PETER DINZELBACHER

BERNHARD VON CLAIRVAUX

Leben und Werk
des berühmten Zisterziensers

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Impressum

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ISBN 978-3-534-24904-6

Die Buchhandels-Ausgabe erscheint beim Primus Verlag
Umschlaggestaltung: Christian Hahn, Frankfurt a. M.
Umschlagabbildung: Kopf des Heiligen Bernhard von Clairvaux.
Fresko von Fra Angelico (1387–1455)

ISBN 978-3-86312-310-9

Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich:
eBook (PDF): 978-3-86312-822-7
eBook (epub): 978-3-86312-823-4

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort des Reihenherausgebers

Einleitung

  I. Der junge Mann Bernhard

Kindheit (1090–1098)

Jugend (1098–1111)

Konversion (1111–1112)

 II. In Cîteaux und Clairvaux

Noviziat (1113–1114)

Profeß (1114)

Clairvaux (1115)

Der junge Abt (1116–1118)

Zisterzienser und Cluniazenser

Tescelin und Humbeline

Fragen des Klosterlebens

„Über die Stufen der Demut und des Stolzes“ (1124)

Predigten, Sentenzen und Parabeln

Der Thaumaturg

Bernhards erstes Eingreifen (1124)

Norbert von Xanten

„Marienlob“

Clairvaux oder Cluny?

Prädestination und Heilsweg

„Apologie“ (1124/25)

Bernhard und die Kunst

Aktivitäten in der Kirche (seit 1125)

Reise zur Grande-Chartreuse (1127)

Suger von Saint-Denis

Die Anziehungskraft des Ordens

„Über das Bischofsamt“ (1127/28)

„Über Gnade und Willensfreiheit“ (1128)

„Über die Taufe“ (1127/28)

Die Synode von Troyes (1129)

Werbung für die Tempelritter

Französische Kirchenpolitik (seit 1128)

III. Im Kampf gegen Anaklet

Die Kirchenspaltung (1130)

Bernhard und Frankreich ergreifen Partei (1130–1131)

Erste Kontroverse mit Abaelard (1131)

Bernhard und König Lothar (1131)

In Clairvaux (1131)

Das Konzil von Reims (1131)

Bernhard in Aquitanien (1132)

Päpstliches Lob (1132)

Die Konversen

Erste Italienreise (1133)

Strittige Bischofswahl in Tours (1133)

Der Tod eines Reformers (1133)

Bernhard beendet das aquitanische Schisma (1134–1135)

Bernhard in Bamberg (1135)

Zweite Italienreise (1135)

Heimkehr (1135)

Der Neubau von Clairvaux (seit 1135)

Die “Predigten über das Hohe Lied“ (1135–1153)

„Über die Gottesliebe“ (1130–1138)

Dritte Italienreise (1136–1138)

Salerno (1137)

Die Bischofsnachfolge in Langres (1138)

Gerhard von Fontaines

Die Kommune Reims (1139)

Das zweite Lateranum (1139)

Italienische Zisterzienser

IV. Wider die neuen Ketzer

Die Liturgiereform (1134/46)

Mariologie (1137/39)

„Über Vorschrift und Dispens“ (1140)

Die ‘Causa’ Abaelard (1140/41)

Die Rede an die Pariser Kleriker (1140)

Das Konzil von Sens (1141)

Abaelards Ende (1141–1142)

Gegen den Bischof von York (1142–1147)

Ludwig VII. und Theobald von der Champagne (1142)

Bernhard zwischen dem König und dem Grafen der Champagne (1142/43)

Arnold von Brescia

Saint-Denis (1144)

Ketzerprobleme

Der erste Zisterzienserpapst und Bernhard (seit 1145)

Der Häretiker Heinrich von Lausanne

Bernhard in Südfrankreich (1145)

Ordenserweiterung (seit 1145)

 V. Krieg gegen die Heiden, Friede unter den Christen

Kreuzzugspredigt (1146–1147)

Judenverfolgung (1146)

Bernhard und die Juden

Deutschland im Kreuzzugsfieber (1146–1147)

Apokalyptik?

Kreuzzugsvorbereitungen (1147)

Der Wendenkreuzzug (1147)

Der gescheiterte Kreuzzug

Gilbertus Porreta

Erneute Ordenserweiterungen

Hildegard von Bingen

Das Konzil von Reims (1148)

Malachias von Armagh

Die „Vta Malachiae“ (1148/49)

Nach dem Scheitern der Kreuzfahrt (1149)

Ein neuer Kreuzzug? (1150)

Ein verhinderter Bruderkrieg und eine königliche Scheidung (1149–1151)

„Ich bin die Chimäre meiner Generation“ (1150)

Verluste

Der Papstspiegel „De Consideratione“

Die Bischofswahl in Auxerre (1151)

Ruhelose letzte Jahre (1152/53)

Vermittlung in Metz (1153)

Der Tod (1153)

Nachwort zu Quellen und Literatur

Anmerkungen

Bibliographie

Personen- und Sachregister

Vorwort des Reihenherausgebers

Während die bisherigen Bände dieser Reihe vornehmlich deutschen Herrschern galten, handelt der vorliegende zum ersten Male über eine der großen sowohl geistigen als auch politischen Gestalten des Mittelalters. Es geht um Bernhard von Clairvaux, die „Chimäre“ seiner Generation. Die Literatur über ihn ist kaum mehr zu überblicken, die Zahl der wissenschaftlichen Synthesen über sein Leben und Werk hingegen eher gering. Bisher war das 1895 in zwei Bänden erschienene Werk des Abbe Vacandard maßgeblich und an Vollständigkeit und Detailkenntnis unübertroffen, obschon bereits bei seinem Erscheinen kritische Stimmen laut wurden, die bei aller Anerkennung der wissenschaftlichen Leistung die hagiographischen Tendenzen mißbilligten. Seitdem sind bis in neueste Zeit zumeist kürzere Gesamtdarstellungen erschienen, aber auch die epochale, von Dom Jean Leclercq geleitete Edition seiner Werke führte bislang zu keiner umfassenden neuen Monographie über Bernhard, die das Werk von Vacandard hätte ablösen können. Leclercq selbst publizierte 1989 nur eine mehr populär-erbauliche Biographie des Heiligen, keineswegs eine grundlegende Synthese, in der das in zahlreichen Einzeldarstellungen und Aufsätzen niedergelegte profunde Wissen des Autors eingegangen wäre. Großen Einfluß im Sinne einer aus dem Bereich der frommen Erbauung herausführenden Neubewertung der Persönlichkeit Bernhards haben in den letzten Jahrzehnten besonders die kritischen Quellenstudien von Adriaan? Bredero vor allem über die „Vita prima“ und die daraus gezogenen Folgerungen über das „Doppelleben“ der „vita contemplativa“ und der keineswegs von Schatten freien „vita activa“ ausgeübt, deren Ergebnisse im vorigen Jahr auch in deutscher Übersetzung erschienen sind. Ihnen folgt Peter Dinzelbacher jedoch keineswegs überall. Er ist bereit, vor allem der „Vita prima“ größeres Vertrauen entgegenzubringen als der niederländische Mediävist, auch wenn er gegenüber der Masse der Bernhard freundlich gesonnenen zisterziensischen Überlieferung die wenigen kritischen zeitgenössischen Stimmen über problematische Züge in dessen Charakterbild hinreichend berücksichtigt. Auf jeden Fall läßt der gegenwärtige Stand der Historiographie eine neue Darstellung Bernhards sehr berechtigt, ja erforderlich erscheinen. Sie kann zwar schon aus Platzgründen den Detailreichtum Vacandards nicht anstreben, ist aber dennoch ausführlich genug, um über alle wichtigen Aspekte von Bernhards Leben und Werk in ständigem Zugriff auf die Quellen und unter Auswertung der neueren Forschung umfassend Auskunft zu geben. Dafür ist der Verfasser als Redakteur des ersten Bandes der lateinisch-deutschen Gesamtausgabe der Werke Bernhards hervorragend ausgewiesen. Entsprechend der Zielsetzung der Reihe soll der Band sowohl dem Fachmediävisten als auch dem an Geschichte interessierten Leser eine fundierte, auf dem Stand der Forschung stehende, aber durch genaues Quellenstudium darüber hinausführende Darstellung bieten. Zu Recht hat der Autor dafür im wesentlichen das chronologische Schema gewählt, um die Persönlichkeit in der ganzen Velfalt und Komplexität ihres Denkens und Handeins zu erfassen. Damit entgeht er der Gefahr, der so manche Darstellungen bis in die Gegenwart erlegen sind, in Berhard im wesentlichen den theologischen Schriftsteller zu sehen und aus den einzelnen Elementen seines Denkens systematisierend „Summen“ über bestimmte theologische Fragen zu konstruieren, die er selbst nie anstrebte. In diesem Sinne wird das Buch sicher die weitere historische und theologische Forschung befruchten.

Würzburg, im September 1997

Peter Herde

Clementi filiolo

Einleitung

„‘Breves dies hominis sunt.’ Fugiunt, nec recedunt. Vestigia eorum nulla retrorsum. Labitur miser homo more fluctuentis aquae, cum ipsis, et praecipiti cursu, ad finem, quem nescit, excurrit.

· Kurz sind die Tage des Menschen. Sie fliehen ohne wiederzukehren. Keine Spuren bleiben von ihnen zurück. Mit ihnen entschwindet der arme Mensch wie verfließendes Wasser und eilt in überstürztem Lauf einem Ende zu, um das er nicht weiß.“

Beginn eines Briefes des Abtes Petrus von Cluny vom Herbst 1149 an seinen Freund Bernhard von Clairvaux. (Epistola 150, ed. Constable I, 367)

Im zweiten Viertel des 12. Jahrhunderts durchzog ein hagerer Mann in heller Mönchskleidung halb Europa, gefolgt von Scharen von Kranken und Besessenen, die ihn, der selbst leidend war, um Heilung anbettelten. Er reiste nie allein, eine Gruppe von Mönchen umringte ihn, und oft genug eine Menge anderer geistlicher Würdenträger. Meist sah der Mann nichts von seiner Umgebung, da er, auch auf dem Rücken seines Pferdes, in tiefe Meditation über die Liebe zwischen Gott und der Seele versunken war.

Wandte der Mann aber seine Aufmerksamkeit auf die Menschen, die ihn umgaben, dann begann er eine Faszination auszustrahlen, der sich nur wenige zu entziehen vermochten. Liebe und Haß, die Klugheit der Schlange und die Einfalt der Taube waren in seinen Worten. Diese Worte ließen Adelige ihr Wohlleben verlassen, um eigenhändig wie die verachtetsten Bauern Äcker umzugraben, Gelehrte auf ihre Bücher verzichten, um statt dessen stundenlang in schmucklosen und eisigen Kirchen Psalmen zu singen, Fürsten jede politische Raison hintanstellen, um in einen katastrophal endenden Kreuzzug zu ziehen, höchste Prälaten zu zweifelhaften Kniffen in geistlichen Gerichten greifen, um seine Feinde zu verurteilen. Viele nannten ihn darob lange vor seinem Tode einen Heiligen, manche verfluchten ihn als falschen Propheten.

Wenn dieser Mann nicht betend oder predigend durch die lateinische Christenheit zog, dann tat er das, was er wohl am meisten liebte: er diktierte oder schrieb. Hunderte von Briefen und Ansprachen, Dutzende von Traktaten grub der Schreibgriffel auf Wachstafeln, zeichnete die Feder auf Pergament. In einer wunderbar mitreißenden, bibelgesättigten Sprache, geschmückt mit allen rhetorischen Raffinessen, umkreisten seine Werke immer das eine Thema: wie leben, um den Himmel zu gewinnen? Ihm kam kein Zweifel, daß der sicherste Weg der war, dort sein Erdendasein zu vollenden, wo er selbst in seinem dreiundzwanzigsten Jahr die drei Mönchsgelübde abgelegt hatte: im Orden der grauen Brüder von Cîteaux und namentlich in dem Konvent, dem er als Abt vorstand, in Clairvaux.

Das aktive Leben und das beschauende Leben, beides hat Bernhard in solcher Intensität erfahren und gestaltet, wie kein anderer Mensch seiner Epoche, von dem wir wissen. Mit allen großen Strömungen der Zeit war er nicht nur konfrontiert, sondern gestaltete sie selbst mit, voller Sympathie oder voller Widerstand: Armutsbewegung und Kreuzzug, Papstschisma und Adelsfehden, Scholastik und Mystik, Liebesdichtung und Kriegspropaganda … Mit wem von den Großen seiner Zeit hätte er nicht zusammengewirkt oder ist er nicht zusammengestoßen? Päpste baten um seinen Rat, Königen drohte er, Philosophen bekämpfte er, Bischöfe verdankten ihm ihr Amt. Im Kirchenstaat Innozenz II. und Eugen III., in Frankreich Ludwig VI. und Ludwig VII., in Deutschland Lothar III. und Konrad III., in Italien Roger II. – sie alle haben mit ihm verhandelt, und die meisten von ihnen oft und oft. Ordensgründer wie Norbert von Xanten oder Gilbert von Sempringham waren seine Freunde, eine Seherin wie Hildegard von Bingen verehrte ihn tief, und der progressivste Denker seiner Generation, Peter Abaelard, lernte ihn hassen.

Es gibt viele Wege, etwas über jene Achsenzeit der europäischen Geschichte zu erfahren, die das hohe Mittelalter darstellt. Bernhard von Fontaines auf seinem Ritt durch ein Europa voller Konflikte und in die Welt seiner unweltlichen Gedanken zu folgen, ist einer der spannendsten.

I. Der junge Mann Bernhard

Kindheit (1090–1098)

Im Wohnturm der Burg von Fontaines-lès-Dijon in Burgund1 gebar im Jahre 1090 dem Ritter Tescelin seine Gattin Aleth von Montbard2 ihren dritten gemeinsamen Sohn und ihr Lieblingskind. Er erhielt den Namen Bernhard, der „Bärenkühne oder -harte“, eine der so üblichen Nachbenennungen mit dem Namen des Großvaters,3 denn so hieß Aleths Vater.4

Während der Schwangerschaft hatte Aleth einen Angsttraum gehabt: Ihr schien, sie habe einen bellenden Welpen im Leib. Beunruhigt bat sie einen vertrauten Mönch um die Erklärung dieses seltsamen Bildes; der fand eine erfreuliche Deutung, indem er an Isaias 56, 10 anknüpfte: „ein ausgezeichneter Prediger wird aus dir geboren werden, nicht zu vergleichen mit den vielen Hunden, die nicht bellen können“.5 So berichtet noch zu Bernhards Lebzeiten Gottfried von Auxerre, von 1140 bis 1153 „treuer Sekretär, Vertrauter und ständiger Reisebegleiter“6 des späteren Heiligen. Man hat seine Nachricht mit Skepsis aufgenommen: da es ähnliche Träume auch in anderen Heiligenleben gibt,7 „muß“ es sich natürlich um einen Topos, einen hagiographischen Gemeinplatz, handeln; Gottfried habe einfach „seine Phantasie spielen“ lassen.8 Vielleicht hat die Mutter auch nur später in „subjektiver Täuschung“ gemeint, solches geträumt zu haben.9 Dagegen spricht wohl, daß sich Aleth keineswegs von Anfang an sicher war, ihr Traum bedeute Gutes. Davon überzeugte sie erst die Auslegung des unbekannten Religiosen. Und ist es nicht ganz häufig, daß sich eine schwangere Mutter auch im Schlaf mit ihrem Kind beschäftigt, sei es in freundlichen, sei es in ängstlichen Träumen?10

Von da an setzte Aleth große Erwartungen in dieses Kind. „Diesen Sohn aber liebte sie zärtlicher als alle, durch das gottgesandte Orakel motiviert“11 – nämlich durch ihren Traum. Sie hielt das Neugeborene hoch hinauf zum Himmel, wie sie es auch bei ihren anderen Kindern zu tun pflegte, um sie Gott darzubringen. Doch den kleinen Bernhard bestimmte sie zusätzlich für eine geistliche Laufbahn, wie es scheint in einem feierlichen Gelöbnis in der Kirche.12

Wahrscheinlich nur wenige Tage oder Wochen nach der Geburt – um bei einem frühen Tod die Gefahr auszuschließen, daß seine Seele auf ewig in der Vorhölle schmachten müsse, wie die Kirche lehrte13 –, wurde das Kind in St. Martin zu Dijon14 getauft: das damals Übliche war, es dem Taufexorzismus zu unterwerfen, um den Teufel aus dem kleinen, mit der Erbsünde belasteten Heiden zu vertreiben,15 wobei man es dreimal nackt im Taufbecken untertauchte und mit geweihtem Salz, Öl und Chrisma in die Gemeinschaft der Christen aufnahm.16

Der Vater Tescelin wird als adelig, reich und fromm geschildert, war also einer der „proceres“, der Burgherren, die von verschiedenen Einkommen wie Buß- und Wegegeldern, dem Mühlenbann u.ä. lebten.17 Persönlich sei er mit einer besonderen Neigung zur Gerechtigkeit ausgezeichnet gewesen, außerdem ein Ritter ohne Furcht und Tadel, „miles fortissimus“,18 wie es sich für den Vater eines Heiligen schickte. Sein Beiname, altfranzösisch „li sors“,19 der Rotblonde, charakterisierte seine Haarfarbe, die sein Sohn offensichtlich von ihm erbte.20 Der aus Châtillon stammende Feudalherr gehörte zu den engsten Gefolgsleuten des Herzogs von Burgund; er diente Odo I. (reg. 1078–1102) genauso treu wie dessen Sohn Hugo II. (reg. 1102–1143) und figuriert mehrfach in den Urkunden dieser Herzöge als Zeuge.21 Daß er deshalb, wie wohl die meisten seiner Standesgenossen, immer wieder für längere Zeiten nicht mit seiner Familie zusammengelebt hat, sondern in der „maisniee“ (Hausgemeinschaft) seines „seigneur“ (Herrn), ist wahrscheinlich und mag eine Rolle für Bernhards weiteren Lebensweg gespielt haben.22 Ob er ein ‘miles litteratus’ war, also lesen und schreiben konnte, wie etwa der Vater Abaelards,23 aber sonst wenige dieses Standes, wissen wir nicht. Vermutlich übertreibt aber der Berichterstatter – es ist wiederum Gottfried – ein wenig hinsichtlich der sozialen Stellung der Familie, denn er bemerkt selbst, die Burg des Tescelins war eher bescheiden, eine kleine Anlage („minus castrum“24) am nord-westlichen Rande Dijons. Möglicherweise hatte sie Tescelin nur als Lehen inne.25 Sonst besaß er etwas Streubesitz in der Umgegend, auch bei einem später Clairvaux genannten Tal.26 Was die Zugehörigkeit zum Adel betrifft, so war Burgund eine der Regionen, wo das Rittertum sich im frühen 12. Jahrhundert bereits weitgehend dieser Schicht hatte assimilieren können.27

Die Mutter Aleth28 (von Adelheid) kam aus dem bedeutenden Geschlecht derer von Montbard, das sogar mit einer älteren Linie der Herzöge von Burgund verwandt war. Sechs Söhne, Guido, Gerhard, Bernhard, Andreas, Bartholomäus und Nivard, sowie eine Tochter, Humbeline, brachte sie zur Welt, die sie alle am liebsten für das Kloster bestimmt hätte,29 wie sie auch selbst ursprünglich hätte Nonne werden sollen, was ihre dementsprechende Erziehung erklärt.30 Ihre die Familie anscheinend dominierende Frömmigkeit sollte ihre spätere Verehrung als Heilige mitbegründen, deren wichtigstes Motiv aber gewiß ihr dritter Sohn war. Daß sie eine starke Frau war, die ihre Kinder nach ihrer Religiosität zu formen vermochte, darf aufgrund mancher Hinweise in Bernhards Vita vermutet werden.

Nur wenig erfahren wir darüber, wie das Kind Bernhard aufwuchs: Als Säugling wurde er wie seine Geschwister von Aleth selbst gestillt, was sein Biograph besonders hervorhebt, da dies in seiner Zeit in den gehobenen Schichten keineswegs üblich war. Üblich war vielmehr, daß die adeligen Damen ihre Kinder einer Amme anvertrauten,31 denn ein Kind selbst zu stillen, hätten viele als Zeichen interpretiert, man könne sich keine solche Bediente leisten. Das Positivum lag aber darin, daß nach den Vorstellungen der Zeit mit der Milch der Mutter auch ihre guten Anlagen weitergegeben wurden.32

Die Erziehung Bernhards und seiner Geschwister scheint eher spartanisch gewesen zu sein: „So lange sie unter der Hand Aleths waren, zog sie sie mehr für das Eremiten- als für das Hofleben auf und duldete nicht, daß sie sich an delikateres Essen gewöhnten, sondern nährte sie mit gewöhnlichem und einfachem.“33 Es ist klar, daß Aleth hier wie so viele Mütter in ihren Kindern verwirklichte, was sie selbst als verheiratete Frau mit Familie noch nicht zu tun imstande war, nämlich ein dem Klosterleben möglichst nahekommendes Leben in der Welt zu führen. Als ihre Kinder dann aber alt genug waren, verbrachte sie ihre letzten Jahre nur mehr mit Fasten, Wachen, Almosenspenden und Gebet, ohne jedoch Nonne zu werden.34

Welche Eindrücke Bernhard sonst in seinen Kindertagen empfangen haben mag, was und womit er gespielt hat (wohl kaum mit Ritterfiguren,35 wie vielleicht seine nicht für ein geistliches Leben bestimmten Brüder), was er lernen mußte oder durfte, entzieht sich unserer Kenntnis. Im Lesen hatte er sich jedenfalls schon sehr früh zu üben.36 Wahrscheinlich hat er einen Zuchtmeister (afrz. „maistre“, mlat. „paedagogus“) gehabt, der ihn unterrichtete; Bernhards älterer Zeitgenosse, der Benediktiner Guibert von Nogent (1053–1124), weiß in seiner Autobiographie genug darüber zu berichten, unter welchem Druck ihn der harte Erzieher mit pausenlosem Lernen hielt.37 Daß Aleth ihrem Sohn gründlich und bleibend Inhalte ihrer Religion vermittelte, ist freilich sicher (bis zu ihrem siebten Jahr wuchsen auch die kleinen Buben üblicherweise in den Räumen der Mutter auf)38. Ihre Lebensführung erschien auch später dem Abt Bernhard so vorbildlich, daß er seine Schwester genau darauf verpflichtete, als er sie auf drastische Weise dem Weltleben entfremdet hatte.39

„pro aetate, imo supra aetatem, pietatis opera sectabatur“40: „er pflegte die Werke der Frömmigkeit in einer Weise, die seinem Alter angemessen war – nein, über sein Alter hinaus!“ So seine Vita. Daß der kleine Bernhard zu Weihnachten einmal vor dem nächtlichen Gottesdienst einschlief und vom Christkind träumte, verwundert so nicht und kann auch nicht als legendär abgetan werden: noch als Abt sprach er davon.41 Und auch daß er, bekam er einmal ein wenig Geld, dieses heimlich Armen weitergab,42 muß kein hagiographischer Topos sein – pflegen Kinder nicht oft Handlungen ihrer Eltern nachzumachen?

Warum seine Eltern nicht den üblichsten und sichersten Weg beschritten, ihr Kind auf ein geistliches Leben zu verpflichten, nämlich die Mönchung durch Oblation43 in einem Kloster, wissen wir nicht. Zahlreiche in die Kirchengeschichte eingegangene Zeitgenossen Bernhards waren so in frühester Jugend (ab vier bis fünf Jahren) einem Konvent übergeben worden, damit sie dort für ihre Verwandten beten sollten, z.B. Suger, der spätere Abt des Reichsklosters Saint-Denis (ca. 1081–1151), Petrus von Montboisier, der spätere Abt von Cluny (ca. 1093–1156), Rupert, der spätere Abt von Deutz (ca. 1070-ca. 1130), oder der mit Bernhard gleichaltrige spätere Bischof Hartmann von Brixen (ca. 1090–1164) – und so viele andere führende Männer der damaligen Kirche. Die Oblation erfolgte ganz unabhängig davon, ob dieses Kind – und später dieser Erwachsene, denn die Klostergelübde waren ja unauflöslich44 – dies auch selber wollte oder nicht. Das Moment der rituellen, ganz äußerlichen Reinheit eines Kindes als Opfer und die zu erbringende Gebetsleistung waren hier leitend und Existenzgrundlagen dieser Einrichtung, aus der sich die Benediktiner im frühen Mittelalter zu einem sehr großen Teil rekrutierten. Weitgehend irrelevant blieb die innere Einstellung der Oblaten. Bernhard, wiewohl nicht persönlich davon betroffen, sollte noch mit diesem Problem konfrontiert werden.45

Jugend (1098–1111)

Seit seinem siebten oder achten Jahr besuchte Bernhard die Schule der Kanoniker von Saint-Vorles in Châtillon-sur-Seine, einer gerade eine Tageswanderung von Fontaines entfernten bischöflichen Siedlung. Seine Familie besaß dort ein Haus. Das Alter Bernhards stimmt mit dem überein, das auch sonst als üblich für den Beginn des Unterrichts angegeben wird.46 Was hatten die Schüler, die bereits Kleider von gleichem Schnitt wie die Kanoniker selbst trugen,47 zunächst zu lernen? Zwar ist nichts über Saint-Vorles speziell überliefert, doch kann man sich nach den allgemeinen Gepflogenheiten solcher geistlicher Schulen sicher sein, daß die Knaben Lesen, Schreiben, Auswendiglernen und Singen vor allem an Hand der lateinischen Psalmen zu üben hatten.48 Gewiß wurden sie mit demjenigen antiken Bildungsgut vertraut gemacht, das man seit dem beginnenden Frühmittelalter als Trivium bezeichnete: Rhetorik, Grammatik und Dialektik. Auch heidnische Autoren wie Vergil, der freilich christlich gedeutet wurde, dürften auf dem Lehrplan gestanden haben. Die Schüler hatten die klassische Sprache so gut zu beherrschen, daß sie selbst kleine Dichtungen („dictamina“) fabrizieren konnten. Mit dem zweiten Teil der ‘Freien Künste’, dem ‘Quadrivium’, das die mathematischen Wissenschaften umfaßte, wurde Bernhard dagegen offenbar nie konfrontiert.49

Das Bildungsangebot der Kanoniker scheint, allein nach dem Stil von Bernhards Werken zu urteilen, hervorragend gewesen zu sein, und der Junge soll, wie von seinem Biographen Gottfried glaubwürdig versichert wird, Talent zu einem sehr guten Schüler gehabt haben. Bernhard blieb dem Kloster seiner Schultage auch immer verbunden, wie mehrere Interventionen und sein Bemühen um Reform zeigen, als er ein einflußreicher Mann geworden war.50 Damals allerdings war er ziemlich schüchtern, was, wie er noch lange später beklagte, ihm seine Erzieher mit Gewalt auszutreiben suchten.51 „mire cogitativus“, erstaunlich nachdenklich, nennt sein Freund Wilhelm von Saint-Thierry52 den jungen Bernhard, weiters ruhig, gehorsam und ganz versessen darauf, die Heilige Schrift zu studieren: ein katholischer Musterknabe.53 Oder, wie es ein französischer Historiker formulierte: „Summa summarum, ein Heiliger, wie man ihn nur im Brevierbuch findet, würdig, kanonisiert zu werden, sogar noch ehe er gelebt hat.“54

Bernhard war wohl etwa siebzehn oder achtzehn, möglicherweise aber auch erst vierzehn Jahre alt, als seine Mutter, vielleicht vierzigjährig, an einem 31. August starb.55 Sie wurde in der Krypta eines der bedeutendsten Klöster der Umgebung bestattet, nämlich in Saint-Bénigne zu Dijon.56 Mit dem Tod Aleths schien sich das Leben ihres bestbehüteten Sohnes zunächst zu ändern. Sogar in Wilhelms Biographie klingt etwas wie Befreiung mit: nun begann der junge Mann „suo jam more, suo jure“57, nach seiner Weise und auf seine Verantwortung, zu leben. Aus dem wenigen, was sein Freund Wilhelm über die Jahre vor Bernhards Konversion preisgibt, wird ganz klar, daß er in eine Gruppe Gleichaltriger eingebunden war, eine Burschen-Clique mit enger Freundschaft, wie sie auch heute noch für die Jugend gerade in den romanischen Ländern so typisch ist. Solche Cliquen aus ritterbürtigen Familien bildeten „compaignies“ oder „maisnies“, Trupps, um nicht zu sagen ‘Gangs’, die sich um einen Anführer scharten und auf „aventure“ auszogen58, zu Turnieren, Schlachten und Raubzügen (was die nach damaligem Verständnis durchaus legitimen Fehden in der Praxis für gewöhnlich waren). Nun war Bernhard, anders als seine Brüder, nicht für das Waffenhandwerk erzogen worden, was ihn aber nicht hinderte, in einer solchen Gruppe – mit welchem Ziel? – umherzuziehen. Einfach zu weltlichem Vergnügen, denn es waren gefährliche Freundschaften (für sein Seelenheil), bemerkt Wilhelm: „amicitiae procellosae“59, eine Formulierung, die das stürmische Meer der bösen Welt, des „saeculum nequam“ (Gal 1, 4), evoziert.60 Wahrscheinlich besuchte man abwechselnd die Burgen der Eltern und Verwandten der einzelnen Kumpane; „als Bernhard einmal mit seinen Freunden bei einer Dame (matrona) übernachtete“, soll ihn diese (natürlich erfolglos) zu verführen versucht haben.61 Dazu ließ sie ihn „tanquam honoratiori omnium“62, als den Vornehmsten von allen, getrennt unterbringen – Bernhard dürfte demnach der Anführer dieser Clique gewesen sein. Bedenkt man seine spätere Tendenz, Führungsrollen zu übernehmen, und seine Begabung, sie mit Erfolg zu auszufüllen, wirkt dies absolut wahrscheinlich.

Daß Bernhard damals den von der Mutter vorgezeichneten Weg beinahe verlassen hätte, bestätigen unabhängig voneinander wenigstens fünf Zeugnisse: Einmal die Biographen Gottfried und Wilhelm, die bemerken, Bernhard hätte fast eine Laufbahn in der Welt eingeschlagen,63 wobei sein erster Biograph seinen Helden in einigen entsprechenden Episoden zeigt. Dann verrät Wilhelm einmal en passant, daß der junge Mann sich, ehe er „einen neuen Menschen anzog“, mit seinen Freunden „über die weltlichen Wissenschaften oder die Welt selbst“ zu unterhalten pflegte.64 Weiters spielt Bernhard selbst in einem seiner Briefe auf eine Epoche seines Lebens an, da er Gott verachtet hatte, eine Stelle, die sich wohl nur auf die Zeit vor seiner Bekehrung beziehen läßt: Als er um 1128 seinen berühmten Brieftraktat über das Bischofsamt an Erzbischof Heinrich von Sens schrieb, schob er beim Gedanken an das Jüngste Gericht ein persönliches Bekenntnis ein: „Ich erzittere zur Gänze, Herr Jesus, besonders wenn ich mich bei der Betrachtung deiner Majestät (wie wenig ich sie auch anzuschauen vermag) erinnere, wie sehr ich dich einst verachtete. Doch auch jetzt … fürchte ich mich, der ich einst gegen deine Majestät widerspenstig war …“65 Und seinen Mönchen bekennt er einmal, bezogen ausdrücklich auf die Zeit vor dem Klostereintritt: Damals hatte ich schon meinen „Glauben, aber der war tot. Wie sollte er denn nicht tot sein ohne Werke?“66 Schließlich gibt es einen Hinweis Berengars von Poitiers,67 eines Schülers Abaelards. Seine Angaben sind allerdings mit Vorsicht zu genießen, denn einerseits waren, wie seine Werke zeigen, Kritik und auch Verleumdung sein Lieblingsmetier. Andererseits hat er sich über Bernhards Jugend gerade in seiner Verteidigungsschrift für den 1141 von dem Abt von Clairvaux so heftig angefeindeten Philosophen Petrus Abaelard geäußert, in einer Diatribe, die als schlechten Scherz zu entschärfen („ioco legatur, non serio“68) er sich später, wenigstens drei Jahre vor Bernhards Tod, gezwungen sah, da sie ihn ins Exil getrieben hatte. Freilich hat auch diese Revocatio, da opportunistisch zur eigenen Verteidigung und nicht ohne Ironie geschrieben, wenig Wert. Trotzdem sollte man diese Quelle nicht ignorieren: daß Berengar übertreibt, ist gewiß, aber wenn er gerade bestimmte Verhaltensweisen Bernhards angreift, dann doch wohl solche, die tatsächlich einen Anlaß boten. Es wäre sinnlos gewesen, Bernhard vorzuwerfen, er habe von Jugend an „canticulas mimicas et urbanos modulos fictitasse“ und seine Brüder mit schlauer Erfindungsgabe „rhythmico certamine“ übertreffen wollen, wenn nicht faktisch weltliche Texte von ihm zirkuliert wären; hätte Berengar erfinden wollen, so hätte er Gravierenderes gefunden. Es mögen harmlose Schulgedichte Bernhards, etwa Antikenimitationen, gewesen sein, die Berengar hier zu „proteruia“, Frivolitäten, hochstilisiert, durch deren Zitierung er seine Schrift nicht beschmutzen möchte, zumal sie ohnehin allgemein bekannt seien.69 Der „Scholastiker“ (so sein Beiname) verklausuliert in der zitierten Passage seine Anklage einigermaßen, drückt sich absichtlich unklar aus, etwa: Schauspieler-Liedchen mit schmissigen Melodien (Dichten und Komponieren gehörten im Mittelalter fast immer zusammen). Da „mimicus“ in frommen Ohren eindeutig pejorativ an die umherziehenden Akteure notorisch schlechter Moral gemahnte,70 sollte man wohl verstehen, Bernhard habe Lieder für solche Trupps von Vaganten geschrieben, wie sie sich mit Sicherheit auch das eine oder andere Mal in der heimatlichen Burg zu Fontaines produzierten. Ob nicht auch der erste Teil der Bemerkung eines Bernhard feindlichen Cluniazensers über eines seiner Werke sich auf die vormonastische Schriftstellerei des Abtes bezieht? „Ich würde es einen erträglicheren Schaden nennen, in weltlicher Kleidung schmutzige Satiren zusammenzuschreiben, als zwischen die süßen Gesänge des Bräutigams und der Braut mit Lappalien solcherart scheltend hineinzuplatzen!“71

Jedenfalls ist die Wahrscheinlichkeit groß,72 auch Bernhard habe vor seinem Klostereintritt Gedichtchen weltlichen Inhalts produziert – zumal dies für einen literarisch Hochbegabten zu seiner Zeit nichts Ungewöhnliches war – und dies später bereut. Verfaßten nicht auch gerade in Nordfrankreich Kleriker gern erotische Gedichte in Nachahmung Ovids73? Verwarf nicht ein bekannter Dichter wie der Bischof von Rennes, Marbod (t 1123), ausdrücklich seine leichtsinnigen Jugendpoeme?74 Kennen wir aus dem 12. Jahrhundert nicht auch mehr als einen Zisterzienser, von dem zwar nur Schriften aus seiner Ordenszeit erhalten sind, frühere weltliche Dichtung jedoch einwandfrei bezeugt ist, wie z.B. Helinand von Froidmont?75 Hat nicht ein gefeierter Trobador wie Bertran de Born eine Bekehrung erlebt und ist Mönch geworden?76 Hat nicht auch Abaelard Minnelieder geschrieben, die so beliebt waren, daß sie auf den Straßen gesungen wurden?77 Und doch sind auch sie, anders als seine philosophischen und religiösen Werke, nicht erhalten. Ob sich Bernhard aus diesem Grund künftig auf dem Gebiet der Lyrik so zurückgehalten hat, daß nur einige wenige (literarisch belanglose) Liturgica seinem umfangreichen Prosawerk gegenüberstehen?

Gleichviel, „der junge Mann“ Bernhard war anscheinend bereits auf dem Weg ins „böse Saeculum“. Wir haben aus jener Zeit ein literarisches Porträt Bernhards, so daß wir uns sein Aussehen in etwa vorstellen können: mittelgroß, aber hochgewachsen wirkend, ziemlich zierlich gebaut, ein angenehmes Gesicht, blondes Haar, rötlicher Bartansatz.78 Zum ritterlichen Leben gebrach es ihm offenbar an den körperlichen Voraussetzungen. Die Chanson de Roland sagt in für Bernhard ganz passender Weise:

Itel valor deit aveir chevaler.

Ki armes portet et en bon cheval set,

En la bataille deit estre forz et fiers

U altrement ne valt quarre deners,

Einz deit monje estre en un de cez mustiers,

Si prierat tuz jurz por noz peccez.79

„Solche Tugend muß ein Ritter haben, der Waffen trägt und auf einem guten Roß sitzt: in der Schlacht muß er tapfer und wild sein, sonst ist er nicht einmal vier Denare wert. Eher soll er Mönch sein in einem dieser Klöster und wohl alle Tage für unsere Sünden beten.“ (Dieses Bernhard sicher bekannte Lied darf in diesem Konnex durchaus zitiert werden, zumal Mönche an Abfassung, Bearbeitung oder Abschrift auch der weltlichen volkssprachlichen Literatur tatsächlich beteiligt waren80).

Der Wege in die anderen Stände der Welt hätte es für ihn damals viele gegeben, schrieb schon sein Freund Wilhelm.81 Denn im hohen Mittelalter bot sich eine vordem ganz ungekannte Vielfalt an möglichen sozialen Rollen; auch Guibert von Nogent reflektierte über die Alternative Ritter- oder Priesterleben, Heloise und Abaelard über die von Ehe oder Ehelosigkeit etc.82 Vielleicht wäre der junge Herr von Fontaines einer der neuen Verwaltungsfachleute geworden, die im 12. Jahrhundert als Kaste der „clerici“ mehr und mehr an den weltlichen und geistlichen Höfen gefragt waren, vielleicht hätte er sich in die Schar der ebenfalls immer einflußreicheren Kirchenrechtler eingereiht; vielleicht wäre er Höfling beim Herzog von Burgund oder beim König von Frankreich geworden und hätte über die Welt und Gott gedichtet, vielleicht …

Es war keine spektakuläre Conversio, die sich in Bernhard vollzog. Er war keiner der „sündigen Heiligen“, wie sie viele mittelalterliche Legenden schildern,83 Bösewichte, die unerwartet von der himmlischen Gnade überfallen und abrupt von einer völlig anderen Raison d’être erfüllt werden, wie einst der Pharisäer Saulus auf dem Weg nach Damaskus.84 Um einen älteren Zeitgenossen und späteren Freund Bernhards als Beispiel zu nennen: Norbert von Xanten (t 1134), ein adeliger, gebildeter, welterfahrener Mann, hatte als kaiserlicher Kaplan jahrelang die Freuden des höfischen Lebens genossen. In seinem dreißigsten Jahr geriet er unerwartet in Lebensgefahr: ein Blitz schlug während eines Gewitters vor ihm ein, sein Pferd scheute und warf ihn zu Boden, eine anklagende Stimme ließ sich vernehmen. Norbert kehrte nach Hause zurück, zog ein härenes Gewand an und wurde ein Heiliger, der Gründer des Prämonstratenserordens.85 Unnötig, an das ähnliche Bekehrungserlebnis Martin Luthers zu erinnern.

Bernhards Entschluß dagegen reifte langsam und vielleicht nicht ohne innere Widerstände. „aliquando contrarius exstiti maiestati“86, einst war ich der göttlichen Majestät entgegen, schrieb er nach etwa fünfzehn Klosterjahren – eine Anspielung auf jene Zeit? Jedenfalls wird weder eine Paulinische Damaskus-Erfahrung noch ein Augustinisches tolle-lege-Erlebnis von ihm berichtet. Er war, wie für den Entwicklungsabschnitt der Adoleszenz typisch, auf der Suche nach dem Sinn des Lebens. Seine Mutter hatte ihm intensiv die zentrale Vorgabe des Christentums vermittelt, daß das eigentliche Leben nicht dieser, sondern der jenseitigen Welt angehöre. Gottfried und Wilhelm lassen keinen Zweifel daran, daß es die Prägung von seiten Aleths war, die sich endgültig sowohl in Bernhard wie auch in ihren anderen Söhnen durchsetzte. Denn Bernhard sah sich andauernd von der Vorstellung verfolgt, die tote Mutter mache ihm Vorwürfe, weil er ihren Erwartungen nicht entsprach.87 War das schon Grund genug für seinen Entschluß?

Eher epiphere Andeutungen Gottfrieds und Wilhelms lassen wenigstens auf ein weiteres Element schließen, das bei Bernhards Bekehrung eine wichtige Rolle spielte: seine von ihm nicht akzeptierte Sexualität. Keusch zu bleiben war für ihn das schwierigste Problem bei der Befolgung der von ihm voll akzeptierten katholischen Sittenlehre. Das gibt Wilhelm klar zu erkennen, doch natürlich in der Sprache der Hagiographie: In diesem Punkt versuchte der Teufel den Jüngling am meisten.88 Seit seiner Jugend hatte er danach getrachtet, vom „Schmutz des Fleisches“ rein zu bleiben, „voll Haß auf das befleckte Kleid, das ist das fleischliche“, d.h. seinen Körper und dessen Geschlechtlichkeit. Als er, angeblich erst mit etwa neunzehn Jahren, die „Stacheln“ erotischen Verlangens verspürte, entschloß er sich, sie mit aller Härte abzubrechen.89 Als er einmal eine Frau erblickte, die ihn nicht ungerührt ließ, sprang er zur Abkühlung in einen Teich und blieb so lange in dem kalten Wasser, bis er fast in Ohnmacht fiel. Dies habe ihn von ähnlichen, „der Hitze fleischlicher Begierde“ entspringenden Anfechtungen völlig befreit.90 Weiblichen Annäherungsversuchen, ihm seine Unschuld zu rauben, entzog er sich.91

Auch hier kann man natürlich den Bericht von Bernhards Freund wiederum zum bloßen Versatzstück der Gattung Vita erklären, da ähnliche Methoden auch von früheren Heiligen berichtet wurden. Besonders einflußreich natürlich das Beispiel des Mönchsvaters Benedikt, der sich bei demselben Anlaß und mit demselben Ergebnis in Dorngestrüpp wälzte,92 während andere der frühen Einsiedler sich die Zunge abschnitten oder mit glühendem Eisen verletzten. Auch das Bad im Eiswasser wurde von ihnen schon mit Erfolg angewandt.93 Warum hätte Bernhard, energisch wie er war, das ihm aus der Hagiographie bekannte Beispiel nicht nachahmen sollen? Er hat doch seinen Körper noch zu wesentlich gefährlicheren Askesleistungen gezwungen.94

Es bedarf hier nicht einer Darlegung der mittelalterlichen Ansichten der Kirche und damit der frommen Gläubigen zur Sexualität; daß sie oder genauer die „fleischliche Begierde“ in paulinischer und augustinischer Tradition als Überträgerin der Erbsünde und sündhaft sogar im ehelichen Verkehr in schwärzestem Schwarz gemalt wurde, ist wohlbekannt.95

Es gibt einige Äußerungen Bernhards, die Licht auf seine Einstellung zur Sexualität werfen. Freilich handelt es sich um Texte, die Jahre nach seiner Bekehrung entstanden sind und deshalb möglicherweise von einem theologischen Wissensstand ausgehen, den der junge Mann noch nicht gehabt haben muß. Andererseits bezieht sich Bernhard in einigen von ihnen ausdrücklich auf seine Conversio, und da nachweislich der Rekurs auf persönliche Erfahrung für ihn ein ganz zentrales Gewicht besaß,96 gibt es Grund genug für eine entsprechende biographische Interpretation.

Bernhard war ausdrücklich derselben Meinung wie die sonstigen Theologen und Kanonisten der Zeit, einschließlich des einflußreichsten unter ihnen, Gratian: selbst die eheliche Sexualität ist sündig.97 So schrieb Bernhard sogar über die Zeugung Mariens: „Wie hätte sie keine Sünde sein können, wo doch die Begierde nicht fehlte!“98 Was nun seine Bekehrung betrifft, so erzählte er einmal in einer Predigt seinen Mönchen: „Ich wäre nämlich leicht in viele Sünden gefallen, wenn es dazu eine Gelegenheit gegeben hätte … doch Gott gewährte die Kraft, … der Begierde, die ich verspürte [concupiscientiam ist eindeutig sexuell], nicht zuzustimmen.“ Daß es tatsächlich die im Mittelalter durch die Katechese so eindrücklich in Predigt, Schrift und Bild hervorgerufene Höllenangst war,99 die Bernhards Flucht ins Kloster motivierte, sagt er ebenfalls selbst: „Damals nämlich, wie ich mich gut erinnere, erschütterte er [Gott] mein Herz … und versetzte [mich/es] in Schrecken, indem er [mich/es] hinabführte zu den Pforten der Hölle und die für die Sünder bereiteten Torturen zeigte.“100 Um dann wieder auf die Keuschheit zurückzukommen: „Ihr haltet vielleicht euere Keuschheit für eine Kleinigkeit – ich aber nicht! Ich weiß es nämlich, welche Gegner sie hat und wieviel Kraft sie braucht, um denen widerstehen zu können. Der erste Feind unserer Keuschheit ist natürlich das Fleisch …“ Die Bemerkung, „von Keuschheit spreche ich aber nicht nur hinsichtlich der Sexualität [luxuria, Unkeuschheit], sondern auch hinsichtlich anderer Laster“101, erweist, daß der Abt und seine Zuhörer an erster Stelle eben an jene dachten.

Um der Gefahr von Sünde und Verdammnis zu entrinnen und gleichzeitig dem Wunsch der Mutter zu entsprechen, begann der etwa zwanzigjährige Bernhard also, die Möglichkeiten eines Rückzugs aus der Welt zu sondieren. Daß dieser nicht in einem Leben als Weltpriester liegen konnte, war ihm wohl von Anfang an klar, und er hat die weitgehend verweltlichte Hierarchie der Kirche künftig stets gegeißelt, wie er auch die ihm angebotenen Bischofsstühle regelmäßig ausschlug.

Nahegelegen hätte ein Leben als Einsiedler. Gerade im 12. Jahrhundert war dies eine gängige Alternative zum monastischen Leben.102 Haben sie nicht manche andere fromme Adelige seiner Generation in Frankreich ergriffen? Stephan von Obazine († 1124)103 etwa hatte sich in den Wald von Muret zurückgezogen, fasziniert vom kalabrischen Eremitentum. Gottfried von Nhot († 1124) wählte die Ruinen des zerstörten Klosters Chalard als Klause.104 Auch der Priester Robert von Abrissel († 1116) war zur Buße in den Wald von Craon gegangen, ehe er sein Leben als Wanderprediger aufnahm.105 Doch scheint Bernhard dem Eremitentum gegenüber eine eher skeptische Haltung eingenommen zu haben.106 Hat er damals noch nichts oder nicht genug von den seit 1084 bestehenden Kartäusern gewußt, für die er später so viel Sympathie zeigen sollte?

Ihre Strenge kann ihn nicht abgeschreckt haben, und welche Lebensweise in Reformklöstern herrschte, muß er gewußt haben. Ein Scherzgedicht des 12. Jahrhunderts faßt, in diesem Punkt wirklichkeitsgetreu, den mönchischen Alltag so zusammen:

Monachorum regula

non est tibi cognita?

vigilant assidue,

ieiunant cotidie.

Dura donant pabula,

fabas ac legumina,

post tale convivium

potum aque modicum.

„Die Mönchsregel ist dir nicht bekannt? Sie wachen beständig, fasten täglich … Hartes ‘Futter’ bieten sie, Bohnen und Gemüse, und nach einem solchen ‘Festmahl’ einen bescheidenen Trunk Wassers.“

Dasselbe Gedicht bietet aber auch präzise die Überlegungen, die so viele Menschen in die Klöster trieb,107 eine Mischung aus Himmelshoffnung und Höllenfurcht:

Qui pro deo vigilat, coronari postulat;

qui pro deo esurit, saciari exigit …

Quid prosunt convivia vel quid dionisia,

ubi erit dapibus caro data vermibus? …

Qui parentes diligit atque deum negligit,

reus inde fuerit, tunc cum iudex venerit.“108

„Wer für Gott wacht, begehrt, gekrönt zu werden; wer für Gott hungert, fordert, gesättigt zu werden. Was nützen die Festmähler oder was die Trinkgelage, wo doch zur Speise den Würmern unser Fleisch gegeben werden wird? … Wer seine Verwandten liebt und Gott vernachläßigt, wird darob angeklagt, wenn dann der Richter kommt.“

Doch wird der tiefere Grund für Bernhards Wahl des Zönobitentums wohl in seiner Sozialisation liegen. Zusammen mit so vielen Jungen, seinen Brüdem, aufgewachsen, mußte er stets Menschen um sich haben, und es ist nicht bekannt, daß er sich später je freiwillig auch nur für kurze Zeit in die Einsamkeit zurückgezogen hätte,109 – nicht in die eines Klosters, sondern in die einer Ein-Personen-Eremitage, wie es die oben genannten Heiligen taten. Bernhard war wohl einfach zu extrovertiert geartet, als daß er permanent hätte allein bleiben können.

Standesgemäß war ein Eintritt ins Kloster jedenfalls. Für einen Mann seiner gesellschaftlichen und geographischen Herkunft wäre Dijon oder Cluny, auch Molesmes naheliegend gewesen, zumal Bernhard in den beiden letztgenannten Konventen Verwandte hatte.110 Doch ein Zug seines Charakters war es, das, was er tun wollte, möglichst kompromißlos zu tun. Diese Prädisposition zu intensivem Engagement, wohl vom Vater geerbt, bei dem sie sich auf rechtlichem Gebiet manifestierte („iusticie zelum“, „servare iusticiam“, Eifer für Gerechtigkeit – oder Rechtspflege – werden an ihm gerühmt),111 reicht von Begeisterung und Beständigkeit bis zu Hartnäckigkeit und Rechthaberei. So hat Bernhard später nicht geruht, bis er z.B. von ihm als Feinde Beurteilte wie Abaelard oder Wilhelm von York wirklich vollständig ausgeschaltet hatte oder ungeachtet wiederholter Abfuhren den deutschen König Konrad III. zum Kreuzzug bewegen konnte. So verzichtete der Rittersohn auch auf benediktinisches Wohlleben in einem adeligen Traditionskloster und suchte sich unter den in der Umgebung gelegenen Mönchsgemeinschaften jene aus, die für ihre strenge Lebensführung besonders berühmt oder berüchtigt geworden war: das 1098 gegründetet „neue Kloster“ Cîteaux112.

Das Movens, das Bernhard in die „schreckliche Einöde“, in den Wald von Cîteaux, trieb, war also vor allem Furcht gewesen, bei einem Leben in der Welt mit ihren Versuchungen seine Seele nicht retten zu können. Diese Furcht war es, die damals wohl die meisten der Männer ins Kloster trieb, die selbständig diese Lebensform wählten, z.B. Bernhards Freund Norbert von Xanten, um vom bekanntesten späteren Beispiel, Martin Luther, zu schweigen.113 Um dieses Element der Religiosität bewußt zu machen, sei nur ein Mönch aus der nächsten Umgebung Bernhards zitiert, sein Sekretär Nikolaus von Clairvaux. In einem Brief schildert er, wie er in seiner Zelle bei der der Selbsterkenntnis dienenden Meditation in die Einsamkeit seines Herzens hinabsteigt und dort seinen Richter in der eigenen Vernunft findet, den Zeugen im Gewissen, den Henker in der Furcht, und wie er erbebt vor „jener schrecklichen Majestät, in deren Hände zu fallen entsetzlich ist …“114 Auch in Clairvaux pflegte man nicht nur das Gedenken an den Minnechristus des Hohenliedes.

Bernhard war der Meinung, er tauge nicht für die Welt, und ist auch später dabei geblieben, als er schon Proben seines Umgangs mit ihr abgelegt hatte.115 Er dachte an Flucht („Fugam meditari coepit“), wollte sich auch vor der aufgeregten Betriebsamkeit der Menschen verbergen.116 Später wird Bernhard den Stand der Mönche einmal folgendermaßen preisen: „Diese wählen einen besonders vorteilhafen und sicheren Weg; vom ganzen Leib der Kirche, der weiß glänzt, erscheinen sie als besonders glänzend“.117 Diese Lebensform war ihm zur heilskräftigsten an sich geworden, zur „vita fortissima“.118

Das „animam salvare“ war ebenso für seine Brüder der Grund, ihm zu folgen.119 Auch die oben zitierte Stelle aus Epistola 42 verweist darauf. Stets hat Bernhard – gut biblisch – darauf insistiert, daß die Furcht vor dem Herrn der Anfang eines Aufstiegs in der Frömmigkeit sei.120 Herzenshärte und -kälte, seelische Erstarrung im Religiösen blieb ihm am Beginn seines Frömmigkeitslebens nicht unbekannt.121 Doch hat er diese Stufe der Beziehung zu Gott im Laufe seines Lebens wohl sehr weitgehend überwunden und durch Gottesliebe ersetzt.

Seine Brüder, die zunächst keineswegs von denselben Gedanken umgetrieben erscheinen, wollten Bernhard freilich nicht verlieren. Fast wäre es ihnen gelungen, die Faszination, die die Welt des Wissens auf ihn ausübte, zum Köder zu machen und ihn damit von seinem Ziel wegzulocken. Bernhard schwankte und war schon bereit, eine Reise nach Deutschland zu unternehmen,122 vielleicht um an der Kölner Domschule zu studieren. Es ist merkwürdig, daß ein geographisch naher Zeitgenosse Bernhards, Hermann von Laon (von Tournai123) berichtet, Bernhard sei vor seiner Konversion bereits „clericus“ gewesen124. Ein Irrtum dieses Benediktiners, oder hatte er wirklich bereits mit einem Studium begonnen? Jedenfalls erwies sich die angesprochene Hartnäckigkeit Bernhards als stärker, und bald machte er seinerseits sämtliche von seinen Brüdern gefaßte Lebenspläne zunichte. Denn seine Abschweifung von dem ihm von der Mutter Aleth vorgegebenen Lebensweg war schon vorbei.

Konversion (1111–1112)

Im Jahre 1111 belagerte Herzog Hugo II. von Burgund die Burg Grancey, in der sich der aufständische Graf Rainald III. von Saulx verteidigte. Bernhards Brüder gehörten als Ritter und Vasallen zum herzoglichen Heer. Auf dem Ritt zu ihnen geschah es: die Spannung, unter der Bernhard stand – wie sollte er sein Leben planen? –, verstärkte sich, je näher er dem kriegerischen Geschehen kam. Auf halbem Weg bog er zu einer Kirche ab, betete mit erhobenen Armen und brach in Tränen aus. „Ea igitur die firmatum est propositum cordis ejus. „125 Seit diesem Tag war der Entschluß seines Herzens gefestigt: „Moines serai, si volrai Dieu servir“, Mönch werde ich sein, gewiß will ich Gott dienen, hätte er mit dem Dichter sagen können.126

Während es für Bernhard Informationen zu den meisten der typischen Stadien eines Bekehrungsprozesses127128Hoheliedpredigten,129