luftangriff auf Darmstadt.[32] Erinnerungen an Büchner wurden erst Jahrzehnte nach seinem Tod zusammengetragen und geben relativ wenig Präzises her. Büchner hatte zwar viele Freunde, verbarg aber auch viel hinter seiner hohen Stirn, debattierte zwar engagiert über Staat und Politik, erzählte aber nur wenig oder nichts über Familie, Liebe oder Religion.

Es bleibt das literarische Werk. Danton’s Tod und Woyzeck sind originalhandschriftlich erhalten, Lenz und Leonce und Lena nur in mehrfach redigierten frühen Drucken, deren handschriftliche Vorlagen teils bei Minna Jaeglé verloren gingen (Lenz), teils bei dem Brand von 1851 vernichtet wurden (Leonce und Lena).[33] Die Dichtungen sind Fenster ins Innere – freilich zeigen sie Vexierbilder, Kaleidoskope, in denen sich schwer isolierbare Bruchstücke des einst Erlebten finden, gespiegelt aus wechselnden Richtungen und vermischt mit Gelesenem, Gehörtem, Gefundenem und Erfundenem verschiedenster Provenienz. Das Richtige auszuwählen und es richtig zu deuten ist eine schwierige Kunst. «Wir wissen wenig voneinander», sagt Danton in Büchners Schauspiel, «wir reiben nur das grobe Leder aneinander ab».[34] Es ist ein waghalsiges Stück, das Lebensgefühl eines Menschen, der vor zweihundert Jahren geboren wurde, nachzeichnen zu wollen. Ich will es trotzdem versuchen. Büchner war einsam. Vielleicht hat er selbst einmal zu Minna gesagt, was er seinen Danton zu Julie sagen läßt: «Einander kennen? Wir müßten uns die Schädeldecken aufbrechen und die Gedanken einander aus den Hirnfasern zerren.»[35]

Imaginationen

Die verfügbaren Quellen sind so dubios, ruinös und fragmentarisch, daß sie, hielte man sich strikt ans positiv Belegbare, nur eine sehr bruchstückhafte Biographie ergäben. Aber man würde sich dann den beschriebenen Filtrierungen schutzlos ausliefern und verlöre noch einmal alles, was einst entsorgt wurde. Man liefe Gefahr, die erhaltenen Teile eines zu zwei Dritteln verlorenen Puzzles zu einem falschen Ganzen zusammenzubiegen, anstatt die fehlenden Teile zu imaginieren, um so vielleicht ein wahres Ganzes zu erhalten. Nicht nur das Verlorene, auch das niemals Protokollierte fordert sein Recht. «Ein wirklicher Mensch ist etwas ganz und gar Notwendiges», sagt Friedrich Nietzsche.[36] Die Imagination hat Gesetze einzuhalten, um diese Notwendigkeit zu treffen. Sie arbeitet mit kontrollierbaren Verfahren und zappelt nicht im grundlosen Morast. Ihr Motto liefert der italienische Humanist Lodovico Settembrini in Thomas Manns Roman Der Zauberberg: «Der Mensch tut keine nur einigermaßen gesammelte Äußerung allgemeiner Natur, ohne sich ganz zu verraten, unversehens sein ganzes Ich hineinzulegen, das Grundthema und Urproblem seines Lebens irgendwie im Gleichnis darzustellen.»[37] Das ergibt ein Kriterium. Die imaginierten Ergänzungen müssen die erhaltenen Teile als unwillkürliche Äußerungen eines Ganzen verstehen und sie so placieren, daß insgesamt ein «ganzes Ich» entsteht. Im Glücksfall handelt es sich nicht um ein Puzzle, sondern um ein Sudoku, in dem man aus 27 gegebenen Feldern die fehlenden 54 widerspruchsfrei ermitteln kann. Auch Büchner selbst hat mit Ergänzungen gearbeitet, als er Bruchstücke der historischen Literatur über die Französische Revolution zu seinem Schauspiel Danton’s Tod hochrechnete und hochimaginierte.

Phantasien

«Der geniale Georg Büchner», schreibt der Freund und Gefährte des Sterbens Wilhelm Schulz, «in welchem nach einer kurzen Periode jugendlicher Gährung die deutsche Nation einen ihrer größten Geister gefeiert hätte», habe oft der bitteren Leiden seiner gefangenen Freunde gedacht. «Der giftige Stachel eines immer sich erneuernden Schmerzes warf ihn auf sein frühzeitiges Todesbette».[38] War Büchner ein politischer Märtyrer? Oder war er ein Geistesgestörter, wie es ein Untersuchungsrichter der Zeit für möglich hält? «Die Erfahrung lehrt, daß selbst im Zustande der Freiheit politische geheime Unternehmungen, offenbar durch die damit verbundenen Reizungen des Geistes, die exaltirtesten Theilnehmer leicht einem frühen Grabe oder Geistesstörungen zuführten. Es haben viele derjenigen, welche durch die letzten politischen Untersuchungen bedroht waren, im In- und Auslande an nervösen Krankheiten, Schwindsucht etc. in einem jugendlichen Alter geendet.»[39] Oder hat er zu viel gewußt, wie ein Nazi-Dichter vermutet? «Er hat […] zu tief gesehen, deshalb nehmen ihn die Götter früh zu sich.»[40] Andere denken aufbauender. Das, was Georg Büchner mit dreiundzwanzigeinhalb Jahren schon geleistet hatte, «mag zeigen, was er geleistet haben würde, wenn ein bitteres Geschick milder gegen ihn gewesen wäre» (Ludwig Büchner)[41]. «Hätte er länger gelebt so wäre gewiß ein tüchtiger Mann u. Gelehrter aus ihm geworden.» (Édouard Reuss 1877)[42] Daß er «mitten, ja noch vor seinem Anlaufe zum Höchsten starb», betrauerte Karl Gutzkow.[43] Hätte er ein Goethe werden können, nach stürmischer Frühzeit sich fügend und hineinbildend in die bestehenden Verhältnisse? Vielleicht wäre er 1848 im Paulskirchenparlament vertreten gewesen, auch wenn er niemals, wie Ludwig Büchner 1850 versichert, auf der Seite derjenigen gestanden haben würde, «die durch lächerlichen Eigendünkel und kindische Furcht die Freiheit verrathen haben, die man in ihren Händen für gesichert hielt».[44] Möglicherweise wäre er ein führender Sozialist geworden, mit Karl Marx, Friedrich Engels oder Ferdinand Lassalle in Verbindung, oder er wäre nach Paris (zu Heinrich Heine) oder London (zu Darwin) gegangen. Wäre er am Ende ein nationaler Sozialist geworden, hätte er, wie Josef Nadler vermutet, die Juden vermieden, um für die «Arbeitermassen, deren geborener Führer er war»,[45] einen spezifisch deutschen Weg zu finden? Leicht ist er als angesehener Universitätsprofessor vorstellbar, als Mediziner (Neurologe, Psychiater) oder Naturphilosoph, wie sein jüngerer Bruder Ludwig, der mit seinem materialistischen und religionsfeindlichen Bestseller Kraft und Stoff (1855) der berühmteste Büchner des 19. Jahrhunderts war.

Eher unwahrscheinlich ist es, daß Georg Büchner bei längerem Leben als Dramatiker Karriere gemacht hätte. Seine drei Dramen beginnen ihre Bühnenlaufbahn erst im 20. Jahrhundert. Den Nachhall der Weimarer Klassik, dem die Mitte des 19. Jahrhunderts gehörte, hätte Büchner auch mit weiteren Dramen nicht übertönen können. Wäre er dann zum Roman übergegangen, der damals seinen internationalen Aufstieg erlebte? Wäre er ein Dickens, ein Balzac, ein Turgenjew Deutschlands geworden? Der Platz war ja frei, bis Fontane ihn einnahm.

Es heißt immer gleich, solche Erwägungen seien sinnlos. Aber die Interpretation eines so kurzen und so abrupt beendeten Lebens hängt schon davon ab, welche Rechte man der Trauer einräumt. Das Gehetzte dieses Leben hat sicher mit Politik, mit Flucht, mit Geldnot zu tun – aber vielleicht auch mit einem Tiefenwissen seiner Kürze? Jeder Rückblick auf Büchner ist von Trauer getränkt, und Trauer phantasiert gern: Was wäre alles möglich gewesen? Wie schön hätte es werden können! Jede Rezeption versucht, aus den Fragmenten der drei Schaffensjahre irgendein Ganzes zusammenzusetzen. Verlängerungen des von Büchner selbst nicht gefüllten Lebens in die Deutungsinteressen der Interpreten hinein entstehen daraus wie von selbst (und sind auch nicht unbedingt verwerflich). Die üblichen Herangehensweisen beruhen auf Täuschungen. Entweder verbietet man sich jede Ergänzung und stellt die Bruchkanten dieses plötzlich abgerissenen Lebens in ein scharfes Licht. Es entsteht dann ein paradoxes Ganzes: das Bild eines tragisch Unvollendeten. Oder man gesteht diesem kurzen Leben selbst eine Art Vollendung zu, einen Kreis, den es ausgeschritten hat und in dem nichts zur Größe fehlte. Denn auf eine gewisse Weise war ja alles da: das revolutionäre Engagement (Der Hessische Landbote), ein politisches Schauspiel (Danton’s Tod), eine romantische Komödie (Leonce und Lena), eine psychiatrische Erzählung (Lenz), ein soziales Drama (Woyzeck) und ein Karrierestart als Privatdozent für Anatomie und Naturphilosophie an einer bedeutenden Universität. Dieses kurze Leben hat eine enorme Spannweite, und so gesehen ist der Typhustod nicht mehr nur ein bitterböser Zufall, sondern auch ein Abschluß mit Sinn. Damit ist keine falsche Versöhnung gemeint, sondern das Hineinstellen der einmaligen, unwiederholbaren und deshalb ewigen Person Georg Büchners in einen unvernebelten metaphysischen Raum, einen Horizont von ungelösten und in unserer dreidimensionalen Beschränktheit unlösbaren, gleichwohl vorhandenen Fragen, in dem schlichtweg jedes Leben steht, ob es darüber nachdenkt oder nicht. Der Gesichtskreis soll weit sein, nicht vermauert. Büchners Lebensarchitektur ist so rätselhaft wie jener labyrinthische Palast in Lessings Parabel, dem alle, die um ihn herumgehen, verschiedene Grundrisse zuschreiben und nicht begreifen, wie durch so wenige Fenster in so viele Gemächer genügend Licht kommen könne. «Denn daß die vornehmsten derselben ihr Licht von oben empfingen, wollte den wenigsten zu Sinne.»[46]

Projektionen

Die Ernennung zum Vorläufer erfolgt immer nachträglich. «Büchner» war eine Mehrzweckwaffe und wurde von den unterschiedlichsten Bestrebungen posthum als Speerspitze eingesetzt. Er hat außergewöhnlich viele Inanspruchnahmen als Protagonist irgendwelcher kommender Bewegungen erfahren. Er galt als Frühsozialist, Frühnaturalist, Frühexpressionist, er wurde als Nihilist gehandelt, er wurde als «heroischer Pessimist» in die Nietzsche-Rezeption eingereiht, er erschien der Nazizeit als geistiger Führer eines deutschen (im Sinne von: nicht jüdischen) Sozialismus geeignet. Alban Bergs Zwölftonoper Wozzeck spannte ihn mit der musikalischen Avantgarde zusammen. Nach dem Zweiten Weltkrieg stieg er im Westen zum Meister des absurden Theaters auf, im Osten zum Prototyp des sozialistischen Realismus. Georg Lukács hatte ihn mit seinem berühmten Aufsatz über den «faschistisch verfälschten und den wirklichen Georg Büchner» so zurechtfrisiert, daß er seit 1968 zum literarischen Star der Studentenbewegung avancierte.

Die Linke hat ihn seither fest im Griff und beansprucht seine Autorität zur Legitimation von Gewalt. Wenn Büchner etwa als «frühkommunistischer Sozialrevolutionär»[47] den «Neobabouvisten» zugerechnet wird, dann geht es um «den von Babeuf und seinen Freunden vorgezeichneten Weg der gewaltsamen Herbeiführung einer Republik der vollkommenen Gleichheit».[48] Büchner soll damit abgerückt werden von den Liberalen, die nur Worte machen und nichts tun. Eine Art Revolutionssentimentalität hat die linke Büchner-Orthodoxie lange beseligt, ein umgekehrter Nationalismus, ein sehr deutscher Wunsch, doch auch eine Revolution wie die französische gehabt haben zu wollen, während der klassische deutsche Nationalismus bis 1918 stolz darauf war, daß Deutschland es auch ohne einen solchen Gewaltausbruch zu einigermaßen ordentlichen Verhältnissen gebracht hatte. Immer wieder wird zitiert, was der noch nicht Zwanzigjährige aus Straßburg an die Eltern schrieb: «Meine Meinung ist die: Wenn in unserer Zeit etwas helfen soll, so ist es Gewalt.»[49] Das Sätzchen wird dann verknüpft mit einer Äußerung, die drei Jahre später in einem Brief an Karl Gutzkow steht: «Die Gesellschaft mittelst der Idee, von der gebildeten Klasse aus reformiren? Unmöglich!»[50] Und schon erscheint Gutzkow als blauäugiger Idealist, Büchner aber als revolutionärer Realist. Ein fernes Echo der marxistischen Dogmatik hallt nach, demzufolge ein echter Kommunist etwas Besseres sei als ein Linksliberaler, der noch an bürgerliche Werte glaubt.

Aber man muß zwischen Sein und Meinen unterscheiden. Man ist noch nicht Materialist, weil man materialistische Ansichten äußert. Wenn man das Verhältnis zwischen Armen und Reichen das einzige revolutionäre Element nennt,[51] aber selbst nicht arm ist, können die revolutionären Ansichten nicht von der Armut kommen. Der Wohlhabende, der sich für die Armen einsetzt, ist nicht Materialist, sondern Idealist. Er handelt ja gegen die eigenen materiellen Interessen. Er ist, ethisch gesehen, kein Marxist, sondern Kantianer. Oder er ist einfach ein Christ. Es ist traurig, aber wahr: Die Hungerrevolten müssen die Hungrigen machen. Den satten Anstiftern fehlt die vitale Grundlage. Ihre Unzufriedenheit ist lediglich intellektueller Natur. Die Revolution ist für sie immer nur eine Sache des Kopfes, nicht des Bauches. Sie können sich von ihr jederzeit verabschieden – was der Hungernde von seinem Hunger nicht kann.

Kind seiner Zeit

Auch Büchner hat letztendlich keine Gewalt ausgeübt. Er hat keine Kaufhäuser angesteckt und keine Minister erschossen, sondern Worte gemacht. Er hat eine Flugschrift geschrieben und an ihrer Verteilung mitgewirkt, hat Öffentlichkeitsarbeit, Pressearbeit geleistet. Der Hessische Landbote brachte dem Volk Aufklärung, nicht Revolution. Nach einem konkreten «Zu den Waffen!» sucht man in der berühmten Brandfackel vergebens. Statt dessen – ob von Büchner, ob von Weidig – Phrasen und Pathos: «Ihr bücktet euch lange Jahre in den Dornäckern der Knechtschaft, dann schwitzt ihr einen Sommer im Weinberge der Freiheit, und werdet frei sein bis ins tausendste Glied.»[52] Was genau heißt das Schwitzen «im Weinberge der Freiheit»? Die biblischen Arbeiter im Weinberg schwitzen um des Himmelreiches willen, aber das bekommen am Ende die Wenigschwitzenden ebenso wie die Vielschwitzenden (Mt 20,1–16). Was konkret sollen die hessischen Bauern tun? Das Motto «Friede den Hütten, Krieg den Palästen!» bleibt unbestimmt – eine rhetorische Formel, aus der keine greifbaren Konsequenzen erwachsen. Solange die «im Weinberge der Freiheit» Schwitzenden keine klaren Antworten erhalten, was das Ergebnis der Revolution sein soll und wer danach worüber bestimmen darf, ist der «Weinberg der Freiheit» nur eine zu nichts verpflichtende Revolutionstirade. Mehr als eine Liberalisierung der öffentlichen Diskussion über soziale und politische Fragen konnte bei diesem Krieg der Hütten gegen die Paläste nicht herauskommen – und diese wurde auch erzielt, den Verboten und Verhaftungen zum Trotz, denn die Öffentlichkeit erfuhr von den Umtrieben ihrer studentischen Jugend durch die Presse und durch mehrere Aktenpublikationen, mit denen sich die Behörden verteidigten.

Büchner gehört insofern nicht zu irgendeinem linksradikalen Frühsozialismus, sondern zur bürgerlichen Opposition der Jahre vor der 1848er Revolution. Ein Mensch, wie außergewöhnlich er auch sei, muß aus seiner Zeit und aus der ihm bekannten Vergangenheit erklärt werden, nicht aus der Zukunft. Es ist dem Individuum zwar in seltenen Fällen möglich, dem sich dahinwälzenden Strom der Zeit eine Richtungsänderung aufzuzwingen. Aber alles, was ihn dazu befähigt, muß er aus seiner Zeit erhalten haben, alle geistigen und seelischen Inhaltsstoffe, die ihn ausmachen, muß es in seiner Zeit gegeben haben, für alles, was ihn werden ließ, wie er war, muß es zu seiner Zeit die Anregungen gegeben haben. Nichts fällt vom Himmel.

Das Junge Deutschland

Literarhistorisch wird Büchner deshalb zu Recht dem sogenannten Jungen Deutschland beigesellt – jener Bewegung also, die im Dezember 1835 durch ein gemeinsames Verbot zustande kam, das durch den Deutschen Bundestag ausgesprochen wurde und Heinrich Heine, Heinrich Laube, Ludolf Wienbarg, Theodor Mundt und Karl Gutzkow traf. Die Gruppe kam recht zufällig zustande; Ludwig Börne hatte man sozusagen vergessen, und Georg Büchner hatten die Bundesbehörden noch nicht im Visier. Daß man ihn oft aus der Literatur seiner Zeit ausklammert und nicht zum Jungen Deutschland zählt, liegt an einer Briefpassage, in der Büchner am 1. Januar 1836 (also kurz nach dem Verbot) seinen Eltern erklärte: «Uebrigens gehöre ich für meine Person keineswegs zu dem sogenannten Jungen Teutschland, der literarischen Parthei Gutzkow’s und Heine’s. Nur ein völliges Mißkennen unserer gesellschaftlichen Verhältnisse konnte die Leute glauben machen, daß durch die Tagesliteratur eine völlige Umgestaltung unserer religiösen und gesellschaftlichen Ideen möglich sey.»[53] Aber erstens glaubten Gutzkow und Heine derlei gar nicht, und zweitens zählte sich allenfalls Wienbarg, der die Formel erfunden hatte,[54] zu dieser nur durch das Verbot gestifteten Gruppe. Gegenüber dem Vater verleugnete Büchner seine Teilnahme an verbotenen Bestrebungen stets beharrlich. Faktisch teilte er die wichtigsten Ideen der Jungdeutschen, das Eintreten für bürgerliche Freiheitsrechte, für soziale Gerechtigkeit sowie für sexuelle und religiöse Emanzipation. Literarhistorisch wichtig ist ferner, daß Karl Gutzkow, der Büchner den Weg ebnete, sofort an ihn glaubte, ihn als Autor umwarb und ein fast rührendes Vertrauen auf sein Genie an den Tag legte. Büchner sollte Mitarbeiter der Deutschen Revue werden,[55] die durch das Verbot nicht mehr zustande kam und Sprachrohr der Jungdeutschen hätte werden sollen. Gutzkow zählte Büchner zu den Seinen – das ist das literarhistorisch Entscheidende.

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Gutzkow ist spontan begeistert von ‹Danton’s Tod›: Verehrtester Herr! In aller Eile einige Worte. Ihr Drama gefällt mir sehr, u[nd] ich werde es Sauerl[änder] empfehlen: nur sind theatralische Sachen für Verleger keine lockende Artikel. Deshalb müßten Sie bescheidene Honorarfoderungen machen. Wenn diese vorläufige Anzeige dazu dienen könnte, Ihren Muth wieder etwas aufzurichten, so würd’ es mich freuen. In einigen Tagen mehr! Ihr ergebenster K. Gutzkow. Frankf[urt] d. 25. Febr. 35

Es ging bei der Frage der Zugehörigkeit zum Jungen Deutschland ursprünglich mehr um Sittlichkeit als um Politik. Wir können dem Frankfurter Bundestag danken, daß er uns mit seinem Verbotstext eine brauchbare Definition geliefert hat. Der einleitende Bandwurmsatz hätte nach damaliger Bürokratenlesart zweifellos auch auf Büchner zugetroffen:

Nachdem sich in Deutschland in neuerer Zeit, und zuletzt unter der Benennung «das junge Deutschland» oder «die junge Literatur», eine literarische Schule gebildet hat, deren Bemühungen unverhohlen dahin gehen, in belletristischen, für alle Classen von Lesern zugänglichen Schriften die christliche Religion auf die frechste Weise anzugreifen, die bestehenden socialen Verhältnisse herabzuwürdigen und alle Zucht und Sittlichkeit zu zerstören: so hat die deutsche Bundesversammlung – in Erwägung, daß es dringend nothwendig sey, diesen verderblichen, die Grundpfeiler aller gesetzlichen Ordnung untergrabenden Bestrebungen durch Zusammenwirken aller Bundesregierungen sofort Einhalt zu thun, […] sich zu nachstehenden Bestimmungen vereiniget […].[56]

Die christliche Religion angreifen, die sozialen Verhältnisse herabwürdigen, Zucht und Sittlichkeit zerstören – es geht, um Heines Kurzformel zu verwenden, «um den lieben Gott, die guten Sitten und das Vaterland».[57] Daran ist die Mitgliedschaft zum Jungen Deutschland zu bemessen. Unmittelbarer Anlaß des Verbots war eine berüchtigte Rezension, in der Wolfgang Menzel, der amtierende Starkritiker der Zeit, Karl Gutzkows Roman Wally, die Zweiflerin, erschienen im August 1835, abschlachtete. «Ich finde da einen Roman des Herrn Gutzkow, der […] von Frechheit und Immoralität schwarz aufgeschwollen ist». «Obszönitäten» und «Gotteslästerungen» werden angekreidet. Der Roman sei «voll kränklicher, raffinierter, ausgedüftelter Wollust.» Mit «Unzucht» wolle Gutzkow die Welt verbessern. Bei diesem «frechen Gotteslästerer und Nuditätenmaler» sei nichts von männlicher deutscher Nationaltugend zu finden. Er sei «ein junger Wurm in einem alten Kadaver», «marklos und wadenlos», sei ein der «neufranzösischen Frechheit» folgender Schreibtischtäter, der in seinem «Schmutzroman» die «offenste Unzucht» predige und «geile Bilder» entwerfe. «Nur Schwächlinge schreiben unzüchtige Bücher und nur entmannte Zeitalter dulden sie.» Am Schluß folgt eine seitenlange Kaskade markiger Zitate aus dem Alten Testament, die auf die Vernichtung eines Autors aus sind, der es mit seiner «Bubenlust» gewagt habe, «den Herrn Christus, den alle Welt verehrt, abzukanzeln und wie einen Einfaltspinsel zu behandeln».[58]

Das war nicht nur gewaltig übertrieben, sondern brutal, gemein und hinterhältig, von wahrem Vernichtungswillen erfüllt. Gutzkow forderte Menzel zum Duell, der entzog sich, Heinrich Heine nannte das feige, für ihn war Menzel «ein zweideutiger Duckmäuser, halb Hase halb Wetterfahne».[59] Es war ein heißer Kampf, bei dem es nicht nur intellektuell um viel ging, sondern auch das Recht, auf dem deutschen Markt zu publizieren, in Frage stand. Der Anlaß war vergleichsweise nichtig: Gutzkows Wally ist eine moderne identitätsgestörte Frau, die sich halbherzig und halbklug aus den überkommenen Konventionen zu lösen versucht, Liebe und Religion neu erfinden will, vieles diskutiert, manches ausprobiert, den Falschen heiratet, einen anderen liebt und sich am Ende aus religiöser Verzweiflung ersticht – ein hastig geschriebenes, heterogen zusammenmontiertes und heute nicht mehr lesenswertes, aber damals hochaktuelles Produkt. Es vermischte die Religionskritik, die Ludwig Feuerbach mit seinen Gedanken über Tod und Unsterblichkeit (1830), David Friedrich Strauß mit seinem Leben Jesu (1835) und Heinrich Heine mit Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland (ebenfalls 1835) vorgebracht hatten, effektvoll mit der Anfrage, ob nicht vielleicht eine sexuelle Liberalisierung angezeigt sei.

Darunter darf man sich freilich nichts allzu Gewürztes vorstellen. Die Zeiten waren sehr prüde. «Sie steht ganz nackt», – das ist der erotische Höhepunkt des Romans – «die hehre Gestalt mit jungfräulich schwellenden Hüften, mit allen zarten Beugungen und Linien, welche von der Brust bis zur Zehe hinuntergleiten.» Eine Lilie, das Sinnbild der Keuschheit, verdeckt «die noch verschlossene Knospe ihrer Weiblichkeit.»[60] Heinrich Heine hatte in der Romantischen Schule (1833/1836) nachdenklich lächelnd eine Religion imaginiert, die Gott «in die Materie setzte, und daher nur das Fleisch für göttlich hielte».[61] Aus Frankreich drang das Stichwort «Emanzipation des Fleisches» in die amtliche deutsche Verklemmtheit vor. Plötzlich begegnete es überall. Theodor Mundt hatte 1835 in einem Roman Madonna erneut die sexuelle Liberalisierung mit der religiösen provokant verknüpft und eine freie Religion des Körpers propagiert. Blutarme Gemüter wie Menzel denunzierten derlei als blasphemisch und pornographisch.

Dabei hat Mundt nur die berechtigte Frage nach der Triebsublimierung in den Bildern der Religion gestellt. Es geht um eine böhmische Schöne, die der Erzähler auf Schloß Dux, wo einst Casanova lebte, kennenlernt. Sie heißt Maria und gibt zu Verwechslungen Anlaß. «Ich wurde immer verwirrter in meiner erhitzten Einbildungskraft. Madonna! Maria! Und wie ähnlich sah sie der von Rafael gemalten Madonna del Giardino, wenn man die Augen abnimmt. Rafael hatte schöne heilige Augen jener Madonna gegeben, die Augen dieser Maria waren weltlich. Weltlich, welttrunken, weltgroß.»[62] Wie erlebte die Madonna den heiligsten Moment ihres Lebens? «In der stillen Ueberschattung des Höchsten hatte sie den Gott in sich empfangen, und sie hatte mit einem Kinderkuß an der Ueberschattung sich satt gesogen. Sie war Jungfrau geblieben, denn das Wort hatte sie befruchtet, und das Wort war es gewesen, das Fleisch wurde aus unberührtem Schooß der Jungfrau. Denn aus jungfräulicher Blüthe mußte der Gott einer neuen Weltordnung sich aufrichten, er, der ein reines, neues und jungfräuliches Zeitalter des Geschlechts auf die Erde brachte. So ruhte Gottes Unschuld an süßen Mädchenbrüsten, und trank von der unbefleckten Magd die Milch des irdischen Lebens, aus der er Mensch wurde.»[63]

Mundt sucht eine Theologie der Sinne. «Gott hat sich aus Liebeslust ins Fleisch getaucht, und das Fleisch dieser Welt ist geheiligt worden, indem es Gott wurde.»[64] Das sind Vorstellungen des Jahres 1835, die unter dem neurotischen Blickwinkel der staatlichen Tugendwächter «alle Zucht und Sittlichkeit zerstören». Auch Büchner redet in seinen «Ferkeldramen»[65] frivol von Gott und Fleisch. Gutzkow hatte, um der Zensur keinen Anlaß zum Eingreifen zu geben, die «Quecksilberblumen», das sind die zahlreichen sexuellen Eindeutigkeiten, aus Danton’s Tod entfernt (mit Quecksilber behandelte man die Syphilis). Es schien ihm unabdingbar, dem Stück «die Veneria herauszutreiben», wenngleich es ihn schmerzte, daß er dabei «die Parthie der Prüderie zu führen» hatte.[66] Von Büchners «Venus mit dem schönen Hintern»[67] ließ er nur «Venus»[68] stehen, aus den «Nönnlein von der Offenbarung durch das Fleisch»[69] machte er «mehr als eine apokalyptische Dame»,[70] und «sich die Hosen vom Leibe reißen und sich über den Hintern begatten wie die Hunde auf der Gasse»[71] strich er ersatzlos weg.[72] Das verhinderte nicht, daß die Tageskritik Ausdrücke wie «Pestbeulen der Frechheit» und «Auswüchse der Unsittlichkeit» als geeignete Wendungen betrachtete, Büchners Danton ebenso wie Gutzkows Wally und Mundts Madonna als pornographisch zu diffamieren.[73]

Auch «die christliche Religion in frechster Weise anzugreifen» (um auf die drei Anklagepunkte des Verbotstexts zurückzukommen) hat Büchner sich nicht gescheut – jedenfalls hätten die nihilistischen und atheistischen Stellen seines Dramas von den Fahndern und Schnüfflern so verstanden werden können, da sie sich, wie die Verurteiler von Gutzkows Wally, nicht die Mühe gemacht haben würden, zwischen Figurenrede und Autorenmeinung zu unterscheiden. Gelegenheit zum Anstoß hätten Äußerungen wie die folgenden geboten: «Es gibt keinen Gott.»[74] «Das Nichts ist der zu gebärende Weltgott.»[75] «Es gibt nur Epikureer, und zwar grobe und feine, Christus war der feinste.»[76] «Der Mann am Kreuze hat sich’s bequem gemacht: es muß ja Ärgernis kommen, doch wehe dem, durch welchen Ärgernis kommt.»[77] «Aber ich bin ein Atheist.»[78]

Daß Büchner schließlich «die bestehenden socialen Verhältnisse herabzuwürdigen» beabsichtigt habe, war für die Behörden durch den Hessischen Landboten ausreichend erwiesen. Alle drei Argumente des Verbotsbeschlusses der Bundesversammlung treffen also auf Büchner zu, und es spricht nichts gegen die Annahme, daß er zum Jungen Deutschland zählt. Jedenfalls wäre er mit verboten worden, hätte die Bundesversammlung ihn damals schon gekannt.

Romantik

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