Einführungen Germanistik

Herausgegeben von
Gunter E. Grimm und Klaus-Michael Bogdal

Markus Fauser

Einführung
in die
Kulturwissenschaft

5. Auflage

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Impressum

Für Sophia Mignon

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ISBN 978-3-534-24277-1

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Inhalt

   I. Grundlagen

  II. Kulturwissenschaftliche Konzepte

1. Kulturphilosophie und Kulturwissenschaften

2. Ethnologie: Kultur und Text

3. Cultural Studies, Post-Colonial Theory, Interkulturalität

 III. Literarische Anthropologie

1. Mentalitätsgeschichte und historische Anthropologie

2. Denkstile der Kultur- und Zivilisationstheorie

3. Das Fiktive, das Imaginäre und die Medien

4. Literarische Anthropologie

 IV. Handlungs- und Wahrnehmungstheorien

1. Kunst als Praxis. Theorien des symbolischen Handelns

2. Symbole in der Bewegung: Ritualforschung

3. Mediale Praktiken – cultural performance

4. Kulturelle Narrative

5. Bildwissenschaft und Bildanthropologie

  V. Gender Studies

1. Körper, Geschlecht und Repräsentation

2. Figurationen und Differenzen

 VI. Gedächtnistheorien

1. Vergessen, Erinnern, Gedächtnis

2. Kulturelles Gedächtnis, Kanon und Kultur

3. Kollektive Identität, Erinnerungspolitik

VII. Intertextualität

1. Subjekt, Text, Dialogizität

2. Typologien der Intertextualität

3. Intertextualität und Kulturalität

Kommentierte Bibliographie

1. Lexika und Wörterbücher

2. Anthologien

3. Literatur

Register

I. Grundlagen

Seit mehr als dreißig Jahren streiten die Literaturwissenschaftler über Methoden und Theorien. In diesen Debatten übt der Begriff Kulturwissenschaft zur Zeit einen ungewöhnlichen Reiz aus. Die nachhaltige Verunsicherung durch die Reformprogramme und immer neue Veränderungsvorschläge zwingt zur Suche nach den tatsächlich innovativen Konzepten und ihren fachlichen Umsetzungen. Wenn nun die neuerliche Einführung eines Begriffes besonders attraktiv erscheint, so muss einigen Problemen der Disziplinen und der gegenwärtigen Ordnung der Wissenschaften damit eine tragfähige Behandlung widerfahren, denn anders würde sie sich kaum lohnen.

Reformen

Die philologische und hermeneutische Grundlage der Literaturwissenschaften wurde seit den sechziger Jahren immer wieder in Frage gestellt und durch konkurrierende Vorschläge bereichert. Beginnend mit den Reformdebatten um die Vernachlässigung von historisch-soziologischen Rahmenbedingungen der Literatur empfahlen sich die sozialgeschichtlichen Methoden. Durch die Erweiterung der Textwissenschaften um ihre gesellschaftlichen Kontexte war der hergebrachte Gegenstandsbereich einerseits überschritten, andererseits jedoch auf bestimmte Themen wie sozialer Status, Klasse, Ideologie eingeschworen. Daneben war auch den wirkungs- und rezeptionsgeschichtlichen Betrachtungen ein langanhaltender Erfolg beschieden. Aber schon in den siebziger Jahren erschütterte der sogenannte „linguistic turn“ ihre unangefochtene Stellung. Mit der Erkenntnis von der Sprache als einer unhintergehbaren Bedingung des Denkens ließ sich die Linguistik als Königin der Wissenschaften feiern und bewies, dass sprachliche Kategorien auch für das wissenschaftliche Denken essentiell sind. Sämtliche Ordnungen des Wissens, das ist seither unbestritten, besonders natürlich das überlieferte historische Wissen, sind sprachlich vermittelt und existieren nur in dieser Form. Das erklärt auch den Erfolg des Poststrukturalismus und der Dekonstruktion in den achtziger Jahren, die bis in kleinste Textverfahren hinein die Rhetorizität der Kommunikation nachwiesen.

Methodendebatten

Der hier nur kurz umrissene Hintergrund der Methodendebatten hat Auswirkungen auf die gegenwärtige Lage. Zum einen kann man die Kulturwissenschaft als ihre Fortsetzung oder auch Weiterentwicklung verstehen. Dabei greift sie vor allem den ungelösten Widerspruch zwischen disziplinar grundlegenden Methoden und dem kulturellen Legitimationsproblem jeder Theorie auf. Aus den enttäuschenden Erfahrungen mit dem Methodenpluralismus, der nur vereinzelt konzeptionelle Lösungen für die Legitimationsfrage bieten konnte, entstand die Suche nach Theorien, die das literaturwissenschaftliche Arbeiten auch in wissenschaftstheoretischer Hinsicht festigen können.

Theorien

In diesem Sinne sind die kulturwissenschaftlichen Literaturtheorien nicht nur ein weiterer Schritt in der endlosen Methodendebatte, sondern ein Versuch, übergreifende Konzepte bereitzustellen, die zu einer Umformung des Verständnisses von der Literaturwissenschaft führen (Bogdal 1990).

Transdisziplinarität

Zum andern berührt das natürlich auch die Verbindungen zu anderen Wissenschaften. Oft wurde gerade bei den Methodendebatten zurecht die fehlende Interdisziplinarität beklagt und die umgesetzten Einzelprojekte kamen meist nicht über eine additive Reihung von Beiträgen in Sammelbänden hinaus. Die erstrebte übergreifende Perspektive erreichten immer nur einzelne, besonders ausgewiesene Forscher. Das hatte auch mit der Ausrichtung der Methoden selber zu tun und soll nunmehr, in der Phase der Entwicklung von Theorien, zu einer neuen Herangehensweise führen. Zwar waren die Kulturwissenschaften zunächst in ihrer Reichweite auch nur von disziplinären Vorgaben bestimmt; heute ist aber die Transdisziplinarität das ersehnte Ziel jeder Beschäftigung mit theoretischen und praktischen Fragen.

Während die bekannten Disziplinen ihre historische Identität auch durch eine sorgfältige Begrenzung der Gegenstände, Methoden und Zwecke sichern konnten, steht heute die Erweiterung der wissenschaftlichen Wahrnehmung auf der Tagesordnung. Und das bedeutet das Überschreiten von klar abgesteckten Grenzen und die Hinwendung zur Forschung als einer Tätigkeit, die Problemlösungen erarbeitet. Die traditionellen Methoden und Theorien bündelt man zu einem neuen Forschungsprinzip, das nicht mehr ein bestimmtes System bevorzugt, sondern lediglich eine praktische Form für die Arbeit vorgibt. Das kann zur Vernachlässigung bestimmter Fakten und zur Überwindung der jeweiligen historischen Ausbildung einer Disziplin führen, sobald sich neue Gegenstandsbereiche bilden. Angrenzende Disziplinen legen diese neuen Gegenstände nahe oder überschneiden sich mit ihnen. Damit lässt sich natürlich nicht die längst verlorene Einheit der (alten) geisteswissenschaftlichen Fächer wiederherstellen. Vielmehr soll eine neue Praxis entstehen, die den Anspruch auf Einheit der Wissenschaften auf dem Wege ihrer praktischen Angemessenheit zur Geltung bringt (Einheit 1991). Das ist auch der Grund für die gerade begonnene Umgestaltung von Studiengängen und die Einrichtung neuer Institute, die bekannte Organisationsstrukturen ablösen.

Wissenschaftsbegriff

Die Transdisziplinarität ist sicher auch ein Reflex auf den Wissenschaftsbegriff, den die Postmoderne wesentlich geformt hat. Kombinationen von Heterogenem, Pluralität von Wissensformen, Lebensformen und kulturellen Orientierungen, Ästhetisierung der Lebenswelt – das sind auch Tendenzen bei wissenschaftstheoretischen Entwicklungen. Weitgehende Vorstellungen fügen den Hybrid-Bildungen, den Verschmelzungen von Theoremen unterschiedlicher Herkunft, noch Kreativitätsprogramme hinzu, die wissenschaftliche Innovation mit künstlerischen Prozessen erklären und fördern wollen. Somit rückt die Geschichtlichkeit der eigenen Praxis in den Mittelpunkt des Interesses. Kulturwissenschaftliche Fragestellungen berücksichtigen daher immer das eigene Handeln als ein kulturelles oder kulturell bedingtes, was dazu führt, dass sie nicht nur das eigene Tun ständig überprüfen, sondern auch den institutionellen Rahmen, in dem es seinen Platz findet.

Definition der Kulturwissenschaft

Die meisten gängigen Definitionen der Kulturwissenschaft setzen nicht bei der Frage nach den Gegenständen oder Objekten an, sondern beim wissenschaftsgeschichtlichen Status der Theorien. Demnach bildet die Kulturwissenschaft eine Metaebene der Reflexion, eine Steuerungsebene für die Modernisierung der Geisteswissenschaften und funktioniert wie eine Art Moderation der multiperspektivischen Vernetzung von Einzelergebnissen aus Disziplinen, die normalerweise nicht ohne weiteres zusammenfinden würden (Böhme/Scherpe 1996, 12).

Ein Verfahren

Diese Definition, die auf ein Verfahren abhebt, wäre dann um eine andere zu ergänzen, die eine eigene Disziplin namens Kulturwissenschaft bezeichnet (Böhme/Matussek/Müller 2000). Die Begriffsverwendung im Singular verweist dann auf den Versuch der Etablierung einer neuen Wissenschaft. Die mittlerweile hochspezialisierten Fächer (vor allem Ethnologie, Fremdsprachenphilologien, Germanistik, Geschichte, Kunstgeschichte, Medienwissenschaft, Musikwissenschaft, Philosophie, Politik, Psychologie, Religionswissenschaft, Soziologie, auch Wirtschaftswissenschaften) samt ihren wissenschaftshistorischen Filiationen sollen in den Hintergrund treten, damit sich ein interdisziplinär ausgerichtetes Fach mit eigenem Studieninhalt bilden kann.

Ein Fach?

Allerdings herrschen bei der Bestimmung der Lehrinhalte und der konkreten Studienbereiche noch die unterschiedlichsten Auffassungen. Sie lehnen sich im allgemeinen an die zu Unrecht vernachlässigte interkulturelle Germanistik an, die hier mit wichtigen Vorschlägen aufwarten kann, weil sie immer schon in anderen Kontexten arbeitet (Intercultural German Studies 1999).

Kulturwissenschaft als fächerübergreifendes Regulativ

Dagegen bezeichnet die hier verwendete Definition eine transdisziplinär ausgerichtete Forschungspraxis bei ansonsten unveränderten Disziplinen. Unter dem Terminus Kulturwissenschaft versteht diese Einführung ein fächerübergreifendes Regulativ. Denn die ständig zunehmende Spezialisierung der Fächer verlangt nach Formen der Integration. Insofern reagiert die Kulturwissenschaft auf Probleme aus den Fächern, die eine Behandlung unter möglichst vielen Gesichtspunkten benötigen. Kulturwissenschaft ist dann die Bezeichnung für eine bestimmte Praxis, die sich an speziellen Problemstellungen orientiert (Appelsmeyer 2001). So gesehen wäre sie zunächst einmal eine Perspektive für die Zukunft der bestehenden Geisteswissenschaften, eine Leitlinie für die Auswahl neuer Themen und Theorien in der Forschung, die sich dann auch in der weiterhin disziplinär geordneten Lehre niederschlagen könnte (Oexle 1996). Freilich ist der Status der Kulturwissenschaft somit ein weitgehend virtueller; man muss jedoch den hohen selbstreflexiven Zustand der Theorien begreifbar machen und trotzdem die Klippe einer neuen Universalwissenschaft vermeiden. Eine erste und grundlegende Bestimmung kann daher nur von diesen Voraussetzungen ausgehen.

Verhältnis zur eigenen Wissenschaftlichkeit

Der Begriff Kulturwissenschaft umfasst auch das Verhältnis von Disziplinen zu ihrer eigenen Wissenschaftlichkeit. Das beginnt schon bei der Prüfung der Gegenstände, mit denen sie sich befassen und reicht bis zur Kritik am hervorgebrachten Wissen (Daniel 2001), eben aus der Erkenntnis heraus, dass die Gegenstände nie einfach gegeben, sondern von den Disziplinen geformt, von ihrem Zugriff abhängig sind. Er bezeichnet die Suche nach einem epistemologischen Standpunkt, von dem aus unsere Wissenschaftskultur sich selber in ihrer spezifischen Wahrnehmungsfähigkeit, aber auch in ihrer historischen Bedingtheit und Konstruktion kritisch beobachten kann. Gerade das erinnert an die Kulturdebatte um 1900, die schon einmal eine integrative Wissenschaft propagiert hatte (Oexle 1996; Daniel 2001). An einige haltbare Errungenschaften knüpft auch die vorliegende Einführung an.

Ein Neubeginn ruft immer Irritationen hervor und die Orientierungsprobleme äußern sich dann in Warnungen vor dem Modischen oder Ephemeren, dem die glorreiche Vergangenheit einer glänzenden Fachgeschichte nicht leichtfertig geopfert werden dürfe. Aber gerade die letzten beiden Jahrzehnte haben den Geisteswissenschaften einen schon nicht mehr für möglich gehaltenen Prestigegewinn erbracht, der nicht zum geringsten auf die Erneuerung in theoretischer Hinsicht zurückgeht. Zwar hängt die erschreckende Freigebigkeit, mit der viele Wissenschaftler nunmehr bereit sind, ihre disziplinären Ursprünge gegen die verheißungsvolle Selbstbezeichnung Kulturwissenschaftler einzutauschen, ganz sicher mit dem unaufhaltsamen Aufstieg der Wissenschaftsgeschichte zusammen. Aber man muss doch gestehen, dass die Öffnung für Gegenwartsprobleme und ihre Rückbindung an die historische Dimension, dass die verstärkte theoretische Anstrengung im Konnex mit der geschichtlichen Rückversicherung zu einer neuen Beweglichkeit der Geisteswissenschaften entscheidend beitrug und das Erscheinungsbild so mancher Fächer zum Besseren veränderte.

Neue Zuständigkeit der Literaturtheorie

Im Zuge der transdisziplinären Forschungspraxis tritt die Literaturtheorie in ein neues Stadium ein und muss daher unerwartete Ansprüche erfüllen. Sie muss die unhintergehbare sprachliche Verfasstheit allen Wissens und seine textuellen Darstellungsweisen reflektieren, die rhetorischen Strategien und Normen von Begründungen, aber auch das Zusammenspiel von Texten und Begleittexten. Schon auf dieser Ebene verzeichnet sie eine Erweiterung der Zuständigkeit. Darüber hinaus tendieren radikalere Auffassungen zu der These, bei ‘Kultur’ handle es ich immer um einen symbolischen oder textuellen Zusammenhang; man komme also bei der Erschließung kultureller Phänomene nie ohne Handwerkszeug aus, das dem Arsenal der Text- und Zeichentheorien entstammt, wenn nicht der hermeneutischen Interpretationskunst. Gerade solche umfassenden Theorien wenden textwissenschaftliche Verfahren auf kulturelle Phänomene an, die traditionell nicht bei den Literaturwissenschaften angesiedelt sind. Im Gesamtgefüge der Wissenschaften bedeutet diese Entwicklung nicht nur eine Aufwertung der Gegenstände, mit denen sich die Literaturwissenschaften befassen, sondern auch eine Wende in der Einschätzung ihrer Stellung. Denn das Ungleichgewicht, das sich bei den verschiedenen Stadien des Theorieimports in der Vergangenheit abzuzeichnen begann, ist dadurch korrigiert und man kann mindestens auf diesem Sektor von einem Theorieexport in angrenzende Fächer sprechen.

Theorie und Kompetenzen

Die Beschäftigung mit Literaturtheorien ist deshalb längst kein abgehobenes Ansinnen kleiner Spezialistenzirkel mehr, sondern eine Voraussetzung für die Teilnahme am transdisziplinären Gespräch. Die Kompetenzen und die analytischen Fähigkeiten, zu denen die Literaturtheorie erzieht, sind auch diejenigen, die beim Dialog zwischen den Fachsprachen eine wichtige Rolle spielen. Anders gesagt: gegen das obsolete Anhäufen von schnell überholtem Sachwissen hilft nur das Training von Reflexions- und Theoriekompetenz, mit dem auch die unvermeidbare Komplexität, auf die man bei den Sachthemen stößt, zu bewältigen ist. Und dass hierbei die Literaturtheorien hilfreich sein können, wird niemand bestreiten, der in ihnen auch Verfahren des Umgangs mit kognitiven Strukturen zu sehen vermag.

Auswahl der Arbeitsfelder

Eine kurze Begründung für die Auswahl der Arbeitsfelder kulturwissenschaftlicher Forschungen folgt aus den genannten Prämissen und schließt auch die Anordnung mit ein: die ersten zwei Kapitel entwerfen den institutionellen und kontextuellen Rahmen der Kulturwissenschaften. Sie konturieren die wissenschaftsgeschichtlichen Bedingungen für neuere und neueste Literaturtheorien. Die Kapitel III–VII versuchen eine gegenstandsbezogene Begründung für ausgewählte Literaturtheorien. Die Kapitel III und IV widmen sich der Anthropologie und ihrer Ausdifferenzierung. Sie belegen, wie man die Literatur von anderen Formen kulturellen Wissens theoretisch abgrenzen und ihnen gegenüber legitimieren kann. Mit den Gender Studies greift die Darstellung im Kapitel V ein herausragendes Beispiel für typisch kulturwissenschaftliche Themen auf und erklärt ihre charakteristische Aufmerksamkeit für die Verbindung von realen und symbolischen Ordnungen. Die Gedächtnistheorien und die Intertextualität, in den zusammengehörenden Kapiteln VI und VII, zielen auf Verfahren und Formen der kulturellen Selbstrepräsentation. Sie setzen die Theorien über Symbolisierung und Inszenierung in operable Lesepraktiken um. Außerdem erlauben sie eine Positionsbestimmung der Literaturwissenschaft, die weiterhin dem ästhetischen Status der Literatur besondere Aufmerksamkeit widmet.

II. Kulturwissenschaftliche Konzepte

Historische Vorgaben

Der eingangs festgestellte Pluralismus als Angelpunkt der Theorieentwicklung ist kein Signum unseres Zeitalters, sondern war auch schon eine Gegebenheit am Beginn der Kulturwissenschaften. Sie haben um 1900 mit den Neubildungen „Cultur-Philosophie“ und „Cultur-Wissenschaft“ (Kulturphilosophie, hrsg. Konersmann 1998, 22 nennt Ferdinand Tönnies mit seinem Buch Gemeinschaft und Gesellschaft 1887) zu ihrem Begriff gefunden und wurden im frühen 20. Jahrhundert mit bemerkenswerten Ergebnissen ausgearbeitet, bevor sie dann für längere Zeit aus dem akademischen Diskurs verschwanden. Dieses Kapitel will an diejenigen bedeutenden historischen Vorgaben erinnern, die auch heute noch als kritische Bezugspunkte dienen und Argumentationen stützen. Dennoch bleibt ein Problem. Die modernen Kulturwissenschaften können keine rekonstruierbare Traditionslinie aufweisen, sondern nur wenige Vorläufer, die aus heutiger Sicht zentrale Einsichten vorweggenommen haben. Mit dieser Erkenntnis muss man auch das Geschichtsverhältnis neuerer Einleitungen problematisieren (Böhme 2000; Kittler 2000), die weit zurückliegende Vorläufer entdecken wollen, schon in der Kulturgeschichtsschreibung des 18. und 19. Jahrhunderts, und dabei doch nur einen weiteren Beleg für die genannte Kontextualität liefern. Hier wird keine mehr als 250-jährige Geschichte behauptet, die doch nur zu einer Verwirrung der modernen Begriffe mit der (in gewissem Sinne schon immer betriebenen) Kulturgeschichte führen kann und den spezifischen methodologischen Neueinsatz nach 1900 überspielt, der sich auch im Wandel der Begriffe ausdrückt. Deshalb findet sich hier kein Kapitel über Wilhelm Heinrich Riehl (1823–1897) oder Jacob Burckhardt (1818–1897). Erwähnt werden lediglich diejenigen Texte, die ohne bloß metaphorischen Bezug (Kittler 2000) als Grundlegungen gelten können.

1. Kulturphilosophie und Kulturwissenschaften

Kulturwandel 1900

Die Entstehung der Kulturwissenschaft ist ganz wesentlich bedingt durch den Kulturwandel um 1900 und die Reaktionen, die er hervorrief. Sozialpolitische Fragen wurden von einem kulturkritischen Diskurs überlagert, dem bald die Fähigkeit zur Diagnose sämtlicher Gebrechen der modernen Lebensbedingungen zugeschrieben wurde. Das ging mit einer inflationären Verwendung des Wortes Kultur einher, einem pathetischen Leitwort der Jahrhundertwende, dem sich endlos neue Komposita abgewinnen ließen, und der häufig negativen Verwendung des Wortes, in der sich das Unbehagen an Defiziten der Moderne genauso äußerte wie der Wunsch nach neuer Integration von Teilkulturen oder Weltanschauungen (Perpeet 1976). Man suchte nach tragfähigen gesellschaftlichen Ordnungsentwürfen. In Reaktion darauf spitzten sich die Debatten in den Wissenschaften zu und kulminierten in der Erfindung einer neuen Orientierungsmacht (vom Bruch 1989), der sich keine seriöse Disziplin mehr entziehen konnte.

Krise der Wissenschaften

Auch die Wissenschaften fanden sich in einer Krise wieder. Erkannt wurde jetzt der Normverlust gerade der Disziplin, die im 19. Jahrhundert nach dem Wegfall metaphysischer Letztbegründungen zur Leitdisziplin aufgestiegen war: die Philosophie. Sie war dazu verpflichtet, dass sie nach Prinzipien fragte, nach der Einheit des Wissens, aber dieses Selbstverständnis kam ihr abhanden. Anstatt nach universalen Wahrheiten zu forschen, war nun das Beschreiben von Wirkungen wichtiger, zumal die Zahl der Fachgebiete, die sich mit der vom Menschen selbstgestalteten Lebenswelt befassten, sprunghaft anstieg. Das ist einer der Ansatzpunkte für die Kulturphilosophie. Vielleicht noch wichtiger: die Fortschrittsidee verlor ihre Akzeptanz und damit zusammenhängend der Glaube an die Legitimation von Kultur durch Geschichte. Aus der Geschichte kann man keine Sinngebungen beziehen – das hatte der Weltkrieg eindrücklich demonstriert.

Kontinuitätsbruch

Am Beginn der Kulturphilosophie steht also ein Kontinuitätsbruch (Kulturphilosophie, hrsg. Konersmann 1998, 341). Er bezieht sich zuerst auf die materiale Seite der Wissenschaften. Kultur ist nicht mehr der schlechthin gegebene Gegenstand, den man nur zu erschließen brauchte, sondern allenfalls ein Geschehenszusammenhang, dem nicht einmal eine bestimmte Intention zugeschrieben werden konnte. Kultur ist nicht einfach mehr die Antwort, vor der alle Fragen verstummen, sondern das Problem selber. Kultur ist nun ein zentraler Gegenstand der Wissenschaft, weil sie ihrer eigenen Stellung im Gefüge der Welt unsicher geworden ist. Selbst wenn alle führenden Kulturwissenschaftler weiterhin den Anspruch erhoben, der Gesellschaft konsensfähige Werte und Normen vermitteln oder wenigstens Orientierungswissen anbieten zu können, bereitete die inhaltliche Bestimmung des Kulturbegriffs mehr und mehr Schwierigkeiten (vom Bruch 1989,16). Schon deshalb kann von einer langen Tradition der Kulturwissenschaften keine Rede sein. Ihre Voraussetzung war der Kontinuitätsbruch.

Reflexivität und Kritik

Hinzu kommt ein zweites. Die damals diagnostizierten Geltungsverluste waren tiefgreifend, weil sie eine Überprüfung der theoretischen Prämissen des wissenschaftlichen Denkens forderten. Am Beispiel des geschichtlichen Denkens ist das evident. Einerseits hat man zuviel Tradition, aus der positivistischen Faktenhäufung angestautes Wissen, aus dem aber keine Legitimation mehr folgt, andererseits verhindert der Traditionsmangel, die Erkenntnis von der Unbrauchbarkeit traditionellen Wissens ein Anknüpfen an unhinterfragbaren Wahrheiten. Dieses Dilemma wirft die Wissenschaften auf sich selbst zurück. Ein Grundzug der Kulturphilosophie und Kulturwissenschaften ist daher ihre Verbindung von Reflexivität und Kritik. Ihr Ziel ist nicht mehr einfach das Vermehren des Wissens über Kultur oder Kulturen, wie das noch im 19. Jahrhundert unbestrittene Aufgabe war, sondern die Beobachtung dieses Wissens von außen. In zunehmendem Maße gehört dann dazu die Rekonstruktion der kulturellen Systeme, in denen das Wissen eine Rolle spielte (Kulturphilosophie, hrsg. Konersmann, 1998, 349). Diese synthetisierende Funktion der Kulturwissenschaft kann man nicht genug betonen, ging es doch darum, den ständig wachsenden Datenmengen und Wissensbestände, aufgehäuft durch den Positivismus, mit einer Kategorisierung zu begegnen. Von Beginn an ist dieser Theorieanspruch unauflösbar mit dem Begriff der Kulturwissenschaft verbunden und hierin unterscheidet sie sich von der in der Tat älteren Kulturgeschichte, der Völkerkunde und anderen, thematisch differenzierten Fächern. Die Ebene der Beschreibung verliert an Gewicht, wenn der Gegenstand nur noch indirekt gegeben ist oder erst neu konstituiert werden muss. Und das bedeutete: die Reflexion des Zusammenhangs von Kulturkritik, Kulturtheorie und selbstbeobachteter Forschungspraxis war zum Dauerproblem geworden.

Neukantianismus

Die Kulturwissenschaft als neues Regulativ geht terminologisch aus dem Neukantianismus (1865–1918) hervor, einer philosophischen Schule, die auf die lebensphilosophische und kulturphilosophische Herausforderung reagierte und ihre richtig aufgeworfene Problemstellung mit strengen wissenschaftstheoretischen Maßstäben und rationalen Begrifflichkeiten aufnahm. Insbesondere der vom entfesselten historischen Forschen vorangetriebene Wertrelativismus provozierte die Abkehr vom bloßen Sammeln und Ordnen der Fakten sowie die Überwindung der Empirie in einem wissenschaftstheoretischen Programm, bei dem die erkenntnistheoretische Prüfung der verwendeten Begriffe in einer Selbstbesinnung der Philosophie mündete. Man suchte die Grundlagen des Philosophierens zu überdenken und stieß dabei auf die axiomatische Trennung von Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften.

Ihre Erkenntniskonzepte gehen von zwei grundsätzlich verschiedenen Denkformen aus: während der Naturforscher das Allgemeine in Form von Gesetzesaussagen in seinen Gegenständen aufspürt, nomothetisch vorgeht, verfährt der Kulturwissenschaftler ideographisch, also in einer Denkform, die das Einmalige, Originäre und Unwiederholbare erschließt. Mit dieser Unterscheidung hat der Philosoph Wilhelm Windelband (1848–1915) in seiner Straßburger Rektoratsrede über Geschichte und Naturwissenschaft (1894) den Anstoß gegeben für die Differenzierung der Denkformen und die Profilierung einer Logik der Geschichtswissenschaften. Sie sind eben auf ihre sprachliche Vermittlung angewiesen und können nicht zu nomothetischen Aussagen vordringen, vielmehr sind sie auf Fragen der Geltung hin orientiert und beschäftigen sich mit dem Nachweis von universell gültigen Normen. Wenn man nun die Funktion der Geisteswissenschaften in der Moderne gegen die Übermacht der Naturwissenschaften retten wollte, mussten sie durch eine Methodenlehre untermauert, also begrifflich gefestigt und unterschieden werden.

Rickert und sein Begriff der Kulturwissenschaft

Dieser Aufgabe widmet Heinrich Rickert (1863–1936) seine Schrift Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft (1899, in der 6. und 7. Auflage 1926). Als Schüler Windelbands erweitert er die genannte Unterscheidung um ein rationales System, mit dem der Bereich der Kultur unter Berücksichtigung der methodologischen Anforderungen als Forschungsfeld beschrieben werden konnte. Eine Konkurrenz zu den existierenden Einzelwissenschaften war nicht zu befürchten, weil konkrete Arbeitstechniken nicht zum Konzept des Entwurfs gehörten. Rein formal versucht Rickert eine Definition von Kultur, die mit dem neukantianischen Wertbegriff arbeitet und darunter „die Gesamtheit der realen Objekte“ sieht, „an denen allgemein anerkannte Werte oder durch sie konstituierte Sinngebilde haften, und die mit Rücksicht auf diese Werte gepflegt werden.“ (46). Hier erscheinen also nur bestimmte Objekte als Tatsachen der Beschreibung. Das hat mit der Differenz der Denkformen zu tun, denn die Methoden erfassen unterschiedliche Wirklichkeitsbereiche. Rickert möchte die von Windelband eingeführte Differenz auch nicht statisch verstehen, sondern es geht ihm darum, analog zu dem Begriff „Natur“ (124), der die eine Form von Wissenschaft bezeichnet, einen Terminus zu finden, der dem Betätigungsfeld der Geisteswissenschaften und ihrem speziellen Verfahren angemessen ist. Die Interessen und Aufgaben der nicht naturwissenschaftlichen Disziplinen soll er bündig zusammenfassen:

Vorläufig jedoch denkt man bei dem Worte „Geist“ in der Regel noch vor allem an seelisches Sein, und solange man das tut, kann der Terminus Geisteswissenschaft nur zu methodologischen Unklarheiten und Verwirrungen führen. Denn nicht darauf kommt es an, dass die einen Wissenschaften Körper, die andern Seelen erforschen. Die Methodenlehre hat vielmehr darauf zu achten, dass die einen Disziplinen es mit der wert- und sinnfreien Natur zu tun haben, die sie unter allgemeine Begriffe bringen, die andern dagegen die sinnvolle und wertbezogene Kultur darstellen und sich deshalb mit dem generalisierenden Verfahren der Naturwissenschaften nicht begnügen. Sie brauchen eine individualisierende Betrachtung, (…) Dieser Umstand wird durch die Bezeichnung: historische Kulturwissenschaften viel besser zum Ausdruck gebracht als durch das vieldeutige und daher nichtssagende Wort Geisteswissenschaften. (12)

Geisteswissenschaftliche Erkenntnis

Die neue Bezeichnung ist also ein Sammelbegriff für das spezifische Verfahren, mit dem die ideographische Denkform ihren Gegenstand methodisch bearbeitet. Sie ist somit neben dem naturwissenschaftlichen der zweite Erkenntnismodus, der seine Wirklichkeit ganz anders konstituiert, sie erschafft. Im Gegensatz zu den Naturwissenschaften gibt es noch ein leitendes Prinzip, das für Rickert die Differenz ausmacht:

Als Kulturwissenschaften handeln sie von den auf die allgemeinen Kulturwerte bezogenen und daher als sinnvoll verständlichen Objekten, und als historische Wissenschaften stellen sie deren einmalige Entwicklung in ihrer Besonderheit und Individualität dar, wobei der Umstand, dass es Kulturvorgänge sind, ihrer historischen Methode zugleich das Prinzip der Begriffsbildung liefert, denn wesentlich ist für sie nur das, was als Sinnträger in seiner individuellen Eigenart für den leitenden Kulturwert Bedeutung hat. (125)

A priori gültige Kulturwerte

Der Historiker stellt in seiner Arbeit Synthesen her und lässt sich von normativen Vorstellungen leiten. Aber diese Werte sind nicht historisch, sondern übergeordnet und unveränderlich. Der Kulturwissenschaftler weist ein System von apriorisch gültigen Kulturwerten nach und kann den Prozess der menschlichen Wertsetzungen sichtbar machen. Und gerade in seinem Versuch, den Zusammenhang von Gegenstandskonstitution und Begriffsbildung wie einen logischen Vorgang der Tatsachenfeststellung aussehen zu lassen, scheitert Rickert. Denn sein einheitliches System der Kulturwerte ist eine Fiktion, die der geschichtlichen Wandelbarkeit von Normen widerspricht und die historische Natur des Menschen verleugnet.

Georg Simmel als Philosoph und Schriftsteller

Hatte Rickert den Weg einer Formalisierung beschritten, um der wissenschaftlichen Krise Herr zu werden, so entstand das bedeutende Werk des Philosophen Georg Simmel (1858–1918) in der produktiven Auseinandersetzung mit dem Neukantianismus und in konsequenter Fortführung der kulturphilosophischen Ansätze. Simmel studierte in Berlin bei den namhaften Ethnologen und Völkerpsychologen Moritz Lazarus (1824–1903) und Heymann Steinthal (1823–1899), aber auch bei anderen Philosophen und wurde 1885 mit einer Studie über Kant habilitiert. Er hielt dann Vorlesungen als Privatdozent und Extraordinarius, publizierte aber auch Vorträge und Bücher zu ganz neuen Themen, wie das Buch Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung (1908), nachdem schon 1900 eine Philosophie des Geldes erschienen war. Spät erst konnte der Außenseiter einen Lehrstuhl in Straßburg übernehmen, den er von 1914 bis zu seinem Tod innehatte. Zusammen mit Ferdinand Tönnies, Werner Sombart und Max Weber gründete er 1909 die Deutsche Gesellschaft für Soziologie und wäre doch als Soziologe nicht zutreffend charakterisiert. Denn in seinem Werk spiegeln sich die Haupttendenzen der wissenschaftlichen Entwicklungen seiner Zeit und man kann nicht von einer stringenten Evolution hin zur Begründung einer neuen Disziplin sprechen; vielmehr stehen streng methodisch-akademische Schriften gleichberechtigt neben literarisch-journalistischen Arbeiten und Essays, die vollkommen neue Felder mit ästhetischen Mitteln erschließen und die aus heutiger Sicht als kultursoziologische Texte gelesen werden können. Simmel war jederzeit verschiedensten Einflüssen des Denkens gegenüber offen, er wollte die Spannung zwischen logisch-philosophischem und freiem Denken erhalten, ohne zu einem geschlossenen System vorzustoßen (Lichtblau 1997). Seine Texte beschäftigen sich nicht nur mit Grundfragen der Moderne, sondern sie verkörpern in ihren Schreibweisen einen modernen Denkstil, den sie damit auch programmatisch mit dem zeitgenössischen wissenschaftlichen Stil konfrontieren. Simmel wollte die damals neue Soziologie gar nicht als eigenständige Disziplin etablieren, sondern sie im institutionellen Rahmen der Geisteswissenschaften belassen und lediglich als ausgewiesene Methode der Geschichtswissenschaft betreiben (Jung 1999, 79). An der allmählichen Ausdifferenzierung soziologischer Probleme kann man heute sehen, wie derartige Prozesse von Vorbereitungsphasen zehren und noch undifferenzierte Erprobungen neuer Denkstile vorausgehen müssen, bevor sich dann disziplinäre Strukturen formieren.

Vergesellschaftung von Individuen

Im Anschluss an Rickert betont Simmel den Eigensinn der kulturellen Wertsphären. Anders als Rickert interessieren ihn aber konkrete Prozesse der Vergesellschaftung von Individuen. Sie sind gekennzeichnet durch einen grundsätzlichen Dualismus zwischen Wirklichkeit und Welt. Die Gesellschaftlichkeit der Einzelnen – da nimmt Simmel die moderne Rollensoziologie vorweg – ist bestimmt durch Wechselwirkungen, sinnfällig im Geld, in dem die elementare Form der Vergesellschaftung objektiviert wird. Simmel beschäftigt sich immer wieder mit solchen Veräußerungsformen, in denen die Doppelstellung des Individuums, das durch seine Gesellschaftlichkeit definiert ist, aber dennoch nicht darin aufgeht, zum Ausdruck kommt. Die modernen Zwänge, denen der Einzelne nicht entkommt, führen nach der beeindruckenden Beobachtungskunst Simmels zu besonderen Stilen der Lebensführung, die er bis in kleinste Äußerungen des Alltags hinein verfolgt.

Lebensstile

Daraus entstehen Essays über die Mode, das Großstadtleben, das Abenteuer, die Koketterie, die Geselligkeit, die Mahlzeit usw. Diese Stile sind Ausdruck von der Suche nach Ersatzwelten, in denen das Individuum Entlastung von der beständigen Unruhe findet, sie sind Ausdrucksformen eines Bedürfnisses nach Ästhetisierung, dem Simmel methodisch nachforscht. Er erklärt, dass die spezifisch moderne Zerrissenheit des Menschen sich nur in solchen Symbolen veranschaulichen lasse und mit seinem Stilbegriff überträgt Simmel solche ästhetischen Kategorien auch auf seine kulturwissenschaftlichen Analysen (Lichtblau 1997, 60). Die darin enthaltene Hochschätzung ästhetischer Werte wirkt sich auf die Kulturtheorie aus.

Entfremdung

In seinem zentralen Essay Der Begriff und die Tragödie der Kultur (1911, zit. nach Simmel, 1983) geht er dem Zusammenhang von Entfremdungsprozessen und dem Begriff der Kultur in der Moderne nach. Am Beispiel des Geldes zeigt sich, wie Objekte nach und nach zur zweiten Natur des Menschen geworden sind und ein Eigenleben entfalten. Simmel erklärt: in einer Fabrik entsteht durch das Zusammenwirken verschiedener Personen und im arbeitsteiligen Verfahren ein „Kulturobjekt“, das als Ganzes keinen Produzenten hat. Es ist nicht aus der „Einheit eines seelischen Subjektes hervorgegangen.“ (1983, 199). Dieser Vorgang der industriellen Produktion ist sein Musterbeispiel für „objektive Kultur“. Die Sachwerte oder auch die Sozialgebilde stehen so jenseits des Subjekts und stellen Ansprüche an das Subjekt, ohne dass dieses noch wüsste, wie damit umzugehen sei. Im Gegensatz zum „Kunstwerk“, das eben deshalb „einen unermesslichen Kulturwert“ darstellt, „weil es aller Arbeitsteilung unzugängig“, im Geschaffenen „den Schöpfer aufs innigste bewahrt“ (206), treibt die objektive Kultur mit einer immanenten Logik die Entfremdung voran und verhindert, dass die Dinge wieder in die Entwicklung des lebendigen Menschen zurückkehren. Dieses Paradoxon der Kultur, die sich zwanghaft verselbständigt, entspringe einem tragischen Grund:

Dies ist die eigentliche Tragödie der Kultur. (…) dass die gegen ein Wesen gerichteten vernichtenden Kräfte aus den tiefsten Schichten eben dieses Wesens selbst entspringen; dass sich mit seiner Zerstörung ein Schicksal vollzieht, das in ihm selbst angelegt und sozusagen die logische Entwicklung eben der Struktur ist, mit der das Wesen seine eigene Positivität aufgebaut hat. (203)

Paradox der Kultur

Zwar werden die Kulturinhalte nur geschaffen, um dem Subjekt wieder bei der Selbstausbildung zu helfen, aber weil sie veräußert werden müssen, gehen sie auch eigene Wege und entziehen sich, können sogar sinnlos werden für das Subjekt. Und das macht die schicksalhafte Modernität der Kulturform nach Simmel aus: dass die „Brücken“ (186) zwischen der objektiven und der subjektiven Kultur abgerissen sind und die kulturellen Menschenwerke nicht mehr zur personalen Entwicklung, zur Menschwerdung im höchsten Sinne beitragen.

Ästhetisierung des Kulturbegriffs

Simmels Kulturbegriff ist in mehrfacher Hinsicht grundlegend für die Kulturwissenschaften. In konsequenter Fortführung der Kulturphilosophie entwickelt Simmel ein Instrumentarium für die Beobachtung pathologischer Erscheinungen der Moderne. Insofern handelt es sich um Kulturkritik. Der Begriff Kultur spaltet sich, er ist nun Basis und Gegenstand der Kritik in einem (Kulturphilosophie, hrsg. Konersmann 1998, 342). Simmel hat also einerseits die Ästhetisierung des Kulturbegriffs eingeleitet, andererseits durch die immanente Aufspaltung ihm zugleich seine Problematisierung mitgegeben. Aber indem er anerkennt, dass ästhetische Kategorien unabdingbar für die Kulturanalyse sind, kann Simmel nicht nur die Mikrologien des Alltags jenseits der großen Theorien schreiben, sondern auch zeigen, wie ästhetische Erfahrungen in die Lebensordnungen konstitutiv einwirken. Er analysiert Stilisierungen von Lebensformen, wie in seinem Essay über Die Geselligkeit (1910/1911), in denen die Tragödie der modernen Kultur durch „Spielformen der Vergesellschaftung“ abgemildert wird. Methodisch sind solche Gegenstände für Simmel zwar nur Teilbereiche einer umfassenderen Kulturwissenschaft, zu der die Soziologie Einzelergebnisse beisteuert, jedoch will er sein Vorgehen als Syntheseleistung verstanden wissen. Die Terminologien sind sekundär, soll heißen, sie erschaffen die Tatsachen auf der Grundlage einer Reflexion der von anderen Disziplinen bereitgestellten Materialien und der ständigen Beobachtung dieser Situation des Beschreibens. Simmels Kulturwissenschaft ist genau deshalb von aktueller Bedeutung, weil sie sich einer einsträngigen ideologischen Bewertung enthält und in der strikten Beobachtung divergente Forschungen zusammenführt.

Debatte über die Protestantismusthese

Eine der herausragenden Debatten, an der sich exemplarisch vorführen lässt, wie verschiedene Disziplinen im Dialog einen neuen Gegenstand und damit auch die Kulturwissenschaften erschaffen, ist die Auseinandersetzung mit der Protestantismusthese. Schon seit längerem wies man auf Zusammenhänge zwischen religiösen und ökonomischen Entwicklungen hin, die in einer Erklärung der Entstehungsgeschichte und Bedeutung des modernen Kapitalismus aufgehen sollten. Aber erst in den Studien Die protestantische Ethik und der ‘Geist’ des Kapitalismus (1904/05 und 1920) von Max Weber (1864–1920) lag eine ebenso überzeugend gebündelte wie provokative Formulierung der These vor, die als erstes Beispiel für die Funktion und Wirkung der kulturwissenschaftlichen Perspektive gelten darf.

Max Weber

Weber zeigt, dass der Typus des modernen Berufsmenschen und die moderne kapitalistische Welt ein Produkt des Puritanismus, letzten Endes also religiös bedingt sind. Die protestantische Ethik enthielt Vorgaben, die zusammen mit der Lehre Calvins zu einem neuen Verhaltensmaßstab für die Lebenspraxis seit dem 16. Jahrhundert ausgebildet wurden. Insbesondere die Annahme von der Prädestination, der Gnadenwahl des Menschen begünstigte eine streng reglementierte, ausschließlich dem Erwerb hingegebene Lebensweise. Es wurde einerseits zur Pflicht gemacht, sich für auserwählt zu halten, andererseits als hervorragendstes Mittel zur Erlangung dieser Selbstgewissheit die rastlose Berufsarbeit eingeschärft. Weltlicher Erfolg sollte die göttliche Auserwähltheit garantieren, der dadurch angehäufte Reichtum sollte aber nicht der Verschwendung und dem zügellosen Konsum dienen, sondern, dem asketischen Prinzip der Bedürfnisaufschiebung folgend, zur bloßen Akkumulation von Kapital führen. Um das zu erreichen, benötigte der Einzelne eine methodisch durchdachte, rationale Lebensführung. Solche Pläne sind in den Quellenschriften überliefert, die Weber in seinen Analysen vor allem heranzog, nämlich in Tagebüchern und Autobiographien. Sie enthalten tabellarisch-statistische Aufzeichnungen über die Einhaltung von Tugenden und erlauben einen fundierten Einblick in die konsequente Durchrationalisierung des Alltags mit der vorgeschriebenen täglichen Rechenschaftspflicht vor Gott und sich selbst. Sie sind einzigartige Zeugnisse für die Selbstbeherrschung und die Prozesse der Selbstkontrolle, die man sich abverlangte und belegen minutiös die Verwandlung des Alltags in eine Art Geschäftsbetrieb zu Ehren Gottes.

Puritanismus und Kapitalismus

Weber untersucht ein historisches Paradox: die aufgeführten ethischen Grundlagen sind alle religiös bedingt, sie haben aber zu einer Gesinnung beigetragen und eine Lebenspraxis mitbegründet, die auf Dauer das genaue Gegenteil bewirkte. Eine ursprünglich stark gegen materielles Handeln ausgerichtete Religion spielte durch die Umgestaltung der Askese zu einer rein innerweltlichen bei der Durchsetzung des modernen Kapitalismus eine entscheidende Rolle und trug somit auch zum modernen Verlust der Religion bei. Aber weder waren sich die Zeitgenossen über diesen Prozess im klaren, noch hatten sie ihn beabsichtigt und das historische Ergebnis wurde auch nicht geradlinig erreicht. Vielmehr kann die Forschung im Rückblick diejenigen in der religiösen Praxis erzeugten Antriebe rekonstruieren, die den Prozess begünstigt haben müssen. Einschränkend ist freilich zu betonen, dass Weber damit nicht eine monokausale Erklärung für alle Übel der Moderne bieten wollte, sondern lediglich den Nachweis für einen einzigen konstitutiven Bestandteil des kapitalistischen Geistes. Weder macht er die Religion überhaupt verantwortlich, noch speiste sich der Kapitalismus allein aus dem beschriebenen Paradox. Mit seinem Versuch der Analyse der Entstehungsbedingungen des modernen Kapitalismus ergründet Weber die Frage, auf welche Weise Ideen in der Geschichte wirksam werden können. Er liefert einen Beitrag zur Theorie sozialer Veränderungsprozesse.

Webers Methode

Nun ist bei Weber die Methode entscheidend. Seine Informationen bezieht Weber nämlich nicht aus eigener Forschung, sondern aus der Forschungsliteratur, besonders von Theologen und Religionshistorikern (Guttandin 1998). Und deren Ergebnisse betrachtet er als Vorgaben für einen neuen Zugang zu den Quellen. Es kommt also zu einer Reformulierung von bereits zugänglich gemachten und interpretierten Quellen. Die Objekte der Forschung sind sowieso nie einfach gegeben, so dass sie lediglich noch einmal abgebildet werden müssten. Weber erklärt am Beispiel seines eigenen Begriffs „Geist des Kapitalismus“ sein Vorgehen:

Ein solcher historischer Begriff (…) muß aus seinen einzelnen, der geschichtlichen Wirklichkeit zu entnehmenden Bestandteilen allmählich komponiert werden. (I 39)

Webers Auffassung vom Kulturbegriff

Einerseits baut sich der Begriff erst im Laufe der Untersuchung auf, er füllt sich gewissermaßen in seiner Anschaulichkeit, mit der er sich dem Material annähert, andererseits ist er ein Resultat der Perspektive, mit der ein Forscher an das Thema herangeht und daher vom jeweiligen Blickwinkel abhängig, den das Forschungsinteresse diktiert. Die Analyse ist prinzipiell für andere Aspekte offen. Max Weber nennt das: „Eingliedern“ der Wirklichkeit „in konkrete genetische Zusammenhänge“ (I 40). Maßgebend ist der Forschungszweck; er steuert die Begriffsbildung. Charakteristisch für Webers Methode ist die Technizität, mit der die Formierung des Gegenstands Geschichte aufgefasst wird. Und was Weber als „Geist des Kapitalismus“ bezeichnet, ist ein komplexes Beziehungsgeflecht von Kausalitäten und Deutungen, das den Gegenstand konturiert und dem Leser erst am Ende in voller Gestalt vor Augen tritt:

Wenn überhaupt ein Objekt auffindbar ist, für welches der Verwendung jener Bezeichnung irgendein Sinn zukommen kann, so kann es nur ein „historisches Individuum“ sein, d.h. ein Komplex von Zusammenhängen in der geschichtlichen Wirklichkeit, die wir unter dem Gesichtspunkte ihrer Kulturbedeutung begrifflich zu einem Ganzen zusammenschließen. (I 39)

Der Historiker konstruiert den sogenannten „Geist des Kapitalismus“, indem er gedankliche Wertbeziehungen herstellt und sein Objekt der Betrachtung aus dem historischen Material herausschält.

Idealtypus

Seine Arbeit versteht Weber als Kulturwissenschaft. Zunächst bringt Weber Kultur und Sinnbildung des Menschen in einen Zusammenhang. Nur einzelnen, ausgezeichneten Bereichen ihrer Lebenswelt verleihen Menschen eine kulturelle Bedeutung. Der Wissenschaftler hat sich an diese wertorientierten Wirklichkeiten zu halten, denn der Sinn, der den Dingen einmal gegeben wurde, haftet an ihnen und bildet eine Sphäre zwischen den inneren Vorgängen und den Tatsächlichkeiten. Den Objektbereich Kultur kann man am alltagspraktischen Lebensvollzug studieren, weil er dort werthaft ausgeprägt wurde. An seinem Beispiel der Religion interessieren Weber daher nur ihre Relevanz für das Alltagsleben und die äußeren Wirkungen, die sie hervorbringt. Nur darin ist ihre kulturelle Wirklichkeit empirisch nachweisbar, sie ist historisches Individuum. Man kann aber auch ihre Bedeutung für die Kultur untersuchen und eine Sinnverwandtschaft zum Kapitalismus herstellen. Dann arbeitet der Forscher mit Idealtypen. Denn jene, die Menschen einer Epoche beherrschenden Ideen selbst kann der Forscher nur in Gestalt eines Idealtypus erfassen, weil sie ja konkret nur in Abschattierungen vorkommen.

Kulturmuster

Das Instrument Idealtypus ist eine gedankliche Formulierung von Sachverhalten, die für den Zweck der Erkenntnis zur Eindeutigkeit gesteigert wurden. Er existiert virtuell, auch unabhängig von der Empirie und fasst das ihr Gemeinsame übergreifend zusammen. Er abstrahiert einzelne Gesichtspunkte zu innerer Widerspruchslosigkeit und hat nichts mit Vorbildhaftigkeit zu tun. Als formales Instrument hilft der Idealtypus, konkrete historische Erscheinungen ohne Umweg über die Aufzählung aller Inkonsequenzen als Bestandteile charakteristischer Züge zu identifizieren. Der Idealtypus „kapitalistischer Geist“ ist selber vollkommen unwirklich und in der Realität nicht zu beobachten, als logisches Gedankengebilde jedoch ist er in der Lage, Kulturerscheinungen nach ihrer Bedeutung und den ihnen inhärenten Wertideen zu ordnen. Weber sucht mit seinen Studien zum Protestantismus nach den Regelhaftigkeiten von Handlungsnormierungen, er interessiert sich für die historische Durchsetzung von Wertideen und ihre geschichtliche Variabilität. Für Weber ist es die Aufgabe der Kulturwissenschaften, nach solchen Kulturmustern zu suchen. Damit leisten sie einen entscheidenden Beitrag zur Erklärung des spezifisch Typischen einiger Merkmale der modernen Kultur. Im Kern will Weber das schlechthin prägende Kulturmuster des abendländischen Rationalismus seit der Neuzeit entwerfen.

Schon von ihrem Ansatz her ist die Kulturwissenschaft bei Weber als eine Konstruktion der Konstruktion (Guttandin 1998) angelegt. Sie überformt die herkömmliche Kulturgeschichte, legt ihre Ergebnisse der eigenen Methode zugrunde und entwirft neue Zusammenhänge: sie zielt eigentlich auf Theoriebildung. Weber führt die divergenten Stränge der zeitgenössischen Diskussion zusammen und bündelt die Thesen zum Kapitalismus unter dem neuen Gesichtspunkt der ökonomischen Bedingtheit von Kulturerscheinungen und der Religionen als Systemen der Lebenspraxis. Die gesamte Debatte, die Weber mit seinen Studien auslöste, ist daher auch ein Signum für die Neuorganisation des Wissenschaftssystems. „Kapitalismus“ als kulturkritische Epochenbezeichnung, aber auch als wissenschaftlicher Bewegungsbegriff zur Deutung der Moderne erfuhr seinen Durchbruch erst mit dieser Auseinandersetzung. Sombart, Weber, Troeltsch und viele andere streiten um die Veränderbarkeit gesellschaftlicher Einrichtungen unter den Bedingungen des Kapitalismus (vom Bruch 1989), aber auch um den Wert und die Brauchbarkeit von Deutungsmustern, wie sie von Weber bereitgestellt wurden. Die traditionellen Konzepte der Kulturgeschichte bei Lamprecht und Gothein werden mit den moderneren der historischen Sozialpsychologie eines Sombart oder auch der Religionssoziologie von Troeltsch konfrontiert. Max Weber muss sich gegen den Vorwurf der idealistischen, sogar spiritualistischen Geschichtsschreibung wehren und ihm werden Mängel in der Relevanz seines Ansatzes vorgehalten, denn der Kapitalismus sei doch schon lange vorher fest verankert gewesen.

Webers Objektivitätsaufsatz

Weber begründet die Kulturwissenschaften mit seinem transzendentalen Ansatz. Im Aufsatz Die „Objektivität“ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis