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Asfa-Wossen Asserate

Deutsche Tugenden

Von Anmut
bis Weltschmerz

 

 

 

 

 

 

C.H.Beck

 

Zum Buch

Asfa-Wossen Asserate wendet sich wieder einem seiner Lieblingsthemen zu: den Deutschen. Diesmal nimmt der äthiopische Prinz und weltgewandte Historiker die Tugenden jenes Volkes unter die Lupe, das ihm zur zweiten Heimat geworden ist. Als „Klassiker“ unter den deutschen Tugenden mag man Treu und Redlichkeit, Fleiß, Ordnungsliebe, Pflichtbewusstsein und Pünktlichkeit betrachten. Vielleicht gesteht man den Deutschen auch noch Erfindergeist und sogar Musikalität zu. Aber Bescheidenheit, Zivilcourage, Toleranz und Humor? Um uns daran glauben zu lassen, bedarf es schon besonderer Überzeugungskraft. Prinz Asfa-Wossen Asserate – Großneffe des letzten äthiopischen Kaisers, promovierter Historiker und gleichermaßen ausgestattet mit dem Scharfblick des Ethnologen wie mit der Gabe des Erzählens – lebt seit den sechziger Jahren unter den Deutschen und hat seine ganz eigenen Eindrücke von diesem Volk, seiner Geschichte, seiner Kultur und seinen Geisteshaltungen gewonnen. In dieser ebenso unterhaltsamen wie informativen tour d’horizon verhilft er seinen Leserinnen und Lesern zu überraschenden Einsichten in die komplexe Seelen- und Gemütswelt der Deutschen.

Über den Autor

Asfa-Wossen Asserate ist ein vorzüglicher Kenner deutscher Geschichte, Kultur und Wesensart. Der promovierte Historiker und Unternehmensberater hat Bestseller wie Manieren und Draußen nur Kännchen geschrieben. Bei C.H.Beck hat er 2010 das Buch Afrika. Die 101 wichtigsten Fragen und Antworten publiziert.

Inhalt

Vorbemerkung

Deutsche Tugenden

Anmut

Bescheidenheit

Erfindergeist

Fleiß

Freiheitsliebe

Gemütlichkeit

Geselligkeit

Gottesfurcht

Humor

Maßhalten

Musikalität

Naturverbundenheit

Ordnungsliebe

Pflichtgefühl

Pünktlichkeit

Reinlichkeit

Sparsamkeit

Toleranz

Treu und Redlichkeit

Trinkfestigkeit

Weltschmerz

Zivilcourage

Literatur

Vorbemerkung

Die deutsche Seele», schrieb einst Friedrich Nietzsche, «hat Gänge und Zwischengänge in sich, es gibt in ihr Höhlen, Verstecke, Burgverliese; ihre Unordnung hat viel vom Reize des Geheimnisvollen; der Deutsche versteht sich auf die Schleichwege zum Chaos.» Und doch hat es über die Jahrhunderte nicht an Versuchen gefehlt, in die Tiefe der deutschen Seele hineinzuleuchten – von Menschen, die von außen auf das Land blickten, aber auch von Deutschen selbst, die in ihren Höhlen, Schreibzimmern und Elfenbeintürmen über ihre eigene Nation Rechenschaft ablegen wollten. Gelegentlich war und ist in diesen Zusammenhängen auch die Rede von «deutschen Tugenden», die diese Nation vor anderen auszeichne. Fleiß, Sparsamkeit und Ordnungsliebe werden bisweilen genannt oder ähnliche bürgerliche Tugenden, die sich im Zeitalter der Aufklärung herausgebildet haben. Eine Reihe von ihnen haben die Preußen für sich als «preußische Tugenden» in Anspruch genommen und diesen Tugendkatalog um «soldatische» Eigenschaften wie Pünktlichkeit und Gehorsam ergänzt. Wer mag, kann aber auf der Suche nach «deutschen Tugenden» auch noch viel weiter, und zwar bis auf Tacitus zurückgehen, der im frühen zweiten Jahrhundert nach Christus in seiner Schrift Germania den Germanen Redlichkeit und Freiheitsliebe, Treue und Aufrichtigkeit, den Männern unter ihnen Tapferkeit und den Frauen Keuschheit bescheinigte – all dies, ohne bekanntlich jemals auch nur einen Germanen zu Gesicht bekommen zu haben.

Wer sich mit nationalen Charaktereigenschaften beschäftigt, rührt an Stereotypen und Klischees. Es sind, wie es der Kulturwissenschaftler Hermann Bausinger formulierte, «unsichtbare Brillen, die, wenn man durch sie blickt, die Wirklichkeit einfärben und oft auch verzerren – an die man sich aber auch schnell gewöhnt». Manch einer meint, der Wind der Globalisierung würde diese Eigenschaften im Lauf der Zeit abschleifen und die Menschen auf dem Erdball würden sich immer ähnlicher werden. Und doch hat ein jeder, wenn er sich einen typischen Italiener, einen typischen Franzosen oder eben einen typischen Deutschen vorstellen soll, ein bestimmtes Bild im Kopf. Warum auch nicht? Bekanntlich steckt ja in jedem Vorurteil ein Körnchen Wahrheit. Es kommt darauf an, wie man mit seinen Vorurteilen umgeht.

Aber lassen sich Tugenden überhaupt an bestimmte Nationen knüpfen, sind sie nicht vielmehr etwas Unteilbares, Universales? Davon jedenfalls geht die klassische Tugendlehre aus, die in ihnen die Richtschnur zum guten Handeln sieht. Für die Ethik der Antike waren vier Tugenden zentral: die Klugheit, die Mäßigung, die Tapferkeit und die Gerechtigkeit. «Die Mäßigkeit erhält den Leib, die Gerechtigkeit ernährt, die Tapferkeit wehrt, die Weisheit regiert alles», schrieb Martin Luther. Der Apostel Paulus hat den vier Kardinaltugenden in seinem Brief an die Korinther drei weitere hinzugesellt: Glaube, Hoffnung und Liebe – und der Liebe unter diesen den obersten Platz zugewiesen. Im Gegensatz dazu hat man die sogenannten bürgerlichen Tugenden – wie Pünktlichkeit, Reinlichkeit und Ordnungssinn – als «Sekundärtugenden» bezeichnet, da sie ihre Legitimation nicht aus sich heraus erhalten: Erst im Lichte der Zwecke oder der Idee, der sie sich unterordnen, wird erkennbar, ob sie zum Guten oder zum Bösen ausschlagen. Auch Robespierre hielt sich bekanntlich für einen tugendhaften Menschen, als er all jene, die nicht seinen Tugendvorstellungen entsprachen, auf die Guillotine schickte.

Wer über Tugenden spricht, muss also auch auf die ihnen entsprechenden Laster zu sprechen kommen. Die christliche Überlieferung hat den Kardinaltugenden die sieben Todsünden gegenübergestellt. Dazu gehören Hochmut, Geiz, Wollust, Zorn, Völlerei, Neid und Faulheit. Dass es sich dabei um Untugenden handelt, wird auch für die allermeisten Nichtgläubigen nachvollziehbar sein. Aber längst nicht immer lassen sich die Tugenden von den Lastern so klar unterscheiden. «Tugenden sind Laster, die ihr Schlimmstes nicht ausleben», schreibt der Philosoph Martin Seel, und «Laster sind Tugenden, die ihr Bestes versäumen.» Und bisweilen ist es vom einen zum andern, von der Tugend zum Laster, nur ein kleiner Schritt.

Die folgenden Essais lassen einige der den Deutschen typischerweise zugeschriebenen Eigenschaften und Tugenden Revue passieren – von der Anmut über die Gemütlichkeit über die Sparsamkeit bis hin zum Weltschmerz und zur Zivilcourage. Mancher mag in diesem Buch die eine oder andere deutsche Tugend vermissen, aber auf Vollständigkeit kam es mir gar nicht an und auch nicht auf eine systematische Behandlung der Tugenden, die mich interessieren. Es handelt sich vielmehr um einen subjektiven Streifzug durch die deutsche Kultur und die deutsche Geschichte aus der Sicht eines Zugereisten, der in diesem Land Wurzeln geschlagen hat.

Einem möglichen Missverständnis möchte ich gleich vorweg entgegentreten: Es wäre falsch zu glauben, der Autor dieses Buches wähne sich im Vollbesitz auch nur einer der hier beschriebenen Tugenden. Das Gegenteil ist der Fall: Er weiß, dass es sich bei den Tugenden um Ideale handelt, nach denen man streben kann, wohl wissend, dass ein Sterblicher sie niemals erreichen wird. Wenn man sie erreichte, wären sie keine Ideale mehr. Und selbst derjenige, der von sich behaupten kann, ein tugendhaftes Leben zu führen, würde sich doch niemals damit hervortun. Denn wer sich mit seinen Tugenden vor seinen Mitmenschen brüstet, hat aus ihnen schon Laster gemacht. So betrachtet, ist Demut die schönste aller Tugenden.

Wer sich auf den Pfad der Tugend begibt, muss bereit sein, Umwege zu gehen. Das wusste auch Heimito von Doderer, als er am 18. Oktober 1951 in sein Tagebuch schrieb: «Wenn ich mich frage, was ich denn eigentlich und wirklich haben möchte und mir wünschte: so wäre es – viel Geld, um in einer Folge schwerster sexueller Excesse, sinnloser Saufereien und dementsprechender Gewalthändel endgültig unterzugehen. Statt dessen hab’ ich das weitaus gewagtere Abenteuer der Tugend gewählt.»

Asfa-Wossen Asserate

Anmut

Auf einer Photographie von August Sander aus dem Jahr 1914 sieht man drei junge Männer über einen Feldweg gehen. Alle drei tragen Anzug, Hut und Krawatte und in der Rechten einen Spazierstock. Auf ihrem Weg halten sie inne, den linken Fuß nach vorne geschoben, den Körper kerzengerade. Über die rechte Schulter blickend, wenden sie sich dem Betrachter zu. Der dritte von ihnen, eine Zigarette zwischen den Lippen, hält ein wenig Abstand zu seinen Begleitern. Unter seinem Hut, der schräg auf dem Kopf sitzt, quillt eine Locke hervor.

Niemand, der die Photographie einmal gesehen hat, wird sie wieder vergessen. Eine zauberhafte Anmut liegt in der Haltung der drei Männer und ihren Gesichtern. Jungbauern im Sonntagsstaat ist das Bild betitelt, oder auch Bauern aus dem Westerwald auf dem Weg zum Tanz. Die allermeisten, die es heute sehen, würden nicht auf den Gedanken kommen, dass es sich bei den drei jungen Männern um Bauern handeln könnte. Bauern mit Anzug, Stock und Hut – das mutet heutzutage exotisch an. Wenn ich das schöne Wort Anmut höre, denke ich an dieses Bild.

Als Francesco Petrarca im Jahr 1333 auf seiner Reise durch Deutschland nach Köln kam, damals eine der größten Städte Europas, zeigte er sich überrascht von der Anmut der Menschen, denen er hier begegnete: «Erstaunlich für eine Stadt der Barbaren, welche Kultiviertheit, welch städtisches Gepräge, welcher Ernst der Männer, welch gepflegtes Äußere der Frauen», schrieb er an den befreundeten Kardinal Colonna in Avignon. «Denn das ganze Ufer bedeckte ein herrlicher und überaus großer Zug von Frauen. Ich wurde ganz still: Gute Götter, welch eine Schönheit der Gestalt, welch eine Vollkommenheit der Haltung!»

Wer sich heute in den Straßen deutscher Städte auf die Suche nach der Anmut macht, muss sich schon ein wenig umschauen, bis er sie findet zwischen unförmigen Anoraks, Leggins in Bonbonfarben, Jogginghosen und Turnschuhen. Höchst ungern stimme ich in den Chor der Menschen ein, die ständig rufen: «Früher war alles besser», und doch empfinde ich es als beklagenswert, dass sich die Sorge um das eigene Erscheinungsbild derart verflüchtigt hat. Robert Gernhardt hat die Anmut in den Fußgängerzonen von Nürtingen, Lübeck und Metzingen vergeblich gesucht und ihr Verschwinden bedichtet: «Wie sie kauend durch die Straßen schieben! Du musst diese Menschen nicht lieben …» Die Bequemlichkeit, heißt es, ist der größte Feind der Anmut. Und doch erscheint es mir als ein großes Missverständnis, wenn man meint, dass sich Bequemlichkeit und ein gepflegtes Aussehen per se ausschließen. Coco Chanel hat dies bereits in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts widerlegt.

Maintaining standards – dies galt lange Zeit keineswegs nur für britische Generaloffiziere in den Kolonien, die sich noch in der tropischsten Hitze nachmittags umzogen und einen Smoking anlegten, selbst wenn weit und breit kein Mensch zu sehen war. Die Aufmerksamkeit für sich selbst, das Bewahren von Haltung, wenn man sich in der Öffentlichkeit bewegt – das war noch bis vor kurzem in Deutschland gar keine Frage des Standes oder des Geldes, es war für Angehörige aller Schichten eine schiere Selbstverständlichkeit. Auf Bildern aus der Weimarer Republik sieht man die Arbeiter in Zylinder und Frack demonstrieren, und in Tübingen und Frankfurt habe ich es in den Jahren 1968 und danach noch selbst erlebt: Die Studenten, die sich auf der Straße unterhakten und Auge in Auge mit der Kette der ihnen gegenüberstehenden behelmten Polizisten ihre Protestrufe skandierten, trugen selbstverständlich Anzug und Krawatte. Und am Tag des Herrn legten Arbeiter und Bauern Sonntagsstaat an.

Die Anmut darf nicht verwechselt werden mit der Schönheit, allenfalls lässt sie sich als «innere Schönheit» beschreiben. Für Friedrich Schiller war sie der Ausdruck der «schönen Seele». Denn man kann durchaus ohne einen wohlproportionierten Körper eine bella figura machen. Maria Callas – ich hatte das Glück, sie in London Ende der sechziger Jahre noch singen zu hören – erfüllte mit ihrer Stimme, ihrem Charme und ihrem Charisma jeden Saal. Sie besaß Anmut und Majestät, obwohl sie keine Schönheit im geläufigen Sinne war.

Anmut ist zeitlos und hat nichts mit Jugend zu tun. Unter den großen deutschen Schauspielerinnen und Schauspielern haben mich besonders Elisabeth Flickenschildt und Curd Jürgens beeindruckt, die gerade im Alter eine besondere Anmut ausstrahlten. Aber auch in der Politik kann man auf sie stoßen – ich denke etwa an die Grande Dame der FDP Hildegard Hamm-Brücher oder den alten Konrad Adenauer. Eine majestätische Anmut ging auch vom letzten Kaiser Äthiopiens aus, der trotz seiner Körpergröße von nur einem Meter sechzig bei seinen Staatsbesuchen zwischen de Gaulle und Nasser herausragte. Und mit jedem neuen Jahr auf dem Thron wächst die Anmut von Queen Elisabeth, die gerade auf junge Menschen überall auf der Welt eine wohl einzigartige Faszination ausübt.

In der griechischen Mythologie trägt Aphrodite, die Göttin der Schönheit, einen Gürtel, der die Kraft besitzt, dem, der ihn trägt, Anmut zu verleihen. Zu ihrer Huldigung kamen die drei Grazien. Der Gürtel der Anmut verliert auch bei den weniger Schönen nicht seine magische Wirkung. Das heißt aber auch: Man kann zwar ein wenig nachhelfen, sich schön anziehen und sich herausputzen, aber die Anmut stellt sich nicht zwangsläufig oder gar auf Befehl ein. Erst recht nicht, wenn man des Guten zu viel tut. Magie ist im Spiel. Anmutig ist ein Mensch, der sich seiner Schönheit überhaupt nicht bewusst ist. Zur Anmut gehören Beiläufigkeit, Ungekünsteltheit, Nonchalance, Sprezzatura; und wenn sie in Begleitung ihrer Schwester, der Demut, auftritt, ist sie unbesiegbar.

Kein Wunder, dass die Italiener fest davon überzeugt sind, dass die Anmut bei ihnen beheimatet ist, ein jedes Kind kennt dort das Lied von der Mücke im Abendkleid: Era una zanzara in abito da sera/se l’era messo per far bella figura/e se ne volava intorno ad una culla/una culla bella con un fiocco rosa … (Es war einmal eine Mücke im Abendkleid, sie hatte es angezogen, um guten Eindruck zu machen, und sie schwirrte beständig um eine Wiege herum, eine hübsche Wiege mit einer rosa Schleife …). Und doch hat sie sich schon Petrarca im 14. Jahrhundert jenseits der Alpen offenbart, wo er nur «Barbaren» vermutete. Lässt sie sich vielleicht gar als eine deutsche Tugend betrachten? Jedenfalls findet man in der deutschen Geschichte zahlreiche Beispiele für ihr Wirken, ganz gleich, in welcher Epoche man sich um schaut.

Im Jahr 1826 begann der bayerische Hofmaler Josef Stieler im Auftrag König Ludwigs I. mit den ersten Gemälden für dessen berühmte «Schönheitengalerie», die bis heute Schloss Nymphenburg schmückt. Inmitten der sechsunddreißig Münchner Schönheiten – darunter Gräfinnen und Prinzessinnen, aber auch Münchner Bürgerstöchter höheren und einfacheren Standes und die berühmt-berüchtigte Lola Montez, die dem König später zum Verhängnis wurde – ragt besonders eine hervor: die aus dem Chiemgau gebürtige Schusterstochter Helene Sedlmayr. Als Fünfzehnjährige kam sie nach München, wo sie eine Anstellung als Dienstbotin im Spielwarengeschäft des Kaufmanns Auracher fand. Sie lieferte das Spielzeug für die Königskinder an den bayerischen Hof, und dort stach ihre Schönheit König Ludwig I. ins Auge. Der König persönlich besorgte die Altmünchner Tracht, in der Stieler die inzwischen Siebzehnjährige porträtierte. Geschmückt mit einer silbernen Riegelhaube und geschnürt in ein Mieder mit silbernen Ketten, den Blick leicht nach oben am Betrachter vorbei gerichtet – in ihrer vollkommenen Anmut wurde sie zum Inbegriff der schönen Münchnerin.

Wer von deutscher Anmut spricht, kommt an dem größten Dichter der Deutschen nicht vorbei: Als der zweiundzwanzigjährige Goethe im Mai 1772 nach Wetzlar kam, um am dortigen Reichskammergericht – der obersten zivilen Gerichtsbehörde des Heiligen Römischen Reiches – sein Praktikum anzutreten, lernte er die neunzehnjährige Charlotte Buff kennen. Ihr war wahrhaft kein leichtes Leben beschieden. Nach dem frühen Tod der Mutter führte sie den Haushalt und sorgte für ihre Geschwister, zehn an der Zahl, und den Vater, der die Geschäfte des Deutschen Ordens führte. Als Goethe zum ersten Mal das Haus der Buffs betrat, war es sogleich um ihn geschehen – Goethe hat die Szene später in seinem Werther verewigt:

«Da ich in die Tür trat, fiel mir das reizendste Schauspiel in die Augen, das ich je gesehen habe. In dem Vorsaale wimmelten sechs Kinder von eilf zu zwei Jahren um ein Mädchen von schöner Gestalt, mittlerer Größe, die ein simples weißes Kleid, mit blassroten Schleifen an Arm und Brust, anhatte. Sie hielt ein schwarzes Brot und schnitt ihren Kleinen rings herum jedem sein Stück nach Proportion ihres Alters und Appetits ab, gab’s jedem mit solcher Freundlichkeit, und jedes rief so ungekünstelt sein: Danke! indem es mit den kleinen Händchen lange in die Höhe gereicht hatte, ehe es noch abgeschnitten war, und nun mit seinem Abendbrote vergnügt entweder wegsprang oder nach seinem stillern Charakter gelassen davonging …»

Es ist gerade nicht Lottes Schönheit, die Goethe verzauberte, sondern die Anmut, mit der sie ihren häuslichen Verrichtungen nachging und ihren kleinen Geschwistern das Brot schnitt.

An den unvermutetsten Orten kann einem die Anmut begegnen, auch das lässt sich bei Goethe studieren. Der befreundete Graf in Goethes Wahlverwandtschaften entdeckt sie am Beine Charlottens, wie er ihrem Gatten Eduard gesteht: «Ein schöner Fuß ist eine große Gabe der Natur. Diese Anmut ist unverwüstlich. Ich habe sie heute im Gehen beobachtet; noch immer möchte man ihren Schuh küssen und die zwar etwas barbarische, aber doch tief gefühlte Ehrenbezeugung der Sarmaten wiederholen, die sich nichts Besseres kennen, als aus dem Schuh einer geliebten und verehrten Person ihre Gesundheit zu trinken.» Auf Charlotte ist auch die folgende Beobachtung gemünzt: «Sie hatte geweint, und wenn weiche Personen dadurch meist an Anmut verlieren, so gewinnen diejenigen dadurch unendlich, die wir gewöhnlich als stark und gefasst kennen.»

Was für viele deutsche Tugenden gilt, trifft auch auf die Anmut zu: Sie strahlt in viele Richtungen, ins Philosophische ebenso wie ins Politische. Schiller hat ihr einen großen Aufsatz gewidmet und sie mit der Idee der Freiheit verbunden: «Anmut ist die Schönheit der Gestalt unter dem Einfluss der Freiheit.» Und er hat der Anmut die Würde beigesellt. Verbinden sich Anmut und Würde in einer Person, «so ist der Ausdruck der Menschheit in ihr vollendet, und sie steht da, gerechtfertigt in der Geisterwelt und freigesprochen in der Erscheinung». Ein Ideal, das kaum zu erreichen ist, man erkennt es in den antiken Götterfiguren wie dem Apoll von Belvedere.

Unter den gekrönten Häuptern in Deutschland gibt es eine Frau, die als Inbegriff der Anmut gilt: Preußens Luise. Schon bei ihrer Hochzeit mit dem preußischen Kronprinzen, dem späteren König Friedrich Wilhelm III., am 24. Dezember 1793, zog sie mit ihrer Natürlichkeit alle in ihren Bann. Als sie das Bürgermädchen, das sie an der Ehrenpforte Unter den Linden mit einem Gedicht willkommen hieß, umarmte und küsste, rief die Oberhofmeisterin, Gräfin Voß, aus: «Mein Himmel! Das ist ja gegen alle Etikette.» Das Hofzeremoniell war nicht für sie erfunden. Zum wachsenden Entsetzen des Hofs grüßte sie die ankommenden Hochzeitsgäste, statt sich grüßen zu lassen, und fiel beim Feste durch Walzer tanzen auf. Ihrem Gatten gebar sie zehn Kinder, darunter den späteren König Friedrich Wilhelm IV. und den späteren Kaiser Wilhelm I. Ihre Bewährungsstunde schlug, als sie nach der Niederlage Preußens gegen Napoleon 1806 mit ihren Kindern nach Ostpreußen floh, wo sie im Jahr darauf in Tilsit Napoleon gegenübertrat und um einen milden Frieden bat. Drei Jahre sollte die entbehrungsreiche erzwungene Abwesenheit des Königspaares von Berlin dauern.

Ihr früher Tod, sie starb 1810 mit nur vierunddreißig Jahren, machte sie unsterblich. Die Dichter der Romantik haben ihr Denkmäler gesetzt – eine der bekanntesten Huldigungen ist Kleists Gedicht An die Königin von Preußen, das er ihr zu ihrem vierunddreißigsten Geburtstag, wenige Monate vor ihrem Tod, überreichte:

Erwäg ich, wie in jenen Schreckenstagen,
Still deine Brust verschlossen, was sie litt,
Wie du das Unglück, mit der Grazie Tritt,
Auf jungen Schultern herrlich hast getragen,

Wie von des Kriegs zerrissnem Schlachtenwagen
Selbst oft die Schar der Männer zu dir schritt,
Wie, trotz der Wunde, die dein Herz durchschnitt,
Du stets der Hoffnung Fahn’ uns vorgetragen:

O Herrscherin, die Zeit dann möcht ich segnen!
Wir sahn dich Anmut endlos niederregnen,
Wie groß du warst, das ahndeten wir nicht!

Dein Haupt scheint wie von Strahlen mir umschimmert;
Du bist der Stern, der voller Pracht erst flimmert,
Wenn er durch finstre Wetterwolken bricht!

Dass Preußens Luise später im Kaiserreich und im Dritten Reich als politisches Idol missbraucht wurde, kann man ihr schwerlich vorwerfen. Man kann sich an Fontanes Urteil halten, der an der historischen Luise «Reinheit, Glanz und schuldloses Dulden» verehrte und zugleich ihre Verherrlichung zu politischen Zwecken zurückwies: «Mehr als von der Verleumdung ihrer Feinde» habe Luise «von der Phrasenhaftigkeit ihrer Verherrlicher zu leiden gehabt».

Wenn wir uns heute ein Bild von Luise machen, sehen wir Schadows «Prinzessinnengruppe» vor uns, die sie Arm in Arm mit ihrer Schwester, der Prinzessin Friederike, zeigt. Das Standbild war von Friedrich Wilhelm II. in Auftrag gegeben worden, als Luise noch Kronprinzessin war. Doch in ihrem Blick liegt bereits das Königlich-Hoheitsvolle. Um Kopf und Hals hat sie ein Tuch geschlungen, das eigentlich eine Schwellung am Hals verdecken sollte und im Nu zur neuesten Mode avancierte.

Der König starb wenige Wochen nachdem die Marmorausführung 1797 auf der Berliner Akademie-Ausstellung gezeigt worden war. Seinem Nachfolger und Gatten Luises, der Nüchternheit und Sparsamkeit zur preußischen Tugend erhob, missfiel jedoch Schadows Werk. «Mir fatal!», rief er aus – zu freizügig und zu natürlich sah er die Königin dargestellt. Die Prinzessinnengruppe verschwand im Depot, neunzig Jahre waren die beiden Schwestern dem Auge des Publikums entzogen. Heute wird die Marmorgruppe an prominentem Ort gezeigt, in der Alten Nationalgalerie auf der Berliner Museumsinsel; die Gipsausführung kann man in der Friedrichswerderschen Kirche betrachten.

Nicht allein in der Gestalt Luises wurde die Anmut im 19. Jahrhundert zur politischen Inspirationsquelle. Henriette von Schwachenberg aus Westfalen ist es zu verdanken, dass die weibliche Anmut Eingang in jenes Lied fand, das später zur deutschen Nationalhymne wurde – Hoffmann von Fallerslebens Lied der Deutschen. Und zwar in dessen am wenigsten bekannte, zweite Strophe:

«Deutsche Frauen, deutsche Treue/Deutscher Wein und deutscher Sang/Sollen in der Welt behalten/Ihren alten schönen Klang,/Uns zu edler Tat begeistern/Unser ganzes Leben lang –/Deutsche Frauen, deutsche Treue,/Deutscher Wein und deutscher Sang!»

«Dass ich, als ich …‹Deutsche Frauen› schrieb, in erster Linie Ihrer gedachte, ist kaum der Erwähnung wert», schrieb Hoffmann von Fallersleben an Henriette, seiner Liebe zu Jugendzeiten, die keine Erwiderung fand. Und so widmete er der unerfüllten Liebe seines Lebens sein Lied der Deutschen.

Als dann im 20. Jahrhundert, nach dem Dritten Reich und dem Zweiten Weltkrieg, namentlich die erste Strophe des Lieds der Deutschen in Verruf geraten war, schlug noch einmal die Stunde der Anmut als deutscher Tugend. Bert Brecht erinnerte sich ihrer, als er, in deutlicher Abgrenzung zum Lied der Deutschen, seine Kinderhymne verfasste:

«Anmut sparet nicht noch Mühe/Leidenschaft nicht noch Verstand/Dass ein gutes Deutschland blühe/Wie ein andres gutes Land», heißt es darin. Und als vierzig Jahre später die Mauer fiel, Deutschland wiedervereinigt wurde und man sich nach neuen Symbolen für den neuen Staat umsah, sprachen sich zahlreiche ostdeutsche Bürgerrechtler dafür aus, die Kinderhymne zur neuen Nationalhymne zu erklären.

Dazu ist es dann nicht gekommen, und vielleicht ist dies auch besser so. Denn, wie uns Sanders junge Bauern aus dem Westerwald, die schöne Helene Sedlmayr aus München, Lotte in Wetzlar und Preußens Luise vor Augen führen: Anmut lässt sich nun einmal nicht erzwingen, sie verträgt sich mit der Würde, aber schlecht mit der Mühe, ja sie taugt nicht einmal zum Vorsatz. Im besten Falle stellt sie sich ganz natürlich und von allein ein.

Bescheidenheit

Die Brüder Grimm erzählen in ihrem Märchen Dornröschen von einem König und einer Königin, in deren Reich es offenkundig recht bescheiden zuging. Jedenfalls gab es in diesem königlichen Haushalt nur zwölf goldene Teller, so dass von den dreizehn weisen Frauen im Lande nur zwölf zur Feier der Geburt der Königstochter eingeladen werden konnten – mit den bekannten fatalen Folgen. Nachdem elf der Frauen ihre guten Wünsche ausgesprochen haben, erscheint die Dreizehnte ohne Einladung doch noch und rächt sich mit einem Fluch: Die Prinzessin solle sich «in ihrem fünfzehnten Jahre an einer Spindel stechen und tot hinfallen». Wenn da nicht noch die Zwölfte gewesen wäre, die noch einen Wunsch freihatte und so den Tod in einen hundertjährigen tiefen Schlaf abmildern konnte, hätte es der schöne Prinz schwer gehabt, Dornröschen und mit ihr den ganzen Hofstaat aus ihrem Dauerschlaf wachzuküssen.

Wo mag dieses Königreich gelegen haben, in dem der königliche Haushalt so schlecht bestückt war, dass es nicht für dreizehn goldene Teller reichte? Das Frankreich Ludwigs XIV. war es gewiss nicht, aber auch in deutschen Landen kann man es sich schwerlich vorstellen, wo doch hier die Könige und Duodezfürsten samt und sonders be strebt waren, es dem Sonnenkönig gleichzutun und sich, für alle sichtbar, mit Luxus und Reichtum zu umgeben. Eine Residenzstadt und ein Lustschlösschen, ein Opernhaus, eine Fasanerie und eine stattliche Armee – das musste nun schon sein, egal wie klein der Flicken auf dem bunten Teppich des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation auch gewesen sein mag.

Aber hätte es nicht das Königreich Preußen sein können – das des sogenannten Soldatenkönigs Friedrich Wilhelm I. beispielsweise, der, als er den Thron bestieg, sich selbst und allen seinen Untertanen Fleiß und Bescheidenheit verordnete? Nur einen winzigen Anteil des Budgets machten bei ihm die Ausgaben des Hofes aus, den Löwenanteil dagegen jene für das Militär. «Mein Vater fand Freude an prächtigen Gebäuden, großen Mengen Juwelen, Silber, Gold und äußerlicher Magnifizienz», erklärte Friedrich Wilhelm bei seinem Amtsantritt der Hofgesellschaft, «erlauben Sie, dass ich auch mein Vergnügen habe, das hauptsächlich in einer Menge guter Truppen besteht.»

Und er ließ seinen Reden Taten folgen: Er schloss die Oper und schickte die Hofkapelle nach Hause, wandelte den Lustgarten in einen Exerzierplatz um und verpachtete den Großteil der Schlösser im Lande. Er löste den königlichen Weinkeller auf, setzte den Hofgoldschmied und den Chocolatier vor die Tür, ließ Karossen, Sänften, Möbel und Tafelsilber versteigern und verbot die Allongeperücken. Die Prinzessin Wilhelmine – die älteste Tochter des Königs und spätere Markgräfin von Bayreuth – beklagte in ihren Memoiren, dass sie am preußischen Hofe sechs Jahre überhaupt nicht getanzt habe, da keine Bälle mehr stattfanden.

Von der allgemein verordneten Bescheidenheit und Opferbereitschaft nahm sich der Monarch selbst keineswegs aus. Nur fünf der vielen hundert Zimmer des Berliner Schlosses soll er selbst bewohnt haben, und für seine Bedienung genügten ihm gerade einmal zwei Pagen. Er hielt sich – höchst ungewöhnlich für einen Herrscher seiner Zeit – auch keine Mätressen und verurteilte «Saufen und Fressen davon ein unzüchtiges Leben herkommet». Seine Tafel war, zum Leidwesen der ganzen königlichen Familie und der Hofmeisterinnen, betont karg gedeckt, und nicht selten ging man hungrig zu Bett. Es wurde nicht einmal täglich frisch gekocht, stattdessen kam Aufgewärmtes auf den Tisch. In jener Zeit, so kulinarische Experten, sei der schlechte Ruf der preußischen und namentlich der berlinischen Küche entstanden.

Während die Tage im Berliner Schloss für die Prinzessin Wilhelmine «Fegefeuerleiden» waren, bedeuteten die regelmäßigen Aufenthalte auf Schloss Königs Wusterhausen «Höllenqualen»: «Der König hatte mit großer Mühe und vielen Kosten einen Sandhügel errichten lassen», schreibt die Prinzessin in ihren Memoiren, «der die Aussicht so stark begrenzte, dass man das Feenschloss erst sah, als man hart davorstand. Dieser sogenannte Palast bestand nur aus einem sehr kleinen Hauptgebäude, dessen Eindruck durch einen alten Turm mit einer Wendeltreppe verschönert wurde. Das Hauptgebäude war von einer Terrasse umzogen, und ringsum war ein Graben angelegt, dessen stagnierende schwärzliche Flut an die des Styx erinnerte und einen abscheulichen, ja erstickenden Geruch verbreitete.» Auch die Unterkünfte dort waren höchst bescheiden: «Meine Schwester und ich waren mit unserm ganzen Gefolge auf zwei Zimmer angewiesen oder, besser gesagt, zwei Dachstuben. Wir speisten, gleichviel bei welchem Wetter, unter einer großen Linde in einem gedeckten Zelt, und wenn es stark regnete, hatten wir die Füße im Wasser, denn der Boden war ausgehöhlt. Es war stets für vierundzwanzig Personen gedeckt, von denen drei Viertel hungerten, da für gewöhnlich nicht mehr als sechs karg zugemessene Schüsseln aufgetragen wurden.»

Dass sich im «Feenschloss» Königs Wusterhausen zu Zeiten des Soldatenkönigs keine dreizehn goldenen Teller befunden haben, scheint mir also mehr als glaubhaft. Friedrich Wilhelm I. von Preußen bietet ein schönes Beispiel dafür, wie sich die Tugend der Bescheidenheit schnell in ein Laster verwandeln kann, wenn sie den Mitmenschen aufgezwungen wird.

Auf die Tugend der Bescheidenheit berief sich auch der berühmte Sohn und Nachfolger des Soldatenkönigs, Friedrich II., der als Kronprinz unter der Strenge seines Vaters noch mehr gelitten haben dürfte als seine Schwester. Nichts anderes als der erste Diener seines Staates wollte er sein. Als Casanova, der sich wie so viele von der Fama des aufgeklärten Königs angezogen fühlte, im Jahr 1764 nach Berlin und Potsdam kam, traf er dort mit dem preußischen Monarchen zusammen. Im Park von Sanssouci machte der große Friedrich dem großen Lebemann seine Aufwartung und weckte in ihm die Hoffnung auf eine Anstellung bei Hofe. Bei einer Führung durch die Räume des Schlosses war Casanova nicht wenig perplex ob der Kargheit des königlichen Schlafgemachs. Ein Paradebett suchte man hier wahrlich vergebens: «Wir erblickten in einer Ecke des Zimmers hinter einem Wandschirm ein schmales Bett; Hausrock und Pantoffel waren nicht vorhanden», schreibt er in seiner Geschichte meines Lebens. «Der anwesende Diener zeigte uns eine Nachtmütze, die der König aufsetzte, wenn er erkältet war.» Sechs Wochen später bot Friedrich der Große dem Venezianer tatsächlich an, in seine Dienste zu treten – ausgerechnet als Erzieher in der Kadettenschule für pommersche Junker. Die Behausung der Zöglinge freilich erschien ihm noch kläglicher als die des Königs – die Säle ohne Möbel außer einem elenden Bett, einem Tisch und ein paar Holzstühlen, die Offiziere in spe ungekämmt und in hässlichen Uniformen. Obendrein wurde er Zeuge eines wenig königlichen Auftritts des Monarchen: «Mir verschlug es die Sprache, als ich sah, wie der große Friedrich in einem Anfall von Zorn einen Nachttopf beanstandete, der neben dem Bett eines Kadetten stand und dem Neugierigen den Anblick eines übelriechenden Bodensatzes bot.» Er habe sich dann «auf Zehenspitzen zurückgezogen», schreibt Casanova. Derart bescheidene Zustände bei Hofe waren mit denen, die der venezianische Bonvivant kannte und schätzte, schwerlich vereinbar.

Sich selbst ließ der König mit Dreispitz und einem schlichten blauen Uniformrock mit dem Bruststern des Ordens vom Schwarzen Adler abbilden – pompöse Herrscherporträts, wie sie in den mit Preußen konkurrierenden Reichen üblich waren, sollte es von ihm nicht geben. Er prägte damit das Vorbild für manche Potentaten des 19. und 20. Jahrhunderts, die sich mit einer betont einfachen Erscheinung den Stempel der Volksnähe aufdrückten. Heute wissen wir, dass es mit der Bescheidenheit des großen Friedrich, mag er sie auch noch so ostentativ zur Schau gestellt haben, nicht sehr weit her war. Mit dem Neuen Palais, das er nach dem mirakulösen Sieg im Siebenjährigen Krieg in einer Rekordzeit von nur sechs Jahren errichten ließ, schuf er sich ein Schloss, das mit denen Bayerns und Sachsens in einem Atemzug genannt werden wollte. Er selbst sprach von seiner fanfaronnade, seiner «Angeberei». Die Blöcke für den majestätischen Marmorsaal ließ sich Friedrich aus Carrara liefern, für das opulente Deckengemälde verpflichtete er den französischen Hofmaler van Loo. Der sächsischen Kriegsbeute entstammten Spiegel und Porzellan. Beim königlichen Rendezvous mit dem Ruhm zog die Bescheidenheit offensichtlich den Kürzeren.

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Die Bescheidenheit zählt – zusammen mit Liebe, Freude, Friede, Geduld, Freundlichkeit, Güte, Langmut, Sanftmut, Treue, Enthaltsamkeit und Keuschheit zu den zwölf sogenannten Früchten des Heiligen Geistes. Der deutsche Volksmund hat diesen das Sprichwort entgegengehalten: «Bescheidenheit ist eine Zier/Doch weiter kommt man ohne ihr.» Wer nach oben gelangen will, muss seine Ellenbogen einsetzen – das war und ist die weitverbreitete Meinung des Aufsteigers. In der Gründerzeit des Deutschen Reiches mit ihrer rasant wachsenden Wirtschaftskraft wurde er zum gesellschaftlichen Phänomen: der Parvenü, für den materielles Erfolgsstreben und gesellschaftliche Anerkennung der Kern aller Dinge sind. Theodor Fontane hat in seinen Romanen ein scharfes Bild dieses Menschenschlags in all seiner Hohlheit und «heraufgepufften Unbedeutendheit» gezeichnet. Da ist der Mühlenbesitzer Gundermann im Stechlin, der alles gibt, um den begehrten Adelstitel zu ergattern; und da ist der Kommerzienrat Treibel, der sein Geschäft mit der Herstellung von Preußischblau, der Farbe der Armee, betreibt und damit ein Vermögen gemacht hat, mit seiner Frau Jenny, die sich «aufrichtig einbildet, ein Herz ‹für das Höhere› zu haben», wo ihr Herz doch in Wahrheit nur «für das Ponderable» schlägt, «für alles, was ins Gewicht fällt und Zins trägt». Der Hang zur schönen Kunst ist nur die Staffage eines Standpunktes, «der von Schiller spricht und Gerson (Bleichröder, den berühmten Bankier) meint.» Und ebenso phrasenhaft wie der zur Schau gestellte Hang zur Kunst wirkt die offen herausgekehrte Bescheidenheit. Es bleibt der Witwe des Berliner Schutzmanns Schmolke vorbehalten, diese Einsicht in Worte zu kleiden: «Bescheidenheit ist gut, und eine falsche Bescheidenheit (denn die Bescheidenheit ist eigentlich immer falsch) ist immer noch besser als gar keine.»

Dass der Grobianismus und die damit einhergehende Unbescheidenheit auch durchaus auf Seiten des Adels zu finden war, namentlich unter der Kaste der preußischen Junker: Auch das hat Fontane in seinem Werk anschaulich beschrieben. Die Regentschaft Wilhelms II. erlebte der Dichter nur mehr kurz, er starb zwei Jahre nachdem jener den Thron bestiegen hatte – gewiss hätte er auch dieser Epoche auf seine unverwechselbare Art Ausdruck verleihen können.

«Ein Platz an der Sonne» und «Pardon wird nicht gegeben»: Im deutschen Wilhelminismus hat sich die preußische Bescheidenheit in Luft aufgelöst. Und im Verlauf der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts haben neben ihr alle jene preußischen Tugenden ihren Glanz und ihre Würde verloren, die mit dem Soldatischen in Verbindung gebracht werden konnten. Sie gingen mit Preußen den Weg in den Untergang. Nicht aber die Tugend der Bescheidenheit. Mit der so genannten Stunde null war ihr in Deutschland eine bemerkenswerte Renaissance beschieden. Nachdem Hitlerdeutschland den Großteil Europas in Schutt und Asche gelegt hatte und die Nation zur Zivilgesellschaft zurückgekehrt war, erlegte man sich selbst das Gebot der Bescheidenheit auf – sowohl in der neugeschaffenen Bundesrepublik Deutschland als auch in der wenige Monate später entstandenen Deutschen Demokratischen Republik. Die Bürde der Schuld wog schwer, und wie selbstverständlich erschienen die Konsequenzen: Nie wieder sollte am deutschen Wesen die Welt genesen. Nie wieder Hunnenreden und militärische Großspurigkeit. Man hatte seine Lektion gelernt, und fortan – so gelobten es die neuen Regenten in West und Ost – wollten sie den anderen Nationen gute Nachbarn sein. Ganz freiwillig erfolgte dieses Bekenntnis zur Bescheidenheit allerdings nicht. Beide deutschen Staaten besaßen bekanntermaßen nur eingeschränkte Souveränität und waren abhängig vom Willen ihrer jeweiligen Besatzungsmächte – der eine, der diktatorisch geführte Staat, mehr als der andere, der demokratische. Eine eigenständige Außenpolitik hätten sie beide gar nicht betreiben können, selbst wenn sie es gewollt hätten. Die neue Hauptstadt der Bundesrepublik, das überschaubare Städtchen Bonn am Rhein, wurde schnell zum sichtbaren Beweis der neuen Staatsdoktrin der Bescheidenheit. Niemand konnte sie besser verkörpern als Theodor Heuss, der erste Präsident der Republik. Und in Willy Brandts Kniefall in Warschau fand sie einige Jahrzehnte später ihren wohl bewegendsten Moment. Die Vision der Wiedervereinigung Deutschlands verschmolz in der Vision eines vereinten Europas.

Doch die Geschichte geht bekanntlich ihre eigenen Wege. Nach der unverhofften Wiedervereinigung Deutschlands sollte es eine Weile dauern, bis den Regierenden klarwurde, dass der neue, größer gewordene und nunmehr souveräne Staat nicht nach der Maßgabe der einstigen Bonner Republik geführt werden konnte. In die Nische, in der man sich eingerichtet hatte, wehte plötzlich ein rauer Wind, und die Bescheidenheit als Staatsdoktrin hatte ausgedient. Vom bevölkerungsreichsten Land Mitteleuropas erwartete man innerhalb und außerhalb des Kontinents eine aktive Rolle im Konzert der Völker und Nationen, und von nicht wenigen wurde das sogar gefordert. Mir scheint, dass Deutschland diese neue Rolle auch heute, mehr als zwanzig Jahre nach der Vereinigung, noch nicht ganz gefunden hat – und vielleicht muss sie sogar in dem Prozess der rapid fortschreitenden weltweiten Veränderungen immer wieder aufs Neue bestimmt werden. Gewiss: Mit der Tugend der Bescheidenheit lässt sich kein Staat führen, aber ich würde mir wünschen, dass die Regierenden in Berlin sich auch in Zukunft der Verantwortung, die aus der wechselvollen Geschichte des Landes resultiert, bewusst bleiben – und dass Deutschland für die anderen Nationen in Europa und auf der Welt auch zukünftig ein offenes Ohr hat und ihnen auch weiterhin ein guter Nachbar bleibt – ohne Großspurigkeit, aber auch ohne falsche Bescheidenheit.