Herausgegeben von
Kai Brodersen, Martin Kintzinger,
Uwe Puschner, Volker Reinhardt
Herausgeber für den Bereich 19./20. Jahrhundert:
Uwe Puschner
Beratung für den Bereich 19./20. Jahrhundert:
Walter Demel, Merith Niehuss, Hagen Schulze
Andreas Rose
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation
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© 2013 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt
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die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht.
Redaktion: Kristine Althöhn, Mainz
Einbandgestaltung: schreiberVIS, Bickenbach
Satz: Lichtsatz Michael Glaese GmbH, Hemsbach
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ISBN 978-3-534-25935-9
Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich:
eBook (PDF): 978-3-534-738 03-8
eBook (epub): 978-3-534-738 04-5
In der Geschichte, wie auch sonst,
dürfen Ursachen nicht postuliert werden,
man muss sie suchen. (Marc Bloch)
Das Interesse an Geschichte wächst in der Gesellschaft unserer Zeit. Historische Themen in Literatur, Ausstellungen und Filmen finden breiten Zuspruch. Immer mehr junge Menschen entschließen sich zu einem Studium der Geschichte, und auch für Erfahrene bietet die Begegnung mit der Geschichte stets vielfältige, neue Anreize. Die Fülle dessen, was wir über die Vergangenheit wissen, wächst allerdings ebenfalls: Neue Entdeckungen kommen hinzu, veränderte Fragestellungen führen zu neuen Interpretationen bereits bekannter Sachverhalte. Geschichte wird heute nicht mehr nur als Ereignisfolge verstanden, Herrschaft und Politik stehen nicht mehr allein im Mittelpunkt, und die Konzentration auf eine Nationalgeschichte ist zugunsten offenerer, vergleichender Perspektiven überwunden.
Interessierte, Lehrende und Lernende fragen deshalb nach verlässlicher Information, die komplexe und komplizierte Inhalte konzentriert, übersichtlich konzipiert und gut lesbar darstellt. Die Bände der Reihe „Geschichte kompakt“ bieten solche Information. Sie stellen Ereignisse und Zusammenhänge der historischen Epochen der Antike, des Mittelalters, der Neuzeit und der Globalgeschichte verständlich und auf dem Kenntnisstand der heutigen Forschung vor. Hauptthemen des universitären Studiums wie der schulischen Oberstufen und zentrale Themenfelder der Wissenschaft zur deutschen, europäischen und globalen Geschichte werden in Einzelbänden erschlossen. Beigefügte Erläuterungen, Register sowie Literatur- und Quellenangaben zum Weiterlesen ergänzen den Text. Die Lektüre eines Bandes erlaubt, sich mit dem behandelten Gegenstand umfassend vertraut zu machen. „Geschichte kompakt“ ist daher ebenso für eine erste Begegnung mit dem Thema wie für eine Prüfungsvorbereitung geeignet, als Arbeitsgrundlage für Lehrende und Studierende ebenso wie als anregende Lektüre für historisch Interessierte.
Die Autorinnen und Autoren sind in Forschung und Lehre erfahrene Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Jeder Band ist, trotz der allen gemeinsamen Absicht, ein abgeschlossenes, eigenständiges Werk. Die Reihe „Geschichte kompakt“ soll durch ihre Einzelbände insgesamt den heutigen Wissensstand zur deutschen und europäischen Geschichte repräsentieren. Sie ist in der thematischen Akzentuierung wie in der Anzahl der Bände nicht festgelegt und wird künftig um weitere Themen der aktuellen historischen Arbeit erweitert werden.
Kai Brodersen
Martin Kintzinger
Uwe Puschner
Volker Reinhardt
Geschichte kompakt
Karte Europa am Vorabend des 1. Weltkrieges
I. Das Wilhelminische Kaiserreich
1. Die außenpolitischen Akteure
a) Wilhelm II. und seine Reichskanzler
b) Staatskunst und/oder Kriegshandwerk?
c) Die Wilhelmstraße
d) Pressepolitik, Öffentlichkeit und Diplomatie
2. Weltmacht oder Untergang? – Nationaler und internationaler Bewegungsrahmen
II. Der „neue Kurs“ (1890–1896)
1. Politik ohne Kompass
a) Die Nichterneuerung des Rückversicherungsvertrages
b) Helgoland für Sansibar
c) Rüstungs- und Handelspolitik als Außenpolitik
2. „Springende Unruhe“ und internationale Polarisierung
III. Im Banne der Weltpolitik: Deutschlands „Platz an der Sonne“ (1897–1902)
1. Triebkräfte und Sendungsbewusstsein
2. „Zu spät gekommen“ – Deutschland in der Welt
a) Das Kaiserreich in Fernost
b) Das Bagdadbahnprojekt 1898/99
3. Der Tirpitz-Plan
4. Die deutsch-englischen Sondierungen (1898/1901)
IV. Die Illusion der „freien Hand“ (1902–1909) – die „Auskreisung“ als „Einkreisung“
1. Weltpolitische Neuorientierung
2. Rückwirkungen der Peripherie
a) Die Öffentlichkeit als neuer Akteur – Kanonenbootpolitik und Bagdadbahnfrage
b) Entente cordiale und Marokkokrise
c) Das Ende der Krimkriegskonstellation – der anglo-russische Brückenschlag und die Annexionskrise
3. Der „Dreadnought-Sprung“ und das Flottenwettrüsten
V. „Weltpolitik und kein Krieg“ (1909/11–1914)
1. SMS Panther vor Agadir
2. Entspannung und Krisenverschärfung
a) Gesellschaftliche Entspannungsversuche
b) Diplomatisch-dynastische Entspannungsversuche
3. Machtpolitische Zuspitzung
a) Französisch-russische Eskalationspläne und deutsch-britische Détente während der Balkankriege
b) Die Liman-von-Sanders-Krise und der Geheimnisverrat über die anglo-russischen Marinegespräche
4. Julikrise und Kriegsausbruch
VI. Die Außenpolitik im Krieg (1914–1918)
1. Kriegsziele und Friedensinitiativen
a) „Septemberprogramm“ und Mitteleuropavorstellungen
b) Der Vertrag von London und die ersten Vermittlungsversuche
c) Von der „House-Mission“ zur Friedensrede Bethmann Hollwegs
2. Das Epochenjahr 1917
a) U-Boot-Krieg, Kriegseintritt der USA und letzte Friedensfühler
b) Waffenstillstand im Osten und Diktatfriede von Brest-Litowsk
3. Das Ende der Hohenzollernmonarchie
a) Wilsons „Vierzehn Punkte“ und der Zusammenbruch der Mittelmächte
b) Das Ende des Reiches – Novemberrevolution und Waffenstillstand von Compiègne
VII. Schlussbetrachtung
Auswahlbibliographie
Personen- und Sachregister
1862 |
Berufung Bismarcks zum preußischen Ministerpräsidenten |
1864–1871 |
Einigungskriege gegen Dänemark, Österreich und Frankreich |
18.1.1871 |
Kaiserproklamation im Schloss von Versailles |
1875 |
„Krieg-in-Sicht“-Krise |
13.6.–13.7.1878 |
Berliner Kongress |
7. und 16.10.1879 |
Zweibundvertrag Deutschlands mit Österreich-Ungarn |
18.6.1881 |
Dreikaiservertrag zwischen Deutschland, Österreich-Ungarn und Russland |
20.5.1881 |
Dreibund zwischen Österreich-Ungarn, Italien und Deutschland |
1885–1887 |
West-östliche Doppelkrise |
18.6.1887 |
Deutsch-russischer Rückversicherungsvertrag |
5.3.1888 |
Friedensrede Bismarcks im Reichstag |
9.3.1888 |
Tod Kaiser Wilhelms I. |
15.6.1888 |
Tod Kaiser Friedrichs III. nach nur 99-tägiger Regentschaft |
15.6.1888 |
Wilhelm II. wird deutscher Kaiser |
20.3.1890 |
Entlassung Bismarcks |
Die Außenpolitik der Wilhelminischen Epoche – also derjenigen Jahrzehnte nach der Entlassung Otto von Bismarcks (1815–1898), denen insbesondere Kaiser Wilhelm II. (1859–1941) seinen Stempel aufdrückte – und der Ausbruch des Ersten Weltkrieges gehören zweifellos zu den am besten erforschten Gebieten der neueren Geschichte. Obgleich die Offenheit historischer Entwicklungen betont werden muss, so hat doch die Frage nach den Ursachen für den Ersten Weltkrieg Historiker wie Öffentlichkeit seit den Augusttagen des Jahres 1914 beschäftigt. Lange dominierte dabei vor allem der Blick auf das Kaiserreich. Nach Jahrzehnten des Streits um die Thesen Fritz Fischers und den deutschen Anteil an den internationalen Entwicklungen vor 1914 befindet sich die Forschung schon seit Jahren in einer intensiven und äußerst stimulierenden Bewegung. Vom Inbegriff des permanenten Versagens der Berliner Außenpolitik unter Wilhelm II. ist dabei zuletzt nicht mehr viel übrig geblieben. Zwar ist nach wie vor unstrittig, dass das Deutsche Reich unter Wilhelm II. ganz bewusst das Risiko eines Krieges eingegangen ist und ihm deshalb ein großer Teil der Schuld am Kriegsausbruch zuzurechnen ist. Gleichwohl haben jüngere Studien zum einen verstärkt auf die inneren und äußeren Zwänge hingewiesen, denen sich die Berliner Außenpolitik nach dem erzwungenen Abgang Bismarcks zu stellen hatte. Eine zweite Forschungsrichtung konzentrierte sich zum anderen in den letzten Jahren auf die übrigen Großmächte. Anhand beeindruckender Quellenfunde ist es gelungen, die fatale Wiener Außenpolitik neu zu erfassen und die mittelfristigen Versäumnisse der britischen Außenpolitik ebenso darzulegen, wie die höchst riskante, um nicht zu sagen verantwortungslose Politik Frankreichs und Russlands näher zu beleuchten. Insgesamt entsteht dabei ein in vielen Bereichen neues und äußerst differenziertes Bild von der europäischen Vorkriegspolitik. Zweifellos wird auch hier das letzte Wort noch nicht gesprochen sein. Aber es scheint auch in Anbetracht des bevorstehenden Hundertjährigen Jahrestages des Kriegsausbruchs 2014 an der Zeit, Bilanz zu ziehen. Angesichts der Fülle der Ergebnisse, insbesondere auch, was die übrigen Mächte angeht, erscheint es nur logisch, dass die vorliegende Darstellung zur Außenpolitik zwischen 1890 und 1918 den Berliner Kurs stets in dessen internationalem Bezugsrahmen betrachtet. Darüber hinaus wird auch die bislang vernachlässigte Diplomatie im Krieg mit einbezogen.
An der Spitze der deutschen Außenpolitik stand verfassungsrechtlich der Kaiser. Ihm oblag es nach Artikel 11 der Reichsverfassung, das Reich „völkerrechtlich zu vertreten, in dessen Namen Krieg zu erklären und Frieden zu schließen, Bündnisse und andere Verträge mit fremden Staaten einzugehen, Gesandte zu beglaubigen und zu empfangen“. Zudem führte er das Präsidium des Bundes, ernannte und entließ den Reichskanzler (Art. 18) und hatte den Oberbefehl über alle Streitkräfte (Art. 53, 63). In der politischen Praxis hing der Einfluss des Kaisers allerdings stark von dessen Persönlichkeit ab. In dieser Hinsicht gliedert sich die Geschichte der Außenpolitik des Kaiserreiches in die Herrschaft Wilhelms I. (1797–1888) zwischen 1871 und 1888, ergänzt durch die 99 Tage Herrschaft seines Sohnes Friedrich III. (1831–1888) und die Herrschaft Wilhelms II. zwischen 1888 bis 1918.
„Persönliches Regiment“
Wilhelm I. überließ das Regieren weitgehend seinem Kanzler Otto von Bismarck und vertraute dessen außenpolitischen Entscheidungen nahezu blind. Mit dem Tod des alten Kaisers, dessen Sohnes Friedrich III. und der Übernahme durch den erst 29-jährigen Wilhelm II. begann sich die politische Kräftebalance zwischen Kanzler und Monarch zu ändern. Wilhelm II. beanspruchte ein „persönliches Regiment“. Sosehr er Bismarck in seiner Jugend bewundert hatte, sosehr wollte er sich als Kaiser von diesem emanzipieren und „seinen eigenen Kanzler“ haben.
Der unfreiwillige Abgang Bismarcks, denn mit Otto musste auch sein Sohn, Staatssekretär Herbert von Bismarck, seine Diensträume in der Wilhelmstraße räumen, markierte fraglos eine entscheidende Zäsur in der deutschen Außenpolitik. Nachfolger Otto von Bismarcks wurde der außenpolitisch völlig unbedarfte General der Infanterie, Leo von Caprivi.
Wilhelm II. ging es nach der übermächtigen Führungsfigur Bismarcks bei der Kanzlerwahl vor allem um unbedingte Loyalität. Das Auswärtige Amt und seine Diplomaten blieben Caprivi fremd. Auch der Umgang mit dem Ausland interessierte ihn kaum. Obwohl ihm einige Erfolge auf dem Gebiet der Handelspolitik gelangen, geriet er immer wieder in Konflikt mit dem Kaiser und bekam das Auswärtige Amt nie in den Griff. Wohl nicht zuletzt deshalb fiel die Wahl Wilhelms II. als seine beiden nächsten Kanzler wieder auf Karrierediplomaten. Das war zudem ein eindeutiges Zeichen, wie wichtig die auswärtige Politik für Deutschland um die Jahrhundertwende war. 1894 entschied sich der Kaiser zunächst für eine Lösung aus dem Hochadel.
Der bereits 75-jährige Chlodwig zu Hohenlohe-Schillingsfürst sollte nun die Geschicke des Reiches lenken. Aber er galt von Anfang an als Übergangs- und Verlegenheitslösung. Zwar konnte er dem Kaiser aufgrund seiner hocharistokratischen Herkunft selbstbewusster entgegentreten als der Offizier Caprivi, aber er war bereits zu alt, um sich permanent zu behaupten und der deutschen Außenpolitik einen eigenen Stempel aufzudrücken.
Bernhard von Bülow
Ganz anders dagegen Staatssekretär Bernhard von Bülow, den Wilhelm II. ab 1900 zu „seinem Bismarck“ machte. Bülow war ein typischer Karrierediplomat. Schon sein Vater hatte Preußen als Diplomat gedient und durfte sich als einer der wenigen Freunde Bismarcks bezeichnen.
Mit jahrelanger diplomatischer Erfahrung besaß Bülow genaue Kenntnis der deutschen Lage im Staatensystem wie auch Erfahrungen im Umgang insbesondere mit Russland, Frankreich und Österreich-Ungarn. England hingegen blieb ihm Zeit seines Lebens ein Rätsel, was sich besonders nachteilig auf die deutsche Englandpolitik auswirken sollte. Darüber hinaus stand Bülow in dem Ruf, nicht nur besonders eitel und ehrgeizig zu sein, sondern sich auch die Gunst des Kaisers durch permanentes Einschmeicheln zu sichern.
Nach Bülows Entlassung 1909 zog mit Theobald von Bethmann Hollweg wieder ein Nicht-Diplomat in das Reichskanzlerpalais ein. Aber auch charakterlich bedeutete die Wahl ein wahres Kontrastprogramm zu Bülow. Bethmann begegnete seiner Umgebung schweigsam, zurückhaltend, pflichtbewusst und ernsthaft – ein typischer preußischer Beamter, wenn man so will. Außenpolitisch war er ebenso unbedarft wie vormals Caprivi. Aber nach der langen Kanzlerschaft Bülows, die gerade auf internationalem Gebiet immer wieder zu Spannungen geführt hatte, musste das kein Nachteil sein.
Politischer oder militärischer Vorrang?
Neben dem in der politischen Praxis entscheidenden Verhältnis zwischen Monarch und Kanzler kennzeichnete das Kaiserreich zudem ein Dualismus zwischen politischer Leitung und militärischer Führung. Dabei hing die jeweilige Gewichtung in besonderem Maße von den verantwortlichen Persönlichkeiten ab. Zu bemerken ist deshalb der militärische Hintergrund politischer und diplomatischer Entscheidungsträger, denn nicht nur Caprivi war von Hause aus General. Auch eine ganze Reihe von Politikern und Diplomaten hatten eine Offizierslaufbahn vorzuweisen und dachten nicht selten in militärischen Kategorien. Der Botschafter in St. Petersburg bekleidete gleichzeitig sogar den Posten eines Militärbevollmächtigten. So existierte vielfach keine klare Trennungslinie zwischen zivilen und militärischen Fragen. Militärs dachten ebenso über politische Entscheidungen und Ziele nach, wie auch Diplomaten und Politiker Erwartungen militärischer Entscheidungen und Risiken in ihre Überlegungen mit einbezogen. Die Folge war eine gleich zweifache Militarisierung der deutschen Außenpolitik. Zum einen entwickelte sich der Zweibund mit Österreich-Ungarn zunehmend zu einer alternativlosen, außenpolitisch wie militärisch wirkmächtigen Blockformation. Zum Zweiten war das außenpolitische Krisenverhalten und Krisenmanagement mehr und mehr von Maßnahmen direkter militärischer Vorbereitung, Mobilisierung und zusätzlichen Rüstungen begleitet gewesen. Gerade im Vorfeld des Ersten Weltkrieges wurde keine Krise lediglich am Verhandlungstisch gelöst, ohne gleichzeitig erfolgende militärische Drohgebärden, Rücksprachen mit der militärischen Kommandoebene oder möglichen Kriegsszenarien.
Für eine weitere Betonung des Militärischen sorgte der Kaiser nicht nur durch seine bekannte, öffentlich zur Schau gestellte und nicht selten kauzig wirkende Uniformverliebtheit, sondern insbesondere durch sein Verständnis als Oberbefehlshaber. Wilhelm II. achtete mit Nachdruck darauf, dass sich Politiker nicht in seine Kommandogewalt einmischten. Sowohl Militär als auch Marine besaßen daher ein Monopol, Kriegsszenarien an jeglicher politischer Einwirkung vorbei zu entwerfen. Politisch-militärische Überlagerungen in den Entscheidungsprozess waren deshalb unvermeidlich.
Staatskunst und Kriegshandwerk waren aber auch auf eine andere, geradezu philosophisch zu nennende Weise ineinander verwoben. Ohne eine verfassungsrechtliche Trennung standen sich insbesondere in außenpolitischen Fragen die militärischen Institutionen und die Wilhelmstraße, dem Sitz des Auswärtigen Amtes, wiederholt gegenüber. Jenseits institutioneller Konflikte und persönlicher Animositäten, die zu allen Zeiten in komplexen politischen Systemen anzutreffen sind, wurde die Frage nach dem rechten Verhältnis von Staatskunst und Kriegshandwerk im Kaiserreich nie beantwortet. Der Kriegstheoretiker Carl von Clausewitz (1780–1831) hatte hierzu zwar eine klare Meinung geliefert, nämlich dass der Krieg letztlich ein politischer Akt sei und der Primat der Politik über der Kriegführung zu stehen habe. Der Krieg sei aber nicht nur ein Akt, sondern „ein wahres politisches Instrument, eine Fortsetzung des politischen Verkehrs“. Die preußischen Militärs, allen voran Generalfeldmarschall Helmuth von Moltke d.Ä. (1800–1891) schlossen daraus jedoch, nicht zuletzt auch um der eigenen Interessenwahrung willen, dass die Politik zwar den Kriegsbeginn und das Kriegsende bestimme. Im Krieg selbst aber habe ausschließlich die Strategie zu herrschen. Moltke bestritt damit ausdrücklich den Primat der politischen Führung. Für ihn bedeutete der Krieg, insbesondere nach den modernen technischen Entwicklungen und nationalistischen Stimmungen des 19. Jahrhunderts, Existenzkampf, der nur mit der Unterwerfung des Verlierers enden könne. Aus militärischer Sicht wünschenswert war die Hegemonie, die militärisch garantierte Überlegenheit oder anders ausgedrückt, die minimale Verletzbarkeit bei maximaler Verletzungsfähigkeit, nicht dagegen das diplomatische Wechselspiel des Gleichgewichts, des Interessenausgleichs und der Kompromisse. Das beschrieb den Hintergrund von Moltkes Auseinandersetzungen mit Bismarck während der Einigungskriege. Solange Bismarck Reichskanzler war, setzte er sich mit Deckung Wilhelms I. bei allen sachlichen Konfrontationen gegenüber Helmuth von Moltke durch.
Nach Bismarcks Entlassung kam es zunächst zu einer Bündelung der vollziehenden Gewalt. Zur Stärkung seiner Position ersetzte Wilhelm II. weitgehend eigenständige Persönlichkeiten durch ihm untertänig ergebene Männer. Dieser „Freundeskreis“ versuchte seinerseits, den keinesfalls unbegabten, aber unsteten und sprunghaften jungen Monarchen zu beeinflussen. Das führte insbesondere seit der Jahrhundertwende mit den zunehmend komplexer werdenden politischen Rahmenbedingungen zu immer problematischeren Beziehungsmustern. Diese endeten schließlich in einem „plutokratischen Chaos“, bei dem mehrere rivalisierende Machtzentren um den Kaiser, seine Berater, die jeweiligen Reichskanzler, das Auswärtige Amt, den Großen Generalstab und vor allem das Reichsmarineamt entstanden.
Die zunehmend ernster werdende außenpolitische Lage im Jahrzehnt vor dem Kriegsausbruch, die stetig steigende Verschuldung des Reiches, die wachsende Polarisierung der innenpolitischen Kräfte und die unversöhnliche Haltung gegenüber der Sozialdemokratie hätten es erfordert, die Macht auf eine breitere Basis zu stellen. Tatsächlich kam es, von einigen zaghaften Reformversuchen unter Theobald von Bethmann Hollweg abgesehen, zu einer „Militarisierung“ der kaiserlichen Umgebung wie auch der Außenpolitik. In der Julikrise schließlich, so wird noch zu sehen sein, dominierten ab einem gewissen Punkt nicht zuletzt vermeintliche militärische Sachzwänge den außenpolitischen Kurs.
Im Zweifel stand für Wilhelm II. fest, dass „im Krieg, die Politik den Mund zu halten“ habe. Unter seiner Regentschaft wurde die Außenpolitik zu einem ständigen Balanceakt zwischen den Forderungen der Armee- bzw. Marineführung und der jeweiligen politischen Führung um den Reichskanzler. Nur so konnte etwa der Schlieffen-Plan überhaupt die Bedeutung erlangen, die ihm in der Forschung gemeinhin zugesprochen wird. Für Bismarck wäre es geradezu undenkbar gewesen, sich von einem militärischen Plan politische Fesseln anlegen zu lassen. Für seine Nachfolger galt eben dies nicht mehr. Reichskanzler Bethmann Hollweg brachte es noch im Weltkrieg fertig, seinen Kritikern entgegenzuhalten, dass es sich ein militärischer Laie unmöglich anmaßen könne, militärische Möglichkeiten, geschweige denn militärische Maßnahmen zu beurteilen. Das bedeutete nichts anderes als die Abdankung der Politik, den Verzicht auf die politische Koordinationsaufgabe und die massive Einschränkung politischer Optionen. Im Ersten Weltkrieg wurde die Politik schließlich von der Obersten Heeresleitung (OHL), insbesondere der dritten OHL um Paul von Hindenburg (1847–1934) und Erich Ludendorff (1865–1937) nahezu vollständig marginalisiert.
Auswärtiges Amt
Politisches Zentrum des Kaiserreiches blieb auch nach der Ära Bismarck die Wilhelmstraße. Jene Regierungsmeile, die sich von Unter den Linden bis zum Belle Alliance Platz erstreckt und auf der sich unter anderem das Reichskanzlerpalais (Nr. 77), das Auswärtige Amt (Nr. 75/76), der Bundesrat (Nr. 74), das Reichskolonialamt (Nr. 62) und die englische Botschaft (Nr. 70) befanden, und in deren unmittelbarer Nähe auch weitere Regierungsstellen wie das Kriegsministerium (Leipziger Str. 5) bzw. das Reichsmarineamt (Leipziger Platz 13) ihren Sitz hatten. Hier befand sich der politische Raum, in dem die außenpolitische Entscheidungsfindung stattfand.
Das Auswärtige Amt war keine von einem selbstständigen Außenminister geleitete Behörde, sondern es war dem einzigen Minister im Reich, dem Reichskanzler, unterstellt. Gleiches galt für das Reichskanzleramt, zuständig für alle inneren Angelegenheiten des Reiches. Im Alltag wurde der Kanzler in der Leitung des Auswärtigen Amtes durch einen Staatssekretär vertreten. Mit Zunahme der Geschäfte kam es zu einer Ausdifferenzierung einzelner Reichsbehörden.
In der Ära Bismarck war das Auswärtige Amt noch ein vergleichsweise kleiner Apparat, der lediglich über 19 Etatstellen verfügte. Für die eigentliche politische Lenkung der Außenpolitik war neben dem Reichskanzler der jeweilige Staatssekretär als Chef der Politischen Abteilung (Abt. I A), dem Herzstück des Auswärtigen Amtes, zuständig. Von diesen Amtsleitern ragten im Kaiserreich insbesondere Herbert von Bismarck (1885–1890), Bernhard von Bülow (1897–1900), Alfred von Kiderlen-Wächter (1910–1912) sowie Gottlieb von Jagow (1912–1916) heraus. Unterhalb des Staatssekretärs arbeiteten die sogenannten Vortragenden Räte, denen wiederum Hilfsarbeiter und Anwärter zugeordnet waren. Solange Bismarck, unterstützt durch seinen Sohn Herbert als Staatssekretär, die Fäden der deutschen Außenpolitik in Händen hielt, war das Eigengewicht des Amtes relativ gering.
Unter dem außenpolitisch unerfahrenen Caprivi gewann das Amt an Bedeutung, zumal der zum Staatssekretär ernannte Marschall von Bieberstein (1842–1912) als ehemaliger badischer Staatsanwalt ebenfalls keine diplomatische Karriere vorweisen konnte. In der Folge wurde der Vortragende Rat Friedrich von Holstein (1837–1909) als erfahrenster und machtbewusstester Mitarbeiter der Politischen Abteilung zum starken Mann im Amt. Indem er es verstand, sich durch seine diplomatische Expertise und zahlreiche Intrigen auch unter wechselnden Kanzlern unentbehrlich zu machen, wurde er bis 1906 als „graue Eminenz“ zu einer bestimmenden Figur der deutschen Außenpolitik. Holstein steht beispielhaft auch dafür, dass sich nach dem Abschied Bismarcks die Konkurrenz innerhalb des Amtes Bahn brach und verstärkt von unteren Ebenen aus versucht wurde, Einfluss auf den Kurs des Reiches zu nehmen.
Im Ausland wurde Deutschland nach der Reichsgründung von einer ständig wachsenden Zahl von Diplomaten vertreten. 1870 bestand das diplomatische Personal noch aus 60 Etatstellen sowie einer größeren Anzahl von Botschafts- und Legationssekretären. 1874 verfügte das Reich lediglich über vier Botschaften in London, Paris, St. Petersburg und Wien und über 14 Gesandtschaften (Athen, Bern, Brüssel, Den Haag, Konstantinopel, Kopenhagen, Lissabon, Madrid, Rom, Stockholm, Peking, Rio de Janeiro, Washington, Vatikan). Hinzu kamen acht preußische Gesandtschaften innerhalb des Reiches (Darmstadt, Hamburg, Karlsruhe, München, Oldenburg, Stuttgart und Weimar), acht Ministerresidenturen (Bogota, Buenos Aires, Caracas, Lima, Mexiko, Santiago, Tanger, Tokio) sowie sieben Generalkonsulate mit diplomatischem Status (Alexandria, Belgrad, Bukarest, London, New York, Budapest und Warschau). 1914 verteilten sich die inzwischen 103 etatmäßigen Beamten des Diplomatischen Dienstes auf neun Botschaften (London, Paris, St. Petersburg, Wien, Rom, Konstantinopel, Tokio, Washington und Madrid), 23 Gesandtschaften, sieben Ministerresidenturen, 33 Generalkonsulate und mehr als 100 Berufskonsulate. Vor allem das Anwachsen des konsularischen Dienstes weist auf zunehmende Handelsverbindungen in diesem Zeitraum hin.
Zum sozialen Hintergrund der Diplomaten ist zu sagen, dass es sich hier gerade bei den Posten im Ausland ausnahmslos um begüterte Persönlichkeiten handelte, und wie in anderen Ländern auch, war der Adel überproportional vertreten. Die elitären Aufnahmeprüfungen konnten in Einzelfällen umgangen werden, zumal gerade Bismarck die Diplomatie eher als Kunst denn als erlernbares Handwerk begriff. Wie in Frankreich und England, so kamen auch in Deutschland um die Jahrhundertwende vermehrt Stimmen auf, die eine Reform mit dem Ziel einer Professionalisierung des Diplomatischen Dienstes forderten. Zu grundlegenden Reformen kommt es allerdings erst nach dem Weltkrieg.
Öffentlichkeit als politischer Akteur
Hätte man in den Jahren vor 1914 Diplomaten und Politiker gefragt, welche Faktoren die internationalen Beziehungen am meisten belasteten, so hätten sie vermutlich – neben dem Wettrüsten – kaum etwas so häufig genannt wie „die Presse“. Hintergrund dafür bildete das Gefühl, von den Pressevertretern längst zurückgedrängt worden zu sein. Ehemalige Arkanbereiche staatlicher Herrschaft gerieten spätestens seit den frühen 1880er-Jahren unter immer stärkeren Druck, sich Kräften zu öffnen, die im Namen der Allgemeinheit Zugang zu bis dahin exklusiven Handlungsfeldern traditioneller Eliten verlangten. Regierungen sahen sich herausgefordert, selbst Kerngebiete ihrer Zuständigkeit wie die Außenpolitik gegenüber der Presse zu behaupten. Lord Robert Salisbury (1830–1903) beneidete seine Nachfolger nicht, wenn er 1901 zu dem Schluss kam, dass die Diplomatie der Nationen inzwischen immer weniger von den Außenministerien als vielmehr den Zeitungsredaktionen und Auslandskorrespondenten mitbestimmt werde.
Hatte schon Bismarck die öffentliche Meinung als eines seiner wichtigsten politischen Instrumente entdeckt und nicht zuletzt über vertraute Journalisten wie Moritz Busch (1821–1899) oder Constantin Rößler (1820–1896) Nachrichten lanciert sowie durch öffentlichkeitswirksame Reden im Reichstag und gezielte Indiskretionen außenpolitisch operiert, so hatte auch Joseph Maria von Radowitz (1839–1912) bereits während des Berliner Kongresses die Presse zur „siebenten Großmacht“ erklärt. Bismarcks Nachfolger mussten verstärkt mit einer eigenständigen Öffentlichkeit rechnen, die sich nicht selten sogar als Mitspieler im internationalen Spiel der Kräfte verstand.
Mit Blick auf Deutschland haben Historiker wiederholt die zynische Manipulation der Öffentlichkeit durch die Reichsleitung z.B. im Dienste einer ‚von oben‘ oktroyierten Flottenrüstung oder aggressiven Außenpolitik am Werke gesehen. Oder sie haben im Anschluss an die Studien von Geoff Eley auf die gefährliche Selbstmobilisierung einer radikalisierten nationalistischen Rechten verwiesen. In jedem Fall wurde das Einbeziehen einer dynamisierten Öffentlichkeit als negativ und schädlich interpretiert. Demgegenüber wurde in Großbritannien lange Zeit die öffentliche Erregung als notwendiges und richtiges Mittel zur Umorientierung der politischen und militärischen Eliten interpretiert. Der Einfluss der „öffentlichen Meinung“ ist insofern meist als etwas Positives und Nützliches gedeutet worden.
Diese Einschätzung hat in den vergangenen Jahren an Überzeugungskraft eingebüßt. Für das späte 19. und frühe 20. Jahrhundert fallen in der Gesamtbilanz nicht mehr so sehr die Gegensätze zwischen Deutschland und Großbritannien auf, sondern die „Gemeinsamkeiten zwischen beiden Ländern – sei es bei der Veränderung der politischen und medialen Strukturen, den verhandelten Wertkonflikten oder den staatlichen Reaktionsweisen“.
Gleichzeitig wird der Öffentlichkeit im Deutschen Reich inzwischen eine größere Eigenständigkeit zugebilligt. Der Reichstag übernahm beispielsweise zunehmend die Funktion der Repräsentation und Kanalisierung öffentlicher Meinung in diplomatischen Krisensituationen, und die deutsche Presse erscheint in jüngeren Studien eigenständiger, als früher oft angenommen. Sie wird bei der Beurteilung der deutschen Außenpolitik immer stärker als selbstständige Triebkraft interpretiert, die ihrer medialen Eigenlogik folgte und nicht mehr einfach als Instrument staatlicher Manipulation funktionierte. Die neuere Forschung hat die zunehmend engen Grenzen, die allen Versuchen der Presselenkung durch die deutsche Reichsleitung gesetzt waren, scharf herausgearbeitet, während sie umgekehrt auch in Großbritannien als traditionellem Land der Pressefreiheit bemerkenswerte, wenn auch subtilere, Methoden der Presselenkung ausmacht.
Kommunikationsrevolution
Hintergrund für diese Entwicklung war eine Revolution der Kommunikationswege, die das Verhältnis von Presse und Außenpolitik im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts einschneidend veränderte. Telegrafie, später das Telefon und der Funkverkehr verkürzten den Zeitraum zwischen einem Ereignis und seiner Berichterstattung, zunächst von Wochen auf wenige Tage, später auf Stunden oder gar Minuten. Gleichzeitig erlaubte die Verbesserung der Drucktechnik die raschere und zugleich massenhafte Publikation von Zeitungen und Flugschriften, die über stetig weiter perfektionierte Vertriebswege immer schneller in die Hände des Lesers gelangten. Einher ging diese Beschleunigung, Ausdehnung und Verdichtung mit einer Veränderung der Zeitungsformate und dem sogenannten new journalism. Statt bloßer Berichterstattung und des Kommentars sahen die „neuen Journalisten“ es als ihre Aufgabe an, Leser und Politik zu konkreten Aktionen, politischen Weichenstellungen und Reformen zu bewegen. In Deutschland verlief diese Entwicklung zwar im Vergleich zu England oder den USA etwas langsamer. Die Eigengesetzlichkeiten des Medienmarktes, Prozesse der Kommerzialisierung, Skandalisierung und Lösung von parteipolitischen Bindungen dauerten länger, verliefen letztlich aber nicht unähnlich.
Das Pressebüro
Anders als in England dominierte in Deutschland seit den Tagen Bismarcks die bürokratische Form der Pressepolitik durch das Pressebüro des Auswärtigen Amtes, später auch des Reichskolonial- und Reichsmarineamtes. Der föderale Charakter ohne ein wirkliches Pressezentrum sowie das politische System des Reiches machte in den Augen Otto Hammanns (1852–1928), von 1894 bis 1916 leitender Pressereferent in der Wilhelmstraße, eine aktive staatliche Pressepolitik zwingend notwendig. Denn die Reichsregierung war verfassungsrechtlich an das Vertrauen des Monarchen und nicht an Reichstagsmehrheiten gebunden, operierte also „über den Parteien“ und verfügte somit auch nicht automatisch über eine eigene Parteipresse wie die Regierungen in England und Frankreich. Dem Pressebüro dienten direkte Maßnahmen wie eigene offizielle oder halboffizielle Presseorgane oder indirekte Maßnahmen wie Bestechungen oder verschiedene Formen der Belohnungen. Das wichtigste Instrument der Pressebeeinflussung war indes die Selektion von Informationen. Zuckerbrot und Peitsche waren dabei beliebte Mittel, Journalisten zu disziplinieren, die insgesamt keinesfalls einen vergleichbaren sozialen Status wie etwa ihre britischen Kollegen erreichten. Die deutsche Praxis im Umgang mit der Presse schlug sich auch auf ausländische Organe bzw. die Bewertung der ausländischen Presse nieder. So war es ausgesprochen schwierig, wenn nicht unmöglich für deutsche Diplomaten oder Politiker, zu britischen Journalisten einen vertrauensvollen Kontakt herzustellen. Gleichsam zeigte sich die Wilhelmstraße lange uneinsichtig, nach welchen Prinzipien die englische Medienlandschaft funktionierte. Das Resultat daraus war mitunter verheerend. Nicht genug, dass es weder gelang, die eigene Presse dauerhaft im Zaum zu halten, noch einen positiven Draht zur englischen Presse aufzubauen; jeder Versuch dazu verschlimmerte noch das generelle englische Misstrauen. Das erwies sich vor allem dann als besonders schädlich, wenn es zu einer Eigendynamik der deutschen Presse kam, wie während des Burenkrieges oder bei den zahlreichen nachfolgenden Pressekriegen zwischen den beiden Ländern.
Die Unzulänglichkeiten des deutschen Pressemanagements wären nicht weiter aufgefallen, hätte es nicht zunehmend transnationale Verflechtungen zwischen den Staaten gegeben, sondern weiterhin voneinander separierte politische Räume und eine traditionelle Geheimdiplomatie. Die beschriebene Ausdehnung und Verdichtung der Kommunikationsräume hatte die Arbeitsbedingungen der Diplomatie aber grundlegend verändert und resultierte in einer völlig neuen öffentlichen Außenpolitik, bei der sich Entscheidungsprozesse und Einflüsse multiplizierten.
Beispiele, wo das Auswärtige Amt glaubte, die Presse instrumentalisieren zu können, kurze Zeit später aber feststellen musste, diese nicht mehr unter Kontrolle zu haben, gab es nach der Jahrhundertwende zuhauf – etwa bei beiden Marokkokrisen, bei der Frage des Flottenwettrüstens oder auch bei verschiedenen Presseinitiativen zur gegenseitigen Verständigung, wie etwa die Journalistenbesuche in London und Berlin zwischen 1906 und 1907.
Interessengruppen
Öffentlichkeit im Kaiserreich bedeutete aber nicht nur Medienöffentlichkeit. Dazu zählten natürlich auch der Reichstag, die Parteien und die immer stärker auftretenden Interessenverbände, von denen insbesondere die Deutsche Kolonialgesellschaft, der Alldeutsche Verband oder der Flottenverein außenpolitisch aktiv waren. Sie setzten Agenden und wirkten nicht zuletzt über ihre Mitglieder propagandistisch in den politischen Raum, das Reich und über dessen Grenzen hinaus.
Die Öffentlichkeit gab dabei wie in anderen Ländern immer wieder gewisse Zielkorridore für die deutsche Außenpolitik vor, die die politischen Entscheider immer weniger ignorieren konnten. Allerdings wurde das daraus resultierende Spannungsverhältnis zumeist dadurch gemildert, dass in der öffentlichen bzw. veröffentlichten Meinung vielfach ähnliche Motive und Triebkräfte wirkten wie in der Wilhelmstraße.
Weltreichslehre
Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts kulminierten vier wesentliche Bewegungskräfte, die die Geschicke der Großmächtediplomatie entscheidend beeinflussten und das Zeitalter des Hochimperialismus kennzeichneten:
Ganz allgemein gesprochen trugen zuerst technologische Entwicklungsschübe im Verkehr wie Eisenbahnen und der dampfgetriebene Schiffsverkehr, aber auch in der Kommunikation wie die Telegrafie und der Aufbau des Kabelnetzes bereits seit Mitte des Jahrhunderts zu besseren Austausch-, Versorgungs- und Reisemöglichkeiten zwischen den europäischen Metropolen und der kolonialen Peripherie bei. Wissenschaftliche Errungenschaften wie verbesserte medizinische Behandlungsmöglichkeiten verringerten die Gefahr von exotischen Tropen- bzw. Höhenkrankheiten in entfernten Regionen, und topografische Messsysteme erleichterten Expeditionen und die Landnahme. Militärische Entwicklungen wie das Maschinengewehr, das raucharme Pulver oder hochexplosive Geschosse stellten die Überlegenheit zwischen europäischen und indigenen Truppen sicher, wie etwa die Feldzüge der Briten gegen die zahlenmäßig weit überlegenen Truppen des Mahdi zwischen 1881 und 1899 belegen. Andererseits erhöhte die militärisch-technische Revolution aber auch die Ausgeglichenheit der militärischen Gegenüber und führte zu enormen Opferzahlen, wie der Burenkrieg (1899–1902), der russisch-japanische Krieg (1904/5) oder die Balkankriege (1912/13) zeigen.
Politisch begünstigte zudem der Zusammenbruch bzw. der langsame Niedergang alter Regime oder die Destabilisierung von Gesellschaften wie in China oder dem Osmanischen Reich die Expansion und wachsende Rivalität der europäischen Großmächte. Auch die „relative Ruhe“ der europäischen Staatenwelt nach der italienischen und der deutschen Einigung sorgte für einen größeren Wettbewerb um Besitzungen in Übersee. Vergessen werden sollten auch nicht die einzelnen Sub-Imperialismen der sogenannten men-on-the-spot, der Abenteurer, Missionare, Militär- und kolonialen Verwalter vor Ort. Sie sorgten zunehmend für eine expansive Eigendynamik an der Peripherie, die wiederum das jeweilige Mutterland zur Intervention aktivierte.
Der expandierende Schiffs- und Eisenbahnverkehr sowie eine Kommunikationsrevolution durch den Ausbau von Telegrafenverbindungen förderten eine bis dahin unbekannte globale Vernetzung, sodass nicht wenige Historiker für das letzte Drittel des 19. Jahrhunderts von einem ersten Globalisierungsschub ausgehen. Für die internationalen Beziehungen hatte das zur Folge, dass gute ökonomische Beziehungen durchaus in der Lage waren, politisch divergierende Interessen zu überbrücken oder umgekehrt gemeinsame Interessen im öffentlichen Diskurs in den Hintergrund rücken zu lassen.
Hinzu kamen jedoch noch drei weitere wesentliche Faktoren: die bereits angesprochene rasante Entwicklung der Weltwirtschaft, die nach den konjunkturellen Schwankungen der 1870er-Jahre Anfang der 1880er-Jahre an Fahrt aufnahm, ein allgemein sozialdarwinistischer Zeitgeist sowie die jeweils komplexen, wenn auch unterschiedlich gelagerten innenpolitischen Gemengelagen. Daraus entwickelte sich für jede Macht ein spezifisches Kräftefeld, in dem sich außenpolitisch relevante Akteure austauschten und aus dem heraus außenpolitische Entscheidungen getroffen wurden.
„Harte Faktoren“
Nimmt man das Machtpotenzial des Deutschen Reiches im weltpolitischen Wettstreit der Großmächte in den Blick, so fallen zunächst zwei Konstanten ins Auge: 1. die geopolitische Mittellage. Im Vergleich zu den Flügelmächten England und Russland, aber auch zu Frankreich schien es massiv benachteiligt und musste stets die Koalitionen der anderen im Auge behalten. Ludwig Dehio hat dafür den treffenden Begriff der „halbhegemonialen Stellung“ geprägt. Danach bildete das Reich fraglos ein neues politisches Gravitationszentrum in der Mitte Europas. Vielen, nicht zuletzt in Deutschland selbst, erschien es geradezu prädestiniert, die Rolle eines neuen Hegemons anzunehmen. Gleichzeitig aber war es aufgrund seiner geografischen Lage inmitten der anderen Großmächte nicht stark genug, das Staatensystem insgesamt dominieren zu können. 2. Die atemberaubende Geschwindigkeit und das Ausmaß des demografischen, industriellen, kommerziellen und militärischen Wachstums. Sie rückten den geografischen Nachteil zunächst in den Hintergrund. Die Wirtschaftsdaten kannten nur eine Richtung: steil nach oben. Bis 1914 sollte das „zu spät gekommene“ Reich zur mächtigsten Macht auf dem Kontinent werden und zu den führenden Wirtschaftsnationen England und den USA aufschließen.
Nur einige Details sollen diese Entwicklung veranschaulichen:
Tabelle 1: Bevölkerungsentwicklung in Millionen Einwohner
Land |
Landfläche (in qkm) |
1881 |
1899 |
1909 |
1913 |
Wachstum in % |
Russland |
5377444 |
72,5 |
106,2 |
125,3 |
175,1 |
+ 141,5 |
USA |
9420670 |
50,1 |
74,4 |
85,8 |
97,3 |
+ 94,2 |
Deutsches Reich |
540777 |
45,2 |
54,3 |
60,6 |
66,9 |
+ 48,0 |
Österreich-Ungam |
677667 |
46,6(1890) |
46,7 |
50,8 |
52,1 |
+ 22,3 |
Japan |
421300 |
39,9(1890) |
43,8 |
49,1 |
51,3 |
+28,6 |
Frankreich |
536464 |
36,9 |
38,5 |
39,3 |
39,7 |
+7,5 |
England |
314869 |
34,5 |
38,1 |
45,0 |
45,6 |
+32,1 |
Italien |
312352 |
30,0(1890) |
32,3 |
34,4 |
35,1 |
+17,0 |
Zahlen gerundet aus: M. Neher, Der Imperialismus, S. 25; P.M. Kennedy, Aufstieg und Fall, S. 308. |
Zwischen 1880 und 1913 stieg die Bevölkerung um 48 % auf 66,9 Millionen und rangierte damit an dritter Stelle hinter den beiden Riesenstaaten Russland und den USA. Im Vergleich zum Bildungsniveau stellte das Kaiserreich aber das Zarenreich weit in den Schatten. Das deutsche Bildungssystem galt als einzigartig in der Welt, wovon die gesamte Wirtschaft des Landes profitierte. Was Deutschland im Zeitalter des Imperialismus auszeichnete, war dessen Industriepotenzial. Das spiegelte sich insbesondere in der deutschen Kohleförderung, der Eisen- und Stahlproduktion wider. Überall schloss das Reich zur „einstigen Werkbank der Welt“, Großbritannien, auf oder überholte dieses.
Tabelle 2: Industriepotenzial (Referenzwert Großbritannien in 1900 = 100)
Land/Region |
1880 |
1900 |
1913 |
Europa |
196,2 |
335,4 |
527,8 |
Österreich-Ungarn |
14,0 |
25,6 |
40,7 |
Frankreich |
25,1 |
36,8 |
57,3 |
Deutsches Reich |
27,4 |
71,2 |
137,7 |
Italien |
8,1 |
13,6 |
22,5 |
Russland |
24,5 |
47,5 |
76,6 |
Großbritannien |
73,3 |
100,0 |
127,2 |
USA |
46,9 |
127,8 |
298,1 |
Japan |
7,6 |
13,0 |
25,1 |
Well |
320,1 |
540,8 |
932,5 |
Auszug aus: P.M. Kennedy, Aufstieg und Fall, S. 311. |
Tabelle 3: Eisen- und Stahlproduktion (in Millionen Tonnen)
Land |
1880 |
1890 |
1900 |
1910 |
||||
|
Eisen |
Stahl |
Eisen |
Stahl |
Eisen |
Stahl |
Eisen |
Stahl |
Deutsches Reich |
2,7 |
1,5 |
4,7 |
3,1 |
8,5 |
7,3 |
14,8 |
13,1 |
Frankreich |
1,7 |
1,4 |
2,0 |
1,4 |
2,7 |
1,9 |
4,0 |
2,9 |
England |
7,9 |
3,7 |
8,0 |
5,3 |
9,1 |
6,0 |
10,2 |
7,6 |
USA |
3,8 |
1,3 |
9,2 |
4,3 |
13,8 |
10,2 |
27,3 |
26,1 |
Zahlen gerundet aus: L. Zimmermann, Der Imperialismus, S. 4. |