Regine Kather
Die Wiederentdeckung der Natur
Naturphilosophie im Zeichen der ökologischen Krise
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ISBN 978-3-534-22356-5
Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich:
eBook (PDF): 978-3-534-72754-4
eBook (epub): 978-3-534-72755-1
Einleitung
Teil I: Von der Natur als Organismus zur Weltmaschine
A Antike und Mittelalter
1 Platon: Aus Chaos wird Ordnung. Der Kosmos als Voraussetzung des menschlichen Lebens
2 Plotin: Die schöpferische Dynamik der Natur
3 Hildegard von Bingen: ‚ . . . denn er könnte kein Mensch sein, wenn die übrigen Geschöpfe nicht da wären ‘
3.1 Die Struktur der Welt
3.2 Der Mensch als Mikrokosmos
3.3 Die Ethik der Natur
3.4 Die Ästhetik der Natur
4 Nikolaus von Kues: Die Natur als Ausfaltung Gottes
4.1 ‚ Die Erde ist ein edler Stern ‘
4.2 Intelligentes Leben als Moment eines grenzenlos-unendlichen Universums
4.3 Zur Genese eines methodischen Konflikts: Von der Natur als natura naturans zur Quantifizierung empirischer Eigenschaften
B Neuzeit und Moderne
1 René Descartes: Die Einteilung der Welt in Dinge und Personen
2 Gottfried W. Leibniz: Jede Monade ist ein lebendiger Spiegel des Universums
3 Immanuel Kant: Vom Verlust der Kosmologie
4 Johann G. Herder: ‚ Des Menschen ältere Brüder sind die Tiere ‘
5 Alexander von Humboldt: Der Mensch als Zuschauer und Teilnehmer an der Natur
6 Homo faber und der Ursprung des modernen Nihilismus
7 Von der Naturwissenschaft zur Naturphilosophie
8 Alfred N. Whitehead: Natur als Prozess
8.1 Die Aufgabe einer philosophischen Kosmologie
8.2 Eine Philosophie des Organismus
8.3 Natur als Prozess
8.4 Vom Eigenwert und der Schönheit der Natur
Teil II: Die Wiederentdeckung der Eigendynamik der Natur
1 Symptome der ökologischen Krise
2 Die Sphäre des Lebendigen als Vermittlung zwischen Sachen und Personen
3 Grenzen der naturwissenschaftlichen Methode: Der Ausdruck von Innerlichkeit
4 Die Eigendynamik des Lebendigen: Kausalursachen, Funktionalität und Zielgeleitetheit
5 Die Evolution des Bewusstseins als Korrelat wachsender Freiheit
6 Vom Überleben zum qualitativ guten Leben
7 Lebewesen als integraler Teil der Biosphäre
8 Der Mensch als integraler Teil der Biosphäre: Die Natur als Grundlage der Kultur
9 Zur Evolution von Empathie und Ethik
10 Ethische Schlussfolgerungen aus der Verwandtschaft der Lebewesen
10.1 Utilitaristische und anthropozentrische Ethik
10.2 Pathozentrische Ethik
10.3 Biozentrische Ethik
10.4 Holistische Ethik
11 Laboratorien für einen Perspektivenwechsel: Naturverständnis und Ethik von Nationalparks und Wildnisgebieten
12 Eine Landschaft als Ausdruckseinheit: Die Ästhetik der Natur
12.1 Ein Erleben mit allen Sinnen
12.2 Natur als Kunst – Kunst als Natur
Anmerkungen
Literaturverzeichnis
„Darauf sprach der Herr zu Noach: Geh in die Arche, du und dein ganzes Haus, denn ich habe gesehen, dass du unter deinen Zeitgenossen vor mir gerecht bist. Von allen reinen Tieren nimm dir je sieben Paare mit, und von allen unreinen Tieren je ein Paar, auch von den Vögeln des Himmels je sieben Männchen und Weibchen, um Nachwuchs auf der ganzen Erde am Leben zu erhalten.“ (Gen. 7,1 – 3)
Die Frage, was Natur und welches die Stellung des Menschen im Kosmos ist, gehört zu den ältesten und grundlegendsten der abendländischen Philosophie. Ausgehend vom unablässigen Werden und Vergehen suchten die Vorsokratiker nach Prinzipien, die eine Ordnung im Wandel ermöglichen. Mit der Entstehung der modernen Naturwissenschaften seit dem 15. Jh. und durch die Kopernikanische Wende in der Erkenntnistheorie, die Kant vollzog, ging jedoch das Bewusstsein verloren, dass Menschen als leib-geistige Einheit ein Teil der Natur sind. Erst seit dem Beginn des 20. Jh. erlebt die Naturphilosophie eine Renaissance, die sich mit den Namen von M. Scheler, H. Plessner, N. Hartmann, H. Conrad-Martius, A. N. Whitehead, H. Jonas und K. Meyer-Abich verbindet. Durch Evolutions- und Quantentheorie einerseits, durch die ökologische Krise andererseits erlangte sie eine ethisch-praktische Bedeutung, die weit über die theoretische Analyse hinausführt.
Erst heute wird das Streben Fausts zu ergründen, ‚was die Welt im Innersten zusammenhält‘, in seiner ganzen Zweideutigkeit sichtbar. Durch die Naturwissenschaften, die durch das systematische Experiment untrennbar mit dem Fortschritt der Technik verbunden sind, hat sich der Bereich des Beobachtbaren in raum-zeitlicher Hinsicht in ungeahntem Maß erweitert. Teleskope erschließen das All in immer größerer Tiefe und enthüllen die Geschichte des Universums über den unvorstellbaren Zeitraum von mehr als 15 Milliarden Jahren; den Mikrokosmos bevölkern schon längst nicht mehr nur Elektron, Proton und Neutron, sondern eine Fülle von Teilchen, die oft nur wenige Bruchteile von Sekunden überdauern. Durch die Technisierung der Lebenswelt, die ungebrochen wachsende Weltbevölkerung und den steigenden Lebensstandard werden die natürlichen Ressourcen immer schneller ausgebeutet, sodass sie sich nicht regenerieren können. Die globale Dimension der Naturzerstörung macht sichtbar, wie sehr die Menschheit das Maß für das verloren hat, was machbar ist und was sich ihrem Willen entzieht. Ohne einschneidende Korrekturen werden durch den Klimawandel, soweit sind sich Ökologen und Ökonomen inzwischen einig, Lebensqualität und Lebensstandard in den nächsten Jahren dramatisch sinken.
Die Überzeugung, dass alle Probleme technisch lösbar sind und die Natur nahezu vollständig beherrschbar ist, verbindet sich mit einer materialistisch-nihilistischen Grundstimmung, mit dem Gefühl von Sinnleere, Geworfenheit und Existenzangst. Weder die Naturwissenschaften noch die Haltung uneingeschränkter Machbarkeit können die bohrende Frage nach dem Ziel und Sinn des Lebens beantworten. Durch eine rein naturwissenschaftliche Erklärung aller materiellen Prozesse sind die Menschen mit ihren qualifizierten Empfindungen, Gedanken und Werten aus der Natur aus- und in die Innerlichkeit ihres Geistes und ihrer kulturellen Erzeugnisse eingeschlossen. Sinn beruht, im Sinne von Sartres Version des Existentialismus, nur auf dem eigenen Lebensentwurf und ist damit radikal endlich. Nur wenn sich die Grundeinstellung zur Natur ändert und sie nicht nur als Ressource, sondern auch in ihrem Eigenwert wahrgenommen wird, können sich Menschen in ihrer leib-geistigen Konstitution als deren Teil verstehen und ihrem Handeln eine andere Ausrichtung geben.
Um diesen Gedanken zu entwickeln, werden über die Grenzen einzelner Disziplinen hinweg Impulse aus Philosophie, den empirischen Wissenschaften und ästhetischen Erfahrungen berücksichtigt. Das Buch gliedert sich in zwei Teile: Der erste Teil bietet einen Überblick über repräsentative Konzeptionen der Natur von der Antike bis zur Gegenwart, die auf ihre anthropologischen und ethischen Implikationen hin befragt werden. Bei der Auswahl der Texte war keine ideengeschichtliche Rekonstruktion das Ziel, sondern das Bemühen, andere Perspektiven auf die Natur sichtbar zu machen und Defizite des modernen Naturverständnisses zu korrigieren, die eine Folge der einseitigen Betonung der naturwissenschaftlich-technischen Methode sind. Im Spiegel der Vergangenheit zeigt sich, dass Mensch und Natur keineswegs Gegenspieler sind, sobald alle Entitäten durch innere wie äußere Relationen verbunden und nicht nur natura naturata, sondern auch natura naturans sind. Obwohl die Modelle früherer Epochen nicht bruchlos in die Gegenwart übertragbar sind, lassen sich zumindest einige Impulse in einen veränderten Kontext integrieren. Das Anliegen des zweiten, systematischen Teils ist es daher, die Argumente zusammenzutragen, die Menschen in ihrer leib-geistigen Verfasstheit wieder als Teil der Natur zeigen.
Ursprünglich waren sie als Jäger und Sammler in den Rhythmus einer allgegenwärtigen Natur eingebettet, die sie nährte und bedrohte, die Leben spendete und es wieder auslöschte. Erst mit dem Übergang zum Ackerbau wurde eine neue Phase eingeleitet: Aus einem noch unüberschaubar weiten Raum wurden kleine Enklaven ausgegrenzt, in denen sie ihre eigene Ordnung errichteten. Eine Wertung bahnte sich an, die bis in die Gegenwart bestimmend blieb: Die Natur erschien als wilde, ungebändigte, chaotische Macht, die Kultur dagegen als wohlgeordneter, Sicherheit, Freiheit und Selbstbestimmung gewährender Bereich, der als Ausdruck des menschlichen Geistes der Natur überlegen zu sein schien. Dennoch verstanden sich die Menschen noch im Mittelalter als Teil des Kosmos, dessen Ordnung auf dem Zusammenwirken aller Entitäten beruhte. Der Mensch galt als Glied in der Kette der Wesen, als ein Mikrokosmos, der alle Strukturen wie in einem Brennpunkt in sich versammelt. Auch die Natur erschien noch nicht als die Gesamtheit äußerlich sichtbarer und durch mechanische Kräfte verbundener Objekte; den Formenreichtum der sinnlich-sichtbaren Natur erklärte man sich durch eine innere, geistige Dynamik. Die Unterscheidung zwischen natura naturata und natura naturans bestimmte das Denken von Platon bis zu Spinoza, Leibniz und Schelling; wir werden ihr in veränderter Form im 20. Jh. wieder begegnen. Ihrer immanenten Dynamik verdankt die Natur ihren ästhetischen Ausdruck und ihren intrinsischen Wert. Beide gründen jedoch letztlich nicht in der Vielzahl endlicher Formen, sondern in einem unendlichen Sein, auf das sie verweisen.
Doch obwohl für die griechischen Philosophen wie für die Autoren der Bibel die Natur einen Eigenwert hatte und schon in der Antike durch die Abholzung der iberischen Halbinsel und des Apennin ökologische Schäden erkennbar waren, wurde keine Ethik der Natur entwickelt. Erst im Mittelalter verweist Hildegard von Bingen mit Argumenten, bei denen sich die theozentrische, kosmozentrische und anthropozentrische Perspektive durchdringen, auf die menschliche Verantwortung. Da der Mensch ohne die anderen Kreaturen kein Mensch sein könnte, käme deren Vernichtung seiner Selbstzerstörung gleich. Mit diesem Argument entwickelt Hildegard ein relationales Verständnis der Natur, das die Rückwirkung maßlosen Verhaltens auf den Menschen in den Blick rückt. Auch Cusanus, der die Natur als explicatio Dei begreift, hebt die Verbundenheit aller Entitäten durch innere und äußere Relationen hervor, – ein Gedanke, der nicht nur Leibniz und Whitehead inspiriert hat, sondern auch für die moderne Ökologie grundlegend ist.
Erst mit der Entwicklung der Naturwissenschaften im 15. Jh. und der methodischen Orientierung an Daten, die sich empirisch im systematischen Experiment überprüfen lassen und deren Zusammenhang mathematisch-formal darstellbar ist, gerät die Unterscheidung von natura naturata und natura naturans aus dem Blick. Descartes markiert den Wendepunkt, an dem sich das derzeit vorherrschende Naturverständnis herauskristallisiert. Alle materiellen Prozesse, die des menschlichen Körpers eingeschlossen, werden kausal-mechanisch erklärt. Die Natur erscheint nicht mehr als ein großer Organismus, sondern gleicht einem Uhrwerk, dessen Räder exakt ineinander greifen. Aus dem empirisch-naturwissenschaftlich verstandenen Sein der Natur lässt sich kein ethisches Sollen mehr ableiten. Ziele und Werte erscheinen als Konstruktionen des menschlichen Geistes, über die man sich in einem rationalen Diskurs verständigen kann. Die Natur wird zu einem wertfreien Objekt, das der Befriedigung menschlicher Bedürfnisse dient. Durch seinen Geist steht der Mensch einer naturgesetzlich determinierten Natur wie ein extramundaner Beobachter gegenüber, sodass die Eingriffe in die Weltmaschine, die einem unveränderlichen Plan folgt, nicht auf ihn zurückzuwirken scheinen. Bis heute gliedert sich für viele Autoren der hermeneutischen wie der analytischen Philosophie die Wirklichkeit nur in Personen und Sachen.
Dennoch ist seit Descartes die Kritik an der durchgängigen Physikalisierung des Physischen nicht abgerissen. Einer der ersten Kritiker war Leibniz, der nicht nur das Motiv der Kette der Wesen wieder herstellt, sondern auch, wie Cusanus, die Verflechtung aller Entitäten betont. Herder wiederum thematisiert Kontinuität und Diskontinuität von Mensch und Tier unter dem Blickwinkel der Sprache. Und Alexander von Humboldt hebt die Einbettung menschlicher Lebensformen in kosmologische, geologische und klimatische Bedingungen hervor.
Im 19. und 20. Jh. unterminierten Evolutionstheorie und Astrophysik die Überzeugung, dass die Arten und die Ordnung der Natur unveränderlich sind. Relativitäts- und Quantentheorie zerstörten die Vorstellung, dass die Bausteine der Materie harte, unwandelbare Partikel sind. Die umfassendste Antwort auf die von den Naturwissenschaften selbst ausgehenden Herausforderungen stellt die Naturphilosophie Whiteheads dar, die eine Synthese wissenschaftlicher, lebensweltlicher, ästhetischer und ethischer Aspekte bildet. Durch die Integration platonischer und kantischer Elemente gewinnt die Natur ihre ontologische Bedeutung als Bedingung des Erkennens und Handelns zurück und erscheint als ein Prozess der Koevolution zahlloser Entitäten, zu denen auch der Mensch gehört.
Im zweiten Teil des Buches steht die Frage im Mittelpunkt, wie sich Menschen in ihrer leib-geistigen Konstitution wieder als integralen Teil der Biosphäre begreifen und eine ethische und ästhetische Orientierung gewinnen können, die in Einklang mit ökologischen Anforderungen steht. Die ökologischen Probleme, die durch ein Übermaß an technischen Interventionen ausgelöst wurden, lassen sich nur durch die Entwicklung noch effizienterer Technologien nicht lösen. Da die Technik für sich genommen keine normative Orientierung beinhaltet, muss sie durch ethische Werte geleitet werden. Doch nur wenn Menschen sich in ihrer leib-geistigen Konstitution zugleich als Vernunftwesen und als Teil der Natur begreifen, kann diese in ihrem ethischen und ästhetischen Eigenwert in den Blick treten. Dadurch ändert sich das Verhältnis zur Natur strukturell: Die objektivierende Einstellung, die für Naturwissenschaft, Technik und Ökonomie leitend ist, wird vom Bewusstsein der Partizipation umgriffen und in ihre Grenzen verwiesen.
Ihre Dynamik erhält die fortschreitende Naturzerstörung vor allem durch den westlich geprägten Lebensstil und ökonomische Modelle, die auf Wirtschaftswachstum durch immer mehr Konsum beruhen. Während die ökonomische Entwicklung an einem linearen Wachstumsmodell orientiert ist, das bislang auch da noch angewendet wird, wo der Klimawandel mithilfe technischer Lösungen begrenzt werden soll, beruht die Dynamik natürlicher Systeme auf einem in sich rückgekoppelten Zusammenspiel von Teilen und Ganzem. Ökonomische und politische Modelle gehen folglich von graduellen Veränderungen aus, die sich in langen Zeiträumen vollziehen und als überschaubar, berechenbar und beherrschbar gelten; Systeme dagegen gehen schlagartig in einen anderen Ordnungszustand über, wenn sich das Zusammenspiel einzelner Komponenten verändert. Die Diskrepanz zwischen ökonomischen Modellen und der systemischen Dynamik der Biosphäre wird deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, dass die letzte Eiszeit nicht durch eine allmähliche Abkühlung eingetreten ist, sondern vermutlich in nur wenigen Jahren zur Vereisung der Seen Nordeuropas führte. Außerdem greift die Vorstellung zu kurz, man könne den Klimawandel beschränken, indem man eine einzelne Ursache, etwa die Produktion von CO2, beseitigt. Als System lässt sich die Biosphäre nicht in einzelne Komponenten zerlegen, sodass die Veränderung nur eines Faktors deren Zusammenspiel insgesamt verändert. Übersehen wird, dass sich die Eigendynamik der Biosphäre nicht so regulieren lässt wie ein Heizungssystem, bei dem man die Temperatur bei ansonsten unveränderter Funktionsweise neu einstellt. Schon aus rein anthropozentrischen Motiven muss der ressourcenintensive Lebensstil so korrigiert werden, dass er sich in die komplexe Dynamik der Biosphäre einfügt. Gelingen kann dieser Schritt freilich nur, wenn der Ausgang vom Subjekt, der durch Kant philosophisch legitimiert und in den letzten Jahrzehnten gesellschaftlich dominant wurde, korrigiert wird und wieder etwas akzeptiert werden kann, das den Horizont menschlichen Wollens und Handelns überschreitet.
Während die Kette der Wesen auf der seelisch-geistigen Verwandtschaft der Kreaturen beruhte, entdeckte die Evolutionstheorie die genetische Zusammengehörigkeit. Dennoch teilen für Darwin gerade aufgrund der gemeinsamen Vorgeschichte die Menschen viele psychische Eigenschaften mit anderen Lebewesen. Die Beobachtung, dass sie nur durch die Anpassung an eine spezifische Umwelt überleben können, stellt außerdem die neuzeitliche Substanzontologie in Frage. Unter ökologischer Perspektive sind Lebewesen keine für sich bestehenden Entitäten, die sich in einem unablässigen Kampf gegen andere durchsetzen. Sie sind integrale Elemente von Ökosystemen, die nur aufgrund der Abstimmung ihrer Aktivitäten mit der Lebensweise zahlloser anderer Organismen überleben können. Dadurch bahnt sich ein Wechsel der Perspektive an, die die letzten drei Jahrhunderte vorherrschend war: Auch Menschen sind, biologisch gesprochen, offene Systeme. Obwohl sie schon zur Sicherung des Überlebens in die Dynamik der Biosphäre eingreifen, sie benutzen und verändern, sind sie durch ihre körperlichen Funktionen auf spezifische Lebensbedingungen angewiesen. Die Biosphäre stellt ihrerseits Anforderungen an das Handeln, denen dieses entsprechen oder die es verfehlen kann. Mit ihren körperlichen Funktionen und kulturschöpferischen Aktivitäten sind die Menschen ein integraler Teil der Biosphäre, sodass Natur und Kultur in ihrer Dynamik nicht voneinander unabhängig sind. Durch die moderne Technik hat der Radius des Handelns inzwischen in räumlicher Hinsicht eine globale Perspektive erlangt; in zeitlicher Hinsicht erstreckt er sich auf unüberschaubar viele Generationen. Wenn, so argumentiert vor allem Jonas, das menschliche Leben ein Gut ist, das es zu erhalten gilt, dann haben Menschen die Pflicht, mit den natürlichen Ressourcen so umzugehen, dass auch kommende Generationen ihre körperlichen und geistigen Möglichkeiten noch entfalten können. Damit ist jeder Theorie eine Absage erteilt, die die Natur als irrelevant für die Ethik ansieht und sie nur auf Interessenabwägung und Konsens gründet.
Doch haben Menschen eigentlich das Recht, den Lebensraum des gesamten Planeten für sich zu beanspruchen? Wenn, wie die Evolutionstheorie lehrt, auch andere Kreaturen bereits ein Moment der Subjektivität besitzen und qualifizierte Perzeptionen ebenso wie Lust und Schmerz unterscheiden können, dann muss ein rein anthropozentrisches Interesse an der Erhaltung der Natur überschritten werden. Zumindest die belebte Natur ist nicht das ganz Andere, Fremde. Durch die Möglichkeit, mit anderen Lebewesen zu kommunizieren, erweitert sich der Lebenshorizont in emotionaler und kognitiver Hinsicht. Sieht man zudem in den unterschiedlichen Manifestationen des Lebenswillens eine implizite Bejahung des eigenen Seins, dann ist die belebte Natur kein wertindifferenter Funktionszusammenhang, sondern hat, wie Jonas betont, ein sittliches Eigenrecht. Während sich die kontinentaleuropäische Tradition auf die Idee der Würde der Kreatur beruft, argumentiert die angelsächsische Tradition in Anlehnung an Locke, dass jedes Mitglied einer Gemeinschaft ein Recht auf den Schutz seines Lebens habe. Trotz unterschiedlicher Ausgangspunkte konvergieren die Argumente in der Überzeugung, dass der Radius ethischer Pflichten erweitert werden muss.
Da man Individuen und Arten nur schützen kann, wenn man auch ihr Lebensumfeld erhält, muss letztlich die Biosphäre insgesamt, zumindest soweit es in der Hand der Menschen liegt, erhalten werden. Sie ist das umfassendste System dieses Planeten und die Lebensgrundlage aller Kreaturen, sodass nationale und kulturelle Grenzen überschritten werden. Wie die Häute einer Zwiebel umfasst die Ethik daher immer mehr Dimensionen: Sie reicht von einer anthropozentrischen über eine patho- und biozentrische bis zu einer holistischen Perspektive. Zumindest in einigen Ländern hat inzwischen auch die Gesetzgebung einem veränderten Verständnis der Natur Rechnung getragen.
Es wäre jedoch einseitig, würde man nur die bedrohliche Dimension der Entwicklung betonen und Furcht zum entscheidenden Motiv der Veränderung machen. Die Erkenntnis der Verletzlichkeit der Natur birgt die große Chance, sie in völlig neuer Weise zu entdecken. Noch nie zuvor wurden weltweit so viel Engagement und Kapital eingesetzt, um bedrohte Arten zu schützen, intakte Ökosysteme zu bewahren und zerstörte Landschaften zu renaturieren. Nicht nur das Gefühl der Verantwortung, auch die Freude an der Schönheit der Natur und das Bedürfnis, den Schattenseiten der Zivilisation zu entrinnen, wird inzwischen für zahllose Menschen zur Motivation, ein neues Verhältnis zur Natur zu erproben. Weltweit wurden die Ideen des Nationalparks und der Wildnis, die am Ende des 19. Jh. in den USA entstanden, zu Modellen für den bisher umfassendsten Schutz von Ökosystemen, die durch die in den 1960er-Jahren einsetzende Ökologiebewegung noch einmal einen neuen Akzent erhielten.
Die Tatsache, dass die Menschen in die Biosphäre eingebettet sind, sollte allerdings nicht mit der romantischen Vorstellung verwechselt werden, dass sie in den Mutterschoß der Natur zurückkehren können. Soweit sich die Geschichte der Hominiden zurückverfolgen lässt, gehört die Technik zu ihrer Lebensweise. Doch die Veränderung im Verhältnis des Menschen zur Natur fordert auch eine veränderte Einstellung zur Technik. Ziel ist die Entwicklung von Technologien, die sich in die Biosphäre einfügen und anderen Kreaturen den Raum für ihre Entwicklung gewähren. Sieht man in der Anerkenntnis von Grenzen die Bedingung ihrer Überschreitung, dann erweitert sich durch den Verzicht auf eine einseitige Durchsetzung menschlicher Interessen der Lebenshorizont.
Das Naturverständnis, so wird sich immer wieder zeigen, lässt sich nicht von der Anthropologie und den das Handeln leitenden Werten trennen. In gewisser Weise kann man daher dieses Buch als den dritten Teil einer Trilogie ansehen: Die Bücher ‚Was ist Leben?‘ (Darmstadt 2003) und ‚Person‘ (Darmstadt 2007) ergänzen die Überlegungen dieses Bandes, dessen Schwerpunkt auf der Einbettung des Menschen in die Natur liegt. Abgesehen von der Fragestellung wurde die Auswahl der Autoren daher auch von dem Bemühen bestimmt, Überschneidungen zu vermeiden.
Paläoanthropologische Funde deuten darauf hin, dass sich Menschen, seit sie sich symbolisch in Malerei, Musik und Riten ausdrücken, nicht damit begnügt haben, nur die drängenden Probleme des Alltags zu lösen.1 Das Bedürfnis, sich und die Welt zu verstehen, Staunen und Neugier, trieben sie immer wieder über das faktisch Vorhandene und einfach nur Nützliche hinaus. Vor allem eine Frage hat sie zu allen Zeiten und in allen Kulturen bewegt: Wie sind die Welt und ihre Ordnung entstanden? Noch in der Sprache des Mythos schildert Hesiod etwa um 700 v. Chr. in der ‚Theogonie‘, dass am Anfang von allem das Chaos entstand, die klaffende Leere, das gänzlich Unbestimmte und Ungestaltete. Aus der schöpferischen Dynamik des Chaos entstanden Gaia, die Erde, Sitz der Götter und Lebensraum der Menschen, in deren Innerem sich die Unterwelt, der Ort der Toten befindet, Eros als kosmische, verbindende Kraft, die dunkle Nacht und die Tageshelle und schließlich Uranos, der Himmel. Damit haben sich die drei großen Unterteilungen des Kosmos gebildet, die über mehr als zwei Jahrtausende bestimmend blieben und die noch Dante in der ‚Göttlichen Komödie‘ zugrunde legt: Himmel, Erde und Unterwelt. Die ungeheure Dynamik, die mit der Weltentstehung verbunden war, schildert Hesiod als den Kampf verschiedener Göttergenerationen um Macht. Die kosmische Ordnung, die in der Herrschaft des Zeus gipfelt und von Themis und Dike, von Wohlverhalten und Gerechtigkeit, erleuchtet ist, ist die Voraussetzung für das menschliche Leben. Damit ist ein Grundgedanke des griechischen Denkens formuliert: Der Kosmos, die Natur ist geordnet. Wahres Sein ist gestaltet. In ihm lebt der dieser Ordnung bedürftige Mensch. Hesiod beruft sich in seiner Schilderung noch nicht auf eigenständiges Denken. Quelle des Wissens sind die Musen, die ihm berichten, „was ist, was sein wird und was vorher war.“2
Mit dem Übergang vom ‚Mythos zum Logos‘ in der Zeit von 650−550 v. Chr. verliert die Natur ihren physiognomischen Charakter. An die Stelle göttlicher Mächte treten physische Stoffe und ontologische Prinzipien. Was, so lautet nun die Frage, sind der Urstoff der Welt und die Ursache von Dauer und Beständigkeit? Empedokles, der in Sizilien wirkte, entwickelte die Elementenlehre, die erst im 18. Jh. durch den französischen Chemiker Lavoisier, der das Periodensystem aufstellte, abgelöst wurde. Die Welt wird aus den Urteilchen von Erde, Wasser, Luft und Feuer aufgebaut. Alle sichtbaren Dinge unterscheiden sich nur durch die Menge und die Art der mechanisch erfolgenden Kombination kleinster Teilchen, von Atomen. Als polar wirkende Kräfte halten Liebe und Streit durch Vereinigung und Trennung den Weltprozess in Gang.
Für Heraklit wird das unablässige Werden und Vergehen zum Ausgangspunkt der Überlegung. Alles, was lebt, entsteht aus einem anderen, das stirbt. Leben und Tod, Tag und Nacht, Krieg und Frieden fordern sich gegenseitig. Indem ein Pol immer wieder in den anderen umschlägt, entsteht die Dynamik der Natur. Obwohl nichts jemals in genau derselben Weise wiederkehrt, entsteht gerade durch den Umschlag der Gegensätze im unaufhaltsamen Wandel eine Ordnung, die dauert.3 Als unsichtbare Ordnung durchwaltet der Logos das sichtbare Geschehen und bringt alle Dinge in ein Verhältnis zueinander. Auch für Pythagoras aus Samos ist das Prinzip der Weltordnung nicht der Stoff, sondern die Zahl, die alles Seiende gestaltet und harmonische Beziehungen erzeugt. Schon in ihren Anfängen blieb die Naturphilosophie daher nicht bei der Beschreibung des Sinnlich-Wahrnehmbaren stehen, sondern erklärt es durch eine andere, unsichtbare Ordnung.
In einem wesentlichen Aspekt stimmt die griechische Sicht mit dem ersten Schöpfungsbericht der ‚Genesis‘ überein: Vor allen bestimmten und begrenzten Formen, vor der Entstehung der Elemente und vor allen Lebewesen, die den Kosmos bevölkern, war das Chaos, das Tohuwabohu, eine ungestaltete, lebensfeindliche Leere. „Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde; die Erde aber war wüst und wirr, Finsternis lag über der Urflut, und Gottes Geist schwebte über dem Wasser.“4 Die Erde, so kommentiert noch Hildegard von Bingen, „war leer, da sie noch keine Gestalt hatte.“5 Erst durch das Wort Gottes, eine rein geistige Kraft, wurden einzelne Bereiche voneinander geschieden: Licht und Finsternis, Himmel und Erde, Wasser und Land. Schöpfung ist Formgebung, Unterscheidung, Trennung, das Hervorgehen vieler Gestalten aus einer ungeschiedenen Einheit. Schritt für Schritt wird das uranfängliche Chaos durch eine schöpferische Macht gegliedert, bis Lebewesen entstehen: Pflanzen, Vögel, Fische und Säugetiere. Wie bei Hesiod muss auch nach der ‚Genesis‘ eine gewisse Ordnung da sein, bevor Menschen erschaffen werden können. Nur Gott, der Herr über das Chaos, kann die Welt wieder in ihren Urzustand zurückversetzen. Die Dichter, so resümiert Augustinus im 4. Jh., stellen das „Chaos als unförmige, gestaltlose Materie dar, ohne Eigenschaft noch Maß, ohne Ordnung noch Unterscheidung, ein verworrenes Etwas.“6
Der Gedanke einer ‚creatio ex nihilo‘, einer Schöpfung aus dem Nichts, der sich erst in den ersten Jahrhunderten nach Christus durchsetzte, wird zum ersten Mal im zweiten Makkabäerbuch des Alten Testaments erwähnt. „Alles“, so heißt es, „was es da gibt, hat Gott aus dem Nichts erschaffen.“7 Auch die Urmaterie wird nun erschaffen; sie ist deshalb nur „beinahe nichts“8. ‚Vor‘ der Schöpfung, so betont Augustinus, war nichts außer Gott.9 Der Ursprung der Welt ist daher kein Ursprung in der Zeit, sondern der Ursprung von Zeit. Da alle endlichen Seienden aus dem Nichts geschaffen wurden, haben sie eine gewisse Tendenz zur Auflösung; sie stehen zwischen Sein und Nichtsein und haben einen Anfang und ein Ende.
Die erste systematische Kosmologie des Abendlandes entwirft Platon im ‚Timaios‘. Sie wurde in ihren Grundzügen bis zur Neuzeit akzeptiert und noch im 20. Jh. für Wissenschaftler wie Heisenberg und Philosophen wie Whitehead zur Quelle der Inspiration. Kosmologie im Sinne des ‚Timaios‘ bedeutet eine Untersuchung über das Weltganze, zu der die Erklärung des physischen Aufbaus ebenso wie die der Stellung des Menschen gehören. Möglich ist jedoch nur eine „wahrscheinliche Rede“10, da der Erkennende keinen absoluten Standpunkt außerhalb des Kosmos einnehmen kann und sich alle Aussagen auf zeitlich Wandelbares beziehen. Dass dennoch ein erkenntniskritischer Realismus möglich ist, beruht darauf, dass zwischen Erkennendem und Erkanntem aufgrund des gemeinsamen Ursprungs eine Affinität besteht, sodass den Erkenntnisstrukturen Seinsstrukturen entsprechen.
Die Ausgangsfrage des ‚Timaios‘, in der sich das Staunen über das Gewordene spiegelt, ist, ob der Himmel „stets war und keinen Anfang seines Entstehens hat oder ob er, von einem Anfang ausgehend, geworden ist.“11 Diese Frage wird, bei wechselnden Antworten, noch in der modernen Astrophysik gestellt. Anders als Aristoteles bejaht Platon einen Anfang der Welt: Der Kosmos ist sinnlich wahrnehmbar und damit, wie alles durch die Sinne in Verbindung mit Mutmaßung Erkennbare, werdend und vergehend. Will man einen regressus ad infinitum ausschließen, dann darf die Ursache allen Werdens selbst nicht mehr werdend sein. Der Grund allen Seins, der kein Glied einer unabsehbaren Kausalkette mehr ist, entzieht sich daher der an die Sinne gebundenen empirischen Erkenntnis. Nur argumentativ kann und muss man auf ihn schließen. Die Frage, ob die Welt entstanden ist, führt so zu einer ersten Unterscheidung zwischen Sein und Werden.
Doch warum gibt es überhaupt etwas? Platon stellt die Frage noch in einer anderen Weise als Leibniz: Er fragt nicht, warum es nicht nur nichts gibt, sondern warum der Urgrund nicht selbstgenügsam in sich verharrte. Die Güte des Weltenbildners, so Platon, sei der Grund, warum das Weltall in der Vielfalt seiner Formen entstanden ist. Aufgrund seiner Neidlosigkeit wollte er, dass es etwas gibt, das ihm so ähnlich wie möglich ist. Wie in der ‚Genesis‘ wird die Welt bewertet: Sie ist gut, und sie hat ein Ziel: die Verähnlichung mit dem Göttlichen als der Idee des Guten.
An die Fragen, ob und warum das All entstanden ist, schließt sich die Frage an, wie es geworden ist. Erklärungsbedürftig ist vor allem, dass es überhaupt begrenzte, wohlgeformte Seiende gibt. Das Werden des Alls vollzieht sich durch die Überführung von Unordnung in Ordnung, von Gestaltlosigkeit zu Gestalt. Da nur durch diesen Prozess endliche Entitäten entstehen, sind Gestalt und Ordnung besser als Ungestaltetheit und Chaos. Anders als Empedokles und Demokrit lehnt Platon, und Aristoteles wird ihm darin folgen, den Zufall und rein kausalmechanische Wirkungen als Ursachen gleichbleibender Formen ab. Kausal wirkende Kräfte können zwar mit einer gewissen Regelmäßigkeit immer wieder bestimmte Effekte erzeugen; doch durch die ungerichtete Einwirkung zahlloser einzelner Geschehnisse aufeinander entsteht keine innere Einheit, geschweige denn die harmonische Abstimmung der unüberschaubar großen Zahl an Seienden im Kosmos. Damit verschiedene, völlig disparate Momente zu einem Ganzen werden, bedarf es der Antizipation des Endzustandes, einer Ausrichtung auf ein Ganzes, das entstehen soll. Zeitlose Gestaltprinzipien, Ideen, erzeugen als Fülle alles Möglichen im ruhelos bewegten Stoff wohlunterschiedene, in sich strukturierte Gestalten. Zweckursachen wirken allerdings nicht losgelöst von Wirkursachen und von dem Stoff, in dem sie sich ausprägen. Dadurch gibt es auch zufällige, regellose und rein mechanisch entstandene Ereignisse, sodass die Ideen das Geschehen in der Welt nicht vollständig bestimmen. Die Welt ist keine Kopie einer zeitlosen, idealen Ordnung, obwohl im kosmischen Maßstab betrachtet trotz der Wirkung der blinden Notwendigkeit die Vernunft dominiert, Zwecke die richtungslose Kausalität des Geschehens lenken. Da in jedem Prozess Wirk- und Zweckursachen ineinander greifen, ist der Kosmos nicht nur stabil; durch den Anteil am intelligiblen Sein, an Zielen und Werten hat er einen intrinsischen Wert. Natur und Vernunft, Sein und Sollen gehören zusammen.
Die Muster und die schöpferische Dynamik, die die Vielfalt endlicher Formen hervorbringen, entstammen einer immateriellen Sphäre. Obwohl materielle Prozesse im Kosmos eine notwendige Bedingung für geistige sind, verleihen diese jenen erst ihre Form. Sogar die Atome als kleinste materielle Partikel sind schon bestimmte Entitäten mit charakteristischen Eigenschaften, sodass es keine Materie ohne Geist gibt. Wenn es besser ist, zu sein als nicht zu sein, dann sind Form und Gestalt erstrebenswert und damit das, was sie ermöglicht: die Idee des Guten, die jedes innerweltliche Ziel transzendiert. Für den Menschen als bewusstem Wesen wird die Erkenntnis des Seinsgrundes daher zum Lebensziel, wie Platon im ‚Höhlengleichnis‘, ‚Symposion‘ und ‚Phaidros‘ betont.
Die fünfte Frage ist, woraus bzw. worin der Kosmos entstanden ist: Es gibt Seiendes, Werdendes und eine Art Urraum, in dem sich das Werden vollzieht. Der Raum ist „allen Werdens bergender Hort wie eine Amme.“12 Gerade weil er ohne Bestimmtheit und formende Kraft ist, eignet er sich als Urstoff für alle möglichen Seienden. Wie die Ideen, wenngleich in anderer Weise, entzieht sich die „Prägemasse“13 dem Bereich sinnlich-wahrnehmbarer und begrifflich fassbarer Entitäten. Da sich das Denken immer auf etwas Bestimmtes und damit Definierbares richtet, ist sie nur einem „Bastard-Denken“14, einem „unechten Denken“15, wie Plotin sagen wird, zugänglich. Die Funktion des Raumes als Prägemasse deutet darauf hin, dass er, anders als bei Newton, nicht leer ist, sich also nicht von der Materie trennen lässt. Außerdem ist er kein unveränderlicher, homogener Behälter; er befindet sich nicht im Gleichgewicht, sondern „schwankt ungleichmäßig auf und ab.“16 Ursache für dieses Ungleichgewicht ist das Werden und Vergehen endlicher Seiender. Durch seine Instabilität übt der Raum Kräfte aus; er wird zu einer Art „Rüttelgerät“17, das leichtere und schwerere Elemente voneinander trennt und so zur Ordnung des Kosmos beiträgt.
Dem Raum eignet somit eine eigentümliche Ambivalenz: Im Bild der Amme erscheint er als bergend, nährend, Werden ermöglichend; aufgrund seiner Unbestimmtheit wird jedoch alles, was entstanden ist, wieder vergehen. Zumindest in seiner Einseitigkeit ist der häufig gegen Platon erhobene Vorwurf unberechtigt, die Sinneswelt werde, wie die Leiblichkeit, nur negativ als Schattenwelt gezeichnet. Mit der Bestimmung des Werdenden zwischen dem reinen Sein der urbildlichen Formen und der bloßen Unbestimmtheit des Raumes hebt Platon auch für die Kosmologie die vermittlungslose Gegenüberstellung von Sein und Nicht-Sein auf, die Parmenides vollzogen hatte. Das Werdende ist zwar nicht Sein im vollen Sinne, aber es ist auch kein bloßes Nichtsein. Dank der immateriellen Formen eignet ihm ein gewisses Maß an Sein. Es dauert trotz seiner Vergänglichkeit und ist nur als Werdendes. Damit lässt sich auch ein anderer Vorwurf entkräften, der heute vor allem von neodarwinistisch eingestellten Biologen und Vertretern einer reduktionistischen Kosmologie erhoben wird: dass nämlich eine Welt, die in einem göttlichen Sein gründet, vollkommen sein müsse, sodass es kein Leid geben dürfe. Für Platon ist die Welt dem Göttlichen nur ähnlich, sie ist nicht mit ihm identisch. Das All ist „soweit möglich“18 seiend; nur „das meiste des im Entstehen Begriffenen“19 wird dem Besten entgegengeführt; das, was vormals „ohne Verhältnis und Maß“ war, wird „zu möglichst“20 Schönem und Gutem. Stets bleibt eine gewisse Einschränkung der Vollkommenheit bestehen, weil die Durchformung der Materie, die Bestimmung des gänzlich Unbestimmten, nie vollständig gelingen kann. Einerseits ist die Welt nicht so vollkommen wie es die Ideen sind; andererseits gäbe es ohne den chaotischen Urstoff überhaupt keinen Kosmos und damit auch kein Werden. Der Ambivalenz chaotischer Elemente werden wir bei Whitehead wieder begegnen, für den sie eine Voraussetzung für das indeterminierte Entstehen von Neuem und damit für die Evolution sind.
Die Ideen erzeugen im uranfänglichen Chaos zunächst die vier Elemente, die sich dem chemisch ungebildeten Beobachter in der Natur zeigen: Erde, Wasser, Luft und Feuer. Während jedoch die Vorsokratiker die Ausdifferenzierung der Körper aus einem Urstoff, etwa dem Wasser (Thales), annahmen oder die Elemente als gegeben hinnahmen (Empedokles), formt Platon, der darin den Pythagoreern folgt, die Lehre seiner Vorgänger mithilfe mathematischer Prinzipien neu. „Diese damals von Natur so Beschaffenen gestaltete der Gott also zunächst durch Formen und Zahlen.“21 Zahlen sind in diesem Fall kein Mittel, um bereits vorgefundene Einheiten zu quantifizieren oder ihre räumliche Ausdehnung zu messen; als Strukturprinzipien ermöglichen sie die Gliederung des Urstoffs und damit, dass es überhaupt qualitativ unterscheidbare Einheiten gibt, die dann auch quantitativ zählbar sind. Die Elemente sind keine starren, stofflichen Substanzen, sondern qualitative Bestimmungen eines sich nur in diesen Modi darstellenden Urstoffs, der zugleich Raum, Materie und Energie ist. Da sie aus der Verbindung der Formen mit dem Urstoff entstehen, sind sie, anders als bei Newton und wie in der heutigen Physik, nicht unwandelbar.
Nicht nur die einzelnen Elementarkörperchen sind nach mathematischen Prinzipien gebildet; das Gesetz der Proportion bestimmt auch das äußere Verhältnis der Elemente zueinander und setzt sie so untereinander in eine wohlbestimmte Relation. Die innere Proportion tritt als Verhältnis zu anderen Elementen äußerlich in Erscheinung. Proportionen verbinden das Unterschiedene in sich und mit anderem. Durch innere und äußere Relationen entsteht im Kosmos ein „freundschaftliches Einvernehmen.“22 Die dreidimensionale Räumlichkeit des Kosmos verdankt dem Gesetz der Proportion seine Stabilität. Es handelt sich um ontologische Strukturen, die mathematisch darstellbar sind. Dennoch sind die Gesetze von Geometrie und Arithmetik nicht mit der Ideenwelt identisch, wie Platon im ‚Liniengleichnis‘ der ‚Politeia‘ zeigt.
Da die Welt durch Werden und Vergehen bestimmt ist, ist sie nie vollständig das, was sie von ihren Möglichkeiten her sein könnte. Immer steht etwas aus, das noch nicht ist, sondern erst werden kann, und immer ist etwas nicht mehr, das einmal war. Alles Geschehen in der Welt hat eine zeitliche Dynamik. Sogar die Zeit selbst hat einen Anfang, sie „entstand mit dem Himmel.“23 Sowenig wie es einen leeren Raum gibt, gibt es den Kosmos ohne Zeit, sodass, wie in der modernen Astrophysik, Raum, Zeit und Materie zusammen gehören. In ihrem ursprünglichen Sinn ist die Zeit daher nicht „die Meßzahl von Bewegung hinsichtlich des ‚davor‘ und ‚danach‘“24, wie Aristoteles in der ‚Physik‘ definiert; zählbar ist nur, wie oft sich bestimmte, regelmäßig wiederkehrende Prozesse wie die Kreisbewegung der Gestirne oder der Sonnenaufgang wiederholen. Diese sind jedoch ihrerseits bereits zeitlich verfasst.
Da Chronos, die Zeit, geworden ist, kann man sie ebenso wenig wie den Kosmos aus sich heraus verstehen, sondern nur durch den Bezug auf ihr unvergängliches Urbild, den Aion. Sie ist „ein bewegliches Abbild der Ewigkeit.“25 Die sich von der Ewigkeit herleitende Zeit interpretiert Platon mithilfe des Modells der Lebenszeit. Als Urbild des Kosmos ist der Aion die Idee eines Lebens, das nicht wird und vergeht. In ihm sind alle Lebensphasen, die Chronos sukzessive zur Entfaltung bringt, ungeteilt gegenwärtig. Im Unterschied zur gemessenen Zeit, die nur ein äußerlicher Parameter ist, der nichts zur Strukturierung der Prozesse beiträgt, bildet die Lebenszeit ein Ganzes, das die verschiedenen Lebensphasen zu einer inneren Einheit verbindet. Das Leben rundet sich, wenn alle Phasen durchlaufen werden. Während die Ideen alles, was möglich ist, zeitlos in sich schließen, wird die Welt ihrem Urbild dadurch ähnlich, dass sie das zeitlos Gegenwärtige im Durchgang durch die drei Ekstasen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft durchläuft.
Man würde freilich dem Modell der Lebenszeit nicht gerecht, wenn man sie nur als Nacheinander einzelner Zeitabschnitte begreifen würde. Die Phasen unterscheiden sich qualitativ und bauen aufeinander auf, sodass ihre Abfolge nicht beliebig ist. Da die Lebenszeit nicht homogen ist, ist es nicht gleichgültig, in welcher Reihenfolge etwas geschieht. Kindheit, Jugend, Reife und Alter sind verschiedene Phasen mit je unterschiedlicher Länge, besonderen Fähigkeiten und spezifischen Aufgaben, die das Individuum in der Gesellschaft hat. Auch Tag und Nacht, Monat und Jahr sind qualitativ verschiedene Momente eines in sich zusammenhängenden Zeitverlaufs; sie sind Glieder in einem komplexen Gefüge, das nur in seiner Ganzheit den Aion zum Ausdruck bringt. Das Jahr gliedert sich in die einzelnen Jahreszeiten, der Tag in verschiedene Tageszeiten, die wiederum mit unterschiedlichen Aktivitäten bei allen Lebewesen verbunden sind. Die Qualität des Lebens hängt weniger von der Zahl der Jahre ab als davon, ob alle Phasen durchlaufen werden. Dann ist es erfüllt.
Wie die Raummaterie ist auch die Zeit janusköpfig: Als Abbild der Fülle der Zeiten ist sie nicht pure Vergänglichkeit, sondern Bedingung des Werdens, der Entwicklung von Möglichkeiten. Da diese jedoch nicht gleichzeitig, sondern nur nacheinander entfaltet werden können, schafft erst das Vergehen den Raum für neue Möglichkeiten. Um erwachsen zu werden, muss man die Kindheit hinter sich lassen, um weise zu werden, muss man eine Fülle von Erfahrungen durchlebt haben. Damit etwas Neues entstehen kann, muss das, was entstanden ist, vergehen. Ohne den Tod wäre die Entfaltung des Lebens unmöglich.
Auch für die Zeit sind Proportionen entscheidend: Platon bestimmt sie als „in Zahlenverhältnissen umlaufend.“26 Im Kosmos hat jedes Lebewesen, in Hinblick auf seine Lebensdauer und seine Lebensphasen, sein eigenes zeitliches Maß. Doch nur wenn die unterschiedlichen Lebenszeiten aufeinander abgestimmt sind, wird der Kosmos zu einem in sich gegliederten Ganzen. Als Urbild ist die Ewigkeit in gewisser Weise eine zeitlose Momentaufnahme, in der die zeitlichen Proportionen aller Lebewesen gleichzeitig vorhanden und aufeinander abgestimmt sind. Deshalb ist auch das Werden und Vergehen in der Welt kein bloßes Nach- oder Nebeneinander von Geburten und Toden, sondern wird durch die Verhältnisse der Lebenszeiten aller Lebewesen zueinander strukturiert. Erst das Zusammenspiel der Vielzahl einzelner Zeiten bildet die zeitliche Dynamik des Kosmos als ‚großem Lebewesen‘. Die Ordnung der Natur, so kann man diesen Gedanken übersetzen, ist nicht nur eine räumliche, sondern auch eine zeitliche. Die Zeit ist nicht nur die Form der inneren Anschauung, wie Kant dachte, und keine bloß mentale und soziale Konstruktion; sie ist eine notwendige Voraussetzung für die Erhaltung und Entfaltung einer Vielfalt von Lebewesen, von denen jedes eine Eigendynamik hat.
Platon charakterisiert die Zeit außerdem als umlaufend: Der Versuch, diese Aussage durch den Hinweis zu erklären, dass die antiken Denker die Erde als Mittelpunkt der Welt betrachteten, die von den Gestirnen umkreist wurde, greift zu kurz. Nicht nur am Firmament, sondern in der ganzen Natur lassen sich zyklisch wiederkehrende Prozesse beobachten. Nur wenn das Ende eines Jahres in den Beginn eines neuen mündet, auf einen Winter wieder der Frühling folgt, kann sich die Natur in ihrer Formenvielfalt entfalten und als gleichförmige Ordnung nahezu unbegrenzt erhalten. Nur als Kreisbewegung, die sich endlos wiederholt, kann die Zeit, so glaubte daher Platon, ein Abbild der Ewigkeit sein. Auch der Bestand einer Gesellschaft hängt davon ab, dass sich Geburten und Tode einigermaßen die Waage halten. Nur wenn ungefähr genauso viele Menschen geboren werden wie sterben kann sie sich erhalten. Wenn kaum Menschen sterben und gleichzeitig weiter Kinder geboren werden, sind Überbevölkerung und ein Raubbau an der Natur unausweichlich. Werden langfristig weniger Menschen geboren als sterben, stirbt die Menschheit aus. Die zyklische Abfolge ist daher nicht nur ein Bild für die Einheit der Lebensphasen, sondern auch eine Bedingung der Erneuerung des Lebens auf der Erde, seiner Regeneration im buchstäblichen Sinn.
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Die Ordnung des Kosmos wird allerdings nicht nur durch die Gesetze bestimmt, die die Materie und das Verhältnis der Lebewesen zueinander regeln, sondern auch durch die Lebensweise der Menschen. Auch sie sind ein integraler Teil des Weltganzen, sodass eine Kosmologie ohne Anthropologie genauso unvollständig wäre wie eine Anthropologie ohne Kosmologie. In mythischer Rede schildert Platon die Entstehung einer Vielzahl von Lebewesen, die sich in vier große Gattungen unterteilen lassen und sich in unterschiedlicher Nähe zum höchsten Sein befinden: Götter; Lebewesen, die die Luft bevölkern, solche, die im Wasser leben und die, die auf der Erde wohnen. In jeder Lebensform hat eines der vier Elemente den Vorrang und bestimmt dadurch Lebensumfeld und Lebensweise.
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Da in der Natur geistige Prinzipien gegenwärtig sind, ist der Mensch als leibgeistige Einheit ein integraler Teil des Kosmos. Er kann sich nur selbst erkennen, wenn er auch um seine Stellung im Kosmos weiß. Dadurch thematisiert Platon auch die Fragen, die eine rein physikalische Kosmologie nicht mehr stellt. Dass jedoch zuerst über die Entstehung des Kosmos in seinen zeitlichen und materiellen Aspekten berichtet wurde, weist auf eine fundamentale Grunderfahrung hin, die die platonische Kosmologie, trotz aller Unterschiede, mit der physikalischen Kosmologie des 20. Jh. verbindet: Die großräumigen materiellen Strukturen des Alls und seine Gesetze gehören zu den ontologischen Voraussetzungen allen Lebens. Im Unterschied zu Kant, der den Ausgang der Welterschließung in das erkennende Subjekt verlagert, begreift sich der Mensch bei Platon aus dem ihn umgebenden Weltzusammenhang, den er mit seinem Geist überschreiten kann. Beide Argumente haben, so wird bei Whitehead deutlich werden, ihre Berechtigung.