Noch war es dunkel im Garten. Nur die schwache Öllampe im Schuppen erhellte das nasse Gras unter den Knien der alten Frau. Leises Hühnergackern drang an ihr Ohr.
„Wir müssen uns beeilen, Liebes“, keuchte sie und grub noch etwas tiefer in der Erde. „Gleich wird es hell.“
Auf einmal stieß sie auf etwas Hartes. „Endlich!“, rief sie erleichtert. Noch zwei Schaufeln Erde und sie konnte die Holzkiste aus dem Loch heben. Ehrfürchtig öffnete sie den Deckel.
In der Kiste lag ein Buch.
„Mein alter Freund“, flüsterte sie und blies mit warmem Atem den Staub davon.
„Deine Zeit ist wieder einmal gekommen! Die Kinder brauchen dich.“ Mit ihren faltigen Händen strich sie über das abgewetzte Papier.
Da flatterte ein braun geschecktes Huhn vor ihr ins Gras. „Gack! Gack! Gack!“, kreischte die Henne empört. Mit dem Schnabel hackte sie gegen das alte Buch.
„Schsch, Genie, lass das! Ich weiß, ich weiß … du bist nicht die Einzige, die das Buch für gefährlich hält. Unter normalen Umständen würde ich deine Weisheit niemals anzweifeln, meine Liebste.“ Seufzend schob die Frau die Henne beiseite. „Aber das Buch ist hier nicht mehr sicher“, erklärte sie. „Ich habe meinen Entschluss gefasst. Noch heute gebe ich es an die Kinder zurück. Sie werden darauf aufpassen und sein Geheimnis bewahren. Besser, als ich oder ihr es jemals könntet.“
Wieder flatterte die Henne aufgebracht auf sie zu. „Genie, das ist doch kein Vorwurf an dich und deine Schwestern!“ Die Frau rappelte sich auf. „Ihr habt eure Aufgabe wunderbar gemeistert, aber man ist uns auf den Fersen. Es war bloß eine Frage der Zeit.“ Sie sah sich um und senkte die Stimme. „Er kennt das Geheimnis. Und er weiß genau, wo er nach dem Buch suchen muss.“
Genie gackerte noch einmal traurig, doch dann gab sie Ruhe.
Auf leisen Sohlen schlich die Frau zum Schuppen, dicht gefolgt von dem braun gescheckten Huhn. Geschäftig marschierte sie auf die wurmstichige Werkbank zu. Sie schob die Drähte und Schrauben weg und legte das Buch neben die Öllampe. Hastig begann sie, darin zu blättern.
„Na also, wer sagt’s denn!“ Sie studierte die Seite. „Interessant … sehr interessant.“
Auch die Henne steckte neugierig das Köpfchen ins Buch. Fragend sah sie die Frau an.
„Ja, du hast richtig gesehen! Einer ist noch übrig. Ein Kind wartet schon eine ganze Weile auf die Erfüllung seines Wunschs.“ Die Frau klappte das Buch wieder zu und packte es ein. „Doch nun hat das Warten ein Ende! Es geht wieder los! Und es wird mit Sicherheit wahnsinnig …“ Sie öffnete ihren Mantel. Ruckzuck flatterte das Huhn hinein und verschwand fast vollständig in der Innentasche. „… wahnsinnig abenteuerlich!“ Sie strich Genie noch mal über den Kopf, dann verließ sie den Schuppen.
Inzwischen dämmerte es. Im ersten Morgenlicht stapfte sie auf eine Reihe dichter Holunderbüsche zu. Sie bog die Zweige auseinander, machte einen großen Schritt und verschwand durch die Hecke.
Geschwind schlüpfte sie unter hohen Tannen hindurch, schlich moosbewachsene Waldpfade entlang, hüpfte über verfallene Zäune und durch ein fröhlich plätscherndes Bächlein, bis sie in einen verwilderten Garten gelangte.
Sie bahnte sich einen Weg durch die hohen Gräser, vorbei an einem verfallenen Gewächshaus, bis zu einer morschen Gartenpforte.
Die Frau öffnete das Türchen und trat in den Schatten alter Eichen. In einiger Entfernung kam ein stattliches Gebäude in Sicht. Seine Türmchen und Mauern zeichneten sich dunkel gegen den zartrosa Himmel ab.
Verstohlen schaute sie sich um, Genie gackerte leise. „Ja, ja, meine Liebe, ich weiß, ich weiß. Wenn man mich erwischt, bin ich dran!“
Rasch überquerte sie die frisch gemähte Wiese und lief am Fußballplatz vorbei, direkt auf das Gebäude zu. Das Huhn zappelte nun ungehalten unter ihrem Mantel.
„Keine Angst! Noch mal werde ich mich nicht schnappen lassen. Versprochen! Immerhin bin ich zwei Jährchen älter und um einiges weiser!“, kicherte die Frau.
Auf dem Weg durch den Flur begegnete ihr niemand. Um diese Uhrzeit war die Schule noch menschenleer. Beschwingt stapfte sie zu der kleinen Abstellkammer. Dort befand sich alles, was sie für die tägliche Arbeit benötigte. Außerdem sammelte sie hier alle Sachen, die die Kinder verloren hatten.
Vor sich hin summend entriegelte sie die zahllosen Schlösser. Ohne Licht zu machen, schnappte sie sich ihren Putzeimer mit den Lappen und Sprühfläschchen, den Besen sowie einen Wischmopp.
Voll beladen stieg sie in den klapprigen Aufzug und fuhr in die erste Etage. Direkt neben dem Biologiesaal stieg sie wieder aus.
Auch dieser Raum lag verlassen vor ihr. Die Frau atmete auf. „Siehst du, Genie, um diese Zeit ist hier keiner. Kein Grund zur Sorge also.“
Die braune Henne bewegte sich nicht – wie immer, wenn es in den Biosaal ging, verharrte sie angespannt im Schutz des Mantels.
Zielstrebig schritt die Frau auf die Tische in der ersten Reihe zu. Unter einem der Stühle lugte ein knallgelber Spider-Man-Rucksack hervor. Der Junge, dem er gehörte, hatte ihn vergessen. Wie so oft, wenn sie vor dem Unterricht das Klassenzimmer putzte.
Eben hatte sie den Rucksack unter dem Stuhl hervorgezogen, als es von hinten leise zischte.
Erschrocken wirbelte die Frau herum. „Ach du meine Güte!“ Sie blickte zu dem großen Terrarium am anderen Ende des Raums.
Zwei hungrige schwarze Schlitzaugen starrten ihr daraus entgegen.
„Nimmersatt, dich hätte ich ja um ein Haar vergessen!“ Schnell hängte sie sich den Rucksack über und stapfte samt Putzkram hinüber zum Terrarium.
Darin wand sich eine riesige hellbraune Schlange in die Höhe.
Die Frau zog eine tote Maus aus dem Eimer. Sie hatte sie am Vortag beim Putzen gefunden. Lächelnd hob sie den Deckel des Kastens und warf sie der Schlange direkt ins Maul. „Lecker, Frühstück!“
Während die Maus mit einem Happs verschwand, setzte die Frau den Rucksack ab. Sie schmunzelte, als sie darin eine handgroße Superhelden-Figur entdeckte. Dann holte sie das Buch aus ihrem Mantel und platzierte es gut sichtbar direkt neben der Figur.
„Der Junge wird was erleben!“, kicherte sie, als sie den Rucksack wieder schloss.
„Wilmine?“, schallte eine helle Stimme durchs Treppenhaus. „Bist du das?“
„Oh Mist!“, zischte die Frau. „Doch schon wer da.“ Gehetzt sah sie nach vorne zur ersten Tischreihe. Sie musste den Rucksack so schnell wie möglich zurück an seinen Platz bringen.
„Wilmine?“, hörte sie noch einmal ihren Namen.
Besser, sie machte sich vom Acker. Auch Genie begann, unruhig zu werden. Aufgeregt streckte sie das Köpfchen aus dem Mantel.
„Nein!“ Wilmine erschrak. „Versteck dich!“
Zu spät! Kaum hatte die Schlange das Huhn erblickt, schnellte sie nach oben und donnerte mit voller Wucht gegen den Glasdeckel. Das Terrarium schwankte.
„Ach du Schreck!“ Putzeimer und Schulranzen noch immer in den Händen, warf sich Wilmine gegen das Terrarium.
Es schepperte. Die Glasscheibe knackte. Der Putzeimer ging rasselnd zu Boden, während der gelbe Rucksack mit einem schweren Rums auf dem Glaskasten landete. Im nächsten Moment gab es einen ohrenbetäubenden Knall: Der Deckel des Terrariums zerbrach in Tausende und Abertausende kleine Scherben!
Die Schulglocke läutete zum ersten Mal. Schritte näherten sich. Gleich würden sich die Flure mit Kindern füllen.
„Hallo? Wer ist da?“, rief die Schulleiterin alarmiert.
Die Zeit lief Wilmine davon. Hektisch zerrte sie am Rucksack, unter dem sich die verschreckte Schlange verkrochen hatte. Doch er steckte fest! Wilmine ging in die Knie und blickte durch die Scheibe. Nimmersatt zischte leise. Ein Glück, der Schlange war nichts passiert.
„Gack! Gack! Gack!“, kreischte Genie ungeduldig.
„Du hast ja wie immer recht, meine Liebe, wir verschwinden besser.“ Hastig klaubte die Frau die zu Boden gegangenen Putzsachen zusammen, stopfte alles in den Eimer und eilte hinaus in den Flur.
Noch war er leer. Nur wenige Schritte und sie war zurück im Aufzug. Während sich die Türen schlossen, erschien die Schulleiterin am Treppenaufgang.
Wilmine sank gegen das kalte Metall des Aufzugs. „Das war knapp, was, Genie?!“ Sie kicherte. „Jetzt holen wir erst mal einen großen Müllsack für die Scherben und einen der alten Glaskästen aus dem Gewächshaus, nicht dass Nimmersatt noch ausbüxt …“