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Klaus Kornwachs

PHILOSOPHIE DER TECHNIK

Eine Einführung

 

 

 

 

 

 

 

 

Verlag C.H.Beck

 


 

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Zum Buch

Das Staunen über die Technik ist von gemischten Gefühlen begleitet. Zuerst ist Technik neu, dann gewohnt, dann unsichtbar. Wir bemerken sie nicht mehr. Aber sie beeinflusst unser Leben. Technik wird immer universaler und stellt die Frage nach der Verantwortung neu.

Der Band gibt einen Überblick über die Grundströmungen der Technikphilosophie von der Antike über den zweifachen Aufbruch mit der Neuzeit und dem Beginn der Industrialisierung bis hin zur anthropologischen und kritischen Deutung der Technik von Arnold Gehlen, Günther Anders und Hans Jonas. Er hinterfragt das Selbstverständnis des modernen Ingenieurs und Technikers, den Prozess der Automatisierung und die Allverfügbarkeit technischer Lösungen.

Über den Autor

Klaus Kornwachs, geb. 1947, ist Physiker und Technikphilosoph. Er war Mitarbeiter am Fraunhofer-Institut für Produktionstechnik und Automatisierung, später am Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation. 1991 erhielt er den Forschungspreis Technische Kommunikation. Von 1992 bis 2011 hatte Kornwachs den Lehrstuhl für Technikphilosophie an der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus inne. Zur Zeit lehrt er an der Universität Ulm. Kornwachs ist Mitglied der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften (acatech).

Inhalt

Einleitung

1. Technik – fragwürdig und merkwürdig

2. Philosophisches Nachdenken über Technik als Disziplin der Philosophie

3. Was heißt zivilisierte und technisierte Welt?

4. Grundströmungen der Philosophie der Technik

5. Der Anfang der Technik

6. Bausteine aktueller Technikphilosophie

7. Technik ist mehr als angewandte Wissenschaft

8. Die Frage nach der Ethik

9. Chancen, Risiken und Ungewissheiten des 21. Jahrhunderts

Danksagung

Anmerkungen

Verwendete Literatur

Weiterführende Literatur

Personenregister

Einleitung

Dies ist eine Einführung in die Philosophie der Technik. Einführungen in normale akademische Lehrgebiete müssen gewissen Anforderungen entsprechen: Sie sollen über die Geschichte des Fachs, die Hauptprobleme, über die wesentlichen Ergebnisse – meist triumphal – berichten und einschlägige Institutionen und die gängige internationale und möglichst aktuelle Literatur benennen. In der Philosophie würde man sich dies von Einführungen ebenfalls wünschen, doch der Wunsch ist nicht erfüllbar. Philosophie stellt seit zwei Jahrtausenden Fragen und die Antwortversuche stellen ihre Geschichte dar. Eine Einführung kann zwar Chronologisches beinhalten, aber sie besteht in einer Darstellung der Denkweise und geht damit einen Weg, der immer vom Verfasser gewählt wird. Ob der Leser ihn mitgeht, hängt von seinen Vorlieben ab. Vielfach steht das Wort Einführung auch als untertreibende Bezeichnung für die Darstellung der eigenen Position des Verfassers. Das lässt sich nicht vermeiden. Aber wenn Philosophie Fragen und Gespräch bedeutet und die Dialoge mit gutem Grund bei Platon ohne Ergebnis, aporetisch enden, dann will der Verfasser auch bei einer Einführung in sein Gebiet im Gespräch bleiben und keine apodiktischen Sätze verkünden.

Zuvor eine kurze Bemerkung über den Sprachgebrauch. Wir sprechen spätestens seit Ernst Kapps Buch von 1877 von einer «Philosophie der Technik», die Denomination meines Lehrstuhls an der BTU Cottbus spricht hingegen von Technikphilosophie. Ist nun beides gleich oder ist dies nur eine spitzfindige Frage? Oder ist diese Frage schon philosophisch?

Zuweilen hat das Wort «Philosophie», gerade im technisch-unternehmerischen Umfeld, eine andere als die herkömmliche Bedeutung erhalten: Wendungen wie «Unternehmensphilosophie» oder «die Philosophie, die dieser oder dieser Konstruktion zugrunde liegt …» meinen eine Gesamtheit von Prinzipien, die als Leitvorstellungen dienen mögen und durch diese Wortwahl über die Ebene reiner Sachargumente gehoben werden sollen. Dies ist ein anderer Begriff von Philosophie als der Begriff, den die Philosophie sowohl als akademische und später universitäre Disziplin einerseits wie auch als «Sorge um sich selbst»[1] in ständigem Ringen um das eigene Selbstverständnis im Laufe zweier Jahrtausende, oft konkurrierend mit der Theologie, entwickelt hat. Somit müssten wir die beiden Begriffe wohl unterscheiden:

Technikphilosophie wäre dann eine Bildung analog zu «Unternehmensphilosophie» oder «Philosophie einer Bürgerbewegung». Das Wort «Philosophie» würde dabei nur als eine Bezeichnung für eine Klasse von Leitsätzen verwendet, die man in einer konkreten Situation anwenden kann. Wenn man Philosophie so versteht, dann müsste sie auch Begründungen dafür liefern können, weshalb einer bestimmten Technik gegenüber einer anderen der Vorzug gegeben werden sollte. Genau dieses Missverständnis von Philosophie der Technik, das Philosophie als ein Dienstleistungsangebot an Technikbetreiber oder -gegner auffasst und gierig nach Rechtfertigungen greift, wollen wir vermeiden.[2] «Technikphilosophie» wäre dann eine ganz bestimmte Einstellung zur Technik, die in einer konkreten Situation ein Handlungsbeteiligter hat: «Der hat eben die und die Technikphilosophie, deshalb argumentiert er so …»

Philosophie der Technik, wie sie im Titel dieses Buchs gemeint ist, bedeutet im historischen und lebenspraktischen, aber auch im systematischen Sinne den Versuch einer Antwort der Philosophie auf die historisch einmaligen und neuen Fragestellungen, vor die uns die Entwicklung der zeitgenössischen Technik stellt. Offenkundig können wir diese technik- und wissenschaftsimmanent nicht mehr beantworten. Eine solche Philosophie der Technik kann zwar Haltungen gegenüber der Technik klassifizieren, kritisieren, begründen und empfehlen, aber sie kann keine technisch-organisatorischen Probleme lösen. Sie ist weder deckungsgleich mit Technikfolgenabschätzung noch identisch mit Technikbewertungen oder -kritik. Die Philosophie der Technik hat auch nichts mit einer «Reparaturethik» oder mit der Lückenbüßerfunktion von unvermeidlichen Geisteswissenschaften zu tun.[3] Sie versucht, eine bestimmte Richtung des Fragens zu verstehen, warum Technik möglich ist und warum sie funktioniert, wie kontingent Technikentstehung ist und welche Faktoren dabei eine Rolle spielen. Sie untersucht darüber hinaus Motive und normative Strukturen technischen Handelns. Und sie versucht letztlich, den Zusammenhang zwischen Wissen und Können, Wissenschaft und Technik sowie zwischen Gelingen und Scheitern zu verstehen und theoretisch zu begründen. Dazu nähert sie sich auch einer Wissenschaftstheorie der Technikwissenschaften.

Eine Einführung in ein Teilgebiet der Philosophie stellt immer einen Kompromiss zwischen möglichst umfassender und aktueller Darstellung einerseits und andererseits einem Zugangsweg dar, der wesentliche Argumentationsstränge und auch ein Gefühl für Kontroversen vermitteln soll. Dabei darf durchaus auch die Position des Verfassers durchscheinen. Nach einem eher phänomenologischen, fragenden Einstieg wird daher zuerst nach den Möglichkeiten einer Teildisziplin wie der Philosophie der Technik gefragt und auf die Wichtigkeit des Verstehens von Technik für unsere Kultur und Lebenswelt verwiesen. Ein Kapitel ist dem historischen Überblick über die Entwicklungen und Grundströmungen des philosophischen Fragens nach der Technik gewidmet, um dann verschiedene Ebenen zu zeigen, auf denen man Technik deuten kann: metaphorisch und beschreibend (Technik als …), essentialistisch (Technik ist …), orientiert an Folgen (Technik hat …) und normativ (Technik muss …). So kann Technik verstanden werden als Mittel für eigenerzeugte Zwecke, aber auch als Gegenstand der Wissenschaft. Technik hat Wirkungen und Folgen, und Technik muss deshalb verantwortlich gestaltet werden. Dies ist die Chance und Aufgabe des 21. Jahrhunderts.

1. Technik – fragwürdig und merkwürdig

Philosophie beginnt und endet mit hartnäckigen Fragen

Meist stellt sich später heraus, dass man früher hätte fragen sollen. Während diese Zeilen geschrieben wurden, barsten nach einem Jahrtausendbeben und einem darauffolgenden Tsunami drei Meiler in der japanischen Nuklearanlage Fukushima – die neue Chiffre für unbeherrschbare Technik nach Tschernobyl. Die Fragen werden lauter: Fragen nach Verantwortung, Komplexität, Nachhaltigkeit, Folgen, nach Fortschritt, Segen und Verhängnis von Technik. Martin Heidegger meinte ganz lapidar, es sei gerade das Unheimliche an der Technik, dass sie funktioniere.[4] Wir erleben Technik meist unbewusst, sie ist oft unsichtbar, sie funktioniert fast selbstverständlich. Wir halten sie für eine Errungenschaft der Naturwissenschaft und der Zivilisation und beginnen unsere Fragen erst zu stellen, wenn sie eben nicht oder nicht mehr funktioniert. Dabei stellen wir fest, dass wir meist gar nicht wissen, wie und warum Technik funktioniert, wer sie in die Welt gestellt hat, wer damit etwas vorhat und wer damit welche Interessen verfolgt. Und wir stellen auch fest, dass Technik, so gut sie gemeint sein mag, zuweilen gar nicht funktioniert, weil das, was sie zum Funktionieren braucht, gar nicht gegeben ist. Dieses Etwas ist in unserem vorläufigen Verständnis nichts Technisches, sondern eher etwas Organisatorisches: Die Stromrechnung muss bezahlt sein, sonst laufen Kühlschrank und Waschmaschine nicht. Die Straßenverkehrsordnung muss erlassen, der Straßenbau organisiert, die Versorgung mit Öl sichergestellt sein. Reparatur- und Ersatzteilservice müssen klappen, sonst ist unser Auto nur ein hübscher Haufen aus Blech, Elektronik, Gummi und Glas, das nicht mehr von A nach B fahren kann.

Die Selbstverständlichkeit von Technik und ihre weitgehende Unsichtbarkeit macht sie bei Fachleuten und Benutzern gleichermaßen fraglos – warum soll man fragen, warum etwas funktioniert, wenn es funktioniert? Das könnte den Verdacht aufkommen lassen, dass philosophische Fragen nach der Technik erst dann auftauchen, wenn sie scheitert. Dann wäre das Problem der Technik lediglich das Problem, das wir mit schlechter Technik haben. Die Philosophie ist aber kein Reparaturbetrieb, sie versteht sich eher als präventive begriffliche Instandhaltung, um es technisch auszudrücken. Der Philosophie geht es, wenn sie nach der Technik fragt, um das Verstehen der Technik, um ihre Deutung und um die Bedingungen der Möglichkeit gelingender wie scheiternder Technik. Abgesehen vom Begriff der Technik selbst, der alles andere als eindeutig ist, liegt die Grundfrage nach der Technik auf der Hand. Es ist das Verhältnis von Theorie und Praxis, von Natur und den menschlichen Handlungsmöglichkeiten in ihr, und es ist die Frage, ob ein Verständnis des Menschen nicht erst durch die Möglichkeiten seines technischen Handelns denkbar wird.

Das Staunen über Technik wird von gemischten Gefühlen und merkwürdigen Empfindungen begleitet

Im Mittelalter hatten Roger Bacon (1214–1292) und später in der Renaissance Francis Bacon (1561–1626) erhebliche Mühe, ihren Zeitgenossen zu erklären, dass Maschinen, die aufgrund von Naturerkenntnissen gebaut wurden, nichts mit Magie zu tun hätten, sondern erst ein geduldiges Hören auf die Natur den Menschen dazu befähige, die Natur nach seinem Willen zu zwingen, d.h., ihm dienstbar zu sein.

Neue Geräte werden bestaunt. Früher drückte man sich die Nase am Schaufenster des Radiogeschäftes oder des Automobilverkäufers platt, heute genießt man das Product Placement oder die Promotion Show neuester Produkte. Die Gefühle sind dennoch zwiespältig: Der Faszination des Neuen folgt in der Regel die Gewöhnung, die so weit geht, dass wir das Technische gar nicht mehr als das Technische wahrnehmen. Aber es gibt auch die Faszination des Grauens und des Erschreckens: In den 1950er Jahren waren die meisten Menschen zugleich fasziniert und erschreckt von der Atombombe; sie waren begeistert von der friedlichen Nutzung der Atomkraft, doch dann nannte man sie alsbald einen sanften Mörder.[5] Einige von uns mögen sich zuerst gegen den Siegeszug des Computers quer durch den Betrieb, dann in den Haushalt gewehrt haben. Das Mobiltelefon wird als Segen und Fluch gesehen – jeder möchte eben kommunizieren und dennoch toben Glaubenskriege z.B. um den Elektrosmog. Dieser Zwiespalt betrifft nicht nur die Gesellschaft und ruft bei fast jeder Technik Proponenten und Opponenten auf den Plan, sondern er ist bei jedem Einzelnen, also auch in unserem eigenen Bewusstsein, zu finden. Eben dieser Zwiespalt ist in der Tat fragwürdig, also des Nachfragens würdig.

Doch welche Fragen stellen sich, wenn wir, je nach Situation, Kultur, Mentalität und vor allem je nach Technikbereichen, völlig unterschiedlich reagieren? Wir zeigen, je nachdem, einmal Angst, einmal Faszination, einmal Protest, einmal Gleichgültigkeit, einmal Ablehnung oder auch einmal Konsumwut. Es geht hier nicht um Meinungs- und Einstellungsforschung, es geht darum, dass uns Technik etwas ausmacht – etwas, das wir doch hervorgebracht haben, das wir erfunden haben, das wir gebaut und organisiert haben und womit manche seit geraumer Zeit nicht mehr ganz zurechtkommen.

Merkwürdige Gefühle und zwiespältige Haltungen zeigen meist an, dass sich ein Problem da verbirgt, wo wir es nicht zu sehen gewohnt sind oder nicht vermuten. Was soll an Technik problematisch sein? Entweder sie funktioniert, dann ist sie brauchbar, oder sie funktioniert nicht, dann ist sie nicht brauchbar – der Konsument oder Benutzer lässt dann eben die Finger davon und schickt die Hersteller nach Hause. Ganz einfach, oder doch nicht?

Zuerst ist Technik neu, dann gewohnt, dann unsichtbar

So einfach geht es leider nicht. Telefonieren war zuerst ein Privileg, dann wurde es ein Recht, und heute ist es im Zeitalter der immerwährenden Erreichbarkeit für viele eine Pflicht, wenn nicht gar Plage. Vieles sehen wir gar nicht mehr als Technik an, weil wir uns daran gewöhnt haben – zum Teil seit Jahrtausenden. Eine normale Milchkuh würde ohne Landwirtschaft, Stall und Bauer nicht überleben – wir haben sie, wie viele andere Tierarten, durch Züchtung zum Haustier gemacht und hergerichtet für unsere Zwecke. Warum empfinden es viele als provozierend, wenn man behauptet, die Kuh sei eine Maschine wie ein Traktor, eine Biomaschine eben, so wie der Traktor eine mechanische Maschine sei? Manche sehen in der Landwirtschaft noch etwas Natürliches, «Bio» als heilsversprechende Vorsilbe ist in aller Munde. Hat jahrhundertelange Züchtung von Mais und Reis nichts mit Technik zu tun, oder macht erst die genetische Manipulation eine Technik daraus?

Wir haben uns an Pflanzenzüchtungen durch Pfropfen, Rückkreuzung und Ähnliches gewöhnt und empfinden sie als «natürliche» Verfahrensweisen der Beeinflussung der genetischen Ausstattung von Nutzpflanzen. Kein Mensch würde auf die Idee kommen, ein Lagerfeuer, bei dem chemische Bindungsenergie von Biostoffen freigesetzt wird, als Technik zu bezeichnen – und doch waren all diese Verhaltensweisen und Hervorbringungen einmal «High-Tech» oder «Neue Technologien», wie die Euphemismen heute lauten.

Technik beeinflusst unser Leben

Es ist schon fast trivial – Technik ist ein philosophisches Thema, seit wir festgestellt haben, dass die Technik, die wir selbst hervorgebracht haben, uns beeinflusst. Das gilt zum einen für unser Denken, indem wir dabei technische Bilder und Metaphern dessen, was wir für machbar halten, verwenden. Es betrifft zum anderen aber auch unsere Zivilisation, weil wir unser Leben vom Funktionieren der Technik abhängig gemacht haben und unsere Kultur, unsere Wissenschaft, die Kunst und nahezu jede Kommunikation ohne Technik nicht mehr möglich wären. Es betrifft unser Leben, das wir als «Mängelwesen» mit technischen Prothesen kompensatorisch aufrechterhalten, und es betrifft auch unsere Psyche, die unsere Organe nach außen zu projizieren scheint und damit Werkzeuge erschafft.

Alle diese Positionen werden heftig diskutiert in der Philosophie der Technik, deren moderner Beginn, zumindest publizistisch, bei Ernst Kapps Grundlinien einer Philosophie der Technik aus dem Jahre 1877 liegen dürfte.[6] Kapp versteht die Kulturgeschichte des Menschen als die Geschichte seiner Werkzeuge. Zur Radikalisierung dieses Gedankens ist es nur ein kleiner Schritt: Beginnt der Mensch überhaupt erst da, wo er Werkzeuge herstellt und sich seine Umwelt seinen Zwecken entsprechend zurichtet? Ist der Mensch von jeher schon der homo faber, der herstellende Mensch? Und was unterscheidet ihn da vom Burgen bauenden Biber, von der kunstvoll Netze spinnenden Spinne, vom Nest bauenden Vogel, von der Hügel errichtenden Termite?

Wenn also Philosophie, so sie sich mit Technik beschäftigt, solche Fragen stellt und zu beantworten versucht, dann zeigt sich zweierlei: Zum einen sind die Fragen selbst uralt. Schon einem Aristoteles wollte die Unterscheidung von Natürlichem und Künstlichem nicht so recht gelingen. Aber diese Fragen müssen immer wieder neu beantwortet werden, jeweils in ihrer Zeit. Zum anderen sind diese Fragen immer damit verbunden, was wir vom Menschen halten und wie wir es mit dem Menschen halten, also mit der Anthropologie.

Fragen nach der Technik sind selbst da, wo es nur um das Funktionieren geht, noch philosophisch, denn sie berühren auch unser Naturverständnis. Wie ist es möglich, dass wir Geräte bauen können, vom Messer bis zur Raumstation, vom Designer-Molekül bis zum genetisch umgebauten nützlichen Bakterium, vom Lautsprecher bis zum World Wide Web, Instrumentarien also, die es in der Natur nicht gibt und für die oftmals auch keine Vorbilder in der Natur existieren, die man nur abschauen und nachbauen müsste? Wie ist es andererseits möglich, dass es Geräte in unserer Vorstellung gibt, die wir nicht bauen können, weil es die Natur «nicht zulässt»?[7] Jeder Ingenieur wird sagen, dass man gegen die Physik (damit meint er die Naturgesetze) nicht konstruieren kann. Heute weiß man aus der Wissenschaftstheorie aber auch, dass man aus der Physik die Technik nicht ableiten kann – man muss sie er-finden.

Was geschieht in einem Computer? Selbst die physikalische und elektrotechnische Beschreibung der Vorgänge «erklärt» nicht die Funktionsweise eines Computers, mit der wir wie selbstverständlich umgehen. Wir haben in der Technik einen Überschuss von denkbaren bis tatsächlich herstellbaren und hergestellten Eigenschaften, die wir aus der Natur nicht kennen und die dennoch mit der Natur «kompatibel» sind. Wie kommt das?

Wir könnten das Fragen endlos weitertreiben. Für alle Fragen und alle Antwortversuche ist hier nicht der Platz – aber einige Antwortversuche wird man wohl wagen müssen. Deshalb sei zunächst die Wendung ins Systematische erlaubt.

2. Philosophisches Nachdenken über Technik als Disziplin der Philosophie

Gibt es eine Philosophie der Technik?

Die Philosophie liegt vielfach quer zur Wissenschaft, sie hat im Laufe der Geschichte viele Probleme an die Wissenschaft abgegeben, nimmt aber auch ständig ungelöste Probleme der Wissenschaft wieder als Fragen auf. Das schwierige Verhältnis von Wissenschaft und Philosophie, das eben auch das Verhältnis zwischen Menschen, die Wissenschaft betreiben, und denen, die Philosophie betreiben, bestimmt – gerade an einer Technischen Universität –, hat Carl Friedrich von Weizsäcker auf den Punkt gebracht:

Es gehört zu den methodischen Grundsätzen der Wissenschaft, daß man gewisse fundamentale Fragen nicht stellt. Es ist charakteristisch für die Physik, so wie sie neuzeitlich betrieben wird, daß sie nicht wirklich fragt, was Materie ist, für die Biologie, daß sie nicht wirklich fragt, was Leben ist, für die Psychologie, daß sie nicht wirklich fragt, was Seele ist. Wollten wir nämlich diese schwersten Fragen gleichzeitig stellen, während wir Naturwissenschaft betreiben, so würden wir alle Zeit und alle Kraft verlieren, die lösbaren Fragen zu lösen. Auf der anderen Seite darf man sich nicht täuschen, daß das methodische Verfahren der Wissenschaft … wenn es sich über seine eigene Fragwürdigkeit nicht mehr klar ist, etwas Mörderisches an sich hat.[8]

Das gilt mutatis mutandis auch für die Technikwissenschaften, für das Ingenieurwesen und die Praxis der Technik selbst. Die großen Fragen der Philosophie hat Immanuel Kant (1724–1804) schon knapp umrissen: «Was können wir wissen?», «Was sollen wir tun?», «Was dürfen wir hoffen?»[9] Es gibt aber weiterhin Fragen, die uns abseits der Metaphysik, der Erkenntnistheorie und der Ethik umtreiben, und sie gipfeln in der vierten Kant’schen Frage: «Was ist der Mensch?»[10] Hoffnungsfragen beantwortet die Technik nach dem bisherigen Selbstverständnis der Techniker und Ingenieure nicht, wohl aber spielt Hoffnung bei Entscheidungen über Entwicklung und Einsatz von Technik eine große Rolle. Denn Hoffnungen werden hier mit Zwecken verbunden. Antworten auf die Frage, was man überhaupt wissen könne, fallen in der Technik notwendigerweise pragmatisch verkürzt aus: Wenn wir hier Wissen als umsetzbares Wissen deuten, dann haben wir verstanden, was wir bauen können.[11] Was zu tun ist, darüber kann uns technisches Wissen allein wohl noch keine Auskunft geben. Und der reduktionistisch verkürzten Antwort von Marvin Minsky, der Mensch sei eine «meat machine»,[12] werden wohl nur hartgesottene Ingenieure zustimmen. Technisches und wissenschaftliches Wissen eignet sich nicht dafür, Sinn-, Moral- und Deutungsfragen zu beantworten. Gleichwohl sind Antworten auf diese Fragen bestimmend für unser menschliches Dasein.

Sigmund Freud sprach von drei großen Kränkungen des Selbstverständnisses des Menschen, und er nahm die Psychoanalyse ohne falsche Bescheidenheit gleich mit in die Liste auf:[13]

Die erste Kränkung: Schon Aristarch (310–230 v. Chr.) und später Kopernikus (1473–1543) zerstörten die Vorstellung von der zentralen Stellung des Menschen im Kosmos: Wir sind nicht der Mittelpunkt der Welt. Aber erst Johannes Kepler (1571–1630) vollendete die Revolution, indem er forderte, dass in den Himmelsgewölben die gleiche Physik wie auf der Erde gelten solle. Die Naturgesetze wurden nun als universell gültig angesehen, und damit hatten sie für den Kosmos wie auch für die Technik zu gelten. Eine Konsequenz aus dieser Forderung war die einfachere Erklärung der Planetenbahnen durch Ellipsen statt durch die ptolemäischen Epizyklen. Letztlich führte dies zu unserem heutigen Menschenbild, wonach wir uns als nur eine von möglicherweise vielen anderen Zivilisationen im Weltall ansehen, mit intelligentem Leben und damit auch mit einem gewissen Stand der Technik. Wir kennen aber nur unsere eigene Zivilisation und unseren eigenen technischen Entwicklungsstand. Deshalb ist es ja außerhalb der Science-Fiction-Literatur so schwer vorstellbar, dass es und wie es etwas anderes als unsere Technik geben könnte.

Die zweite Kränkung: Charles Darwin (1809–1882) lehrte uns, dass wir ein Produkt der Evolution sind, und zerstörte damit zumindest naive Vorstellungen von Geschöpflichkeit. Francis Crick und James Watson analysierten mit ihrem DNS-Modell die materielle Basis der Vererbungsgesetze, mit der Konsequenz, dass Teile der Wissenschaft die Frage, was der Mensch sei, auf die Frage nach seinem Genom zu reduzieren begannen. Von da war es nicht mehr weit zu der Frage, ob sich die Natur des Menschen zielgerichtet technisch verändern lasse und wer die Richtung dieser Veränderung vorgeben könne.[14]

Die dritte Kränkung: Schon Marc Aurel (121–180 n. Chr.) wusste in seinen schonungslosen Selbstbetrachtungen[15] zu berichten, dass wir nicht Herr im eigenen Hause sind, dass wir aus Antrieben handeln, die Sigmund Freud dann später als das Unbewusste beschrieb. Dies zerstörte die Vorstellung, dass unsere Antriebe immer gut, edel, autonom und immer klar wären. Einmal darauf gestoßen, machen uns nicht nur psychologische Experimente, sondern auch kritische Selbstbeobachtungen im Alltag schnell darauf aufmerksam.

Die vierte Kränkung: Man könnte den drei Kränkungen eine vierte hinzufügen, die unmittelbar mit Technik zu tun hat: Viele Denkleistungen, die wir für genuin oder ausschließlich menschlich hielten, sind mittlerweile durch Maschinen darstellbar. Der Sieg des Großrechners Deep Blue über Garri Kasparow 1996 im Schachspiel[16] war nur einer der Triumphe der Disziplin der Künstlichen Intelligenz, die sich anheischig macht, durch den Bau von Maschinen humane kognitive Akte zumindest zu simulieren. Einige Protagonisten der Künstlichen Intelligenz wie Marvin Minsky, Hans Moravec oder Bill Joy sehen eine Zeit kommen, in der die Maschinen die Macht übernehmen und der Mensch sich selbst überflüssig machen werde.[17]

Alle angeführten Kränkungen beinhalten die Frage nach dem Menschen und danach, was von seinem im Laufe der Geschichte gerupften und zerzausten Selbstverständnis noch übrig bleibt. An die vierte Kränkung schließt sich die Frage an, ob der Mensch – angesichts seiner technischen Möglichkeiten zur Selbstvernichtung – nicht als Gattungswesen verschwinden könnte. Müsste die moderne Technik und Wissenschaft vor dem Menschen nicht irgendwann einmal haltmachen? Haben Technik und Wissenschaft die Probleme erzeugt, die sie vielleicht gar nicht mehr lösen könnten?

Was ist mit Technik gemeint?

Definitionsversuche gehen dann meist fehl, wenn man mit ihnen die Welt erklären will. Definitionen sagen nichts über die Welt, sondern etwas über den Sprachgebrauch aus, wenn wir über das zu Definierende reden. Dies gilt auch für den Begriff der Technik: Jeder Definitionsversuch steht schon unter dem Verdacht eines voreiligen Beantwortungsversuchs einer philosophischen Frage, die vielleicht noch gar nicht explizit gestellt wurde. Geneigte Leserinnen und Leser mögen dies selbst in beliebigen Lexika ausprobieren. Dort kann man feststellen, dass die unterschiedlichen Definitionsversuche in der Tat immer schon Deutungen beinhalten.

Wir unterscheiden an dieser Stelle zunächst einen materialen und einen formalen Technikbegriff.[18] Mit dem formalen Technikbegriff, also einer Technik, derer man sich bedient, einer Technik, die z.B. ein Pianist oder eine Tennisspielerin «drauf»hat, bezeichnet man eine nach Zweck-Mittel-Relationen geordnete Regelhaftigkeit von Handlungen. Der materiale Technikbegriff stellt hingegen den Inbegriff aller existierenden Artefakte, ihrer Herstellungsweisen und Verwendungsweisen dar. Dabei sind Artefakte zweierlei: einmal etwas, das der Mensch für sich letztlich aus der Natur genommen und für sich hergerichtet oder zusammengefügt hat, vom Faustkeil bis zum Computer. Zweitens auch ein Verfahren, das seinen Zwecken taugt, z.B. ein Programm, eine Menge von miteinander verbundenen Regeln oder Anweisungen oder eine Steuerung. Man sieht schon, dass der Unterschied zwischen dem formalen und dem materialen Aspekt nicht so trennscharf ist, wie es scheinen mag: Wenn ein Programm eine Reihe von Anweisungen beinhaltet (Befehle an die Maschine), dann ist dies ja auch eine nach Zweck-Mittel-Relationen geordnete Regelhaftigkeit von Handlungsanweisungen. Beide, das immaterielle Artefakt und die formale Technik, die man beherrscht, mögen gleich strukturiert sein, der feine Unterschied liegt zwischen Handlungsanweisung, die man erst umsetzen müsste, und tatsächlicher Handlung, die auf Willen und Können beruht. Wir können auch sagen, dass ein Programm die Vorstellung, besser sogar noch eine Theorie des Gegenstandsbereichs ausdrückt,[19] in dem die Handlungsanweisungen dann wirkungsvoll werden sollen.

Betrachten wir die vereinfachte Kette bei Produkten der industriellen Zivilisation wie Erfindung – Entwicklung – Konstruktion – Bau – Nutzung – Instandhaltung – Entsorgung. Wenn wir diese Kette als Betreiben von Technik verstehen wollen, so sind es eben nicht nur die Artefakte (das Gemachte, das Hergestellte), die Technik ausmachen, sondern auch die Prozesse, die zur Entstehung, zur Nutzung bis hin zur Entsorgung von Artefakten führen. Diesen erweiterten Technikbegriff[20] wollen wir im Folgenden zugrunde legen. Das bedeutet, dass wir sowohl den formalen wie auch den materialen Technikbegriff brauchen: Das Erzeugen, Nutzen und Entsorgen von Artefakten bedarf entsprechender Techniken im formalen Sinn des Begriffs. Im griechischen Begriff der τimageχνη (téchne) ist diese Doppeldeutigkeit schon angelegt: Der Begriff meint einmal das Werkzeug, zum anderen aber auch die Kunst, das Handwerk, den Trick.

Noch ein Wort zum Begriff «Technologie». Er wird im Deutschen[21] überwiegend in den Medien synonym mit Technik gebraucht, manchmal wird der Begriff Technologie für die oben genannte Kette in Bezug auf eine Klasse von Produkten oder Verfahrensweisen benutzt, z.B. im Wort Gentechnologie oder Kommunikationstechnologie. Zuweilen bezeichnet man auch eine Theorie, die einen bestimmten Gegenstandsbereich technischen Wissens umfasst, erklärt und innerlich strukturiert, als eine technologische Theorie oder auch nur kurz als Technologie. Oftmals wird dem Begriff auch die Bedeutung im Sinne von «Lehre oder Wissen über die Technik» zugeschrieben.[22] Davon ist die Technikwissenschaft jedoch zu unterscheiden (vgl. Kap. 7). Wegen dieser Vieldeutigkeit soll der Begriff hier nach Möglichkeit vermieden werden. Wenn er doch einmal gebraucht wird, dann eher im Sinne einer Klasse von Produkten, Verfahrensweisen und damit zusammenhängenden technischen Systemen.

3. Was heißt zivilisierte und technisierte Welt?

Die Umgestaltung der Welt, ohne die (Gesetze der) Natur ändern zu können

Wir sprechen heute gern von Zivilisation und technischer Welt und drücken damit aus, dass es keine unberührte Natur mehr gibt. Nahezu alle alltäglichen Lebensvollzüge sind durch Artefakte bestimmt; die Bedürfnisse orientieren sich an materiellen wie immateriellen Artefakten und ihren Möglichkeiten, die sie bieten. Gleichzeitig entwickeln diese Bedürfnisse diese Artefakte weiter: Technik erzeugt Technik. Unsere gesellschaftlichen Formen, die Art und Weise der Produktion wie die Gestaltung unserer Arbeitswelt, die wirtschaftlichen, politischen und militärischen Möglichkeiten werden durch Technik bestimmt und bestimmen diese wiederum mit. Diese technisierte Welt nennt Jürgen Mittelstraß eine Leonardo-Welt und charakterisiert ihre Entstehung drastisch so:

Wohin man «in der Natur» auch kommt, der erkennende, der bauende, der wirtschaftende und der zerstörende Verstand war schon immer da.
Und das war im Grunde immer so. Natur und Kultur hängen zusammen. Die Menschwerdung des Menschen war von Anfang an auch Kulturwerdung der Natur. Wo sich der Mensch seine kulturelle Umwelt schuf, veränderte er auch die Natur, eignete er sie sich durch seine Arbeit an.… Unberührte Natur hat es in diesem Sinne in der Umwelt des Menschen nie gegeben.
Rodend, brennend, jagend, Furchen ziehend, Wasser umlenkend, die Erde nach Bodenschätzen durchwühlend, Müll produzierend, also natürliche Ressourcen verbrauchend, verändernd und substituierend eignete sich der Mensch von Anfang an die Natur an, machte sie zu seiner Umwelt. Seine Kultur schuf immer schon eine Kultur-Natur, im Guten wie im Bösen.[23]

Wir verändern die Natur, allerdings ohne die Naturgesetze ändern[24] zu können. Das bedeutet, dass wir zwar Landschaften umgestalten können, dass wir Berge versetzen, dem Meer Land abringen, Wüsten zum Blühen bringen und Wälder in Wüsten verwandeln können. Es bedeutet, dass wir womöglich die genetische Ausstattung des Menschen verändern können und damit vielleicht seine bisherigen natürlichen Eigenschaften, dass wir unsichtbare elektromagnetische Wellen erzeugen und benutzen können, aber die Natur der Natur können wir nicht ändern.[25]