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Die Philosophie des ausgehenden
19. und des 20. Jahrhunderts 1

Pragmatismus und
analytische Philosophie

Von Pierfrancesco Basile und Wolfgang Röd

 

Geschichte der Philosophie

Herausgegeben von Wolfgang Röd

Band XI

 

Verlag C.H.Beck München

 


 

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Zum Buch

Der Band bietet eine einführende und zugleich kritische Darstellung zweier der lebendigsten philosophischen Strömungen des letzten Jahrhunderts, vor allem in dessen erster Hälfte: der analytischen Philosophie und des amerikanischen Pragmatismus. In Teil I werden Autoren wie Bolzano, Brentano oder Mach besprochen, bei denen Ansätze der analytischen Denkweise zu erkennen sind. Dieser Teil stammt von Wolfgang Röd. Die beiden anderen Teile wurden von Pierfrancesco Basile verfaßt; sie behandeln den amerikanischen Pragmatismus (Teil II) und die analytische Tradition von Frege bis Quine (Teil III).

Über die Autoren

Pierfrancesco Basile, geb. in Bozen, studierte Philosophie in Bologna und den USA. Er ist Privatdozent am Institut für Philosophie an der Universität Bern.

Wolfgang Röd war bis zu seiner Emeritierung Ordinarius für Philosophie am Philosophischen Institut der Universität Innsbruck und ist Herausgeber und Autor der bei C.H.Beck erscheinenden Reihe Geschichte der Philosophie.

Zur Reihe

In der vierzehnbändigen Geschichte der Philosophie stellen namhafte Philosophiehistoriker die Entwicklung des abendländischen Denkens durch alle Epochen bis zur Gegenwart einführend und allgemeinverständlich dar.

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Erster Teil
Ansätze analytischen Denkens im 19. und frühen 20. Jahrhundert
Von Wolfgang Röd

    I. Bernard Bolzano

1. Leben und Werke

2. Die Philosophie und ihre Teildisziplinen

3. Grundbegriffe der Wissenschaftslehre

4. Die Größenlehre

5. Metaphysische Grundbegriffe und Grundsätze

6. Weitere Themenbereiche

   II. Franz Brentano

1. Leben und wichtigste Werke

2. Erkenntnistheorie und Psychologie

3. Probleme der Intentionalität

4. Die Auffassung der Wahrheit

5. Ontologische Grundgedanken

6. Die rationale Gotteslehre

7. Grundgedanken der Ethik

8. Die Auffassung der Philosophiegeschichte

9. Die Brentano-Schule

  III. Empiriokritizismus und Konventionalismus

1. Ernst Mach

a) Leben und Werke

b) Die Elemente der Erkenntnis

c) Konstruierte Begriffe und Naturgesetze; Denkökonomie

d) Kritik der Metaphysik

e) Reaktionen auf Machs Kritizismus

2. Richard Avenarius

3. Konventionalistischer Positivismus

Zweiter Teil
Der amerikanische Pragmatismus
Von Pierfrancesco Basile

  IV. Der Ursprung des Pragmatismus

1. Einführung: Der Metaphysische Klub

2. Sokrates in Cambridge: Chauncey Wright

3. Ein amerikanischer Prophet: Ralph Waldo Emerson

   V. Charles Sanders Peirce

1. Leben und Werke

2. Auf der Suche nach der Methode

3. Die soziale Theorie der Forschung

4. Die pragmatische Maxime

5. Kritik des cartesianischen Erkenntnisideals

6. Denken und Zeichen

7. Die Kategorienlehre

8. Die evolutionäre Metaphysik

  VI. William James

1. Leben und Werke

2. Psychologie, Phänomenologie, Philosophie des Geistes

3. Der Wille zum Glauben

4. Das moralische Leben und die religiöse Erfahrung

5. Die pragmatistische Auffassung der Wahrheit

6. Der radikale Empirismus

7. Spätere Spekulationen über die Natur der Wirklichkeit

 VII. John Dewey

1. Philosophie in Zeiten des Wandels

2. Leben und Werke

3. Theorie und Praxis

4. Metaphysik und Existenz

5. Kritik der klassischen Metaphysik

6. Empirismus und Metaphysik

7. Geist, Sprache und Natur

8. Logik der Forschung und Ethik

9. Kunst als Erfahrung

VIII. Sozialer Pragmatismus und Prozeß-Philosophie

1. Der soziale Pragmatismus: George Herbert Mead

2. Die soziale Auffassung der Welt: Alfred North Whitehead

3. Schlußbemerkungen: Weitere Entwicklungen und Verflechtungen

Dritter Teil
Die analytische Tradition von Frege bis Quine
Von Pierfranceso Basile

  IX. Gottlob Frege und die Vorgeschichte der analytischen Philosophie

1. Einführung: Cambridge, Wien, Jena

2. Frege: Leben und Werke

3. Der Logizismus

a) Die Erneuerung der Logik: Die „Begriffsschrift“

b) Paradigmen sprachphilosophischer Analyse: Die „Grundlagen der Arithmetik“

c) Das Scheitern des Logizismus: Die „Grundgesetze der Arithmetik“

4. Philosophie der Sprache: Frege über Sinn und Bedeutung

5. Ausblick: Die Bedeutung der idealistischen Logik

   X. Bertrand Russell

1. Leben und Werke

2. Die Verwerfung des Idealismus und die Rettung des Logizismus

3. Die logische Basis der Metaphysik

4. Die Theorie der bestimmten Beschreibungen: Weitere Paradigmen sprachphilosophischer Analyse

5. Logik und Ontologie: Der logische Atomismus

6. Die Analyse der Erkenntnis

7. Ethik und Religion

  XI. George Edward Moore

1. Leben und Werke

2. Der frühe Realismus

3. Die Widerlegung des Idealismus

4. Der ethische Realismus

5. Der ethische Intuitionismus

6. Die Analyse der Sinneserfahrung

7. Skeptizismus, Analyse und Common Sense

 XII. Ludwig Wittgenstein

1. Leben und Werke

2. Der logische Atomismus

3. Grenzen des Sinns und Sinn des Lebens

4. Nachgedanken

5. Bedeutung, Gebrauch, Sprachspiele

6. Verstehen, Regelfolgen, Privatsprache

7. Letzte Gedanken: Über Gewißheit

XIII. Wege der analytischen Philosophie zur Zeit Wittgensteins und danach

1. Carnap und der logische Empirismus

2. Philosophie und Alltagssprache: G. Ryle und J. L. Austin

3. Logik und Metaphysik: P. F. Strawson

XIV. Willard van Orman Quine

1. Logischer Positivismus und amerikanische Philosophie

2. Leben und Werke

3. Kritik des herkömmlichen und des logischen Empirismus

4. Radikale Übersetzung und ontologische Relativität

5. Logik und Ontologie

6. Schlußbemerkungen: Philosophie als Wissenschaft?

Anmerkungen

Personenregister

Sachregister

Vorwort

Der vorliegende Band bietet eine einführende und zugleich kritische Darstellung zweier der lebendigsten philosophischen Strömungen des letzten Jahrhunderts, vor allem in dessen erster Hälfte: der analytischen Philosophie und des amerikanischen Pragmatismus. Obwohl beide Strömungen nach wie vor ihre Vertreter haben, liegen ihre Wurzeln im 19. Jahrhundert. Dies rechtfertigt die Gliederung des Bandes in drei Hauptteile: In Teil I werden Autoren wie Bolzano, Brentano, Mach usw. besprochen, bei denen Ansätze der analytischen Denkweise zu erkennen sind. Dieser Teil stammt von Wolfgang Röd. Die beiden anderen Teile wurden von Pierfrancesco Basile verfaßt; sie behandeln den amerikanischen Pragmatismus (Teil II) und die analytische Tradition von Frege bis Quine (Teil III).

Daß eine Darstellung der Geschichte der analytischen Philosophie mit Frege beginnen muß, ist unumstritten. Schwieriger zu entscheiden ist hingegen, ob sie mit Quine beendet werden soll. Der Entschluß, die Darstellung hier abzubrechen, entspricht der freilich weitverbreiteten Überzeugung, daß die analytische Philosophie nach Quine zwar nicht erloschen ist, aber ihre Innovationskraft weitgehend verloren hat.

Tatsächlich deutet einiges darauf hin, daß die analytische Philosophie in eine epigonale Phase eingetreten ist. Aber angesichts der hegemonischen Stellung, die sie im akademischen Bereich der englischsprachigen wie auch vieler kontinentaleuropäischer Länder einnimmt, dürfte die Frage nach ihrem aktuellen Zustand nicht nur von historischem Interesse sein. Ebenso wichtig ist die Frage, ob es sich nicht lohne, in der heutigen Zeit schwindelerregender ökonomischer und sozialer Veränderungen die prozeß-orientierten und humanistisch geprägten Philosophien von Pragmatisten wie James und Dewey und von Erneuerern der Metaphysik wie Whitehead wiederzuentdecken. Historische Rekonstruktionen dienen zumindest implizit immer dazu, durch Vergleiche die Gegenwart zu beurteilen: Die vorliegende Darstellung soll dem unparteiischen Leser helfen, sich auch darüber eine Meinung zu bilden.

Verschiedenen Personen ist an dieser Stelle zu danken: Henning Moritz hat den ganzen Band gründlich gesichtet, während Prof. Arno Ros Teil II und Kapitel II aus Teil I gelesen hat. Ein spezieller Dank gilt Susanne Kübler, die in vielerlei Weise mit der Herstellung des Manuskripts zu tun hatte, und Prof. Andreas Graeser, der nicht nur eine frühere Fassung des Textes akribisch gelesen, sondern das gesamte Projekt von seinem Beginn an wohlwollend unterstützt hat. Ihm sei dieses Buch gewidmet.

Pierfrancesco Basile/Wolfgang Röd

Erster Teil

Ansätze analytischen Denkens im 19. und frühen 20. Jahrhundert

Von Wolfgang Röd

I. Bernard Bolzano

1. Leben und Werke

In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als im deutschen Sprachraum und teilweise darüber hinaus vor allem Kantianischer Kritizismus und Hegelianischer Idealismus das philosophische Denken beherrschten, gab es auch bedeutende Kritiker dieser Denkweisen. Zu ihnen gehört Bernard Bolzano, der im Gegensatz zu den tonangebenden zeitgenössischen Richtungen der Philosophie an Aristoteles und Leibniz anknüpfte, so daß man in ihm den „böhmischen Leibniz“ sehen zu können meinte. Mit seiner Auffassung der Logik war er den zeitgenössischen Vertretern dieser Wissenschaft weit voraus.

Bolzano wurde 1781 als Sohn eines aus Oberitalien zugewanderten Kaufmanns in Prag geboren.[1] Er studierte an der Karls-Universität Theologie und wurde zum Priester geweiht. Bereits 1805 wurde er auf eine Lehrkanzel für katholische Religionslehre berufen, 1820 aber wegen seiner nonkonformistischen Denkweise, die in mancher Hinsicht vom Geist der Aufklärung beeinflußt war, abgesetzt und mit einem Publikationsverbot belegt.[2] Er zog sich aus der Öffentlichkeit zurück und starb 1848 in Prag.

Seine Werke[3] konnten wegen des Verbots nur zum Teil unter seinem Namen erscheinen, zum anderen Teil wurden sie ohne Namensnennung und ohne sein Wissen publiziert. Sein vierbändiges „Lehrbuch der Religionswissenschaft“ erschien 1834 anonym,[4] seine ebenfalls vier Bände umfassende „Wissenschaftslehre“ mit dem Untertitel „Versuch einer ausführlichen und größtenteils neuen Darstellung der Logik mit steter Rücksicht auf deren bisherige Bearbeiter“ veröffentlichte er jedoch 1837 unter seinem Namen.[5] Eine geplante umfassende Darstellung seiner Mathematik, deren Titel „Größenlehre“ lauten sollte, blieb Fragment.[6] Einige besondere mathematische Probleme erörterte er in den „Paradoxien des Unendlichen“ (posthum 1851),[7] bezog jedoch metaphysische und naturphilosophische Themen in die Untersuchung ein. 1827 erschien „Athanasia oder Gründe für die Unsterblichkeit der Seele“ (21838) – ein Werk, in dem ein zentrales Thema der rationalen Psychologie behandelt wird. Für das Verständnis der Entwicklung seiner Auffassungen sind Bolzanos Adversarien (Eintragungen in einer Kladde) aufschlußreich.[8] Seine religiös geprägte Weltanschauung kommt in den Erbauungsreden (Exhorten)[9] zum Ausdruck, die er an Sonntagen für Studenten und andere an religiösen Fragen Interessierte hielt. Sie lassen erkennen, wie weit er sich von der Kirchenlehre entfernt hatte. Tatsächlich wurden die Erbauungsreden von 1813, wie Bolzanos „Lehrbuch der Religionswissenschaft“, von der Kirche auf den Index der verbotenen Bücher gesetzt. Vom Standpunkt der Kirche aus ist das verständlich, denn die Verschiebung des Schwerpunktes der christlichen Religion vom Glauben an eine transzendente Wirklichkeit zu einer vernünftigen Praxis mußte auf Bedenken stoßen.

Bolzanos Denken war in manchem traditionell, in anderer Hinsicht aber zukunftsweisend, namentlich in der Mathematik und der mathematischen Logik, denen heute das philosophiehistorische Interesse in erster Linie gilt. Sie stehen auch im Mittelpunkt der folgenden Darstellung, wobei allerdings nicht so sehr auf einzelne Auffassungen eingegangen, als vielmehr der allgemeine Begriffsrahmen, innerhalb dessen Bolzano seine logischen und mathematischen Ansichten entwickelt, berücksichtigt werden soll. Weil es dabei um Fragestellungen geht, die in der analytischen Philosophie des 20. Jh.s zentral wurden, ist es gerechtfertigt, sein Denken, abweichend von der chronologischen Ordnung, im vorliegenden, dem analytischen Denken im weiten Sinne gewidmeten Band zu behandeln.

2. Die Philosophie und ihre Teildisziplinen

Bolzano hat in einer kurzen, ihres programmatischen Charakters wegen wichtigen Abhandlung die Frage beantwortet: „Was ist Philosophie?“ (1839).[10] Er will diesem Ausdruck nicht einen neuen Inhalt geben, sondern orientiert sich am allgemeinen Sprachgebrauch, dem seiner Ansicht nach bereits die Antwort entnommen werden kann. Philosophiert wird nach verbreiteter Ansicht, wo Folgen auf Gründe oder Wirkungen auf Ursachen zurückgeführt werden, allerdings nicht auf beliebige, sondern auf letzte Gründe oder letzte Ursachen. Dazu kommt als weitere spezifische Differenz der Philosophie, wie sie Bolzano versteht, ihre moralische Zielsetzung. Philosophische Erkenntnisse sollen den Menschen besser und vollkommener machen. Demnach lautet die Antwort auf die im Titel der genannten Schrift gestellte Frage: „Philosophie ist die Wissenschaft von dem objectiven Zusammenhange aller derjenigen Wahrheiten, in deren letzte Gründe nach Möglichkeit einzudringen wir uns zu einer Aufgabe machen, um dadurch weiser und besser zu werden.“[11]

Wenn Bolzano die Philosophie in die Teilwissenschaften Logik, Metaphysik, Moral, Rechtslehre und Staatswissenschaft gliedert, mutet das traditionell an, zumal von der Wissenschaftslehre, der das Interesse an Bolzanos Denken heute vor allem gilt, nicht ausdrücklich die Rede ist. Sie wird jedoch keineswegs übergangen, denn nach Bolzano fällt sie mit der Logik zusammen. „Die Logik soll meinem Begriffe nach eine Wissenschaftslehre […] sein“ (W § 15).[12] Die „Wissenschaftslehre“ ist für die Philosophie im allgemeinen grundlegend; ihre Aufgabe ist es, die Prinzipien aufzuweisen, auf denen die anderen philosophischen Teildisziplinen – Metaphysik, Erkenntnistheorie, Ethik usw. – beruhen.

Unter Metaphysik versteht Bolzano offenbar die Metaphysica specialis als Lehre von Gott als absolut vollkommenem höchstem Wesen und vom substantiellen immateriellen Ich, also rationale Theologie und Psychologie. Sie enthält nur erfahrungsunabhängige Sätze, während in den anderen Teilen der Philosophie Erfahrungen eine Rolle spielen, zum Beispiel in der philosophischen Religionswissenschaft, die als Wissenschaft von der vollkommensten Religion besonders wichtig ist, hängen doch von ihr Moral und Rechtslehre ab.

In seinem logischen Hauptwerk bestimmt Bolzano den Begriff der Wissenschaftslehre ausführlich (W § 1). Zunächst definiert er „Wissenschaft“: Sie ist der Inbegriff von Wahrheiten, der so beschaffen ist, daß deren entscheidender Teil es verdient, im Druck festgehalten zu werden. Im prägnanten Sinne ist eine Wissenschaft nicht nur eine Summe ungeordneter Sätze, sondern ein geordnetes, logisch zusammenhängendes Ganzes. Wegen der Schwierigkeit, das Ganze einer Wissenschaft zu überblicken, empfiehlt Bolzano eine Einteilung in Teilwissenschaften. Dabei wird nach Regeln verfahren, die kennenzulernen sich lohnt. Der Inbegriff dieser Regeln läßt sich als Gegenstandsbereich einer eigenen Wissenschaft betrachten – eben der Wissenschaftslehre, zu deren Aufgaben es gehört, die genannten Regeln zu rechtfertigen. In der „Eigentlichen Wissenschaftslehre“ kommt Bolzano auf diese Auffassung zurück (W § 393). Er betont, daß nur Wahrheiten in der Wissenschaft zu berücksichtigen seien, nicht Irrtümer, so positiv ihre Wirkungen auch sein mögen. Die Wissenschaftslehre ist seiner Ansicht nach nicht Selbstzweck. Ihr letzter Zweck ist nicht theoretischer, sondern praktischer Natur: Er besteht in der Förderung des allgemeinen Wohls.

Die moralische Intention der „Wissenschaftslehre“ kommt deutlich in Bolzanos ausführlichen Überlegungen über die Erwartungen, die ein Lehrbuch erfüllen soll, zum Ausdruck. In erster Linie soll es möglichst gut den objektiven Zusammenhang der Wahrheiten darstellen. Außerdem muß es die wichtigsten Vorstellungen und Urteile des von ihm dargestellten Gebietes hervorheben und es leicht machen, sie aufzufinden. Von der Möglichkeit, Wahrheiten schriftlich oder im Druck festzuhalten, hängt nach Bolzano die Wissenschaftlichkeit von Lehren ab. Oberste Bedingung ist aber die Nützlichkeit. Eine Wissenschaft verdient nur als solche bezeichnet zu werden, „wenn aus der Vereinigung aller der Wahrheiten, die hier vereinigt werden sollen, irgendein Nutzen […] hervorgeht“ (W § 424). Für den Verfasser eines Lehrbuchs gilt entsprechend, daß er nicht nur die Regeln der Hermeneutik (siehe W § 322; cf. § 701), sondern vor allem die Regeln der Sittlichkeit beachten und nicht eitel, selbstgefällig oder rechthaberisch sein soll. (Auf die Rolle der Ethik in Bolzanos Philosophie wird in Abschnitt 6 zurückgekommen.)

Der Aufgabenbereich der Wissenschaftslehre ist allerdings, wie ein Blick auf den Zusammenhang der Wissenschaftslehre zeigt, größer, als auf Grund dieser Feststellung anzunehmen ist. Bolzano erklärt an anderer Stelle, die Logik habe es mit dem wissenschaftlichen Verfahren zu tun. Auch dies wird aber dem, was die Wissenschaftslehre bei Bolzano ist, nicht ganz gerecht. Sie ist nämlich in seinen Augen, anders als für Kant,[13] nicht nur als Kanon, sondern als Organon philosophischer Erkenntnis aufzufassen. Mit Recht weist er auch Kants Behauptung zurück, die Logik sei seit Aristoteles eine vollendete Wissenschaft. Ebenso ist seine Abgrenzung der Logik gegenüber der Erkenntnispsychologie berechtigt.

Die Wissenschaftslehre besteht aus den Teilen Fundamentallehre, Elementarlehre, Erkenntnislehre, Erfindungskunst und Eigentliche Wissenschaftslehre. In der Fundamentallehre geht es, wie aus dem weiteren Zusammenhang klar wird, um die Überwindung der radikal-skeptizistischen Leugnung von Wahrheit überhaupt. Diesem Skeptizismus, der in dieser kruden Form vielleicht niemals im Ernst vertreten worden ist, setzt Bolzano eine im weiten Sinne platonistische Auffassung entgegen: Wenn wir Sätze aussprechen oder niederschreiben, beziehen wir uns auf Sätze an sich, die nicht der raum-zeitlichen Realität angehören, sondern ideale Entitäten sind. Aufs knappste faßt Bolzano seine Auffassung zusammen, wenn er erklärt: „Dasjenige nun, was man sich unter dem Worte Satz notwendig vorstellen muß, um diese Unterscheidung [zwischen dem sprachlichen Ausdruck eines subjektiven Bewußtseinsinhalts und seiner idealen Entsprechung] gemeinschaftlich mit mir machen zu können, […] ist eben das, was ich einen Satz an sich nenne, […]“ (W § 19).

Was Bolzano „Sätze an sich“ nennt, entspricht Leibnizens ewigen Wahrheiten oder den objektiven Möglichkeiten des „vorkritischen“ Kant. Wenn Bolzano in der Schrift von 1839 auf das „Reich der Wahrheiten an sich“ hinweist, ist die Übereinstimmung mit Leibniz, der von einer Region der ewigen Wahrheiten gesprochen hat, nicht zu übersehen.

Die Logik hat es nach Bolzano mit Entitäten wie den genannten und den zwischen ihnen bestehenden objektiven Beziehungen zu tun. Ihre Sätze gelten unabhängig von subjektiven Anschauungen, somit auch von den reinen Anschauungsformen, auf die sich Kant bezog, um die Allgemeingültigkeit geometrischer und arithmetischer Sätze erklären zu können. Indem Bolzano der psychologistischen Auffassung der Logik eine Absage erteilt, weist sein Denken in jene Richtung, die später Frege (s. Kap. IX) und Husserl (s. Bd. XII, Kap. V) einschlugen. Auch ihnen ging es um eine objektivistische Alternative zu subjektivistischen Auffassungen der Logik.

3. Grundbegriffe der Wissenschaftslehre

Die Logik[14] entwickelt Bolzano innerhalb eines begrifflichen Rahmens, zu dem die Begriffe „Satz an sich“, „Wahrheit an sich“ und „Vorstellung an sich“ gehören. Sie werden in der „Fundamentallehre“ eingeführt und in der „Elementarlehre“ ausführlich erörtert.

Sätze an sich sind ideale Entitäten, die Urteilen eines Subjekts entsprechen, aber unabhängig vom subjektiven Denken sind. Sie sind Wahrheiten an sich, wenn diese Urteile wahr sind. Den in Urteilen enthaltenen Teilbegriffen entsprechen Vorstellungen an sich. Wenn zum Beispiel (so könnte man das Verhältnis dieser Grundbegriffe illustrieren) geurteilt wird, daß Dreiecke im Halbkreis rechtwinklig sind, entspricht diesem Urteil ein Satz an sich, nämlich der dem Thales zugeschriebene Satz (s. in Bd. I, Kap. I), in diesem Falle eine Wahrheit an sich. Der Vorstellung „rechtwinkliges Dreieck“ entspricht eine Vorstellung an sich.

Den ontologischen Status der Sätze an sich hat Bolzano nicht affirmativ bestimmt. Er selbst räumt ein, nicht sicher sagen zu können, „wie der Begriff eines Satzes an sich zu erklären sey“ (W § 23). Nur dessen Unabhängigkeit vom Denken steht ihm fest. So erklärt er: „unter einem Satze an sich verstehe ich nur irgend eine Aussage, daß etwas ist oder nicht ist; gleichviel, ob diese Aussage wahr oder falsch ist; ob sie von irgend jemand in Worte gefaßt oder nicht gefaßt, ja auch im Geiste nur gedacht oder nicht gedacht worden ist“ (W § 19). Das gilt nicht nur für ihr Verhältnis zum menschlichen Denken; sie sind auch unabhängig vom Denken Gottes. Wahre Sätze sind nicht wahr, weil Gott sie erkennt, sondern Gott erkennt sie, weil sie wahr sind.

Bolzano spricht den Sätzen an sich das Dasein (die Existenz oder Wirklichkeit) ab. Er ist sich bewußt, die Ausdrücke „Satz“ und „Dasein“ in ungewöhnlichem Sinne zu verwenden. So spricht er von „Dasein“ nur mit Bezug auf reales Seiendes und betrachtet als wirklich nur Wirkendes – seien es raum-zeitliche Dinge, sei es Gott. Mit Leibniz erklärt Bolzano „Dasein“ – in Sätzen der Form „A hat Dasein“ – für eine Eigenschaft: „Sein oder Wirklichkeit ist […] eine Beschaffenheit“ (W § 142), wie er meint. Auf den ontologischen Gottesbeweis, der auf dieser Auffassung beruht, hat er sich jedoch, anders als Leibniz, nicht gestützt.

Daß es Wahrheiten an sich gibt, meint Bolzano beweisen zu können. Zunächst zeigt er, daß es mindestens einen wahren Satz an sich gebe. Wären alle Sätze falsch, dann wäre auch der Satz, daß alle Sätze falsch seien, falsch. Folglich ist es wahr, daß nicht alle Sätze falsch sind, das heißt, es gibt mindestens einen wahren Satz (W § 31). Sodann beweist er, daß es nicht nur einen wahren Satz geben könne, denn die Annahme, es gebe nur eine einzige Wahrheit – sie möge „A ist b“ heißen –, hebt sich selbst auf. Gilt der Satz, daß es außer „A ist b“ keine Wahrheiten gebe, als wahr, dann ist diese Wahrheit von dem vermeintlich einzigen wahren Satz verschieden, und es ist falsch, daß es nur eine einzige Wahrheit gebe. Da sich die Überlegung ohne Ende wiederholen läßt (Rekursion), gibt es sogar unendlich viele Wahrheiten (W § 32). – Bei dieser Argumentation fällt auf, daß sie dieselbe Form hat wie Beweise durch vollständige Induktion in der Mathematik.[15]

Vorstellungen an sich sind Bestandteile der Sätze an sich. Wenn es diese gibt, dann gibt es auch Vorstellungen an sich und letzten Endes einfache Vorstellungen, denn zusammengesetzte Vorstellungen bestehen, wie alles Zusammengesetzte, letzten Endes aus einfachen Teilen.

Die Vorstellungen sind, wie die Sätze an sich, unabhängig vom Denken eines Subjekts (W § 48). Daher kann ein und dieselbe Vorstellung an sich von verschiedenen Subjekten gedacht werden, ohne daß sie dadurch vervielfacht würde. Von Vorstellungen an sich gilt das Principium identitatis indiscernibilium, auf das sich schon Leibniz gestützt hatte. Vorstellungen sind diesem Grundsatz zufolge gleich, wenn sie ununterscheidbar sind.

Bolzano ist sich darüber im klaren, daß der Ausdruck „Vorstellung“ in diesem Zusammenhang ungewöhnlich ist, sieht aber keinen passenderen. Man muß jedenfalls genau zwischen Vorstellungen als anschaulichen subjektiven Bewußtseinsphänomenen und Vorstellungen an sich unterscheiden. Die Ansicht, daß Vorstellungen richtig seien, wenn sie mit einem Gegenstand übereinstimmen, lehnt Bolzano ab, denn es gibt Vorstellungen, die keinen Gegenstandsbezug haben (z.B. „viereckiges Dreieck“ oder „Image“).

Sätze haben nach Bolzano die Form „A hat b“, oder sie lassen sich auf Sätze dieser Form zurückführen. So kann der Satz „Gott ist“ als „Gott hat Dasein“ und „Der Begriff des Dreiecks ist zusammengesetzt“ als „Der Begriff des Dreiecks hat Zusammengesetztheit“ aufgefaßt werden (W § 127). Zu solch ungewöhnlichen Formulierungen sah sich Bolzano genötigt, weil er an der Auffassung festhielt, daß Sätze stets prädikativ sind, also von einem Gegenstand eine Beschaffenheit aussagen, deren Vorstellungen durch die Kopula als Ausdruck des Begriffs des Habens verbunden sind (W § 126).

Sätze sind, anders als Vorstellungen, immer entweder wahr oder falsch; sie können reine Begriffssätze oder Anschauungssätze, wie Bolzano empirische Sätze nennt, sein, und sie lassen sich in analytische und synthetische einteilen. Bei der Erörterung der Analytizität von Sätzen zeigt sich seine Denkweise besonders deutlich: Ein Satz ist analytisch wahr, wenn sich beim Ersatz einer Variablen durch eine andere gegenständliche Vorstellung der Wahrheitswert des Satzes nicht ändert (W § 148).[16] Wenn man zum Beispiel in dem Satz „Der Mensch Cajus ist sterblich“ „Cajus“ als variable Vorstellung betrachtet, erhält man durch Einsetzung der Namen wirklicher Menschen an dessen Stelle wahre Sätze. Offenbar können an die Stelle der Variablen nur Vorstellungen treten, die sich auf Gegenstände einer bestimmten Art beziehen. Tritt zum Beispiel in dem genannten Satz „Dreieck“ an die Stelle von „Cajus“, dann hat der Satz keinen Gegenstandsbezug und kann nicht wahr sein (W § 147).

Das Verhältnis zwischen der Menge wahrer Sätze, die aus einem Satz durch Einsetzung von Vorstellungen an der Stelle der als variabel betrachteten entstehen, und der Menge aller Sätze wird „Grad der Gültigkeit eines Satzes“ genannt und durch einen Bruch dargestellt (d. i. eine Verhältniszahl zwischen 0 und 1, die die Wahrscheinlichkeit des Wahrseins des Satzes, bezogen auf alle Sätze über den Bereich, zu dem der Satz-Gegenstand seiner semantischen Kategorie nach gehört, ausdrückt) (W § 147).

Bolzanos Auffassung der Analytizität von Sätzen unterscheidet sich deutlich von der Kantischen. Hatte sich Kant so ausgedrückt, daß es möglich erscheint, ihm eine psychologisierende Deutung dieser Begriffe zu unterstellen – analytisch sind, wie er erklärt, Urteile, in deren Prädikat ausgesagt wird, was im Subjektbegriff unausdrücklich schon „gedacht“ war (Prolegomena, § 2) –, so hat Bolzanos Auffassung nichts mit Denkakten eines Subjekts zu tun.

Das gilt auch für den Begriff der Ableitbarkeit eines Satzes aus anderen Sätzen. Die Sätze M, N, O, … sind aus den Sätzen A, B, C, … ableitbar hinsichtlich ihrer veränderlichen Teile, wenn jeder Inbegriff von Vorstellungen, der an die Stelle der Veränderlichen tritt, sowohl A, B, C, … als auch M, N, O wahr macht (W § 155). Dabei handelt es sich, wie bei logischen Relationen im allgemeinen, nicht um Begründungen des erkennenden Subjekts, sondern um objektive Verhältnisse zwischen Sätzen: „Die Ableitbarkeit der Sätze voneinander [ist] eines derjenigen Verhältnisse […], die ihnen objektiv, d.h. ganz abgesehen von unserem Vorstellungs- und Erkenntnisvermögen zukommen“ (W § 155). Das gilt auch für das Verhältnis der Abfolge von Sätzen, die sich zueinander wie der Grund zur Folge verhalten (W § 198; cf. W § 162).

Nach Bolzano gibt es keinen letzten Grund; die Begründungskette ist unendlich. Dies beweist Bolzano ausgehend von der Folge der Ursachen, die kein erstes Element hat und in diesem Sinne unendlich ist. Da ein wirkliches M nur dann „Ursache von N“ heißt, wenn die Wahrheit, daß M ist, einen Grund (oder Teilgrund) der Wahrheit, daß N ist, enthält (W § 216), ist die Folge der Gründe ebenso unendlich wie die der Ursachen. Auch dies ist eine Auffassung, die sich bei verschiedenen Vertretern der rationalistischen Metaphysik im 17. und 18. Jh., für die sie charakteristisch ist, findet.

Bolzanos Konzentration auf objektive logische Strukturen läßt Fragen der als Erkenntnispsychologie verstandenen Erkenntnistheorie in den Hintergrund treten. Diese Disziplin hat es mit den Weisen, in denen an sich seiende Strukturen vom Subjekt erfaßt werden können, zu tun. Die subjektiven Vorstellungen und die Urteile, in denen das geschieht, gehören der Wirklichkeit an und unterliegen deren Gesetzen, zum Beispiel dem Kausalitätsprinzip. Bolzano steht auf dem Standpunkt der Assoziationspsychologie: Vorstellungen hinterlassen im Bewußtsein Spuren, die deren Vergegenwärtigung erleichtern. Erinnerung liegt aber erst vor, wenn eine vergegenwärtigte Vorstellung als eigene identifiziert wird.

4. Die Größenlehre

Nach Bolzano liegen der Mathematik, für die er sich seit seinem Studium in Prag interessierte, Sätze zugrunde, die reine Begriffswahrheiten und als solche unabhängig von der Anschauung – auch der reinen Anschauung im Sinne Kants – sind.[17] Wenn man den Begriff des Unendlichen nicht vollständig dem Einfluß der Anschauung entzieht, entstehen Probleme, wie Bolzano in den „Paradoxien des Unendlichen“ zeigt. In diesem Werk, wie in der Fragment gebliebenen „Größenlehre“, entwickelt er eine Auffassung, die auf die mengentheoretische Grundlegung der Mathematik vorausweist.[18]

Bolzano wendet sich gegen zwei Irrtümer in bezug auf Unendliches: Erstens verwirft er die Auffassung unendlicher Mengen als Erzeugnisse des Denkens. Mengen im allgemeinen sind nicht erst vorhanden, wenn sie gedacht werden. Zweitens kritisiert er die Annahme, daß man, um unendliche Mengen denken zu können, deren Elemente vorstellen müsse. Das ist unmöglich und kann daher nicht sinnvoll gefordert werden.

Hegels Unterscheidung zwischen einer guten und einer schlechten Unendlichkeit – zur letzteren gehört seiner Ansicht nach das mathematische Unendliche – weist Bolzano entschieden zurück. Der in der Mathematik erörterte Begriff der Unendlichkeit ist der einzig vertretbare. Er ist gemeint, wenn das All, zu dem nicht nur die realen Dinge, sondern auch die Sätze an sich und die Wahrheiten gehören, als unendlich bezeichnet wird. Auch der allwissende und allmächtige Gott ist unendlich, denn er weiß unendlich viele Wahrheiten.

Von jeder unendlichen Menge gilt, wie Bolzano erkannte, daß sie Teilmengen enthält, die von gleicher Mächtigkeit sind wie sie. Das mag paradox erscheinen, ist aber wohlbegründet. Der Eindruck des Paradoxen entsteht, wenn man von dem als allgemeingültig betrachteten Grundsatz ausgeht, daß das Ganze stets größer sei als seine Teile. Die Paradoxie verschwindet, wenn man einsieht, daß dieser Grundsatz nur für endliche, anschaulich vorstellbare Ganze gilt. (Im weiteren Verlauf erörtert Bolzano verschiedene andere Paradoxien, auf die hier nicht eingegangen wird.)

Vor Schwierigkeiten wird man auch durch den Begriff des Kontinuums – z.B. des Raumes – gestellt. Das Raum-Kontinuum besteht nach Bolzano aus einfachen Punkten, deren Menge unendlich ist. Ein Kontinuum liegt vor, „wo sich ein Inbegriff von einfachen Gegenständen (von Punkten …) befindet, die so gelegen sind, daß jeder einzelne derselben für jede auch noch so kleine Entfernung wenigstens einen Nachbar in diesem Inbegriffe habe“ (Paradoxien, § 38). Wenn diese Bestimmung für ungenügend erklärt und gefordert wird, daß von einem Kontinuum nur gesprochen werden könne, wenn jeder Punkt einen anderen habe, den er unmittelbar berührt, wird Unmögliches verlangt. Es hat keinen Sinn, in bezug auf das Verhältnis einfacher Punkte von „berühren“ zu sprechen, denn Punkte haben keine Grenzen, die mit den Grenzen anderer Punkte zusammenfallen könnten. Der Einwand entspringt einem der Anschauung verpflichteten Denken, dessen Einfluß fernzuhalten ist.

5. Metaphysische Grundbegriffe und Grundsätze

Bolzano war ein Vertreter der traditionellen Substanz-Metaphysik, der zufolge alles Wirkliche entweder Substanz oder Bestimmung einer – sei es zusammengesetzten oder einfachen – Substanz ist. Zugunsten der Annahme einfacher Substanzen argumentierte er, daß es, wo es Zusammengesetztes gibt, Einfaches geben müsse; daß aber Zusammengesetztes existiert, ist unbestreitbar. Die absolut einfachen Substanzen sind Atome im metaphysischen Sinn; sie sind unentstanden und unvergänglich. Da materielle Dinge aus solchen Atomen bestehen, sind Materie und geistige Wirklichkeit nicht vollkommen verschieden, wie Bolzano gegen den psycho-physischen Dualismus betont. Er übernimmt damit eine Auffassung der Leibnizschen Monadenlehre, lehnt aber die These, daß zwischen endlichen Monaden keine Wechselwirkung stattfindet, ab. Gegen die Theorie der prästabilierten Harmonie wendet er ein, daß es nicht nur mittelbare (von Gott vermittelte) Wirkungen geben könne. Wo es mittelbare Wirkungen gibt, muß es auch unmittelbare geben. Bolzano meint sogar, daß alle einfachen Substanzen interagieren. Von diesem Standpunkt aus ist die Annahme, daß die Vorstellung eines jeden Gegenstandes aus nichts anderem als aus den Vorstellungen seiner Beschaffenheiten zusammengesetzt sei (zum Beispiel als „Bündel von Perzeptionen“, wie Hume meinte), zurückzuweisen (W § 64). Um den Begriff eines Gegenstands mit den Beschaffenheiten b, b’, b’’ … bilden zu können, muß man die Vorstellung von etwas bilden, das diese Beschaffenheiten hat, und die Vorstellung eines solchen Habens geht über den Inbegriff der Beschaffenheiten hinaus.

Wie Leibniz nimmt auch Bolzano (Paradoxien des Unendlichen, § 50) an, daß es nicht zwei vollkommen gleiche Dinge und daher auch nicht zwei einander durchaus gleiche Atome gibt. Mit jenem bestimmt er die einfachen Substanzen als Kräfte, zu denen das Wirken wesentlich gehört: „Was immer wirklich ist, das muß ja auch wirken, und somit Kräfte zum Wirken haben“ (Paradoxien, § 51). So wie es keine Substanz ohne Kräfte gibt, so gibt es auch keine Kräfte unabhängig von Substanzen. Die Atome sind daher nicht nur veränderlich, sondern sie ändern sich ständig. Weil das Wirken zum Wesen der Atome gehört, gibt es keine absolut träge Materie. Auch die Annahme eines leeren Raums weist Bolzano zurück: Der Raum ist immer von Substanzen erfüllt, allerdings an verschiedenen Stellen mit unterschiedlicher Dichte.

Die Substanz-Metaphysik liegt auch Bolzanos Unsterblichkeitslehre zugrunde: Wenn Atome unzerstörbar sind und wenn die Seele ein Atom ist, dann hört sie nicht mit dem physischen Tod zu existieren auf. Sie wird nicht bei der Zeugung geschaffen, sondern entwickelt sich aus psychischen Keimen, die in allen Eizellen angelegt sind. Die entwickelte Seele hat eine beherrschende Stellung unter den die menschliche Person konstituierenden Substanzen inne.

Bolzano hat mit Leibniz und gegen Kant Gottesbeweise für möglich gehalten. Er stützt sich auf den Kontingenzbeweis, das heißt, er geht von der Tatsache aus, daß es endliche Wesen gebe, die den Grund ihrer Existenz nicht in sich haben, und schließt, daß sie von einem Grund außerhalb ihrer selbst abhängen, letzten Endes von Gott als letztem Grund. Gott ist nicht mehr auf einen von ihm verschiedenen Grund angewiesen, weil sein Seinsgrund in ihm selbst liegt.

Der metaphysischen These, daß alles, was irgendwie ist, Substanz oder Bestimmung einer Substanz sei, entspricht die Auffassung, daß im Urteil die Vorstellung einer Beschaffenheit mit der Vorstellung eines Gegenstands verbunden wird. Es fragt sich, ob hierbei die Ontologie die Logik oder die Logik ontologische Verhältnisse widerspiegelt. Bolzano hat für die zweite Ansicht optiert.

6. Weitere Themenbereiche

Auf andere Bereiche, die Bolzano in sein philosophisches Projekt einbezog, kann hier nur kurz hingewiesen werden. An erster Stelle ist die Ethik zu nennen, der zwar Bolzano kein eigenes Werk widmete, die jedoch in verschiedenen seiner Schriften zur Geltung kommt. Sie ist eine Form des Eudämonismus: Entscheidungen sind danach positiv zu bewerten, wenn sie das Wohl und die Glückseligkeit nicht nur des Einzelnen, sondern auch des gesellschaftlichen Ganzen, optimal fördern.

Kants Kategorischen Imperativ hält Bolzano für ethisch unzulänglich. Mit dieser Feststellung hat er insofern recht, als der Kategorische Imperativ es nur erlaubt, gewisse Maximen als unmoralisch auszuschließen (s. Bd. IX, 1, Kap. I, 4). An seine Stelle tritt bei Bolzano das Prinzip: „Handle immer so, wie es das allgemeine Beste und das Wohl des Ganzen erfordert.“ Von diesem Grundsatz hängen alle anderen moralischen Sätze ab.

Ein Moralphilosoph darf sich nach Bolzano nicht darauf beschränken, moralische Grundsätze zu formulieren und moralische Probleme zu analysieren, um die systematischen Zusammenhänge im Bereich der Ethik zu klären; er muß sich auch einwandfrei moralisch verhalten. Er muß „durchaus so verfahren …, wie es die Gesetze der Sittlichkeit fordern, und folglich so, daß die größtmögliche Summe des Guten (die möglichgrößte [!] Beförderung des allgemeinen Wohles) daraus hervorgehe“ (W § 395).

Besonders lag Bolzano die Religionswissenschaft[19] – als „Wissenschaft von der vollkommensten Religion“ (R I, § 2) – am Herzen. Die „Religion eines Menschen“ ist der „Inbegriff aller derjenigen Meinungen dieses Menschen, die einen entweder wohlthätigen oder nachteiligen Einfluß auf seine Tugend oder seine Glückseligkeit äußern“ (R I, § 20). Die Religion, die diese Bedingung am besten erfüllt und die daher die vollkommenste ist, ist in Bolzanos Augen das Christentum und insbesondere der Katholizismus.

Seine Option für die christliche Religion ist letzten Endes praktisch motiviert. Bei Offenbarungslehren kommt es seiner Ansicht nach nicht primär auf Einsichten in transzendente Zusammenhänge an – der Glaube, daß die Offenbarung eine Wirklichkeit enthülle, wie sie an sich ist, läßt sich nicht aufrechterhalten –, sondern auf deren praktische Folgen. Die philosophische Reflexion soll zur Auffindung jener religiösen Vorstellungen führen, die die erbaulichsten und für das allgemeine Wohl zuträglichsten sind. Die sich hier abzeichnende pragmatistische Ethisierung der Religion ist charakteristisch für das Denken der deistischen Aufklärung, von der Bolzanos Philosophie beeinflußt war.

Bolzano unterschied zwischen natürlicher und Offenbarungsreligion. Die erstere hat es mit Begriff und Wesen Gottes sowie mit der Unsterblichkeit der menschlichen Seele zu tun. Die auf sie bezogenen Sätze sind unabhängig von Anschauungen einsichtig und nicht auf göttliche Offenbarungen angewiesen. Die natürliche Religion ist in Bolzanos Augen aber unzulänglich, da sie zum Beispiel zwar die Existenz eines Göttlichen, nicht jedoch die eines dreifaltigen Gottes beweisen kann. Sie ist daher auf die Ergänzung durch die offenbarte Religion angewiesen (R I, §§ 96–98).

An der Idee des allgemeinen Wohls orientiert sich Bolzano auch in den Reformentwürfen „Von dem besten Staate“ (zunächst als Manuskript verbreitet) und „Über die Perfectibilität des Katholicismus. Streitschriften zweier katholischer Theologen“ (1845). Weder sein christlich-soziales Ideal eines die allgemeine Wohlfahrt fördernden, das Privateigentum einschränkenden und die Sozialisierung wichtiger sozialer Bereiche (Grund und Boden, Gesundheits- und Bildungswesen) vornehmenden Staates, noch seine aufklärerische Auffassung der Religion und die Forderung, Staat und Religion zu trennen, hatten in der damaligen Zeit die geringste Aussicht auf Verwirklichung. Dagegen beeinflußten seine bildungstheoretischen und pädagogischen Ideen die Entwicklung des Schulwesens in Böhmen.[20]

Ein wichtiger Aspekt von Bolzanos Philosophie ist die Auseinandersetzung mit dem Kritizismus, dem Bolzano nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch entgegentrat, um dessen Ausbreitung zu verhindern. Er mußte in Kants Philosophie eine Gefahr sehen, denn die Art von Metaphysik, die Bolzano vertrat, hat Kant für unmöglich erklärt. Seine Kritik des Kantischen Transzendentalismus ist zwar in manchen Punkten berechtigt, wird aber der transzendentalphilosophischen Denkweise im allgemeinen nicht gerecht. Wie groß der Abstand der Positionen ist, wird z.B. deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, daß nach Kant Gegenstandserfahrung nur im Rahmen von Deutungen, die das Subjekt entwirft, möglich ist. Was Dinge unabhängig von Deutungen – die Dinge an sich – sein mögen, bleibt uns verschlossen. Bolzano nahm dagegen ein erkennbares An-sich an und war somit tatsächlich der Anti-Kant, als den ihn Franz Příhonský bezeichnete.[21] Wenn er aber meinte, seine Position definitiv bewiesen und damit den Kritizismus widerlegt zu haben, erhob er einen Anspruch, der sich nicht aufrechterhalten läßt.

Über manche der von Bolzano vertretenen Ansichten in Metaphysik, Erkenntnistheorie, Ethik, Religionswissenschaft (von weniger wichtigen Aspekten seiner Philosophie[22] zu schweigen) wird heute meist rasch hinweggegangen, da sie zum großen Teil traditionell und rückwärtsgewandt sind; was heute auf Interesse stößt, sind die Vorwegnahmen jüngerer Auffassungen im logisch-wissenschaftstheoretisch-mathematischen Bereich, die Teile von Bolzanos Denken als erstaunlich modern erscheinen lassen. Zunächst wurde Bolzanos philosophischer Einfluß jedoch durch das Erstarken des Herbartianismus in Österreich und damit auch in Böhmen zurückgedrängt. Zugunsten von Herbarts Philosophie dürfte gesprochen haben, daß sie als kritisch gelten konnte, zugleich aber metaphysische Elemente des vorkantischen Rationalismus bewahrte (vgl. Bd. IX, 1, Kap. III, 1). Die Situation änderte sich erst einige Jahrzehnte später. Gegen Ende des 19. Jh.s hob Brentanos Anhänger Twardowski die Bedeutung von Bolzanos Logik hervor.[23] 1900 wies E. Husserl in den „Logischen Untersuchungen“ (zu diesem s. Bd. XII, Kap. V, 3) anerkennend auf Bolzano als Logiker hin, und im Verlauf des 20. Jh.s nahm das Interesse an Bolzanos Logik weiter zu.[24] Indem er die Logik als Instrument der philosophischen Analyse betrachtete, antizipierte er Auffassungen, die von späteren, in Teil III des vorliegenden Bandes behandelten Theoretikern vertreten wurden,[25] allerdings ohne daß er sie direkt beeinflußt hätte. In dieser Hinsicht verhält es sich mit seiner Logik ähnlich wie mit der Leibnizschen.

II. Franz Brentano

1. Leben und wichtigste Werke

Franz Brentano (geb. 1838 in Marienberg bei Boppard am Rhein) läßt sich keiner der großen Richtungen der damaligen Philosophie zuordnen. Seine philosophische Denkweise ist durch logische Schärfe und Respekt vor der Empirie bei gleichzeitiger Hinwendung zur Metaphysik gekennzeichnet. Daher steht seine Philosophie im Gegensatz sowohl zum kritischen und spekulativen Idealismus als auch zum zeitgenössischen Positivismus. Unter dem Einfluß seines Lehrers Trendelenburg (s. Bd. X, Kap. I, 4 c) setzte er sich mit der Aristotelischen Philosophie auseinander und widmete ihr seine ersten Veröffentlichungen, nämlich „Von der mannigfachen Bedeutung des Seienden bei Aristoteles“ (1862, Dissertation) und „Die Psychologie des Aristoteles, insbesondere seine Lehre vom Nous poietikos“ (1867).[1] Mit der letzteren Arbeit habilitierte er sich in Würzburg und wurde dort 1872 Professor. 1874 erschien die „Psychologie vom empirischen Standpunkt“, die ungeachtet des Titels auch ein philosophisches Werk ist, wie denn Brentano Philosophie und Psychologie als zusammengehörig betrachtete. 1889 veröffentlichte er die Abhandlung „Vom Ursprung sittlicher Erkenntnis“. Seine späteren philosophischen Auffassungen sind in einer Reihe von Schriften enthalten, die nicht mehr von ihm selbst, sondern von Anhängern seiner Philosophie herausgegeben wurden.[2]

Kurz vor dem Erscheinen der „Psychologie“ war Brentano an die Universität Wien berufen worden, wo er als Lehrer großen Einfluß ausübte. Viele seiner Schüler schlugen die akademische Laufbahn ein und trugen zur Verbreitung seiner Philosophie, vor allem in der österreichisch-ungarischen Monarchie, bei. Er wirkte schulbildend (siehe unten) und bahnte den Weg zur Phänomenologie (s. Band XII).

Brentano war katholischer Priester, trat aber aus der Kirche aus, weil er gewissen Dogmen, vor allem dem Unfehlbarkeitsdogma, nicht zustimmen konnte.[3] Dennoch galt er in Österreich noch als Priester, weshalb er sich nicht verheiraten konnte. Um eine Ehe eingehen zu können, gab er die österreichische Staatsangehörigkeit auf und verlor damit die Professur (1880). Er lehrte mehrere Jahre als Privatdozent und verließ schließlich verbittert das Land. Seit 1895 lebte er in Italien, nach 1915 in der Schweiz; er starb 1917 in Zürich.

2. Erkenntnistheorie und Psychologie

Brentano entwarf eine Philosophie, in deren Mittelpunkt Erkenntnistheorie, Ontologie und Ethik stehen und die insofern „wissenschaftlich“ ist, als sie auf einer „natürlichen“ Methode beruht, das heißt nur Sätze zuläßt, die evident oder aus evidenten Sätzen abgeleitet, mindestens aber hinreichend wahrscheinlich sind. Seine Erkenntnistheorie ist empirisch, sofern sie auf Erfahrungsaussagen über psychische Phänomene beruht; sie ist nicht empiristisch, denn sie führt nicht zum Ausschluß metaphysischer Auffassungen.

Die Grundbegriffe der Philosophie sind nach Brentanos Überzeugung nur mit den Mitteln der Psychologie zu klären, allerdings einer Psychologie, die psychische Phänomene beschreibt und klassifiziert, ohne sie (zum Beispiel durch Zurückführung auf physiologische Zusammenhänge[4]) erklären zu wollen. Die deskriptive Psychologie knüpft an die innere Wahrnehmung an, die nach Brentano nicht in Zweifel gezogen werden kann; sie hat grundlegende Begriffe der Erkenntnistheorie, wie „Vorstellung“, „Urteil“, „Evidenz“ usw., zu analysieren. Mit der psychologischen Fundierung der Philosophie soll ihr Anspruch auf Wissenschaftlichkeit gerechtfertigt werden.[5]

Die psychischen Phänomene lassen sich nach Brentano in drei Klassen einteilen: in Vorstellungen, Urteile und emotionale/voluntative Akte (Lieben oder Hassen, Gefallen oder Mißfallen).[6] Grundlegend sind die Vorstellungen, da man nur beurteilen oder erstreben kann, was vorgestellt wird, während man etwas vorzustellen vermag, ohne zu urteilen oder emotional zu reagieren.

Diese Klassifikation der psychischen Phänomene deckt sich mit Descartes’ Einteilung der cogitationes in ideae, judicia und voluntates sive affectus (Med. III; AT VII, 37. Vgl. Bd. VII, Kap. III, 9), worauf Brentano auch hinweist.[7] Sie verdrängt die unzulängliche Einteilung der Bewußtseinsphänomene in Denken, Fühlen und Wollen, die daran krankt, daß mit der Zuordnung von Vorstellen und Urteilen zu einer Klasse Verschiedenartiges zusammengefaßt wird. Nur im Urteil wird etwas bejaht oder verneint, ja das Urteil besteht im Akt des Anerkennens oder Verwerfens. Die Auffassung des Urteils als Vorstellungsverbindung lehnt Brentano daher ab: Einerseits lassen sich Vorstellungen ohne Bejahung oder Verneinung verbinden, andererseits gibt es Urteile auf Grund einer einzigen Vorstellung (z.B. „Gott existiert“). Von besonderer Bedeutung sowohl für Brentanos Philosophie als auch für verschiedene von ihr abhängende philosophische Richtungen ist der Begriff der Intentionalität psychischer Akte, um deren Präzisierung sich Brentano anhaltend bemüht hat.

3. Probleme der Intentionalität

Die Intentionalität, durch die sich psychische von physischen Phänomenen unterscheiden, wird in der „Psychologie“ von 1874 folgendermaßen beschrieben: „Jedes psychische Phänomen ist durch das charakterisiert, was die Scholastiker des Mittelalters die intentionale (wohl auch mentale) Inexistenz eines Gegenstandes genannt haben, und was wir […] die Beziehung auf einen Inhalt, die Richtung auf ein Objekt (worunter hier nicht eine Realität zu verstehen ist), oder die immanente Gegenständlichkeit nennen würden. Jedes enthält etwas als Objekt in sich, obwohl nicht jedes in gleicher Weise. In der Vorstellung ist etwas vorgestellt, in der Liebe geliebt, in dem Hasse gehaßt, in dem Begehren begehrt usw.“[8]

Ansätze der Intentionalitätslehre finden sich, wie Brentano bemerkt, bei Aristoteles, später bei Philo und den Neuplatonikern (zu diesen s. Bd. IV, Kap. I und II). Auch im Mittelalter spielte der Begriff der Intentionalität eine Rolle.[9] Von Brentano übernahmen Husserl und manche anderen Anhänger seiner Philosophie die von ihm anfangs vertretene Auffassung der Intentionalität als Beziehung psychischer Phänomene auf einen bewußtseinsimmanenten Gegenstand, obwohl Brentano selbst sie später nicht mehr so verstanden hat. Die Auffassung der Intentionalität als Beziehung auf einen intentionalen Gegenstand wurde zu einem der wichtigsten Streitpunkte der Philosophie des 20. Jh.s. Vertreter der Phänomenologie griffen sie auf, während ihr vor allem analytisch eingestellte Autoren kritisch gegenüberstanden. Sie wiesen die Annahme idealer Entitäten als bewußtseinsimmanenter Objekte, denen mentale Inexistenz (Enthaltensein im Bewußtsein) zukommt, zurück.