JOCHEN SCHMIDT
ZUCKERSAND
Roman
C.H.Beck
Karl, zwei Jahre alt, entdeckt die Welt und sein Vater möchte ihm dabei nicht im Wege stehen. Karls Expeditionen in die Gegenstandswelt von Wohnung und Straße, Spielplatz und Geschäften, die sein Vater liebevoll begleitet, lösen zahlreiche Erinnerungen und Betrachtungen über dessen eigene Kindheit und deren Gegenstandswelt aus. Der Vater will nicht nur Karls Kindheitsglück, sondern auch die Dinge seiner eigenen Kindheit retten und bewahren. Dies ist nicht der einzige Konflikt in seiner innigen Beziehung zu Karls Mutter Klara, die in der Denkmalschutzbehörde arbeitet, und aus dem Büro per SMS Anweisungen zu Karls Erziehung schickt. Und die Aussicht, endlich eine gemeinsame Wohnung zu beziehen, gefährdet zugleich die «Wunderkammer» voller bedeutungsvoller Gebrauchsgegenstände, die der Ich-Erzähler zu Hause hütet …
Eine solche Wunderkammer der Beobachtungen und Reflexionen, tückischer und lustiger Begegnungen ist auch Jochen Schmidts neuer, ebenso komischer wie zutiefst berührender Roman über Karl und seine Eltern.
Jochen Schmidt ist 1970 in Berlin geboren und lebt dort. Er hat bei C.H.Beck die Erzählbände «Triumphgemüse» (2000), «Meine wichtigsten Körperfunktionen» (2007) und «Der Wächter von Pankow» (2015) sowie die Romane «Müller haut uns raus» (2002) und «Schneckenmühle» (2013) und, gemeinsam mit Line Hoven, «Schmythologie» (2013) veröffentlicht.
1. KAPITEL
2. KAPITEL
3. KAPITEL
4. KAPITEL
5. KAPITEL
6. KAPITEL
7. KAPITEL
8. KAPITEL
9. KAPITEL
10. KAPITEL
11. KAPITEL
12. KAPITEL
13. KAPITEL
14. KAPITEL
Für Hannah
«Unsere Enkel werden wiederentdecken, daß das wahre Geheimnis des Glücks in einem echten Interesse an allen Einzelheiten des täglichen Lebens besteht.»
(William Morris)
Klara schrieb mir aus dem Büro, daß ich nicht vergessen sollte, Karl die Zähne zu putzen, wir würden es sonst irgendwann bereuen, und ich antwortete ihr, daß er seit einer halben Stunde «An-Aus» spielte, nachdem er minutenlang versucht hatte, mit einem Glasöffner ein Glas Obstmus aufzuschrauben, während ich ihn überzeugen wollte, sich von mir anziehen zu lassen, und daß wir sie ja nach der Arbeit von der Bahn abholen könnten. Ich steckte das Handy wieder in die Tasche, Karl hatte es nicht gesehen, weil er sich einen Stuhl an die Spüle geschoben hatte und ganz darin versunken war, den Wasserhahn zu öffnen und zu schließen und sich immer wieder die Hände einzuseifen. Ich überlegte, wann ein guter Moment wäre, ihn mit der Zahnbürste zu behelligen, deren Griff die Gestalt eines grinsenden Bibers hatte und die mit einem Saugnapf an glatten Oberflächen haftete wie ein mit Spucke befeuchteter Gummipfeil. Klara hatte schon Karls ersten Zahn sorgfältig wie eine Kühlerfigur mit einem Mundpflege-Fingerling poliert, was immer langes Zureden bedeutete, weil er den Mund nicht öffnen wollte (ich konnte, wenn sie es endlich geschafft hatte, natürlich nicht anders, als «Der Mund ist aufgegangen!» zu singen).
Der Zahn hatte eines Nachts das Zahnfleisch durchstoßen wie eine Spargelspitze den Boden. Klara war wehmütig über diese große Veränderung gewesen, und ich war neidisch darauf, daß man den Zahn von allen Seiten betasten konnte, so ein einzelner Zahn hätte mich zu stundenlangen Erkundungen verlockt. Wenn ich einen Milchzahn, nachdem ich seine charakteristische Oberfläche jahrelang mit der neugierigen Zunge abgefahren war und mit den Fingern befühlt hatte, zum erstenmal in der Hand hielt und mit meiner Zungenerinnerung verglich, war ich immer enttäuscht, ich hatte ihn mir viel größer vorgestellt, die Augen sahen nicht das, was ich von ihm wußte. Als Schüler hatte ich auf Kindergeburtstagen die Gelegenheit genutzt, mir von meinen Mitschülern Zähne zu klauen, die jeder in irgendwelchen Döschen und Schachteln aufhob, um mir zu Hause mit Knete ein Klassengebiß daraus zu basteln. Es war ein Objekt in meiner Wunderkammer, von dem ich Klara noch nichts erzählt hatte, mir war ja bewußt, wie schnell sie sich ekelte.
Ich wagte nicht, Karl anzusprechen, weil er sicher unwillig reagiert hätte, denn er würde natürlich ahnen, daß ich ihn von der Seifenflasche und vom Wasserhahn weglocken wollte, und ich konnte ihn gut verstehen. Ich erinnere mich, eine Zeitlang in Restaurants und auf öffentlichen Toiletten Seifenspender fotografiert zu haben, weil es mich fasziniert hatte, was für unterschiedliche Mechanismen für das Portionieren der Seife in Umlauf waren. Warum wurde den Menschen beim Händewaschen so viel Flexibilität abverlangt? Es würde ja niemand ein Restaurant oder ein Bahnhofsklo in Zukunft meiden, weil ihn der Seifenspender nicht zufriedengestellt hatte. Es gab sogar manchmal noch Seifenspender in Gestalt einer schweren Porzellankugel, die man wie einen Globus einmal um die Achse drehen mußte, damit die Seife heraustropfte, ich machte das nur, um zu prüfen, ob sie noch jemand nachfüllte, vielleicht ein älterer Mann, dessen Schützlinge immer seltener wurden und der für seine Aufgabe keinen geeigneten Nachfolger mehr fand. Ich freue mich immer über Modelle, bei denen der Kontakt über einen Sensor hergestellt und schwereloser Schaum in die geöffnete Hand gespritzt wird, obwohl es mich kränkt, wenn Sensoren ausgerechnet auf mich nicht reagieren. Es ist keine Schlagsahne, aber es fühlt sich genauso luftig und luxuriös an.
Daß Schaum aus kleinen Blasen besteht, habe ich eines Tages beim Baden mit einer Lupe nachgeprüft, es war so überraschend wie die Tatsache, daß Sand nichts anderes ist als unzählige für uns sehr winzige Steine oder daß man, wenn man nicht vorsichtig auftritt, durch die dünne Erdkruste bricht, auf der wir uns bewegen, und in heiße Flüssigkeit eintaucht, die unseren Planeten füllt wie die süße Masse einen nimm2-Bonbon. Solches Wissen brachte einem bei Gleichaltrigen nur Unglauben und Ablehnung ein. Ich mußte Karl diese Dinge natürlich selbst herausfinden lassen, denn was wir gezeigt bekommen, können wir nicht mehr selbst entdecken (eines Tages wird er von ganz allein eine heiße Scheibe Toastbrot durch die Küche zum Tisch transportieren, indem er sie immer wieder hochwirft).
Mein Vater wusch sich, wenn er von der Arbeit im Archiv nach Hause kam, immer als erstes gründlich die Hände, und im Waschbecken sammelte sich eine trübe Erwachsenenlauge und verschwand gurgelnd durch dieses Tor zur Außenwelt, das ich als Kind, wenn ich die Wohnung einmal für mich hatte, vorsichtshalber mit einem Stöpsel verschloß, auf den ich zur Sicherheit auch noch den kleinen, hellblauen Amboß oder einen mit Wasser gefüllten Topf stellte. Mit welcher Gewalt die Mächte da draußen an uns zerrten, merkte man ja, wenn man den Badewannenausguß mit dem Po verstöpselte.
Als ich sah, wie Karl die Seife aus dem Spender in seine linke Hand tropfen ließ, fiel mir ein, daß wir früher immer ein Metallstück in Form eines Flaschendeckels in das frische Seifenstück gedrückt hatten, so daß es an einem Magnethalter festgeklickt werden konnte. («Physik im Dienst der Hygiene: Immer trockene Seife!») Ich habe manchmal versucht, die Seife auf eine so vorsichtige Art ihrem praktischen Parkplatz zu nähern, daß sie, gleich stark angezogen von der Schwerkraft der Erde und vom Magnetfeld des Seifenhalters, über der Handfläche in der Schwebe blieb, aber der genaue Punkt war nicht zu treffen, die Schwerkraft gab jedesmal schlagartig nach, und die Seife klatschte ans Metall. Während ich dieses Experiment durchführte, donnerte das Wasser durch den Hahn in die Badewanne, der, ein genialer Einfall der Konstrukteure, besonders lang war und sich zwischen Waschbecken und Wanne hin- und herschwenken ließ. Der Druck des Wasserstrahls riß ihn nach oben wie der Zügel den Pferdehals.
Wenn Karl sich einen Stuhl an die Spüle schiebt, um mit dem Wasser zu spielen, darf er nicht gestört werden. (Klara erkennt darin seine Sehnsucht nach der Zeit in der Fruchtblase.) Damit er nicht fällt, setze ich mich hinter ihm auf die Stuhlkante und warte, ob ihm irgendwann die Lust vergeht. Wenn man ihm die Hände wäscht und ihn nicht selbst die Seife aus dem Spender drücken läßt, protestiert er panisch, weil er sich um ein Vergnügen betrogen fühlt. Die Hubkolbenpumpe ist aber auch zu verlockend, so etwas kannte ich als Kind noch gar nicht, es gab weder private noch öffentliche Flüssigseife, man raspelte durch Drehen an einem Bakelitring von einem Quader Seifenstaub wie Parmesankäse (den ich ebenfalls nicht kannte).
Am ehesten könnte ich Karls Pumpvergnügen mit unserem Wasserzerstäuber für Zimmerpflanzen vergleichen («Ihre Blümchen haben Durst? Ein Fall für den sparsamen Wasserzerstäuber.»), der immerhin einen Hebel hatte und den ich im Sommer mit Granulatteegetränk füllte, um es mir beim Fernsehen als süße Wolke in den Mund zu spritzen. Exquisit und altmodisch wirkte dagegen das Parfümflakon mit roter Gummiblase in einer aus goldenen Fäden gehäkelten Hülle, das Prinzip ist mir wiederbegegnet, als ich mir ein Set zum Ohrenreinigen gekauft habe, denn durch die Schaumgummistöpsel, die ich benutze, verstopfen meine Ohren alle ein bis zwei Jahre, es nützt dann nichts, wie nach dem Schwimmen auf einem Bein zu hüpfen, um sie wieder freizubekommen, man bleibt tagelang auf einer Seite schwerhörig, es wäre weniger irritierend, wenn beide Seiten betroffen wären. Zur Behandlung lege ich mich seitlich aufs Bett, träufle mir mit einer Pipette die ohrenschmalzlösende Flüssigkeit in den Hörkanal und warte die vorgeschriebene Zeit ab, damit die Chemie wirken kann. Eines der modernen Tabus, wie Teflon mit Metall zu berühren, bei der Geschirrabgabe in der Kantine sein Besteck auf dem Teller liegenzulassen, die grüne Stelle der Tomate mitzuessen, ein Gerät aufzuschrauben, auf das es noch Garantie gibt, oder bunte Flaschen in den Container für Weißglas zu werfen, ist ja, sich die Ohren mit einer Q-tip-Wattehantel zu reinigen, auch wenn man das zur Sicherheit im Sitzen tut und sie, wie der Zuckerwattemann seinen Stab in die Zentrifuge hält und darauf wartet, daß ein Zuckerwattekokon daran wächst, ohne Berührung mit der Hörkanalwand im Hörkanal dreht, um vielleicht einen Schmutzkrümel zu binden, der Arzt würde auch das bemerken und monieren. Das letzte Mal habe ich meinen Ohrenschmalzklumpen nach der Reinigung nicht gezeigt bekommen, so lange hatte er mich behindert, und dann war er einfach weggeworfen worden, ohne daß ich erfuhr, wie er ausgesehen hatte! Ich beneide den Arzt darum, daß er mir ins Ohr gucken kann, während ich auf Phantasie und Tastsinn angewiesen bin, wenn ich mir ein Bild von dieser relativ gut beleumundeten Körperöffnung machen will (in der man trotzdem nicht öffentlich bohren darf, auch wenn das Verbot nicht ganz so streng ist wie bei der Nase).
Ich finde, Karl sollte noch die Technik erlernen (und das Vergnügen erleben), ein nasses Seifenstück in den Händen kreisen zu lassen und anschließend mit gefalteten Händen durch vorsichtiges Öffnen der Ballen eine bunt schillernde Seifenblasenmembran zu erzeugen. Beim gemeinsamen Händewaschen in unserem Kindergarten hoffte immer jeder, das Stück Lux-Seife zu ergattern, das dort nur an einem der Waschbecken lag. (Der Schriftzug war womöglich mit Laserstrahl in die Oberfläche eingraviert!) Wir sollten uns die Ohren waschen, die «Tante» machte Stichproben, indem sie einem der Kinder ins Ohr leuchtete, «da wachsen ja schon Pilze!» sagte und den nassen Waschlappen hineinbohrte. Beim Mittagsschlaf durften ihr manchmal zwei Auserwählte, die den Tag über besonders brav gewesen waren, die von der Sonne verbrannte Haut abpulen.
Bis ich Karl angezogen hatte (sein oberster Jackenknopf war vor Wochen abgefallen, und Klara hatte mir den Trick gezeigt, die Jacke versetzt zuzuknöpfen, so daß sie wenigstens am Hals schloß), war ich schon wieder müde und hätte mich hinlegen wollen, umso lebhafter wirkte er, als würde meine Energie direkt aus mir abgeleitet und in ihn hineinströmen. Wir würden auf unserem Spaziergang Klara entgegengehen, bis zur Bahn war es nicht weit. Meistens zog Karl den bequemen Kinderwagen schon nach wenigen Metern seinem eigenen Fahrzeug vor, und ich mußte es für den Rest des Weges schleppen, deshalb hoffte ich, daß er heute keines davon mitnehmen würde, das Bobby Car, auf das er sich gerne setzt, um sich von mir am Bademantelgürtel durch die Wohnung ziehen zu lassen (die sich dadurch in eine Motorsportstrecke verwandelt, mit Teppichkanten, Schwellen, Sackgassen, einer Haarnadelkurve um den Ficus, dessen Blätter für ihn giftig sein sollen), das Lauf-Dreirad und das Laufrad aus Holz, auf dessen Lenker ich einmal, in der Hoffnung, daß er den Moment nie vergessen würde, vor seinen Augen einen Krümelmonsteraufkleber plaziert habe.
In einem bestimmten Alter sagt man sich vom Dreirad los, es ist einem peinlich, jemals auf so etwas gefahren zu sein, so wie die Babyflasche, die Schwimmflügel oder das Lätzchen einem im nachhinein peinlich sind (als Erwachsener schämt man sich sogar, dabei erwischt zu werden, wie man ein Bild mit Filzstiften ausmalt). Man setzt sich lieber auf dem Zweirad dem Risiko zu stürzen aus, um später noch stolzer zu vier Rädern überzugehen. Karls Dreirad ist schon zu klein für ihn, es ist für mich mit Wehmut verbunden, es unbenutzt herumstehen zu sehen, und es wäre ein Exponat für unser Karl-Museum, wie die Sammlung seiner abgelegten Nuckel, das Stück von seiner Nabelschnur, das Gläschen mit schwarz-grünem Mekonium, das ich im Krankenhaus abgefüllt habe, und das erste sechsteilige Puzzle, das er alleine geschafft hat und für das ich einen Rahmen habe anfertigen lassen, um es an die Wand zu hängen (es zeigt Ernie und Bert beim Lesen im Bett).
Wenn er angezogen ist – bei der Strumpfhose darf nicht geschummelt werden, die Fersen müssen das Fersensäckchen ausfüllen –, wenn die Tür abgeschlossen ist (er darf es zunächst selbst versuchen, bis er mir den Schlüssel überläßt) und wir uns den Treppenstufen nähern, halte ich ihm meine Hand hin und warte, daß seine Finger sich in meine schieben, was sie ganz von alleine tun (bis man einmal im Kaufhaus aus Versehen nach der Hand eines fremden Erwachsenen greift, weil man einen Spielzeugstand betrachtet hatte und die Eltern schon ein Stück weitergegangen waren). Ich möchte diese winzige, warme Hand dann nie wieder loslassen. Ich verstehe jetzt, warum meine Oma beim Spazieren immer meine «Patschehändchen» lobte, weil sie so schön warm seien. Das war vielleicht das erste Mal, daß ich so etwas wie Stolz auf eine körperliche Besonderheit an mir empfand (später kamen meine Abneigung, Schaumgummi zu berühren, und meine zerklüftete Zungenoberfläche dazu, mit der ich, wenn ich sie mit den Fingern auseinanderzog, zuverlässig Eindruck machte).
Auf dem Treppenabsatz in unserem Hausflur liegen immer Dinge, die die anderen Mieter bei sich aussortiert haben, eine Feldflasche, eine Terrine, auf der «Warme Würstchen» steht und deren Deckelgriff in Form einer Bockwurst gestaltet ist («So haben Sie Ihre Würstchen immer ‹im Griff›»), eine alte Lern-Kassette für Wirtschafts-Englisch, noch verpackte Hotelbadelatschen, eine Yogamatte, ein Warndreieck, ein unaufgeblasener Gymnastikball, eine Schachtel Hühneraugen-Druckschutzringe. Heute war auf dem Absatz ein Buch aufgetaucht, das ich selbst vor wenigstens zwei bis drei Jahren dort hingelegt hatte, eine Trabant-Fibel, nun war es wieder im Zyklus gelandet, und ich nahm es mit, weil ich beim Blättern feststellte, daß meine Mutter als Lehrling mit Bleistift ihren Mädchennamen reingeschrieben hatte, es war dieselbe Schrift, die ich von ihren Postkarten ins Ferienlager oder ihren Entschuldigungszetteln kannte, das mußte ich übersehen haben, wie hätte ich es sonst übers Herz gebracht, mich von diesem Buch zu trennen?
Der Trabant war ihr Leben gewesen, sie konnte daraus einen Traktor bauen, während neuere Autos sie nicht interessierten. Am liebsten hätte sie mich deshalb Otto genannt. Sie hat natürlich mit Bleistift ins Buch geschrieben, so, wie sie es mir später beigebracht hat, sie hat mir auch gezeigt, wie man aus Zeitungspapier für die Zeit der Lektüre einen Schutzumschlag faltet, man konnte so einen Umschlag für mehrere Bücher benutzen, und auch die Zeitung wurde immer interessanter, je weniger aktuell sie war.
Ich schreibe nur mit Bleistift in Bücher, obwohl ich noch nie etwas wegradiert habe. Ich mache mir aber Gedanken, wie meine Anstreichungen später von anderen interpretiert werden könnten, die ja nicht wissen, daß eine gewellte Linie bei mir nicht Zustimmung für einen Satz, sondern Zweifel oder sogar Mißfallen bedeutet. Manchmal lese ich ein Buch ein zweites Mal und wundere mich über meine alten Anstreichungen, die mir etwas über ein fernes, abgelegtes Ich erzählen. Neue Anstreichungen mache ich dann mit einer anderen Bleistiftstärke, um die Vergangenheit nicht zu verfälschen.
Der Postbote war gerade dabei, so schnell wie möglich die Briefe in die Briefkastenschlitze zu stecken, er ist sehr gut darin, vielleicht bemüht er sich sogar, es jeden Tag noch ein bißchen schneller zu schaffen. Er muß gar nicht suchen, um den richtigen Briefkasten zu finden, das hat er verinnerlicht, wie Klavierspieler die Tasten. Aus Zerstreutheit habe ich ihn mit «Guten Morgen» gegrüßt, weil mich Menschen, deren Arbeit ich ungern gegen meine tauschen würde, immer verunsichern, und ich habe überlegt, ob er sich von meiner entspannten Auslegung des Begriffs «Morgen» provoziert fühlen müßte. Am größten sind meine Skrupel bei der Putzfrau im Fitneßcenter, die den ganzen Tag die Geräte vom Schweiß reinigen muß und damit nie fertig sein wird, ihr kann ich nicht in die Augen sehen.
Ich erwarte keine Post, es wundert mich immer, daß trotzdem manchmal ein Brief kommt, von einem Möbelhaus, das viel Geduld mit einem Kunden hat, der noch nie dort gewesen ist, oder von einer Videothek, die mich einlädt, doch mal wiederzukommen. Wenn sich genug Bösewichte verabreden würden, möglichst viele Briefe aus einer Stadt im südlichen Bayern an die Ostseeküste zu schicken, würde das die Post irgendwann ruinieren, denn das System basiert sicher darauf, daß die meisten Briefe kürzere Entfernungen zurücklegen, es kann ja nicht dasselbe kosten, einen Brief innerhalb einer Stadt zu befördern oder über viele hundert Kilometer hinweg. Aber ich möchte gar nicht, daß es der Post schlechtgeht, ich wünsche jedem Lebewesen auf der Welt, und auch der Post, nur das Beste, und ich mache immer besonders große Schritte, wenn ich über eine feuchte Fläche gehen muß, die gerade von jemandem gewischt wird, ich klopfe nie bei Taxifahrern an die Scheibe, wenn sie gerade Zeitung lesen, um sie nicht zu stören, ich gehe nie durchs Bild, wenn sich jemand fotografieren läßt, und ich kaufe im Werkzeuggeschäft, wenn ich eine Schraube oder eine Öse brauche, immer gleich fünf davon, damit der Verkäufer nicht enttäuscht ist.
Karl betrachtete jetzt fasziniert den Postboten, aber nicht so fasziniert wie die Müllmänner, die polternd die bunten Plastiktonnen aus den Hauseingängen rollen, die also etwas wegnehmen, statt etwas zu bringen, und bei jedem Schritt mit dem riesigen Schlüsselbund am Gürtel klimpern, wie Karl mit den Glöckchen, die Klara anfangs an seinen Handgelenken festgebunden hatte, um ihm zu helfen, seine Hände zu koordinieren. Gleichzeitig beide Handschuhinnenflächen auf die halbkugelförmigen Wölbungen der Deckel zu pressen und zwei runde Aschetonnen kreiselnd vorwärts zu bewegen, das können die Müllmänner sicher nicht mehr, es ist aber auch nicht nötig, denn die Tonnen sind jetzt viereckig und haben Rollen, wie manche Möbelstücke (der Müllmann schafft es, eine Papiertonne zu schieben und eine zweite zu ziehen, aber sein jüngerer Kollege stapelt sogar noch eine dritte Tonne darauf).
Karl findet eigentlich alles interessant, was wir wegwerfen, um Oscar, dem Griesgram in seiner Mülltonne, eine Freude zu machen. Er kennt aber nur seine Stimme, von einer CD, weil er noch nicht fernsehen darf, noch schleusen wir ihn geschickt an allen Bildschirmen vorbei. In seinem Alter hatte ich die Sesamstraßenwesen schon «lebendig» gesehen, aber ich hatte nicht gewußt, daß sie bunt waren, weil wir anfangs nur einen Schwarzweißfernseher hatten, obwohl ich mir einbildete, die Farben trotzdem zu erkennen. Bei «Wetten Dass…?» war dieses Talent einmal Gegenstand einer Wette gewesen, aber der Kandidat war vor Aufregung gescheitert, vielleicht, weil er die Farben von Badeanzügen erraten sollte, die von lächelnden Mannequins präsentiert wurden.
Karl hatte heute sein neues Hemd mit breiten, chromatisch abgestuften Streifen an, die mich angenehm an die Farbbalken vom Testbild erinnern. Als Kind fand ich das Testbild hypnotisierend, obwohl ich nicht wußte, welche Testergebnisse es lieferte. Nachdem ich unser Fernsehbild mit seiner Hilfe scharfgestellt hatte (was ich als meinen Beitrag zur Hausarbeit betrachtete), habe ich es vormittags lange studiert, die Gitterlinien, den schön gezirkelten Kreis, ich stellte mir vor, daß es sich auf einer Papptafel befand, die im Fernsehstudio abgefilmt wurde, und wünschte mir, daß einmal eine Fliege drüberkrabbeln würde. Ich starrte auf die unbarmherzig weiterzählende Digitaluhr und übte mich darin, mit geschlossenen Augen bis 60 zu zählen und die Augen genau nach einer Minute wieder zu öffnen, alles, um die Zeit bis zum Sendebeginn zu überbrücken, aus Sehnsucht nach Fernsehbildern.
Es gab auch weniger technische Pausenfüller, die Robbe, die auf dem Beckenrand lehnte und mit pulsierenden Bauchbewegungen Wasser herauspumpte, wie lange würde es dauern, bis sie das Becken auf diese Art geleert hätte? Das Testbild mit dem wissenschaftlichen Summton, ich muß nur daran denken, um mich sofort wieder an einem Vormittag in unserem kleinen Zimmer zu befinden, in dem man liegen durfte, wenn man krank war, mit etwas Fieber, nicht so viel, daß man nicht fernsehen konnte, aber doch hinreichend geschwächt, um das Recht zu genießen, seinen Tee aus der Schnabeltasse zu trinken.
Stündlich maß ich meine Temperatur, trug das Ergebnis in ein Diagramm auf Millimeterpapier ein und schüttelte das Thermometer runter, in dem sich immerhin Gift befand, eine Bewegung, die mit den Quecksilberthermometern aussterben wird. Nicht in die Schule zu gehen, wenn auch nur für einen Tag, fühlte sich seltsam unumkehrbar an, man sah auf der Uhr, daß die erste Stunde begonnen hatte, aber man merkte nichts davon, es war wie mit den Katastrophen in fernen Weltregionen, von denen keine Erschütterung bei uns zu spüren war. Ob sich die Klasse fragte, wo man blieb?
Noch seltsamer fühlte es sich an, wenn ich Schulfernsehen sah, gleichzeitig mit der Klasse, aber in viel bequemerer Position. Ich putzte den Bildschirm mit einem Glasreinigungsmittel, auf dessen Verpackung ein Fernsehbildschirm mit einem mißgelaunten Mann zu sehen war, den man durch das verdreckte Glas kaum erkannte, der Wischvorgang brachte auf einem zweiten Bild zutage, daß er in Wirklichkeit lächelte. Ich probierte das natürlich aus, aber es funktionierte nicht, der Mann war weder mißgelaunt noch lächelnd zu sehen, es war nur Reklame, wie meine Oma sagte, was für mich seltsam klang, weil ich es Werbung nannte (so, wie sie die Hausaufgaben Schularbeiten nannte, das Mittagessen Mittagbrot und Turnen statt Sport sagte).