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Johannes Willms

TALLEYRAND

Virtuose der Macht
1754–1838

 

 

 

 

 

 

 

 

Verlag C.H.Beck

 


 

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Zum Buch

«Die Sprache ist dem Menschen gegeben, um seine Gedanken zu verbergen» – so ließ der wohl berühmteste Diplomat der Weltgeschichte einmal den spanischen Gesandten wissen, als dieser ihn an ein nicht eingehaltenes Versprechen erinnerte. Johannes Willms geht in seinem neuen Buch dem rätselhaften Genie jenes Mannes nach, der es mit unnachahmlicher Geschmeidigkeit verstand, in sechs verschiedenen Regimen sechsmal eine führende Rolle einzunehmen und das vollständig besiegte Frankreich ohne die geringste Gebietsabtretung durch den Wiener Kongress zu lotsen.

Talleyrands Opportunismus mit seinen geradezu mythischen Dimensionen hat ihm bis heute bei den Historikern eine schlechte Presse und heftige moralische Verurteilungen eingetragen. Anders als das gängige Bild vom skrupellosen Verräter portraitiert Willms' neue Biographie Talleyrand erstmals jenseits aller Klischees als Phänotyp seiner Zeit – einer Epoche gewaltiger sozialer und politischer Umbrüche, von der seine hochadlige Gesellschaftsschicht besonders stark betroffen war.

Über den Autor

Johannes Willms ist Historiker und Leitender Redakteur der «Süddeutschen Zeitung». Er hat vielbeachtete Werke vor allem zur französischen Geschichte vorgelegt, darunter Biographien Napoleons, Balzacs und Stendhals. In der Reihe «Die Deutschen und ihre Nachbarn» hat er den Band über Frankreich verfasst.

Aux
amis parisiens

INHALT

 

Vorwort

 

Erstes Buch

 

Im Dienst von Kirche und Revolution

Erstes Kapitel

Der Klumpfuß ist das Schicksal

Zweites Kapitel

Der Bischof als Revolutionär

Drittes Kapitel

Ein neuer Himmel, eine neue Erde

Viertes Kapitel

Der Charakterdarsteller als Statist

 

Zweites Buch

 

Vom Mentor zum Widersacher Napoleons

Fünftes Kapitel

«Ich habe Napoleon geliebt»

Sechstes Kapitel

Für Frankreich und gegen Napoleon

Siebtes Kapitel

«Der Anfang vom Ende»

 

Drittes Buch

 

Enttäuschte Illusionen

Achtes Kapitel

Im Kreis der Sieger

Neuntes Kapitel

Waterloo

Zehntes Kapitel

Le style c'est l'homme

Elftes Kapitel

Letzte Botschaften

Anhang

Anmerkungen

 

Abbildungsnachweis

 

Personenregister

Vorwort

Talleyrand gehört zu jenen historischen Gestalten, deren Leben schon häufig geschildert wurde. Das verrät einerseits das große Interesse, das sein Wesen und Wirken noch immer weckt. Andererseits macht es aber auch deutlich, wie schwierig es ist, ein Porträt von ihm zu zeichnen, das seiner Persönlichkeit gerecht wird. Das war durchaus in seinem Sinn, wie seine Bemerkung gegenüber der Gräfin Kielmannsegge bezeugt: «Ich wünsche mir, dass man in Jahrhunderten fortfährt, darüber zu diskutieren, wer ich gewesen bin, was ich dachte und was ich wollte.»[1] Dieses Ziel hat er erreicht.

Die Kontroverse um Talleyrand wurde schon von den Zeitgenossen angestoßen. Ihre sehr divergierenden Eindrücke finden sich zuhauf – meistens als kritische bis negative Urteile in Briefen, Tagebüchern und Memoiren. Alles in allem handelt es sich um Bruchstücke von sehr unterschiedlichen Konfessionen, die sich nicht zu einem Bild fügen. Sie zeigen nicht Talleyrand, sondern verschiedene Männer, die seinen Namen tragen.

Diese Verwirrung hat mehrere Gründe, und Talleyrand selbst hat viel dazu beigetragen. Im Laufe seines langen und bewegten Lebens setzte er Masken auf, die er den jeweiligen Umständen und Anforderungen geschmeidig anzupassen verstand. Das erklärt die Unschärfe seines Bilds, die sich aber nicht nur eigenem Zutun verdankt, sondern auch den politischen Umbrüchen, die sein Leben und Wirken begleiteten. 1789, zu Beginn der Revolution, war Talleyrand bereits 35 Jahre alt. Die Zeit, die ihn prägte und der er entstammte, war also identisch mit der letzten Phase des Ancien Régime. Das verschaffte ihm eine Ungleichzeitigkeit, die vor allem jenen notwendigerweise ein Rätsel aufgeben musste, deren Lebenserfahrungen und Perspektiven durch Umstände geprägt worden waren, die sich dem radikalen, durch die Revolution veranlassten Wandel verdankten.

In seinem Denken blieb Talleyrand der Aufklärung verhaftet, während ihn sein Handeln als Repräsentanten der Hocharistokratie auswies. Beides trug zur wachsenden Entfremdung von jenen bei, deren Anschauungen infolge der Revolution ideologisch überformt waren. Ihnen musste Talleyrand umso suspekter erscheinen, als er nicht nur alle Stürme dieser «Sattelzeit»[2] unbeschädigt und jedem der fünf Regime in leitender Position dienend überstand, sondern er auch jeweils maßgeblich daran beteiligt war, diese erst an die Macht und dann wieder zu Fall zu bringen. Das vor allem hat ihn als gewissenlosen Opportunisten in Verruf gebracht.

Der biographische Essay von Charles-Augustin Sainte-Beuve, der postum 1870 erschien, beginnt deshalb mit der Feststellung: «Das Leben von M. de Talleyrand zu schildern, ist ein kaum mögliches Unterfangen, und ich glaube nicht, dass die Veröffentlichung seiner schon so oft erwarteten und ebenso häufig verschobenen Erinnerungen, wenn sie denn jemals erfolgen sollte, nennenswerte Abhilfe schafft. Als ein ausgebuffter Schauspieler wird M. de Talleyrand mehr noch als jeder andere Autor von Memoiren, diese verfasst haben, um sein Leben schön zu färben und nicht um es zu enthüllen.»[3]

Sainte-Beuves Voraussage bewahrheitete sich. Talleyrands Memoiren, die 1891–1892 in fünf Bänden vom Duc de Broglie publiziert wurden, bieten trotz ihres Umfangs nur einen fragmentarischen Lebensbericht. Außerdem wurde das Manuskript vom langjährigen Sekretär und Vertrauten Adolphe de Bacourt mit der Maßgabe überarbeitet, Talleyrands Tun und Lassen gegenüber der Nachwelt zu rechtfertigen. Dessen ungeachtet enthalten diese Erinnerungen manche Passagen, die unbeabsichtigt mehr preisgeben, als Autor und Bearbeiter wohl beabsichtigt hatten. Nicht viel anders verhält es sich mit Briefen und anderen Dokumenten, die seither in großer Zahl in privaten wie öffentlichen Archiven entdeckt und veröffentlicht wurden. Auch wenn sie manches Mosaiksteinchen zu einzelnen Aspekten von Talleyrands Leben, seiner Persönlichkeit und seiner politischen Laufbahn beisteuerten, haben sie in der Summe dessen Rätsel nicht wesentlich erhellt.

Wenn der Biograph also nicht wie viele vor ihm einen Beitrag dazu leisten will, diesem Mythos, hinter dem Talleyrand verschwindet, bloß einen neu aufgeputzten und mit einer Fülle von Anekdoten ausgeschmückten hinzuzufügen, der also nur alte Einsichten wiederholt, muss er einen neuen Weg einschlagen. Den entscheidenden Hinweis dafür verdankt er einem Schreiben des damaligen österreichischen Botschafters in Paris, Fürst Metternich, der Talleyrand sehr gut kannte und sich manches bei ihm abschaute. Im Brief Metternichs an Staatskanzler Johann Philipp Graf von Stadion vom 24. September 1808 findet sich eine Mitteilung, die der Verfasser als Fingerzeig auffasste, um jener Verlegenheit zu entgehen: «Es ist unerlässlich, schon eine geraume Zeit in Paris zu sein, um die wahre Haltung von M. de Talleyrand zu beurteilen. – Man muss bei M. de Talleyrand den moralischen vom politischen Menschen unterscheiden. Er könnte und würde nicht das sein, was er ist, wenn er moralisch wäre. Andererseits ist er ein ausgesprochen politisch denkender Mensch und als solcher ein Mann der Systeme. Das macht ihn gleichermaßen nützlich oder gefährlich.»[4]

Die vorliegende Biographie orientiert sich diesem Rat folgend vor allem am politischen Denken und Handeln Talleyrands unter sich bisweilen ebenso rasch wie dramatisch verändernden Rahmenbedingungen. Diese bezeichnen ein halbes Jahrhundert der sozialen und politischen Geschichte Frankreichs, das von der letzten Phase des Ancien Régime bis zu den Anfängen der Juli-Monarchie von 1830 durch gewaltige und rasch aufeinander folgende Um- und Aufbrüche gekennzeichnet war. Die Dichte und Komplexität dieses Geschehens darzustellen, ließ sich angesichts des dem Leser zumutbaren Umfangs einer Biographie nur unter zwei Einschränkungen verwirklichen: Die Schilderung der jeweiligen Epochen bescheidet sich mit deren typologischer Skizzierung, und Talleyrands Agieren und Reagieren wird im wesentlichen am Beispiel seines politischen Denkens und Handelns erörtert. Für die nächst seiner Rolle in den Anfängen der Revolution wichtigste und mit Abstand längste Phase von Talleyrands politischer Tätigkeit von 1797 bis 1815 sei im Übrigen auf die Napoleon-Biographie verwiesen, die der Verfasser 2005 veröffentlichte.[5]

Eine Biographie Talleyrands erfüllt sich aber nicht allein in der Erörterung der Pathogenese seines politischen Denkens und Handelns. Deshalb ist ein weiterer Schwerpunkt dieser Darstellung die Schilderung jenes Maskenwechsels, den Talleyrand zeitlebens ebenso betrieb wie die damit verknüpfte Anpassung seiner politischen Rhetorik. Beides spiegelt sich nicht nur in seinen Reden, Denkschriften oder der amtlichen wie privaten Korrespondenz wider, sondern auch in den zumeist kritischen Schilderungen der Zeitgenossen.

Bis auf die Restauration von 1814 war Talleyrand nie der Hauptakteur, sondern hatte seinen Platz in den Kulissen der Macht. Als «graue Eminenz» der französischen, zeitweilig sogar der europäischen Politik, übte er einen ebenso diskreten wie häufig entscheidenden Einfluss aus. Dass und wie er diese Rolle über so viele Wechselfälle, Umbrüche und Regimes erfolgreich ausfüllen konnte, macht seine große Faszination aus. Diese begreiflich zu machen, ist die Absicht des vorliegenden Buches.

Paris, im Juni 2010

Johannes Willms

Erstes Buch

IM DIENST VON KIRCHE UND REVOLUTION

Erstes Kapitel

Der Klumpfuß ist das Schicksal

Das Porträt Talleyrands, das Benjamin Constant im Januar 1815 entwarf, beginnt mit der Feststellung: «Was den Charakter von M. de Talleyrand entschied, waren seine Füße. Sobald seine Eltern erkannten, dass er hinkte, fassten sie den Entschluss, ihn für den geistlichen Stand zu bestimmen, während sein (jüngerer) Bruder der künftige Chef der Familie sein sollte. Verletzt, aber in sein Schicksal ergeben, nahm M. de Talleyrand das Priestergewand wie eine Rüstung an und warf sich auf diese Laufbahn, um daraus irgend einen Gewinn für sich herauszuschlagen.»[1]

Benjamin Constant übernahm damit eine Deutung, die grundlegend ist für die Legende, mit der Talleyrand zeitlebens seine Kindheit umgab. Talleyrand war davon überzeugt, dass die in den ersten Jahren gemachten Erlebnisse einen unauslöschlichen Einfluss auf sein weiteres Leben ausgeübt hatten, wie er Claire de Rémusat gegenüber bemerkte. «Verriete ich Ihnen, wie meine Jugend verlief, würden Sie sich weit weniger über viele Dinge wundern.»[2] Schon vor der Darstellung in seinen Memoiren, mit deren Aufzeichnung er im Sommer 1812 begann,[3] hatte er wiederholt Vertrauten vom Unglück seiner frühen Jugend erzählt. So etwa Etienne Dumont, dem Sekretär Mirabeaus, mit dem er während seines Aufenthalts in London 1792 Umgang pflegte.[4] Damals wie später stufte Talleyrand die Verkrüppelung seines rechten Fußes als das schicksalhafte Verhängnis ein, das sein Leben wie nichts sonst beeinflusst habe. Diese Behinderung sei die Ursache dafür gewesen, dass die Eltern ihm als Kind nur mit Gefühlskälte und Ablehnung begegneten, ihn seiner Vorrechte als Erstgeborener beraubt und für die Priesterlaufbahn bestimmt hätten, für die er keinerlei Berufung empfunden habe.

Seine Schilderung einer von Lieblosigkeit gekennzeichneten Kindheit schloss Talleyrand mit einem Eingeständnis, das an die Empathie appellierte und das eine plausible Deutung seiner charakterlichen Entwicklung liefern sollte. «Sie sehen, dass ich in dieser Situation nur die Wahl hatte, entweder vor Kummer zu sterben oder mich derart zu betäuben, dass ich kein Empfinden mehr dafür hatte, was mir vorenthalten wurde. Ich entschied mich also für die Betäubung, aber ich will Ihnen gerne zugeben, dass ich mich damit irrte. Vielleicht wäre es besser gewesen, zu leiden und mir damit meine Fähigkeiten zu empfinden, zu bewahren. Tatsächlich hat mich diese seelische Unbekümmertheit, die Sie mir vorwerfen, selbst oft angewidert. Ich habe die anderen nicht wirklich geliebt. Aber das gilt auch für mich selber, denn ich habe niemals ein ausgeprägtes Interesse für mich empfunden.»[5]

In den Memoiren beschied sich Talleyrand bei der Schilderung seiner Kindheit damit, diese geradezu lakonisch abzuhandeln. Vor allem das verschaffte der Legende seines von Lieblosigkeit bestimmten Aufwachsens den Anschein einer Stimmigkeit, die fast alle Biographen für bare Münze nahmen. Sie wähnten, darin den Schlüssel für das Rätsel dieses höchst widersprüchlichen und wechselvollen Lebens zu erkennen. Das dürfte den Absichten Talleyrands entsprochen haben. Im Juli 1830, als die von ihm maßgeblich initiierte bourbonische Restauration in Agonie lag, eröffnete er einem Besucher, dem Baron Vitrolles, den bislang verschwiegenen Plan, seine Memoiren vorzulegen, wobei er ihm die Frage stellte: «Ist Ihnen, wenn Sie die unterschiedlichen Epochen durchmustern, aufgefallen, dass man immer auf einen Mann trifft, der, dank einer besonderen Übereinstimmung zwischen seinem Charakter und dem seiner Zeit, der Typus und damit gleichsam der Repräsentant seines Jahrhunderts wird?»[6]

Das war das Bild, das er von sich selber entwarf, denn er diente in seinem langen Leben fünf sehr unterschiedlichen Regimen in wichtiger Funktion. Alle waren mit mehr oder minder heftigen Konvulsionen untergegangen, ohne dass er daran Schaden genommen hatte. Ein solches Ende kündigte sich im Juli 1830 wieder an, aber erneut konnte er sich in der Gewissheit wiegen, auch von dem neuen, dem sechsten Regime gebraucht zu werden. Diese erstaunliche Fähigkeit, alle Regimewechsel nicht nur politisch zu überleben – Talleyrand legte in seinem Leben vierzehn Loyalitätsschwüre und Gelöbnisse ab, die er alle brach –, verschaffte ihm den Ruf eines skrupellosen Verräters und zynischen Opportunisten. So urteilten häufig Zeitgenossen, von denen die wenigsten ihm allerdings etwas vorwerfen konnten, was nicht auch auf sie selber zutraf, denn viele von ihnen hatten auch mehrere Eide geschworen und gebrochen. Vor allem in den Anfängen delirierte die Revolution in einer wahren Orgie von Eidleistungen, was Talleyrand in einem Schreiben an seine Freundin Adélaïde de Flahaut Ende November 1790 zu der Äußerung veranlasste: «Nach all den Schwüren, die wir geleistet und wieder gebrochen haben, nachdem wir so oft unsere Treue zur Verfassung, zur Nation, zum Gesetz und für den König beeidet haben, lauter Dinge, die nur Begriffe sind, welche Bedeutung kann dann ein weiterer Schwur wirklich noch haben?»[7]

Wie Talleyrand zogen viele andere aus der Revolution und dem napoleonischen Empire Vorteile, die sie später erfolgreich zu behaupten suchten. Vor allem sah er sich als Zielscheibe selbstgerechter Empörung, die stets einher ging mit neiderfüllter Bewunderung, denn wie kein anderer verstand es Talleyrand, allen politischen Wechselfällen zum Trotz, den eigenen Ruf und Reichtum zu mehren. Die Befähigung zu solchem Geschick habe er, so lautete der Vorwurf, der jeweils eingenommenen Stellung wie den daraus gewonnen Einsichten zu verdanken. Deshalb sei es ihm möglich gewesen, jede Wendung des politischen Konjunkturverlaufs unter Berücksichtigung seiner Interessen zu beeinflussen.

Um solch anhaltenden Erfolg im Leben zu haben, braucht es jedoch nicht nur eine gehörige Portion Glück und Intelligenz, sondern vor allem auch einen Charakter, der, von k einen Skrupeln geplagt, das avisierte Ziel verfolgt. Über dieses Ziel, das Charles-Maurice de Talleyrand-Périgord bei seiner Geburt am 2. Februar 1754 in Paris gleichsam in die Wiege gelegt wurde, gibt es angesichts seiner Abkunft k einen Zweifel. Seine zwar nicht sonderlich wohlhabende, aber ausgeprägt adelsstolze Familie, die dem Glauben anhing, ihre Aszendenz über mehr als tausend Jahre zurückverfolgen zu können, erhob Anspruch darauf, als eine der vornehmsten im Frankreich der alten Monarchie zu gelten. Diese Behauptung war in sozialer Hinsicht wichtiger als der Besitz großen Reichtums, um dem Träger des Namens Talleyrand-Périgord eine glanzvolle Karriere zu garantieren. Die Gewähr dafür bot die Stellung der Eltern am Hof Louis XV in Versailles.[8] Der Vater, Charles-Daniel (1734–1788), diente bei der Geburt von Charles-Maurice im Rang eines Obersten im Regiment der «Grenadiers de France» der königlichen Armee und war seit 1759 auch einer der dem Dauphin und künftigen Louis XVI attachierten Edelleute. Bei dessen Krönung 1775 in Reims fungierte er als einer der vier Wächter des Gefäßes mit dem heiligen Öl. Die Mutter war eine geborene Alexandrine de Damas d'Antigny (1728–1809) und seit 1751 dame d'honneur von Maria-Josepha von Sachsen, der Mutter Louis XVI, die mit dem Dauphin Louis-Ferdinand verheiratet war.

Die mit der Stellung im Haushalt des Dauphin verbundenen Pensionen und Geldzuwendungen sicherten dem Ehepaar ein bescheidenes Auskommen, das aber kaum ausreichte, das aufwendige Leben in Versailles zu bestreiten und eine kleine Privatwohnung in Paris in der Rue Garancière unweit der Kirche von Saint-Sulpice zu unterhalten. Zeitweilig konnte sich das Paar keine Dienstboten leisten, weshalb der Pariser Haushalt über Monate von Marie-Elisabeth Chamillart geführt wurde, der seit 1745 verwitweten zweiten Frau von Talleyrands Großvater Daniel-Marie-Anne de Talleyrand, der bei der Belagerung von Tournai gefallen war. Die große finanzielle Bedrängnis des jungen Elternpaars zeigt sich auch daran, dass Alexandrine, die in Paris die Geburt von Charles-Maurice erwartete, ihre Mutter, die Marquise d'Antigny, bat, ihr einige Dinge für die Niederkunft zu schicken. Sollte sie diese nicht erhalten, sähe sie sich gezwungen, «die Geschichte von der Heiligen Jungfrau um einen zweiten Band» zu erweitern.[9] Das war keineswegs nur eine witzige Übertreibung, wie auch eine Bemerkung der Marquise de Créquy belegt. Die Talleyrands, so heißt es in ihren apokryphen Memoiren, lebten von der Hoftafel, und auch das Kind Charles-Maurice ernährten sie mit den Krumen, die vom königlichen Bankett in Versailles abfielen.[10]

Auch wenn diese Mitteilung der spitzzüngigen Marquise de Créquy nicht wörtlich zu verstehen ist, macht sie dennoch die prekären Lebensumstände des Paars deutlich. Für die Eltern des Neugeborenen war die finanzielle Notlage eine umso bitterere Erfahrung, weil dessen Taufpate, der ältere Halbbruder Gabriel-Marie de Talleyrand Comte de Périgord, mit der Fürstin de Chalais nicht nur eine glänzende Partie gemacht hatte, sondern auch als Gouverneur des Languedoc über ein jährliches Einkommen von rund 160.000 livres verfügte. Ein nicht minder üppiges Auskommen hatte auch Alexandre-Angélique de Talleyrand-Périgord, der zweite der insgesamt vier Brüder des Vaters, der im Dienst der Kirche stand und 1766 die üppig dotierte Stellung eines Coadjutors der Erzdiözese von Reims einnahm. 1777 wurde er Erzbischof dieses Bistums, das als eines der reichsten Frankreichs galt und seinem Titular ein Leben im Luxus ermöglichte.

Der Reichtum dieser beiden nahen Verwandten illustriert die zwei Aufstiegsmuster, die sich minder begüterten Adelsangehörigen boten, um ihren Kindern Wohlstand und Fortkommen zu garantieren. Das eine war eine möglichst vorteilhafte Heirat, die dazu beitrug, den Nachkommen eine Karriere beim Militär oder in der königlichen Verwaltung zu erleichtern; das andere war der Eintritt in den geistlichen Stand, der Söhnen aus Familien, die mit dem Hoch- und Hofadel versippt waren, den Aufstieg zu den höchsten und lukrativsten Kirchenämtern verhieß.[11] Das galt vor allem für Frankreich, wo sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts klerikale Dynastien bildeten, bei denen hohe Kirchenämter vom Onkel an den Neffen vererbt wurden.[12] Der große Nachteil dieses Klientelsystems war, dass Anforderungen an die kirchlich-geistlichen oder auch moralischen Qualitäten des jeweiligen Kandidaten keine sonderliche Rolle spielten.

Entsprechend der Familientradition sollte Charles-Maurice wohl die militärische Laufbahn einschlagen. Diese Absicht verrät der Vorname Maurice, auf den das Kind noch am Tag seiner Geburt in der Kirche von Saint-Sulpice getauft wurde. Das jedenfalls teilte Talleyrand Jahrzehnte später einer Freundin mit.[13] Dass er aber nicht dem Vorbild dieses Namenspatrons, des Marechal de Saxe, folgte und im Militär Karriere machte, sondern auf den Kirchendienst vorbereitet wurde, bezeichnete er immer wieder als die frühe und entscheidende Weichenstellung seines Lebens, für die er die ausgeprägte Lieblosigkeit seiner Eltern verantwortlich machte. Diese Behauptung erschien den Zeitgenossen im Licht eines Paradigmenwechsels nur zu plausibel, der sich dem 1762 veröffentlichten Erziehungsroman Emile von Jean-Jacques Rousseau verdankte, dessen Maximen nach rund zwei Jahrzehnten schließlich Eingang in zahlreiche erzieherische Lehrschriften fanden und eine breite Publikumsresonanz auslösten. Deren Rezeption veränderte das in Adelskreisen übliche Verhältnis zwischen Eltern und Kindern nachdrücklich. Wie es zuvor darum bestellt war, schilderte der 1735 geborene Fürst Charles-Joseph de Ligne: «Mein Vater liebte mich nicht. Ich weiß nicht warum, denn wir kannten einander nicht. Es war damals weder Mode, ein guter Vater noch Gatte zu sein. Meine Mutter lebte in ständiger Furcht vor ihm. Sie brachte mich unter einem großen Reifrock zur Welt und starb einige Jahre später (1740) auf eben dieselbe Weise. So sehr liebte er das Zeremonielle und den Anschein von Würde.»[14] Das war keine besonders exzentrische Ausnahme, denn in der Hocharistokratie hatten um die Mitte des 18. Jahrhunderts die eigenen Kinder, von denen nicht wenige aus schierer Vernachlässigung früh starben, nur geringe Geltung. Dementsprechend wuchsen sie in der Regel außerhalb der Familie bei Ammen und «Erziehern», die oft nichts anderes als schlecht bezahlte und ungebildete Bedienstete waren, unter denkbar widrigen Umständen auf. Häufig kehrten sie erst als Heranwachsende zu ihren Eltern zurück.[15]

Mit der nach diesem Muster ausgemalten Legende seiner liebeskalten Kindheit verfolgte Talleyrand vor allem den Plan, Nachsicht, wenn nicht verzeihendes Verständnis der Mit- und Nachwelt für seinen späteren Verrat an der Kirche zu erhalten, deren Priester und Bischof er war. Dieser Verrat haftete ihm wie ein Schatten bis aufs Sterbebett an. Daneben verblassten für ihn alle weiteren Eidbrüche, derer er bezichtigt wurde. Die konnte er pauschal mit der geistreichen Bemerkung abtun, solcher Verrat sei eine Frage des Datums. Im Unterschied jedoch zu den diversen Regimes seit der Revolution behauptete die Kirche einen spirituellen und moralischen Anspruch, der unverändert galt. Sich dagegen versündigt zu haben, war eine Heimsuchung, die er lebenslang zu bannen suchte. Aus diesem Verlangen erwuchs die Kindheitslegende, von deren Wahrheit er selber überzeugt war.

Dem entspricht die distanzierte Knappheit in den Memoiren: «In dieser Zeit waren die Kinder die Erben des Namens und des Wappens. Man glaubte, alles für sie getan zu haben, wenn man sie auf ihre Karriere vorbereitete, ihnen Posten in Aussicht stellte, einige mündelsichere und unveräußerliche Einkunftsquellen verschaffte, sich darum kümmerte, sie vorteilhaft zu verheiraten, um derart ihr Vermögen zu mehren. Die Mode liebevoller elterlicher Hege und Pflege war noch unbekannt; in m einer Kindheit herrschte vielmehr eine ganz andere Praxis: Man überließ mich mehrere Jahre lang meinem Schicksal in einem Pariser Vorort. Dort war ich noch im Alter von vier Jahren untergebracht.»[16]

Talleyrands Eltern machten keine Ausnahme von dem in höheren Kreisen der Gesellschaft üblichen Umgang mit Kindern,[17] doch ist der Eindruck, den Talleyrand in den Memoiren zu erwecken sucht, er sei bis zu seinem vierten Lebensjahr seiner Erzeuger nie ansichtig geworden,[18] sondern bei einer Amme aufgewachsen, nachweislich falsch. Das gilt auch für die immer wieder anklingende Behauptung, die Eltern hätten ihm nur Desinteresse und Lieblosigkeit bezeugt. Das habe ihn aber nicht zerbrochen, sondern früh reifen lassen. «Ich fühlte mich isoliert, ohne alle Unterstützung, immer auf mich selber zurückgestoßen. Ich führe deswegen keine Klage, denn ich bin überzeugt, dass dieses auf mich selber Zurückgeworfensein, meine Fähigkeit zu reflektieren, enorm entwickelt hat. Den Leiden m einer frühen Kindheit verdanke ich es, diese Fähigkeiten bei Zeiten geübt und daraus die Gewohnheit entwickelt zu haben, gründlicher nachzudenken, als ich es vielleicht getan hätte, wenn ich unter glücklicheren Umständen aufgewachsen wäre.»[19]

Auch wenn Talleyrand die Erinnerungen an seine lieblose Kindheit mit vielen Facetten ausschmückt, sieht die Wahrheit dahinter doch anders aus. Als die Marquise d'Antigny, Talleyrands Großmutter, beispielsweise von September 1755 bis März 1756 in Paris auf Besuch weilte und im Hause ihrer Tochter wohnte, waren Charles-Maurice und sein älterer Bruder Alexandre ebenfalls zugegen und wurden von ihr mit Spielsachen beschenkt. Im Anschluss an diesen Aufenthalt reisten beide Kinder von der Mutter begleitet für einige Zeit nach Commarin, dem Schloss der Marquise in Burgund.[20] Zwar ist es verständlich, dass Charles-Maurice diese frühkindlichen Begebenheiten nicht in Erinnerung behielt, aber sie dementieren dennoch seine späteren Behauptungen. Das gilt erst recht für die Zeit nach dem Tod des älteren Bruders im Frühjahr 1757, als die Mutter auch noch eine Fehlgeburt erlebte. Beide Schicksalsschläge gaben wohl den Anlass, dass die Zuwendungen für Charles-Maurice, jetzt das einzige Kind des Paares, verstärkt wurden. Jedenfalls nahm ihn die Mutter im Sommer 1757 zu einer Kur nach Forges mit, wo die Bäder, wie sie der Marquise d'Antigny schrieb, dem Kleinkind sehr gut anschlugen.[21]

Die Eltern waren also durchaus um die Gesundheit des Sohnes besorgt. Um ihn zu kräftigen und nicht, wie Talleyrand perfide andeutet, um ihn abzuschieben, wurde Charles-Maurice nach der Rückkehr von Forges bis zum Ende des Sommers 1760 in die Obhut seiner Urgroßmutter väterlicherseits auf Schloss Chalais in der Charente unweit von Barbézieux gegeben, wo das Kind gesunde Landluft atmen konnte und nicht der im Sommer von vielen Gestänken geschwängerten Atmosphäre im schmutzstarrenden Paris ausgesetzt war. Dazu riet vor allem auch eine altersbedingt anfällige Gesundheit bei damals vielen Kleinkindern, für die auch der Tod des ältesten Sohnes verantwortlich gemacht wurde. Mütterliche Fürsorge also bestimmte Alexandrine, das Angebot der Urgroßmutter zu akzeptieren, Charles-Maurice für eine Weile aufzunehmen, auch wenn sie es, wie sie ihrer Mutter, der Marquise d'Antigny schrieb, «gräme, ihn für so lange Zeit nicht zu sehen».[22]

Talleyrand hingegen beschreibt den Aufenthalt in Chalais nicht nur als Abschiebung, sondern als einen ganz besonders lieblosen elterlichen Akt. Die Eltern hätten, so seine Version, kurz vor der Reise entdeckt, dass sein rechter Fuß verkrüppelt sei. Diese Behinderung sei – so Talleyrand – Hauptursache für die elterliche Lieblosigkeit gewesen, obwohl sie nur deren verhängnisvolle Konsequenz war: In der Obhut der Amme sei er eines Tages von einer Kommode zu Boden gestürzt. Dabei habe er sich den rechten Fuß gebrochen. Den Unfall habe die Amme mehrere Monate verschwiegen, so dass sein Gebrechen zu spät bemerkt worden sei. «Der Bruch, den ich erlitten hatte, war dann schon zu alt, als dass man ihn noch hätte heilen können; der andere Fuß, der in der Zeit m einer starken Schmerzen allein das Gewicht m eines Körpers tragen musste, war dadurch erheblich geschwächt worden; seither bin ich ein Hinkender.»[23]

Diese Version, mit der Talleyrand die Verkrüppelung erklärte, wurde erst durch die akribischen Forschungen von Michel Poniatowski 1988 als frei erfunden nachgewiesen.[24] Der Klumpfuß, mit dem sich Charles-Maurice de Talleyrand durch sein sehr wechselvolles und langes Leben schleppen musste, war entweder ein erbliches Leiden, an dem auch sein Onkel und Taufpate, Gabriel-Marie de Talleyrand, Comte de Périgord litt, oder, was wahrscheinlicher ist, die Folge einer Polio-Infektion. Dass Talleyrand die Unfallversion als Ursache seines Gebrechens in die Welt setzte, ist nur allzu verständlich, denn bei einem ererbten Leiden bestand die Vermutung, es könne mit mentalen Störungen verbunden sein. Charles de Rémusat, der während der Restauration einmal Gelegenheit hatte, einem Lever Talleyrands beizuwohnen, kommentierte Talleyrands Umgang mit seiner Behinderung so: «Alle Welt wusste, dass er einen Klumpfuß hat. Wie alle Krüppel legte er jedoch Wert darauf, dass dies die Folge eines Unfalls und nicht organisch bedingt war.»[25]

Für den Biographen bedeutsam ist, dass Talleyrand selbst dem Klumpfuß große, schicksalsmäßige Bedeutung zusprach, für deren historische Tragweite sich nur die Nase der Cleopatra als angemessener Vergleich aufdrängt. Die Verkrüppelung habe zunächst die Eltern nicht nur veranlasst, ihn zu meiden, sondern deren Kälte und Desinteresse ihm gegenüber noch gesteigert. Erst ein mehrjähriger Aufenthalt bei der Urgroßmutter in Chalais habe ihn gelehrt, was Liebe und Wärme sei. «Sie war das erste Mitglied m einer Familie, das mir Zuneigung entgegenbrachte, und sie war auch die erste, die mich vom Glück zu lieben kosten ließ.»[26]

Auch die Schilderung des schrecklichen Erlebnisses, als der unterdessen Sechsjährige bei seiner Rückkehr im September 1760 aus dem Paradies von Chalais in Paris von einem alten Diener empfangen worden sei, der ihn sofort ins Internat des Collège d'Harcourt verfrachtet habe,[27] ist pure Erfindung, mit der Talleyrand seine Erzeuger endgültig als Rabeneltern abzustempeln suchte. Tatsächlich bezog er diese Schule erst 1762. Die rund anderthalb Jahre, die er in seinen Erinnerungen unterschlägt, verbrachte er wohlbehütet im elterlichen Haus.[28] Das zuzugeben hätte jedoch die sorgsam konstruierte Legende der Lieblosigkeit in Frage gestellt, weshalb auf den Himmel von Chalais der sofortige Sturz in die Hölle des Internats erfolgen musste, das er pro Woche nur einmal verlassen durfte, um gemeinsam mit den Eltern zu Abend zu essen. Mit dieser Schilderung konnte er sein Empfinden beglaubigen, vom Familienleben ausgeschlossen zu sein. Das illustriert auch die Klage darüber, dass er als Zwölfjähriger an Pocken erkrankte und deshalb in strikter Isolation in einem Haus in der Rue Saint Jacques interniert war, wo er nie von den Eltern besucht wurde.[29] Selbstverständlich kommt ihm nicht in den Sinn, dass diese vermeintliche Lieblosigkeit nur von der Furcht diktiert wurde, sich anzustecken.

Diese und andere bittere Enttäuschungen, so deutet er wiederholt an, hätten ihn von früh an gelehrt, alles Unglück, das ihm zustieß, mit Gleichmut zu ertragen. Von solchen Erfahrungen sei sein Wesen nachhaltig geprägt worden, eine Behauptung, die Claire de Rémusat vehement bestreitet: «M. de Talleyrand, verlogener als sonst irgendjemand, verstand sich darauf, eine Fülle auf Berechnungen basierender Gewohnheiten ganz selbstverständlich als seinen Charakter auszugeben; die bewahrte er sich auch unter allen Umständen ganz so, als verriete sich darin die Kraft seiner wahren Natur.»[30]

Entweder war er von der schicksalhaften Bedeutung seiner Verkrüppelung selbst fest überzeugt, oder er gab sich diesen Anschein, was aufs selbe hinausläuft. Ebenso verhält es sich mit einer anderen, damit verknüpften Behauptung, die er schon vor Veröffentlichung seiner Memoiren oft äußerte und die durch das vielfältige Echo der Zeitgenossen längst zu einem, seinem Mantra geworden ist. Talleyrands Version in seinen Memoiren lautet so: «Dieser Unfall beeinflusste mein ganzes Leben; er war es, der, nachdem er meine Eltern davon überzeugt hatte, dass ich nicht in den Militärdienst eintreten könne, seine Folgen jedenfalls nachteilig für mein Avancement wären, sie dazu bestimmte, für mich eine andere Karriere in Aussicht zu nehmen. Diese schien ihnen für das Fortkommen der Familie weit vielversprechender zu sein, denn in den großen Häusern war es allein die Familie, die zählte und die man liebte, jedenfalls viel mehr als die Individuen, vor allem deren junge Mitglieder, für die man sowieso keinerlei Wertschätzung hegte.»[31]

Allein der Klumpfuß, so Talleyrand, bestimmte also die Eltern, ihn zur Priesterlaufbahn zu zwingen, für die er, wie er wiederholt betonte, nicht nur keinerlei Berufung oder Neigung verspürte, sondern die ihm eine Lebensperspektive wies, die ihn regelrecht abstieß.[32] Dies sei ihm erst während der Zeit im Internat gedämmert. Um zu verhindern, dass seine Erzeuger deswegen Zweifel anfielen, meinte er, hätten sie es auch vermieden, ihn häufiger zu sehen. «Diese Angst ist ein Beweis von Zärtlichkeit, für den ich ihnen Dank weiß.»[33] Tatsächlich scheinen die Eltern ihren Ältesten bis Ende seiner Schulzeit 1769 nicht über ihre Entschlüsse unterrichtet zu haben. «Das völlige Schweigen m eines Vaters hinsichtlich m einer weiteren Zukunft sowie einige Bemerkungen, die mir zu Ohren kamen, waren die erste Ankündigung dessen, was m einer harrte.»[34] Nach Beendigung der Schule schickten die Eltern den Sohn für einen einjährigen Aufenthalt nach Reims, wo er bei seinem Onkel Alexandre-Angélique de Talleyrand-Périgord lebte. Dieser Onkel war seit 1766 Coadjutor des Erzbischofs von Reims und hatte den verbrieften Anspruch, nach dem Tod des Amtsinhabers Charles-Antoine de La Roche-Aymon dessen Position zu übernehmen. Reims war eine der reichsten Diözesen Frankreichs, und zu den vielen Pflichten des Onkels gehörte es auch, die wahrhaft luxuriöse Haushaltsführung des Erzbischofs zu organisieren.

Wie andere seiner Amtsbrüder im Frankreich des 18. Jahrhunderts pflegte auch der Erzbischof von Reims einen aufwendigen Lebensstil. In seinem prächtigen Palais veranstaltete er große Gastmähler, bei denen eine vielköpfige Dienerschaft aufwartete. Auf Reisen war er in einer von acht Pferden gezogenen Kutsche unterwegs, begleitet von Bediensteten, Sekretären und Kaplänen. Der wichtigste Zeitvertreib dieser geistlichen Herren war neben dem «Bauwurm», an dem sie häufig litten und der sie Unsummen für den Bau von Lustschlössern ausgeben ließ, das edle Waidwerk sowie Vertreterinnen des schönen Geschlechts nachzustellen, während die Erfüllung der geistlichen Pflichten nach besten Kräften vernachlässigt wurde.[35] Kurz, die Repräsentanten des hohen Klerus konnten dank beträchtlicher Einkünfte aus dem Kirchenbesitz einen ihren jeweiligen Neigungen entsprechenden Lebensstil pflegen, der, selbst wenn er gelegentlich für Skandale sorgte, sie dennoch aller Rücksichten auf ihren geistlichen Stand enthob. Das zu erleben, musste ein junges und empfängliches Gemüt unweigerlich zu der Einsicht verführen, dass eine herausgehobene Stellung in der Kirchenhierarchie in vieler Hinsicht weit attraktiver sei, als ein hoher Posten in Militär oder Verwaltung. Außerdem hatten Kirchenfürsten große Chancen, als einflussreiche Minister und Berater des Königs in der Politik Karriere zu machen. Entsprechende Aussichten waren, wie sich zeigen lässt, in den Jahren, die der Revolution von 1789 vorausgingen, sogar noch wesentlich besser, als in den Jahrzehnten zuvor.[36]

Dass solche Überlegungen Charles-Maurices einjährigen Aufenthalt in Reims veranlassten, drängt sich auf. Aufschlussreich jedoch der Kommentar, den Talleyrand in den Memoiren damit verknüpft. «Vor m einer Abreise war ich nicht bei meinen Eltern, und ich sage das hier, um es ein für allemal gesagt zu haben, dass ich vermutlich der einzige Mann von hoher Geburt war, der einer zahlreichen und geachteten Familie entstammt und der nicht eine einzige Woche seines ganzen Lebens das wohlige Gefühl hatte, sich unter dem väterlichen Dach aufgehalten zu haben. Das wahrzunehmen ließ mich in dem, was man anstellte, um mich zu verführen, nichts anderes erkennen, als ein Exil. Der große Luxus, die Rücksichten, ja selbst die Vergnügungen, in denen der Erzbischof von Reims und sein Coadjutor schwelgten, beeindruckten mich nicht. Ein derart von Förmlichkeiten beherrschtes Leben erschien mir unerträglich. Mit fünfzehn Jahren, wenn alle Regungen, die man hat, noch ganz wahrhaftig sind, hat man alle Mühe zu begreifen, dass die Umsicht, das heißt die Kunst, lediglich einen Teil des eigenen Wesens, Denkens, Fühlens und Erlebens preiszugeben, die wichtigste aller Eigenschaften ist. Ich erkannte, dass aller Glanz, der den Kardinal de La Roche-Aymon umgab, nicht das vollständige Opfer m einer Ernsthaftigkeit aufwog, das man mir abverlangte. Alle Zuwendungen, mit denen man mich überschüttete, waren nur darauf abgestellt, mich davon zu überzeugen, dass die Verkrüppelung m eines Fußes mich daran hindere, in der Armee zu dienen, weshalb ich notwendigerweise in den geistlichen Stand eintreten müsse, da einem Mann m eines Namens sonst keine andere Laufbahn offen stünde.»[37]

Möglich, dass Talleyrand damit die Empfindungen wahrheitsgetreu geschildert hat, die ihn als Fünfzehnjährigen angesichts des ihm zugedachten Lebenswegs anwandelten. Den Ausschlag gab jedoch nicht, wie immer gesagt wird, seine Behinderung, sondern der Wunsch des Onkels, eine klerikale Dynastie zu begründen. Von den 114 Bistümern und 16 Erzdiözesen Frankreichs wurden um 1760 fast ein Viertel von lediglich 13 Adelsfamilien kontrolliert! Bekanntestes Beispiel sind die Rohans, die das Erzbistum Straßburg seit mehreren Generationen in Besitz hatten, das sie jeweils vom Onkel auf den Neffen vererbten. Andere Familien wie die Castellane besetzten sogar vier Bistümer mit Familienmitgliedern, während die La Rochefoucauld und die Cortois über drei, die Bernis, Brienne, Champion de Cicé, Conzié oder Barral, um nur diese zu nennen, über jeweils zwei disponierten. Damit nicht genug, achteten diese Familien selbstverständlich auch darauf, dass die «ihren» Diözesen zugehörigen Abteien und Pfründen jeweils von Familienmitgliedern kontrolliert wurden, mit der Folge, dass sich die lukrativsten Positionen in der Kirchenhierarchie im exklusiven Besitz des Adels befanden.

Leitende Positionen in der Kirche, aber auch in Militär und Verwaltung, als Familieneigentum zu betrachten und frei werdende Positionen mit Angehörigen zu besetzen, war in Zeiten, in denen diese Stellungen dem Hochadel reserviert waren, gang und gäbe. Deshalb beanspruchte der Adel diese Ämter als selbstverständliches Recht mit der Folge, dass Leitungsfunktionen in Staat und Kirche als vererbbarer Privatbesitz angesehen wurden. Dieses Verständnis erwies sich als besonders zählebig, weil der Adel aus vielfach versippten Familienverbänden bestand, die als Dynastien miteinander in einem ständigen Konkurrenzkampf um gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Einfluss rangen. Einmal eroberte Positionen galt es also im Besitz der jeweiligen Dynastie zu halten. Deshalb war es nötig, beizeiten Kandidaten zur Hand zu haben, deren Zugehörigkeit zur Sippe entscheidender war als ihre fachliche Eignung.

Insofern war es naheliegend, dass das Auge des 1736 geborenen Onkels Alexandre-Angélique de Talleyrand-Périgord, der 1777 Erzbischof von Reims wurde, auf den Neffen Charles-Maurice de Talleyrand fiel. Innerhalb der engeren Verwandtschaft war er der Einzige männlichen Geschlechts, der 1769 das richtige Alter hatte, eine kirchliche Karriere zu beginnen. Die Brüder von Charles-Maurice, Archambaud, 1762 geboren und Boson, 1764 auf die Welt gekommen, waren dafür zu jung. Das dynastische Interesse des Onkels, der im Neffen einen potentiellen Nachfolger sah, bot den Eltern überdies die Gewähr, dass er alles tun würde, dessen kirchliche Karriere zu beschleunigen. Ohne diese Protektion und wiederholte Intervention wäre Talleyrand gewiss nicht so schnell in der Kirchenhierarchie aufgestiegen. Dafür, dass er wider seinen Willen zum Dienst in der Kirche gezwungen worden sei, so Talleyrand, hatte also vor allem das dynastische Interesse des Onkels den Anstoß gegeben.[38]

Entgegen seiner späteren Behauptungen scheint sich Talleyrand mit dieser Bestimmung jedoch sehr früh abgefunden zu haben, denn im Unterschied zu Zeitgenossen wie etwa Fouché oder Chateaubriand, die sich beide weigerten, Priester zu werden, unternahm er nicht einmal einen solchen Versuch. Stattdessen habe er, so deutet er in den Memoiren im Rückblick auf den einjährigen Aufenthalt in Reims an, das über ihn verhängte Los resigniert angenommen: «Die andauernde Bedrängnis, der ich mich ausgesetzt sah, förderte nicht meinen Entschluss, sondern verwirrte mich. Die Jugend ist die Lebenszeit, in der man am aufrichtigsten ist. Ich begriff noch nicht, was es zu bedeuten hat, einen Beruf in der Absicht zu ergreifen, einen ganz anderen auszuüben, ständig Selbstlosigkeit zu beteuern, um desto sicherer dem eigenen Ehrgeiz die Zügel schießen lassen zu können; warum man etwa das Priesterseminar absolvieren musste, um eines Tages Finanzminister zu werden. Ich hätte die Welt, in die ich mich anschickte, einzutreten, ebenso wie die Zeit, in der ich lebte, über alle Maßen gut kennen müssen, um das ganz selbstverständlich zu finden.»[39]

Nach der Rückkehr von Reims 1770 bezog Talleyrand das Priesterseminar Saint-Sulpice in Paris, das als Kaderschmiede französischer Bischöfe galt. Die ersten drei Jahre habe er sich, wie er in den Memoiren schreibt, ins Schweigen verkrochen und hinter Lektüren «der revolutionärsten Bücher, derer ich nur habhaft werden konnte» verschanzt. Die fünfjährige Seminaristenzeit bilanzierte er später: «Ich lebte in stummer Auflehnung gegen die Gesellschaft, denn ich war seit m einer Kindheit mit einer Krankheit geschlagen, die mich dazu verdammte, in ihr nicht den Platz einzunehmen, der mir selbstverständlich zustand.»[40] Dennoch stürzte er sich mit Eifer auf das Pensum der theologischen Studien und verteidigte am 22. September 1774 in der Sorbonne erfolgreich die These, mit der er das theologische Baccalaureat erlangte.

Dass er Dispens erhalten hatte und schon mit 20, statt wie üblich erst mit 22 Jahren, diese Prüfung ablegen konnte, zeigt, wie sehr der Onkel Coadjutor sein zügiges Fortkommen beeinflusste. Vermutlich begann Talleyrand im Umgang mit den Lehrern in Saint-Sulpice – zu manchen von ihnen hielt er in späteren Jahren ebenso wie zu einigen anderen Seminaristen Verbindungen aufrecht – zu dämmern, was er in den Memoiren bestritt: Die Jahre in Saint-Sulpice wurden von ihm als Voraussetzung für künftige Erfolge akzeptiert. Diese Einsicht versüßten ihm gewiss zwei Frauenbekanntschaften, die das spartanische Leben im Priesterseminar erträglicher machten. Eine dieser Eskapaden, eine Herzensfreundschaft, verband ihn zwei Jahre mit einer jungen Schauspielerin namens Suzy. Jahre später bekannte Talleyrand, dass das Priesterseminar von Saint-Sulpice die entscheidende Schule des Lebens gewesen sei. Der Baron Vitrolles zitiert ihn mit der Maxime, dass sich das Wesen eines Menschen in seiner Auseinandersetzung mit der Jurisprudenz, vor allem aber mit der Theologie ausbilde.[41] In einer Passage, die er bei Veröffentlichung seiner Memoiren aus einsichtigen Gründen unterdrückte, kam der Comte Beugnot sogar zu dem Schluss, dass Talleyrand der Erziehung in Saint-Sulpice seine außergewöhnliche Selbstbeherrschung verdanke. «Es war dort, dass M. de Talleyrand jenen letzten Schliff erhielt, der ihn instand setzte, der Welt diesen unerschrockenen Charakter zu zeigen, an dem Wohltaten wie Verletzungen mit der nämlichen Leichtigkeit abglitten, der sich darauf verstand, ohne jede Gemütsregung zu gewinnen oder zu verlieren und der, in sich zurückgezogen wie in einen unbezwingbaren Panzer, mit anderen Menschen sein Spiel trieb, als wären es Maschinen, sie mit unveränderlicher Gleichgültigkeit erhob oder stürzte, sie mit Aufmerksamkeiten überschüttete oder opferte. Im Verlauf seines so überaus bewegten Lebens, […] behauptete stets der Priester die Oberhand.»[42]

Dem widerspricht nicht, dass Talleyrand gelegentlich seiner Weihe zum Subdiakon, die Anfang April 1775 in Paris erfolgte, von heftigen Skrupeln geplagt wurde,[43] denn dieser feierliche Akt bedeutete nicht nur das Ende der Seminarzeit, sondern auch seine nicht mehr aufhebbare Verpflichtung für den Kirchendienst.

Das Subdiakonat war die erste Sprosse auf der Karriereleiter, die weiter zügig zu erklimmen Talleyrand sich auf die Protektion des Onkels verlassen konnte: Am 24. September 1775 übertrug Louis XVI dem Einundzwanzigjährigen abbé die Pfründe der Augustiner-Abtei von Saint-Denis de Reims, die ihm ein jährliches Einkommen von 18.000 livres abwarf, was ihm, wie er schrieb, «das stolze Vergnügen verschaffte, von nun an meine Existenz selbst bestreiten zu können».[44] Sicherlich genauso wichtig waren die Erfahrungen, die er zuvor bei der alle fünf Jahre stattfindenden Vollversammlung des französischen Klerus machte, der im Anschluss an den sacre Louis XVI in Reims zusammentrat. Dank der Intervention des Onkels nahm Talleyrand als einer der beiden Delegierten des Klerus der Erzdiözese von Reims an dieser Konferenz teil. Deren wichtigste Aufgabe war es, den don gratuit, also die freiwillige Zubuße zu beschließen, die der von Steuern und Abgaben befreite Klerus zum notorisch defizitären Staatshaushalt beisteuerte. Das war eine unvergessliche Lehre, denn Geldfragen rühren nicht nur an die Gemütlichkeit, sondern auch an die Religion, weshalb Talleyrand alle Muße hatte, die großen Interessendivergenzen innerhalb des hohen Klerus, die mit allerlei Floskeln notdürftig verschleiert wurden, zu studieren.[45]

Wie wichtig die Lehre aus dieser Konferenz für ihn auch in anderer Hinsicht war, deutet Talleyrand, der unmittelbar danach für zwei Jahre die Sorbonne bezog, um seine theologischen Studien fortzusetzen, in den Memoiren an: «Der Ehrgeiz ergriff mich jetzt gelegentlich, und die Erinnerung an den Kardinal Richelieu, wachgehalten durch dessen schönes Grabmal in der Kirche der Sorbonne, war mir in dieser Hinsicht keineswegs abträglich. […] Jetzt wollte ich alles erreichen, von dem ich überzeugt war, es gut machen zu können. Die fünf melancholischen Jahre, die mir schweigend und in Lektüren vertieft im Seminar so endlos lang und traurig erschienen waren, dünkten mich mit einem Mal keine verlorene Zeit mehr gewesen zu sein. Eine schwere Jugend hat auch ihre Vorteile. Es ist durchaus gut, von den Wassern des Styx benetzt worden zu sein, und ich beglückwünschte mich aus vielen Gründen, für die ich immer dankbar sein werde, für diese Zeit der Prüfungen.»[46] Jetzt hatte Talleyrand begriffen, wogegen er sich bislang gesperrt hatte: Das Priestertum war lediglich der erfolgversprechende Anfang einer Karriere, nicht eine Berufung.

Dank der Einkünfte aus der Abtei Saint-Denis de Reims konnte Talleyrand in Paris einen Lebensstil entfalten, dessen luxuriösen Zuschnitt er lebenslang nicht mehr missen mochte. In der Rue Bellechasse, einer Straße auf dem linken Seineufer im vom Hochadel bevorzugten Faubourg Saint-Germain, mietete er sich ein kleines, zweistöckiges Haus, das er aufwendig möblierte und in dem er eine exquisite Bibliothek einrichtete. Hier versammelte er einen großen Bekannten- und Freundeskreis um sich, dessen Mitglieder, wie er schrieb, «durch das Leben, das sie geführt oder die Werke, die sie geschaffen hatten, durch Ehrgeiz oder durch ihre Zukunftsaussichten, die ihnen dank ihrer Geburt, ihrer verwandtschaftlichen Verbindungen oder ihrer Talente winkten, ausgezeichnet waren».[47] Der Kreis, den er um sich scharte, war Teil des weitverzweigten Salonlebens, dessen Zentren häufig schöne und geistreiche Frauen bildeten. In diesem glanzvollen und facettenreichen Treiben entfaltete sich vor der Revolution das gesellschaftliche Leben der Pariser Oberschichten. Darauf spielt das häufig zitierte Wort Talleyrands an, das der Historiker François Guizot überliefert hat: «Wer nicht in den Jahren unmittelbar vor 1789 [i.e. dem Ausbruch der Revolution] gelebt hat, der weiß nicht, welche Bewandtnis es mit dem plaisir de vivre hat.»[48]