Eine Geschichte der Menschheit
vor der Erfindung der Schrift
Verlag C.H.Beck
Die Geschichte des Menschen ist weit älter als die Erfindung der Schrift: Als der erste Frühmensch schöpferisch tätig wurde und einen Faustkeil formte, begann er zugleich seine Geschichte zu gestalten. Von diesem Zeitpunkt an nahm er unablässig Einfluss auf kulturhistorische und gesellschaftliche Verhältnisse und prägte die Lebensbedingungen während der nachfolgenden Jahrtausende.
Hermann Parzinger führt mit seinem imposanten Werk den Leser durch die Welt unserer Vorfahren. Er beschreibt und erklärt die frühe Menschheitsgeschichte auf allen Kontinenten – von der Menschwerdung in Afrika bis zur Entstehung komplexer ackerbäuerlicher Gesellschaften an den Ufern von Euphrat und Tigris, von Nil und Gelbem Fluss. Dabei tritt immer wieder eine anthropologische Grundkonstante hervor: Das beständige Streben des Menschen nach Verbesserung seiner Lebensverhältnisse in einer sich wandelnden Umwelt war die Triebfeder seines kulturellen Fortschritts.
Dies gilt bereits für die frühesten Hominiden, die zielgerichtet Steingeräte zur Zerteilung von Aas herstellten – ein erster Beweis ihres erwachenden Intellekts. Es gilt erst recht für den mit nochmals besserem Planungsvermögen ausgestatteten Homo erectus, der den Wandel vom Aasfresser zum Jäger vollzog und dem eine wahrhaft revolutionäre Innovation gelang – die Beherrschung des Feuers. Und es gilt in geradezu dramatischer Weise für den Homo sapiens, der den Sprung zu kultureller Modernität vollzog: Nicht nur verbreitete er bis um 13000 v. Chr. das spezialisierte Wildbeutertum von Afrika aus über die ganze Welt. In seinem Erfindungsgeist übertraf er zudem alle seine Vorfahren – auch den Neandertaler, der als Erster das Jenseits entdeckte.
Der Homo sapiens verhalf schließlich Kunst und Ritual zum Durchbruch, die uns mit wahrhaft monumentaler Wucht erstmals in dem 12000 Jahre alten Heiligtum am Göbekli Tepe am Rande des Fruchtbaren Halbmonds begegnen. In dieser Weltregion gelingt bald darauf zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte der Schritt zur dauerhaften Sesshaftwerdung, die mit der Domestikation von Wildtieren und Wildgetreide einhergeht. Der Wildbeuter wird zum Bauern, der sich mit seinesgleichen in Dörfern zusammenschließt, die er das ganze Jahr über bewohnt. Vom Anwachsen der Siedlungen und der beginnenden sozialen Differenzierung der Bevölkerung bis zur Entstehung großer urbaner Zentren, deren Organisationsbedarf schließlich auch die Erfindung der Schrift notwendig macht, ist es dann nur noch ein kleiner Schritt.
In dem spannenden Buch Hermann Parzingers verbinden sich die zahllosen kleinen Schritte unserer Vorfahren zu der eindrucksvollen Wegstrecke, die der Mensch durch Jahrmillionen seiner Entwicklung zurückgelegt hat – und mit der verglichen die Zeit der Schriftkultur nur als ein Wimpernschlag der Evolution erscheint.
Hermann Parzinger bekleidet seit 2008 das Amt des Präsidenten der Stiftung Preußischer Kulturbesitz. Zuvor war der habilitierte Prähistoriker 18 Jahre am Deutschen Archäologischen Institut tätig, von 2003 bis 2008 als dessen Präsident. Er hat eine Vielzahl von Ausgrabungen und Forschungsprojekten rund um den Globus durchgeführt und wurde mit zahlreichen Ehrungen und Preisen ausgezeichnet, darunter der Leibniz-Preis (1998) und die Aufnahme in den Orden Pour le mérite für Wissenschaften und Künste (2012). Bei C.H.Beck sind von demselben Autor lieferbar: Die Skythen (32010, in der Reihe C.H.Beck Wissen), Die frühen Völker Eurasiens. Vom Neolithikum bis zum Mittelalter (Historische Bibliothek der Gerda Henkel Stiftung, 22011) sowie Abenteuer Archäologie. Eine Reise durch die Menschheitsgeschichte (22018).
V. Gordon Childe,
Georg Kossack,
Hermann Müller-Karpe
und all den anderen zum Gedenken,
die ihr Fach groß gedacht haben
Einführung
I Die Evolution des menschlichen Gehirns und ihre kulturellen Folgen
1 Mit Greifhänden und Geröllgeräten: frühe Hominiden in Afrika
2 Vom Aasfresser zum spezialisierten Jäger: der lange Weg des Homo erectus
3 Die Emanzipation von der Natur und die Entdeckung des Jenseits: der Neandertaler
II Der große Sprung zu kultureller Modernität
1 Der Homo sapiens erobert die Welt
2 Der moderne Mensch verändert Europa
3 Bilder und Symbole, Kommunikation und Rituale: die Eiszeitkunst
4 Von Afrika bis in den Pazifik
5 Über Beringia in die Neue Welt
6 Noch einmal: der große Sprung
III Vom Lagerplatz zur frühen Stadt in Vorderasien
1 Spezialisierte Wildbeuter der Levante nach dem Ende der Eiszeit
2 Erste Schritte zu bäuerlichem Leben im Fruchtbaren Halbmond
3 Kultplätze und Ritualfeste als Triebkräfte einer neuen Zeit
4 Frühe Großsiedlungen in Zentralanatolien
5 Anfänge der Stadtwerdung in Mesopotamien
IV Die Ausbreitung der sesshaften Lebensweise nach Europa
1 Ackerbauern und Viehzüchter zwischen Westanatolien und Griechenland
2 Der Sprung über den Bosporus
3 Frühbäuerliches Leben zwischen Schwarzem Meer und Karpatenbecken
4 Ortskonstanz, Innovationen und soziale Differenzierung in Südosteuropa
5 Von Zypern bis zum Atlantik: entlang der Küsten des Mittelmeers
V Kulturwandel zwischen Alpen und Ostsee
1 Spezialisierte Jäger und Sammler nach dem Ende der Eiszeit
2 Die Anfänge bäuerlichen Lebens in Mitteleuropa
3 Von Kleinbetrieben und Innovationen, Elitenbildung und Ahnenkult
4 Die Wiederentdeckung des Individuums: die europäischen Becherkulturen
VI Das Niltal vor der altägyptischen Zivilisation
1 Jäger und Sammler am Ende des Pleistozäns
2 Vom Wildbeuter zum Viehzüchter und Ackerbauern
3 Landwirtschaft, Fernkontakte und Herrschaftsbildung vor der Einigung Ägyptens
VII Klima und Kulturentwicklung in Sahara und Sahelzone
1 Klimawandel und Besiedlungsgeschichte nach dem Ende der Eiszeit
2 Frühe Rinderhirten in Gunsträumen der Ostsahara
3 Wildbeuter und die Anfänge der Landwirtschaft im Maghreb
4 Jäger, Sammler und Rinderhirten im Saharo-Sudanesischen Neolithikum
5 Von Ortsbindung und Zentralorten in der Sahelzone
VIII Retardierende Entwicklungen im subsaharischen Afrika
1 Wildbeuter, Viehzüchter und Waldlandbewirtschaftung in Westafrika
2 Aneignendes Wirtschaften in den tropischen Regenwäldern Zentralafrikas
3 Voreisenzeitliche Kulturverhältnisse in Ost- und Südafrika
IX Frühes Leben in den Steppen und Waldgebieten Eurasiens
1 Ackerbauern und Viehzüchtergesellschaften im Nordschwarzmeerraum
2 Wildbeuter des Waldneolithikums von der Wolga bis ins Ostseegebiet
3 Jäger, Fischer und Sammler in den Steppen und Wäldern Sibiriens
4 Metallverarbeitung und soziale Differenzierung zwischen Ural und Jenissei
X Kulturverhältnisse zwischen Kaukasus und Indischem Ozean
1 Frühe Ackerbaukulturen und die Anfänge der Metallurgie in Transkaukasien
2 Von der Sesshaftwerdung zu frühen urbanen Zentren in Iran und Zentralasien
3 Der indische Subkontinent zwischen früher Landwirtschaft und Hochkultur
XI Der Weg von früher Landwirtschaft zur Hochkultur in Ostasien
1 Am Gelben Fluss zwischen Hirsebauern und frühstädtischen Zentren
2 Wildbeuter und Schweinezüchter in Nordostchina und im Fernen Osten
3 Korea und Japan auf dem langen Weg zur Landwirtschaft
4 Reisbauern am Jangtse
5 Südchina und die Anfänge produzierenden Wirtschaftens in Südostasien
XII Die Inselwelt Ozeaniens und der australische Kontinent
1 Frühe Landwirtschaft und Umweltveränderungen in Papua-Neuguinea
2 Die Besiedlungs- und Kulturgeschichte der pazifischen Inseln
3 Australien und die isolierte Welt der Aborigines
XIII Nordamerika und seine Lebensformen zwischen Arktis und Wüsten
1 Überleben im arktischen und subarktischen Norden
2 Spezialisierte Jäger und Fischer an der pazifischen Nordwestküste
3 Die Bisonjäger der Great Plains
4 Komplexe Gesellschaften in den Eastern Woodlands
5 Zwischen Wüsten und Wäldern: Maisbauern im Südwesten
XIV Die Entstehung früher Hochkulturen in Mittelamerika
1 Dörfliches Leben und Wirtschaften in Mesoamerika
2 Die Anfänge der ersten Hochkulturen Mesoamerikas
3 Entwicklungen auf der zentralamerikanischen Landbrücke und in der Karibik
XV Vom Dorf zum Ritualzentrum: die frühen Zivilisationen Südamerikas
1 Landwirtschaft und erste Herrschaftsbildung im nördlichen Andenraum
2 Die Entstehung früher Hochkulturen im zentralen Andengebiet
3 Retardierende Entwicklungen im Umfeld der südlichen Anden
4 Wildbeuter und frühe Ackerbauern zwischen Orinoco und Guayana
5 Jäger, Sammler und erste Bauern im Amazonastiefland
6 Frühe Kulturentwicklungen zwischen Bergländern, Küsten und Pampas
XVI Vergleichende Schlussbetrachtungen
1 Der Weg zum denkenden Wesen und die ersten Innovationen der Menschheit
2 Vom Wildbeuter zum Landwirt oder: der fundamentale Wandel im Verhältnis zur Natur
3 Vom Regelungsbedarf der Siedelverbände zur Entstehung komplexer Gesellschaften
Anhang
Literatur
Bildnachweis
Register geographischer Begriffe
Register archäologischer Kulturen
Im Anfang war das Wort, vielleicht auch nur ein – von entsprechender Mimik begleitetes – Grunzen, aber am Anfang war sicher nicht die Schrift. Fragen wir also, wie jene Welt aussah, als es noch keine Schrift gab! Das Wort braucht einen Adressaten – den Menschen. Und so ist es seine Welt, die Welt des Menschen vor der Schrift, die im Zentrum dieses Buches stehen soll.
Wenn Kulturwissenschaftler sehr weit ausholen, um über anthropologische Grundkonstanten der Menschheit zu sprechen, so gehen sie in ihrer Argumentation gern bis zu den frühen Hochkulturen zurück. Damit sind in der Regel die ersten Zivilisationen Mesopotamiens, Ägyptens oder Chinas gemeint. Vielfach handelte es sich dabei um Kulturen, die entlang großer Ströme entstanden – Euphrat und Tigris, Nil und Gelber Fluss –, und zwar in besonders fruchtbaren Gebieten, in denen die Bevölkerung rasch anwuchs und schon bald produzierend wirtschaften musste, um die in den werdenden Ballungszentren lebenden Menschen ernähren zu können. An solchen Zentralorten entwickelten sich Spezialisierung und Arbeitsteilung, Massenproduktion und Fernhandel. Aber es brauchte auch Planungskraft und Führungsqualitäten, damit daraus mehr werden konnte. Am Ende der Entwicklung standen politische und religiöse Macht, die sich oft in monumentalen Bau- und Grabformen und repräsentativer Kunst ausdrückte. Solche Herrschaft verlangte nach Organisation und Verwaltung, die ohne Schrift undenkbar gewesen wäre. Mit Recht erkennen wir in den Zeichensystemen des 4. und 3. Jahrtausends v. Chr. gemeinhin die Anfänge aller Schrift. Auch wenn es keine Schrift war, so verfügten doch schon weit zurückreichende prähistorische Kulturen über Kommunikation mit Hilfe von Zeichen, Symbolen und Bildern, deren wahrer Inhalt uns heute vielfach verborgen bleibt, deren Botschaften aber über einen langen Zeitraum hinweg von Angehörigen vieler Generationen «gelesen» und verstanden werden konnten. Wir sind es, die die Geschichten, die sie erzählen, nicht mehr verstehen und das Wissen, das sie bewahrt und transportiert haben, nicht mehr entschlüsseln können.
Immer wieder bewahrheitet sich der Satz Jakob Burckhardts aus seinen Weltgeschichtlichen Betrachtungen: «Was wir als Anfänge glauben nachweisen zu können, sind ohnehin schon ganz späte Stadien.» Wenn man also – einer weitverbreiteten Gewohnheit folgend – die Geschichte erst mit der Schrift einsetzen lässt, so nimmt man eine willkürliche Setzung vor – sowohl im Hinblick auf die Geschichte als auch auf die Schrift. Den tatsächlichen kulturhistorischen Verhältnissen, wirtschaftlichen Entwicklungen und soziopolitischen Prozessen jener Frühzeit wird dies allerdings nicht gerecht. Immer dann, wenn der Mensch schöpferisch tätig wird, nimmt er sein Geschick in die Hand und gestaltet Geschichte. Insofern ist es verfehlt, dem Leben und der Zeit unserer frühesten Vorfahren den Status der Geschichtlichkeit abzusprechen und sie als Vor- Geschichte abzutun. Allerdings bedarf es besonderer Mittel und Wege, die einzig verfügbaren Quellen jener Jahrtausende und Jahrzehntausende vor Christi Geburt, nämlich die Hinterlassenschaften der materiellen Kultur, richtig zu lesen. Als außerordentlich bereichernd erweisen sich dabei die immer stärker zunehmenden Möglichkeiten naturwissenschaftlichen Erkenntnisgewinns, ohne die inzwischen jeder Versuch einer tragfähigen Rekonstruktion frühester Geschichte kaum mehr recht gelingen mag.
Dieses Buch ist der Versuch einer Annäherung an die zahllosen Kulturen, die der Mensch auf allen Kontinenten hervorgebracht hat, seit Hominiden – Vorläufer des heutigen modernen Menschen – vor Millionen von Jahren in Afrika den aufrechten Gang und den Einsatz der Greifhand entwickelt haben. Von da an ging es steil aufwärts, auch wenn es noch Hunderttausende von Jahren dauern sollte, bis es zu einem der bislang vielleicht bedeutendsten Umbrüche der Menschheitsgeschichte kam: den Anfängen von Sesshaftwerdung und dem Beginn produzierenden Wirtschaftens. In der weiteren Folge dieser Umwälzungen entstanden komplexe Gesellschaften, die später teilweise in Schriftkulturen aufgingen, die aber nicht mehr Thema dieses Buches sind. Gordon Childe sprach daher in den 1930er Jahren nicht ohne Grund von einer «Neolithischen Revolution», doch zeigen die Erkenntnisse der letzten Jahre und Jahrzehnte letztlich überall auf der Welt, dass von Revolution keine Rede sein kann. Die Zucht von Haustieren war ebenso wie die Domestikation von Pflanzen das Ergebnis jahrtausendelanger Adaptionsprozesse an die natürliche Umwelt und an das, was diese zum Leben und Überleben bot. Die besondere Triebkraft zur Weiterentwicklung entsprang – nicht nur, aber doch ganz wesentlich – dem stetigen Drang des Menschen nach Verbesserung seiner Lebensverhältnisse in einer sich oftmals wandelnden Umwelt. Die Ursprünge von Kulturmerkmalen sesshafter und bäuerlich wirtschaftender Gesellschaften reichen dabei zum Teil erstaunlich weit zurück. Und die besondere Erkenntnis dieses Buches: Kaum irgendwo auf der Welt treten alle diese Merkmale wirklich gemeinsam und zur selben Zeit kulturbildend in Erscheinung. Gerade die unglaubliche Kontinuität und Allmählichkeit von Entwicklungen über kaum für möglich gehaltene Zeiträume hinweg bei einer gleichzeitig immer verlässlicher werdenden Identifikation und Beschreibung der aufeinanderfolgenden Etappen dieses Prozesses offenbaren inzwischen sehr deutlich die ungemeine Dynamik und Spannung früher Menschheitsgeschichte.
Wollen wir uns dabei den anthropologischen Grundkonstanten des Menschen annähern, so führt kein Weg an einem Vergleich sehr unterschiedlicher Gebiete auf allen Kontinenten vorbei, ob sie nun zueinander in Beziehung standen oder nicht. Und dabei geht es weniger um pure Komparatistik: Schon Alexander von Humboldt stellte mit Blick auf die Naturvölker Lateinamerikas sehr treffend fest, dass auch das für eine abgelegene Region Spezifische für das Verständnis dieser einen ganzen Welt von Bedeutung ist. Diese Erkenntnis ist einer der Kerngedanken dieses Buches. Dabei lassen sich Parallelitäten wie auch fundamentale Unterschiede aufzeigen, und zwar in der Kausalität der Ereignisse wie auch in ihrer zeitlichen Verankerung und Erstreckung. Wir betrachten die Verhältnisse in der Arktis ebenso wie in der Sahara, wir beleuchten sie in den Hochanden ebenso wie am Jangtse oder auf den pazifischen Inseln. Wir lassen den Blick Millionen Jahre zurückreichen und enden – je nach Weltregion – in unterschiedlichen Jahrtausenden vor oder um Christi Geburt. Auch wenn es zwischen Alteuropa, dem Mittelmeerraum und Vorderasien gewisse auch chronologisch wirksame Zusammenhänge gegeben haben mag, so erkennen wir damit die Tatsache an, dass jede Weltregion ihren ganz eigenen Entwicklungsrhythmus durchlief: In jener Frühzeit gab es keine ‹Achsenzeiten›, die für alle Kontinente gleichermaßen galten; dies ist eine Erscheinung der Moderne. Mit dem Versuch aber, alle Teile dieser einen Welt zu berücksichtigen und daraus ein schlüssiges Gesamtbild des – nach Jahrtausenden gezählt – größten Teils der Menschheitsgeschichte zu formen, ist die Weltgeschichte nun auch in der Vorzeit angekommen.
Um diese Darstellung zu schreiben, waren viele Forschungsfelder zu betreten, die bis heute eher schwankenden denn festen Grund bieten. Vor allem aber stellen sie einige Anforderungen an die Material- und Methodenkenntnisse. Dem Leser stehen dabei einige Hilfestellungen zur Seite, die ihm den Weg durch diese prähistorische Globalgeschichte weisen. Die Quellen, die es zu betrachten gilt, um daraus Erkenntnisse über die Lebensverhältnisse unserer frühesten Vorfahren zu gewinnen, bestehen aus Stein, Knochen, Holz, Metall und Keramik, seltener Textilien, weil sich organische Stoffe naturgemäß sehr viel schneller zersetzen als anorganische Materialien, und mithin sind Funde von Skeletten und insbesondere Mumien aus längst vergangenen Epochen außergewöhnliche Glücksfälle; aber auch solchen werden wir in diesem Buch begegnen.
Eine zentrale Fundkategorie bilden Siedlungsorte, wo sich zeitweilig oder dauerhaft Menschen niedergelassen hatten. Der Weg vom kurzzeitig aufgesuchten Lagerplatz mobiler Wildbeuter über das Dorf bäuerlich wirtschaftender Siedelverbände bis hin zu von Eliten beherrschten frühurbanen Zentralorten mit Befestigungen, Monumentalbauten und Werkstattvierteln ist weit und spiegelt in ganz besonderer Weise die kulturellen Entwicklungen wider. Aus der Anlage der Siedlungsplätze lässt sich auf die Größe wie auch Organisationsform der jeweiligen Gemeinschaft schließen. Kannte sie Sondergebäude, die zu Kultzwecken dienten? Gab es Versammlungsplätze, und wodurch sind sie zu erkennen? Waren die Tiere nahe beim Menschen untergebracht, und zeugen Speicherbauten von landwirtschaftlicher Überschussproduktion? Wurden die Toten unter dem Fußboden der Wohnräume oder in eigens angelegten Friedhöfen außerhalb der Dörfer bestattet? Daneben gibt es auch Fragen von viel elementarerer Natur: Welche Baumaterialien wurden verwendet, und welche Bautechniken beherrschte man? Und wieder reicht das Spektrum von mit Fellen bespannten und von Mammutstoßzähnen gestützten Behausungen über Pfostenhäuser mit Lehmwänden bis hin zu ersten monumentalen Tempelanlagen aus Stein.
Doch selbst Großbauwerke dürfen über eines nicht hinwegtäuschen: Auch eine Gesellschaft, die architektonische Meisterleistungen hervorbrachte, stand unter demselben Bewegungsgesetz, das die Menschen seit Jahrmillionen dominierte und das Leben vielfach noch heute tagtäglich in aller Härte bestimmt: nämlich die Versorgung mit Nahrung, also nichts weniger als die Sicherung des Überlebens. Gerade deshalb gilt diesem zentralen und unabänderlichen Movens allen menschlichen Handelns in der Frühzeit unser besonderes Augenmerk. Und tatsächlich finden sich in Siedlungen und in ihrem Umfeld immer wieder wichtige Spuren, die auf die Ernährung ihrer Bewohner schließen lassen: gesammelte Wildfrüchte, Sämereien, Reste von Kulturpflanzen, Knochen von Jagdwild, Reste von Fisch und Muscheln oder Zeugnisse von domestizierten Tieren. Hinzu kommen Werkzeuge aller Art: Faustkeile, Jagdwaffen, steinerne Mörser und Stößel, Sicheln und vieles mehr. Die Auswertung dieser Relikte erlaubt wichtige Rückschlüsse darauf, ob und inwieweit die jeweilige Kultur bereits den Schritt vom wildbeuterischen Leben zur Sesshaftigkeit mit Ackerbau und Viehzucht vollzogen hatte.
Als besonders ertragreich erweisen sich ferner Bestattungsorte. Sie gestatten bisweilen Rückschlüsse auf die Gesellschaftsstruktur und darüber hinaus sogar auf die Vorstellungswelt derer, die ihre Toten begraben haben: So weisen sehr reiche oder besonders exotische Beigaben immer wieder auf eine privilegierte Behandlung von bestimmten Verstorbenen hin, die dadurch auf eine dezidiert soziale Schichtung und auf die Existenz von Führungseliten bei den jeweiligen Gemeinschaften schließen lassen. Eine bestimmte Ausrichtung der Toten oder ein bestimmter Umgang mit dem Leichnam mag darüber hinaus auf spezifische Jenseitsvorstellungen hindeuten. Aber bereits die schiere Tatsache, dass Menschen bereits vor Jahrzehntausenden ihnen Nahestehende nach deren Lebensende nicht einfach entsorgt und sie als Aas den Fährnissen der Natur preisgegeben haben, sagt viel über sie aus; insofern ist es durchaus anrührend, wenn man entsprechende Begräbnisse schon von Neandertalern findet.
Schließlich machen wir Bekanntschaft mit den frühen Zeugnissen der Kunst. Wir staunen über frühe Musikinstrumente, doch stehen wir manchmal ganz und gar ungläubig vor Felsbildern, deren künstlerische Qualität und Ausdruckskraft noch heute dem Betrachter den Atem rauben. Waren es heilige Orte, an denen sich von Zeit zu Zeit Menschen versammelten und ihre Gedanken und Vorstellungswelten an den Höhlenwänden verewigten? Was bedeuten die Hände, die als Zeugnisse früher Individualität, was die Mischwesen, die vielleicht als schamanistische Bildelemente erscheinen? In diesen Fällen müssen wir bei der Interpretation besondere Vorsicht walten lassen, um nicht unsere eigenen Erwartungen und Vorstellungen in eine unendlich ferne Vergangenheit zurückzuspiegeln. Darin liegt generell wohl die größte Gefahr im Umgang mit prähistorischen Gesellschaften, die uns nicht bewusst mit Zeugnissen über sich selbst versorgt haben. Ein entscheidendes Merkmal der Kulturen, die uns in diesem Buch begegnen, ist ihre Fremdheit und die Fremdheit der Lebensbedingungen, unter denen sie entstanden und wieder vergangen sind. In vielen Fällen müssen wir uns daher in dem gebotenen Respekt vor der jeweiligen Kultur darauf beschränken, zunächst einmal einfach nur zu konstatieren, was wir als ihre Relikte entdeckt haben. Gelegentlich – längst nicht immer – wird es darüber hinaus auch möglich sein, begründet über die Anfänge von Individualität, Eigentum, Jenseitsvorstellungen, ja sogar von abstrakteren Kategorien wie Herrschaft und Territorialität zu sprechen oder zumindest plausible Vermutungen darüber zu äußern.
Wer sich nun die Mühe macht, dieses Buch ganz zu lesen, wird von selbst darauf stoßen: Das Signum aller Kulturen, denen er bei der Lektüre begegnen wird, ist ihre Fragilität. Sie erheben sich, halten sich – mitunter gar für Jahrtausende – und verschwinden ausnahmslos wieder. Gelegentlich lassen sich dramatische Klimaveränderungen oder eine Überbeanspruchung der Ressourcen als Ursachen für den Kollaps ausmachen; oft aber bleiben die Gründe auch völlig im Dunkeln. In jedem Fall bleibt die Hinfälligkeit aller menschlichen Kultur – egal, wo auf der Welt – unsere conditio humana.
Die Idee zu diesem Buch kam bald nach dem Antritt meines Amtes als Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, wobei die Intensität der Arbeit daran in den letzten zwei bis drei Jahren deutlich zunahm. Vielleicht war es der unbedingte Wille, durch dieses Buch die Wurzeln des eigenen wissenschaftlichen Werdegangs nicht abreißen zu lassen, vielleicht war es auch der durch das Amt neu und weiter sich öffnende Horizont, der – gerade bei der Vorbereitung des Humboldt-Forums – zu einem deutlich globaleren Denken zwang als dies in der zwangsläufig stärker auf einzelne Kulturräume begrenzten archäologischen Forschungstätigkeit der Fall sein kann. Wahrscheinlich waren es viele und unterschiedliche Gründe, die zu diesem Buch führten; wichtig ist ohnehin nur, dass es überhaupt entstanden ist. Jedenfalls war die Arbeit daran in den letzten Jahren eine wichtige und Halt gebende Leitlinie neben meiner Tätigkeit als Stiftungspräsident, ein großartiges Amt, vielleicht eines der schönsten, aber wie so häufig bei hohen Positionen eben auch eines, bei dem oft Andere dann die Dinge tun, die man selbst erdacht hat. Bei diesem Buch war das nicht so.
Berlin, im Frühjahr 2014 |
Hermann Parzinger |
Die Geschichte vom Werden des modernen Menschen ist noch nicht zu Ende geschrieben. Immer wieder wartet die Wissenschaft mit überraschenden Neufunden auf, die es erlauben, die verschlungenen Wege der Familie der Menschenaffen, der sogenannten hominidae, bis zum Homo sapiens noch genauer nachzuzeichnen. Wichtige Erkenntnisse bringen in diesem Zusammenhang inzwischen auch paläogenetische Untersuchungen an alter DNA. Der Werdegang des Menschen erscheint dadurch jedoch nicht immer nur klarer, sondern eher noch komplexer und verworrener. Die Forschung wird auf diesem Feld also noch viel zu leisten haben, ehe sicheres Terrain erreicht ist. Wir wissen, dass unser Genom zu 95 Prozent mit dem des Schimpansen übereinstimmt; das heißt zwar nicht, dass der Mensch vom Schimpansen abstammt, es bedeutet aber, dass es gemeinsame Vorfahren gegeben haben muss – irgendwo und irgendwann in ferner Vergangenheit vor 10 bis 5 Millionen Jahren.
Der Australopithecus afarensis
Der Mensch konnte zum Menschen werden, weil seine Vorfahren zum aufrechten Gang fanden, während sich gleichzeitig das Hirnvolumen vergrößerte und der Gesichtsschädel flacher wurde. All dies kennzeichnet den nur in Afrika verbreiteten Australopithecus, dessen erstes Auftreten man derzeit vor etwa 7 Millionen Jahren datiert (Abb. 1; Karte 1). Erste Funde kamen im Becken des Tschadsees zum Vorschein, etwas jüngere Funde aus dem südafrikanischen Taung sind 5 Millionen Jahre alt. Ob alle Arten von Australopithecinen von Anfang an bereits den aufrechten Gang beherrschten, gilt inzwischen als unsicher. Gerade die frühesten Vertreter des Australopithecus afarensis vor über 3 Millionen Jahren hatten möglicherweise auch eine Fortbewegung ganz eigener Art. Ihr Lebensraum dürfte aus lichten Wäldern bestanden haben, wo sie anfangs höchstwahrscheinlich die Lebensweise der Menschenaffen noch beibehalten hatten. Sie hielten sich häufig auf Bäumen auf, insbesondere zum Schlafen, vermochten aber bereits, gelegentlich aufrecht auf dem Boden zu gehen – eine Fortbewegungsart, die sie in der Folgezeit immer weiter entwickelten.
Aufrechter Gang und Greifhand
Der aufrechte Gang selbst ist jedoch keine Leistung des Menschseins, sondern stellt eine wichtige Voraussetzung dafür dar. Aufrechter Gang und die vielfältig einsetzbare Greifhand gehören zunächst einmal zum tierischen Erbe des Menschen. Mit dem aufrechten Gang kam den Händen plötzlich eine ganz neue Bedeutung zu. Sie wurden immer sensibler. Aus der Greifhand wurde ein Organ des Verstehens, indem sich das sprichwörtliche Fingerspitzengefühl entwickelte. Diese enge Verbindung von Hand und Verstand wird noch heute in unserem Alltag durch die unwillkürliche Gestik, die häufig das Sprechen begleitet, erkennbar. Im Unterschied zum stärker instinktgelenkten Fuß ist die Hand das Organ des Handelns. Durch sie konnte der Vormensch handelnd begreifen und durch Hand- und Fingerzeichen auch eine erste Art der Verständigung mit seinen Artgenossen entwickeln. Beobachtungen an blindgeborenen Kindern zeigen, dass das Sprechen mit den Händen ein integraler Bestandteil des Sprachprozesses ist. Durch die Differenzierung der die Körpersprache begleitenden Laute dürfte die Begriffssprache entstanden sein. Dieser sprachliche Ausdruck unterstützt bzw. ersetzt Mimik und Gestik, freilich ohne dass diese vollends aufgegeben werden.
Die bei unseren Urahnen zunehmende Feinfühligkeit der Hände begünstigte die spezifisch menschliche Fähigkeit zur darstellenden Erläuterung, die ihrerseits wiederum Mimik und Gestik beförderte und am Ende sprachliche und sogar musikalische Artikulation ermöglichte. Dieser komplexe Prozess ging einher mit einer immer weiter fortschreitenden Ausformung des Gehirns, und am Ende stand ein zergliedernder Intellekt ebenso wie ein zur Lösung von Problemen geeignetes ganzheitliches Denken. All dies ist mit dem Weg zum Menschsein untrennbar und ursächlich verbunden.
Lucy
Die meisten Belege für die ältesten Vorfahren des heutigen Menschen treten in Ost- und Südafrika auf, und sein aufrechter Gang dürfte sich dabei erst sehr allmählich herausgebildet haben. Als Zeugnisse aus dieser Frühzeit fanden sich in der Regel nur vereinzelte Knochen von ganz unterschiedlichen Körperteilen. Eines der bislang ältesten fast vollständig erhaltenen Skelette – genannt Lucy – stammt aus Äthiopien und ist 3,9 bis 3,2 Millionen Jahre alt. Das Alter dieser Frau wird auf etwa 25 Jahre und ihre Körpergröße auf 105 Zentimeter geschätzt. Das Körpergewicht der Australopithecinen lag schätzungsweise zwischen 30 und 40 Kilo, ihre Größe dürfte auch bei männlichen Exemplaren 1,30 bis 1,40 Meter nicht überschritten haben. Damit waren sie nicht viel größer als aufrecht stehende Schimpansen.
Vergrößerung des Kauapparats
Vor etwa 3 Millionen Jahren vollzog sich in weiten Teilen Ost- und Südafrikas eine Klimaveränderung, die zu mehr Trockenheit führte, wobei die Wälder, die weiche Früchte- und Blätternahrung boten, verschwanden. An ihrer Stelle breiteten sich zunehmend savannenartige Graslandschaften aus, in denen nur noch vereinzelt Bäume wuchsen. Damit änderte sich auch das Nahrungsangebot, das mit vergleichsweise harten Gräsern, Samen und Wurzeln der Fauna neue Herausforderungen stellte. Der Australopithecus musste sich diesem Lebensraum anpassen; als Vegetarier entwickelte er einen beeindruckenden Kauapparat, seine Backenzähne wiesen extrem vergrößerte Kauflächen auf, und die äußerst kräftigen Kaumuskeln begannen sogar, eine Art Kamm auf dem Schädel auszubilden. Alle diese grundlegenden Veränderungen, der aufrechte Gang wie die Vergrößerung des Kauapparats, waren das Resultat allmählicher, sich über Hunderttausende bis Millionen von Jahren vollziehender natürlicher Anpassungsvorgänge. Auch die Tierwelt, zu der man im Hinblick auf diese Epoche die Grenze nicht zu scharf ziehen sollte, war den gleichen Prozessen unterworfen.
Die ältesten menschlichen Artefakte aus der Olduvai-Schlucht
Inwieweit seinerzeit der Australopithecus über das Niveau von Schimpansen hinaus bereits in der Lage war, Werkzeuge einzusetzen, entzieht sich verlässlicher Kenntnis. Der Australopithecus afarensis (Abb. 1) ist jedenfalls etwa 500.000 Jahre älter als die frühesten Steingeräte, die wir kennen. Diese ältesten Artefakte stammen aus der Zeit vor etwa 2,7 Millionen Jahren. Man hat sie in der ostafrikanischen Olduvai-Schlucht entdeckt, weshalb man die gesamte Periode frühester materieller Kultur des Menschen seither als Oldowan bezeichnet. Inzwischen neigt die Forschung zunehmend zu der Auffassung, dass bereits der Australopithecus als Hersteller von Geräten aus dem frühesten Oldowan in Betracht kommt, auch wenn ein eindeutiger Beweis dafür noch nicht erbracht werden konnte und Homo rudolfensis und Homo habilis ebenfalls als Verfertiger erster Gerätschaften im Gespräch sind; vieles wird hier künftige Forschung noch zu klären haben.
Werkzeuggebrauch bei Tieren
Auch Tiere waren und sind in der Lage, durch den gezielten Einsatz unbelebter Objekte Wirkungen zu erreichen, die außerhalb der Funktionsmöglichkeiten ihres eigenen Körpers liegen. Sie verändern dabei meist die Form oder Position des betreffenden Gegenstands, schaffen sich also ein Werkzeug. Besonders aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang die Entdeckung einer über 4000 Jahre alten ‹Schimpansenwerkstatt› bei Noulo im Tai-Nationalpark durch Mitarbeiter des Leipziger Max-Planck-Instituts für Evolutionäre Anthropologie. Die dort freigelegten Steine wurden zum Zerschlagen von Nüssen verwendet. Solche Funde zeigen, dass bestimmte kulturelle Merkmale, die man lange ausschließlich dem Menschen zugeschrieben – und zugetraut – hat, wie etwa die Auswahl und das Beschaffen von Rohmaterialien und deren gezielte Verwendung für ganz bestimmte Arbeiten an einem festgelegten Ort, auch Schimpansen zu eigen sind. In dieses Bild fügen sich im Senegal beobachtete Schimpansengruppen, die mit Speeren nach Beutetieren jagen oder mit anderen Gerätschaften Honig sammeln. Werkzeuggebrauch bei Tieren ist jedoch keinesfalls nur auf Menschenaffen begrenzt. Er lässt sich etwa auch bei Elefanten beobachten, und das Gleiche gilt beispielsweise für Delphine, die vor der Küste Australiens abgelöste Meeresschwämme gleichsam wie Handschuhe über ihre Schnauze stülpen, um sich bei der Futtersuche im Meeresboden vor Verletzungen zu schützen.
Die Steingeräte des Oldowan Planungsvermögen und Handlungsabfolgen bei der Steingeräteproduktion
Gleichwohl sind die weltweit ältesten vom Menschen gefertigten Steingeräte des Oldowan (Abb. 2), die zunächst vor allem in Ostafrika verbreitet waren, ein erster Ausdruck menschlicher Kultur und eines bewussten und zielgerichteten Handelns des frühen Menschen. Die Epoche des Oldowan in Afrika, das gelegentlich auch als «Archäolithikum» bezeichnet wird, datiert man kurz vor den Beginn des Eiszeitalters (Pleistozän), das heißt in die Zeit vor etwa 2,7 bis 1,5 Millionen Jahren. Der älteste Abschnitt, das frühe Oldowan, endete ungefähr vor 2 Millionen Jahren. Der Frühmensch des Oldowan hat seine Artefakte, seine Steingeräte nicht einfach in der Natur vorgefunden. Er hat sie zum einen gezielt hergestellt und ihnen zudem die für ihn günstigste Form gegeben; zum anderen hat er ebendiese Form aufgrund der Erfahrungen, die er damit im Gebrauch machte, ständig weiterentwickelt und perfektioniert. Auch war er sich der besonderen Eigenschaften unterschiedlicher Rohmaterialien hinsichtlich Spaltbarkeit und Weiterverarbeitungsmöglichkeiten offenbar wohl bewusst. Der Fertigungsprozess eines Steingerätes lässt mit der Auswahl der geeigneten Rohmaterialien für den Schlagstein und das damit herzustellende Werkzeug sowie durch die Ausführung einer ganzen Folge von Schlägen eine völlig neue Qualität im Planungsvermögen dieser Spezies erkennen. Dieser kritische Moment, an dem die Entwicklung komplexer und planvoll durchgeführter Handlungsabfolgen einsetzt, erscheint als Wendepunkt in der Evolution des Menschen, von dem an er sich definitiv vom Tier und auch vom Menschenaffen unterscheidet.
Scharfkantige Geröllgeräte (Chopper)
Bei den ältesten sogenannten Geröllgeräten (Chopper) des frühen Oldowan (Abb. 2) schlugen Frühmenschen mit Hilfe eines Schlagsteines von einem Rohstück Teile ab, um scharfe Kanten zu erzeugen; dies bewerkstelligten sie entweder in der freien Hand oder mit Hilfe einer Art Steinamboss. Mit diesen frühesten Steingeräten beginnt die Kulturgeschichte des Menschen. Die von ihm gefertigten scharfkantigen Chopper setzte er ein, um damit Tierkörper zu zerteilen, Fleisch von deren Knochen zu lösen oder um hartschalige pflanzliche Nahrung zu öffnen. Ganz offensichtlich wählte er für seine Werkzeuge gezielt solche Gerölle aus, die eine möglichst günstige Schlagfläche boten. Auch verraten schon die ältesten Abschläge erstaunliche Kenntnisse des Frühmenschen von den Spalteigenschaften kieselsäurehaltiger Gesteine (Silices). Allerdings beließ er es erst einmal beim Spalten dieser Steine, um scharfe Kanten zu erzeugen; eine Retusche zur weiteren Schärfung und Stabilisierung dieser Kanten kannte er noch nicht. Außer den scharfkantigen und als Schneidewerkzeug eingesetzten Abschlägen fertigte er für gröbere Arbeiten Geröllgeräte mit einer behauenen Kante.
Aasfresser statt Jäger
Dass der Mensch damals bereits gejagt haben könnte, ist eher unwahrscheinlich. Vielmehr dürfte er zunächst ein Aasfresser gewesen sein, wobei er vorzugsweise das verzehrte, was Raubtiere von ihrer Beute zurückgelassen hatten; allerdings wird er selbst wohl auch solches Großwild erlegt haben, das gefallen oder aus anderen Gründen nicht mehr voll bewegungsfähig war. Doch auch dabei war der Einsatz von Schneidewerkzeugen unverzichtbar, wenn der Mensch die verendeten bzw. getöteten Tiere zerteilen wollte. Das Herausreißen von Fleischteilen mit Hilfe seiner eher auf das Zermahlen vegetarischer Nahrung angelegten Kiefer war ihm nicht möglich. Die frühesten Menschen taugten also nicht zum Raubtier. Sie sahen sich deshalb vielmehr vor die Aufgabe gestellt, Kadaver auf andere Weise in verzehrbare Stücke zu portionieren. Erst als sie dies gelernt hatten und infolgedessen das Fleisch von Großtieren zu einem immer wichtigeren Teil der menschlichen Ernährung wurde, eröffnete sich ihnen eine neue Entwicklungsmöglichkeit.
Der Homo habilis
Doch wer stellte diese frühesten Steingeräte her? Dass bei den ältesten Artefakten aus der Zeit vor 2,7 bis 2 Millionen Jahren bereits der Australopithecus Hand angelegt haben könnte, scheint – wie gesagt – nicht ausgeschlossen, ist bislang aber auch nicht eindeutig nachzuweisen. Doch als aus dem Australopithecus der Homo habilis hervorgegangen war, trat jener Vertreter des Frühmenschen auf den Plan, der zuverlässig durch entsprechende Schichtbefunde mit den Steinwerkzeugen des frühen Oldowan in Verbindung zu bringen ist. Der Homo habilis – der befähigte Mensch – ist der bislang älteste Repräsentant unserer Spezies, der nach Meinung der Forschung in der Lage war, Geräte herzustellen. Zeugnisse für diesen Frühmenschen finden sich nur in Ost- und Südafrika, nicht aber in Eurasien. Er besitzt eine im Verhältnis zu dem Australopithecus flachere Gesichtsform sowie ein größeres Schädelvolumen, ist aber weiterhin kleinwüchsig (1,20 bis 1,40 Meter). Während sich der Australopithecus überwiegend vegetarisch ernährte, dürfte es sich beim Homo habilis bereits um einen Omnivoren – einen Allesfresser – gehandelt haben, der zum Verzehr von Fleisch neigte.
Die tatsächliche Stellung des erstmals vor etwa 2 Millionen Jahren auftretenden Homo habilis innerhalb der menschlichen Evolution ist nicht frei von Kontroversen (Abb. 1). Manche sehen ihn näher beim Australopithecus, andere gehen davon aus, dass er bis zu einer halben Million Jahre gleichzeitig neben dem Homo erectus lebte und dabei bis zuletzt bestimmte ökologische Nischen besetzt hielt. Wie dem auch sei: Die Hinweise, die den Homo habilis im Hinblick auf seine Stellung in der Evolution des Menschen in gewisser Weise zwischen den Australopithecus und den Homo erectus einordnen lassen, sind trotz aller Zweifel und unterschiedlicher Thesen nicht ganz von der Hand zu weisen. Doch ebenso wenig kann man beim gegenwärtigen Forschungsstand länger davon ausgehen, dass der Homo habilis unmittelbarer Vorfahre des Homo erectus gewesen wäre.
Der Homo erectus
Die ältesten Funde des Homo erectus und des mit ihm verwandten Homo ergaster sind etwa 2 Millionen Jahre alt. Es handelt sich dabei um die erste Form des Frühmenschen, die sowohl in Afrika als auch in Europa und Asien verbreitet war. Aus dem Homo erectus entwickelte sich später in Europa der Neandertaler und in Afrika der Homo sapiens, der moderne Mensch. Der Homo erectus kommt dem heutigen Menschen in seiner Körpergröße durchaus nahe, sein Gehirn war jedoch erst halb so groß – zum modernen Menschen war es noch ein weiter Weg. Im Vergleich zu den älteren Australopithecinen weisen Homo erectus-Formen deutlich kleinere Backenzähne auf, was darauf schließen lässt, dass ihre Nahrung überwiegend weichere Bestandteile enthielt: Früchte, Wurzeln, aber auch Fleisch. In der Epoche des Homo erectus dürfte sich endgültig der Wandel des Frühmenschen vom Aasfresser zum Jäger vollzogen haben.
Java- und Peking-Mensch — Neue Entdeckungen in Dmanisi und Atapuerca
Dem Homo erectus ordnet man heute eine Vielzahl von Fossilienfunden zu, die man früher mit unterschiedlichen Artennamen versehen hat. Dazu gehören der Java-Mensch (Anthropithecus) ebenso wie der sogenannte Peking-Mensch (Sinanthropus pekinensis). Die inzwischen in Afrika, Europa und Asien zum Vorschein gekommenen Knochenfunde, die sich der Gruppe des Homo erectus zuordnen lassen, weisen mittlerweile aber eine derartig große morphologische Streuung (Formenvielfalt) auf, dass es der Forschung sinnvoll erschien, mehrere Abstammungslinien und Subarten zu unterscheiden. Es würde in diesem Kontext zu weit führen, diese hier umfassend zu beschreiben, zumal die Forschung auch auf diesem Feld noch im Fluss ist und ständig neue Resultate beizutragen weiß. Erwähnt sei lediglich der Homo ergaster (Handwerker-Mensch), eine aus der Zeit vor 1,9 bis 1,4 Millionen Jahren stammende afrikanische Chronospezies (also ein Vertreter speziell dieser Epoche) und damit eine der frühesten Homo erectus-Arten. In dieselbe Zeit zu datierende Neufunde aus Dmanisi in Georgien erlauben, dort inzwischen von einem Homo georgicus zu sprechen, während überraschende Entdeckungen im kastilischen Atapuerca einen Homo antecessor (Vorgänger-Mensch) zu definieren halfen. Die Ergebnisse der Forschung sind freilich keinesfalls immer unumstritten. Gesichert ist aber, dass ein bereits seit dem frühen 20. Jahrhundert bekannter Unterkiefer aus Mauer bei Heidelberg einen Vertreter der jüngeren Homo erectus-Formen in Mitteleuropa repräsentiert, die seither unter dem Namen Homo heidelbergensis zusammengefasst werden.
Anteil des Homo erectus an der Menschheitsgeschichte
Während die Anfänge des Homo erectus vor etwa 2 Millionen Jahren liegen, datieren die jüngsten Ausprägungen seiner Spätformen ungefähr 300.000 Jahre vor heute. Innerhalb dieses für unser Bewusstsein und erst recht für unser Empfinden unermesslich langen Zeitraums, der einen Großteil der gesamten Menschheitsgeschichte umfasst, lassen sich drei große Perioden unterscheiden: a) das noch auf Afrika begrenzte entwickelte Oldowan vor 2 bis 1,5 Millionen Jahren, b) das sich dann nach Europa und Asien ausbreitende Acheuléen mit den ersten Faustkeilen vor 1,5 Millionen bis 500.000 Jahren sowie c) die insbesondere in Europa gut belegte Zeitspanne von 500.000 vor heute bis zum Aussterben des Homo heidelbergensis. Die Forschung vermag diesen Zeitraum noch wesentlich genauer zu untergliedern; vielfach laufen Entwicklungen auch teilweise parallel und lösen einander allmählich ab, doch ist dies im vorliegenden Zusammenhang unerheblich.
Das entwickelte Oldowan
Das vor etwa 2 Millionen Jahren beginnende entwickelte Oldowan weist gegenüber der vorangehenden Zeit bereits ein differenzierteres Gerätespektrum auf. Kennzeichnend dafür ist, dass man die Schlagflächen vorbereitete, um die Abschläge gezielter anfertigen und besser in die gewünschte Form bringen zu können. Ferner nimmt die Zahl der Abschlagwerkzeuge deutlich zu, während die Chopper gleichzeitig seltener werden. Die Steingeräteherstellung durchläuft also einen ersten Prozess zu größerer Vervollkommnung und Perfektionierung, der auf Erfahrungen im Umgang mit kieselsäurehaltigem Gestein beruht. Auch finden sich erste Stücke mit nachträglich überarbeiteten Kanten, auch wenn Retuschen noch immer fehlen, die erst ein wesentlich jüngeres Stadium der Steingeräteherstellung markieren. Trotz der beschriebenen offensichtlichen Fortschritte im Hinblick auf zielgerichtetes und planvolles Handeln des frühen Menschen fehlt es weiterhin an standardisierten Formen. Zudem drängt sich der Eindruck auf, als wären solche Artefakte, die sich als Schaber, Kratzer oder Stichel benutzen ließen, eher zufällig entstanden.
Dem Stadium des entwickelten Oldowan aus der Zeit vor 2 bis 1,5 Millionen Jahren lassen sich auch die ältesten Siedlungsspuren zuweisen. An verschiedenen Orten in Ostafrika entdeckte man Lagerplätze des Frühmenschen, vorzugsweise an Flüssen oder Seen. In Olduvai selbst, aber auch an anderen ostafrikanischen Fundplätzen, stieß man dabei auf Steinkreise, die offenbar die Basis einfacher Rundhütten bildeten. In ihrem Inneren kamen zahllose aufgespaltene und bearbeitete Knochen zum Vorschein. Vielfach zerlegte man Tiere allerdings auch gleich an Ort und Stelle, wo man sie erbeutet hatte. Wasserstellen spielen in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle, weil sie von allen Säugern aufgesucht wurden. Ähnlich wie die Raubtiere wartete dort der Mensch auf seine Beute – spätestens damals war er definitiv zum Raubtier geworden. Das Fehlen von physischer Kraft, krallenbewehrten Pranken und Raubtiergebiss glich er durch zielgerichtetes Denken und Handeln aus.
Der Homo erectus wird zum Jäger
Bei der Sichtung der Knochen jener Tiere, die man an den Lagerstellen zerlegt hat, fällt auf, dass es sich dabei vielfach um Großsäuger handelte: Elefanten, Nashörner, Flusspferde, Zebras, Giraffen, Pferde, Hirsche, Rinder usw. Im Erfolgsfall standen dem Frühmenschen also auf einen Schlag Unmengen von Fleisch zur Verfügung, die er damals wohl noch kaum zu konservieren in der Lage war – ein umso größerer Nachteil, als doch diese Fauna unübersehbar aus einer offenen Graslandschaft mit warmem, gemäßigtem Klima stammte, die Beute also rasch verdarb. Ein Vorteil wird jedoch darin bestanden haben, dass viele dieser Arten aufgrund ihrer imposanten Größe über einen langen Zeitraum der Evolution hinweg dem Menschen weit überlegen waren und ihm gegenüber folglich erst einmal furchtlos blieben; so konnte sich ihnen später der besser entwickelte Mensch möglicherweise ohne große Probleme annähern und sie verhältnismäßig leicht erlegen. Und trotzdem stellt sich die Frage, ob es den frühesten Vorfahren des Menschen wirklich bereits gelang, derartig imposante Fleischlieferanten regelrecht in freier Wildbahn zu erjagen, oder ob sie lediglich dann überwältigt und getötet werden konnten, wenn sie etwa in sumpfigem Gelände stecken blieben oder bereits verletzt waren. Bei der Jagd auf die extrem schnellen Gazellen oder Zebras dürfte der Mensch damals jedenfalls noch ohne jede Chance auf Erfolg gewesen sein. Was den Verzehr der Beute betrifft, so zeigen die Überreste zerlegter Tiere, dass der Mensch nicht nur deren Fleisch aß, sondern auch systematisch die Langknochen zerschlug, um an das nährstoffreiche Knochenmark zu gelangen.
Frühe Jagdwaffen
Es scheint bemerkenswert, dass unter den zahllosen Knochen an den Lagerstellen des entwickelten Oldowan sich nicht nur die Relikte der ‹klassischen Fleischlieferanten›, sondern auch Überreste der für den Menschen gefährlichen Raubtiere, wie beispielsweise Säbelzahnkatzen, Hyänen, Wölfe, Bären usw. finden. Sie waren seine Konkurrenten in der Jagd auf Beute und fielen ihm dabei offenbar gelegentlich auch selbst zum Opfer. Mit Abschlägen oder Steinkugeln dürften solche Tiere kaum zu töten gewesen sein, was die Vermutung nahelegt, dass der Mensch damals bereits andere Jagdwaffen einsetzte wie z.B. Speere oder Lanzen aus Holz; diese haben sich freilich in dem langen Zeitraum der letzten 1,5 Millionen Jahre vollständig zersetzt, so dass wir auf Hypothesen angewiesen bleiben.
Acheuléen und erste Faustkeile
Aus den Geröllgeräten des entwickelten Oldowan entstanden vor 1,5 Millionen Jahren in Afrika schließlich die ersten Faustkeile. Die älteste, durch die Existenz von Faustkeilen bestimmte archäologische Kultur ist das sogenannte Acheuléen. Ihre typische Form entstand durch die beidseitige flächige Bearbeitung von Geröllgeräten, die oben spitz zuliefen und am unteren Ende zur besseren Handhabung abgerundet waren. Als Hersteller der ersten Faustkeile gelten möglicherweise bereits Homo habilis, insbesondere aber Homo ergaster und Homo erectus. Zusammen mit diesen Faustkeilen begegnen im afrikanischen Acheuléen auch frühe Abschläge (Abb. 3). Wenn in Fundinventaren früheste Faustkeile enthalten sind, so spricht man von Acheuléen; fehlen sie, so bezeichnet man sie als entwickeltes Oldowan. Das zeigt, dass diese beiden über Steingeräteformen definierten Zeitperioden nicht streng aufeinander folgten, sondern einander allmählich ablösten; die Werkzeuge beider Formenkreise wurden also über einen längeren Zeitraum hinweg gleichzeitig gefertigt und eingesetzt – und mithin gab es auch eine Koexistenz der Träger dieser beiden Werkzeugkulturen.
Die Ausbreitung des Acheuléen nach Europa
Das Acheuléen ist anfangs bis vor 1 Million Jahren noch eine rein afrikanische Erscheinung; auf dem ganzen Kontinent hat man die typischen Werkzeuge dieser Epoche entdeckt. Erst danach breitet sie sich über Vorderasien auch in andere Teile der Welt aus, und zwar einerseits über Kleinasien und andere Teile des Mittelmeerraumes bis nach Europa und andererseits über die Arabische Halbinsel, das Iranische Hochland, Südchina und die Philippinen bis nach Südostasien. Im mediterranen Bereich datieren die ältesten Faustkeile des Acheuléen vor etwa 800.000 Jahren, nördlich der Alpen sind sie noch einmal