Ludwig XVI und Robespierre
Eine Doppelbiographie
C.H.BECK
Als Ludwig XVI. den Thron bestieg, war die Staatsverschuldung Frankreichs bereits katastrophal. In dieser Situation hoffte das Volk auf den jungen Monarchen und nannte ihn Le Désiré. Doch der Ersehnte wirkte keine Wunder – und so brach 1789 die Revolution aus. Der schwache König vermochte weder die Monarchie noch sich selbst zu retten, denn jetzt vertrauten die radikalsten Kräfte des Volkes lieber einem jungen, ehrgeizigen Rechtsanwalt namens Maximilien de Robespierre. Der aber verfolgte eine mörderische Politik der Tugend, der Abertausende zum Opfer fielen – darunter der König und bald darauf auch er selbst.
Uwe Schultz, vorzüglicher Kenner der französischen Geschichte, legt mit diesem spannenden Buch die erste Doppelbiographie des Königs und des Revolutionärs vor. Er lässt darin Ursachen und Dynamik der dramatischen Ereignisse der Jahre zwischen 1789 und 1794 wieder lebendig werden. In faszinierenden „Nahaufnahmen” arbeitet er die Charaktere des unentschlossenen Königs und des kalt berechnenden, machthungrigen Robespierre heraus, die mit ihren Ratgebern und Gefolgsleuten am Scheideweg der französischen Geschichte aufeinandertreffen. Die gekonnte und dank vieler Zitate ungemein eindrückliche Schilderung des Glanzes der untergehenden Monarchie und der Realitätsverweigerung einer arroganten Machtelite auf der einen Seite sowie der Nöte und der von Demagogen geschickt gesteuerten Raserei der Massen auf der anderen verheißt gleichermaßen spannende und instruktive Geschichtsschreibung.
Uwe Schultz war Leiter der Hauptabteilung Kulturelles Wort beim Hessischen Rundfunk; er arbeitet heute freiberuflich als Publizist in Paris. Von demselben Autor sind im Verlag C.H.Beck lieferbar: Versailles. Die Sonne Frankreichs (2002); Der Herrscher von Versailles. Ludwig VIX und seine Zeit (2006); Richelieu. Der Kardinal des Königs. Eine Biographie (2009)
Vorzeichen
Der ungeliebte Dauphin
Der einsame Musterschüler
Heirat und frühe Herrschaft
Die Idylle in der Provinz
Die gestundete Monarchie
Der Machtwechsel
Das Gesetz der Revolution – die Gewalt
Das Mandat des Volkes – die neue Macht
Die Erniedrigung der Monarchie
Die Flucht nach Montmédy
Von der Krise zum Krieg
Die blutige Geburt der Republik
Verurteilung und Hinrichtung des Königs
Der Aufstieg der Commune
Die Tugend des Terrors
Ausblick
Zitatnachweise
Bildnachweis
Bibliographie
Personenregister
Im Juni des Jahres 1775 zog eine lange Karossen-Karawane von Versailles nach Reims. Am 10. Mai des Vorjahres, dem Todestag Ludwigs XV, hatte sein Enkel, der Herzog de Berry, als Ludwig XVI den Lilienthron bestiegen – gerade zwanzig Jahre alt. Kaum in die Regierungsgeschäfte eingeweiht und zu ersten Entscheidungen gedrängt, vor allem zu der Wahl seiner Minister, mit der er die Richtung seiner Politik bereits festlegte, galt es nun, mit dem Sacre in Reims dem jungen Monarchen die sakrale Aura des von Gott gewollten und gesegneten Herrschers zu verschaffen. Krönung und Salbung wurden nach dem jahrhundertealten Ritus vollzogen, und danach gewährte der junge König in seiner nun auch sakralen Machtfülle – wie Christus in der Bibel – durch Handauflegen Heilung. Den Skrofelkranken, die sich zu Hunderten herandrängten, wurde die magische Formel zuteil: «Der König berührt Dich, Gott heilt Dich». («Le roi te touche, Dieu te guérit.»)
In kurzen Etappen, denn selbst in kleinen Orten wurde der König mit Glockengeläut und langen Ansprachen der Bürgermeister begrüßt, näherte sich der vielköpfige Zug der Hauptstadt – der letzten Station vor der Rückkehr nach Versailles. In Notre-Dame wurde wie in den größeren Kirchen entlang der ganzen Wegstrecke ein Pontifikalamt zelebriert – der König dürfte bereits ermüdet gewesen sein. Doch wartete auf dem anderen Ufer der Seine, wo die langsam ansteigende Rue Saint-Jacques die Höhe erreicht, auf ihn eine weitere religiöse Zeremonie in der Kirche Sainte-Geneviève – schließlich hatte die Heilige im Jahr 451 die Stadt vor den Hunnen gerettet.
Die schwere königliche Karosse kam nur langsam im tiefen Straßenschlamm voran, denn während des ganzen Tages fiel dichter Regen. Auf halbem Weg, wo sich das massive Gebäude des Kollegs Louis-le-Grand erhob, war protokollarisch eine weitere Zwischenstation eingeplant. Das Kolleg, aus dem Jesuiten-Institut Clermont hervorgegangen und zur dominierenden Universität von Paris aufgestiegen, führte zu sämtlichen Universitätsgraden bis zur Aggregation in Theologie, Jurisprudenz und Medizin. Auch das Kolleg Louis-le-Grand konnte und wollte nicht auf die Ehre verzichten, sich in einer Ergebenheitsadresse dem neuen Herrscher zu empfehlen, hatte doch dessen Vorgänger erst im Jahr 1762 für neue Statuten und ausreichende Finanzmittel gesorgt.
Die außerordentliche Ehre, in Stellvertretung sowohl der Professorenschaft wie aller Studierenden eine hymnische Adresse in lateinischer Sprache an den König zu richten, war einem siebzehnjährigen Adepten der Jurisprudenz zugesprochen worden, der seit Jahren mit herausragenden Leistungen an der Spitze seines Jahrgangs stand. Es war ein schmächtiger junger Mann aus Arras, dessen Vater die Familie verlassen hatte und dem ein Stipendium des dortigen Bischofs den Zugang zu dem berühmten Kolleg eröffnet hatte – Maximilien de Robespierre. Besondere Wertschätzung wurde ihm von dem Rhetorik-Professor Hérivaux zuteil, und dieser Pädagoge, der im Kolleg «der Römer» genannt wurde, dürfte für die sprachliche Makellosigkeit der rhetorischen Eloge gesorgt haben.
Doch was als feierliche Ovation geplant war, geriet zur unwürdigen Pflichtübung. Es goss in Strömen, und Ludwig XVI geruhte deshalb nicht, seine Person dem Unwetter auszusetzen. Die Karosse hielt mitten auf der Straße, der Wagenschlag wurde geöffnet, im Innern saßen der König und Marie Antoinette – vor der Karosse, den Kopf unbedeckt und auf die Knie gesunken, sprach der Eliteschüler seine hymnischen Verse in Richtung des Wageninneren. Sie blieben ohne Antwort und Reaktion. Dann schloss sich die Karossentür, der königliche Zug setzte seinen Weg zur Kirche Sainte-Geneviève fort – der erwählte Lobredner durfte seine Knie aus dem Schlamm erheben und seinen Kopf bedecken.
Weitere sechs Jahre verbrachte der Musterschüler aus Arras im Kolleg Louis-le-Grand und schloss nach elf Jahren seine juristischen Studien glanzvoll ab. Über diese lange Studienzeit und über das einzige Ereignis, das die Monotonie seiner Lehrjahre unterbrach, sollte der spätere Revolutionär niemals ein Wort verlieren.
«Das ganze menschliche Geschlecht ist eine einzige Familie, verstreut über die gesamte Erdoberfläche. Alle Völker sind Brüder und sollen sich wie diese lieben. … Wer seinen persönlichen Ruhm den Verpflichtungen der Humanität vorzieht, ist ein Ungeheuer des Stolzes und nicht länger ein Mensch.»[1] Im Jahr 1763, als der Duc Paul-Jacques de La Vauguyon, der Erzieher des neunjährigen Duc de Berry – des späteren Ludwig XVI – den Bildungsplan für den jungen Prinzen aufstellte, fehlte nicht der romanhafte Fürstenspiegel «Les Aventures de Télémach» («Die Abenteuer des Telemach»), den der von Idealen rigoroser Mitmenschlichkeit bestimmte Bischof Fénelon 1699 Ludwig XIV vorgehalten hatte.
Doch der macht- und ruhmbesessene Sonnenkönig hatte schnell erkannt, dass von dem salbungsvollen Kirchenmann, den seine Gemahlin zur linken Hand, Madame de Maintenon, ihm als Erzieher seines Enkels und präsumtiven Nachfolgers, des Duc de Bourgogne, empfohlen hatte, die ehernen Dogmen der absoluten Monarchie untergraben wurden. Fénelon war in das Bistum Cambrai entfernt worden, aber seine Maximen einer universalen Humanität drangen in die Dynastie der Bourbonen ein und pflanzten sich von Generation zu Generation fort – bis zum Duc de Berry. Dieser wurde früh von seinem Vater in die Ideale Fénelons eingeweiht – sie sollten seine Charakterbildung entscheidend mitbestimmen, aber auch ihre Vollendung in der «Deklaration der Menschenrechte» von 1789 finden – dem Kernstück der Französischen Revolution.
Im selben Jahr 1763 – der Siebenjährige Krieg gegen England war gerade zu Ende gegangen und hatte Frankreich nicht nur militärische Niederlagen und territoriale Verluste von Indien bis Nordamerika gebracht, sondern es hatte auch seine Vormachtstellung in Europa eingebüßt – wurde der englische Philosoph und Historiker David Hume bei Hofe in Versailles empfangen – und zwar in seiner Funktion als Sekretär des englischen Botschafters Marquess of Hertford. Bei der höfischen Vorstellung wurde er davon überrascht, dass der Duc de Berry, der schon in ganz jungen Jahren den Zugang zur englischen Sprache gefunden hatte, sich ihm als «Kenner» seines Werkes präsentierte.
Hume berichtete darüber nach London: «Es war in der letzten Woche, als ich die Ehre hatte, den Kindern des Dauphins vorgestellt zu werden, dass ich eine der kuriosesten Szenen erlebt habe. Der Duc de Berry, der Älteste, ein Junge von zehn Jahren, trat vor und sagte mir, wie viele Bewunderer ich in diesem Land hätte und dass er sich zu ihnen zähle wegen des Vergnügens, das ihm die Lektüre von zahlreichen Abschnitten meiner Schriften bereitet habe. Als er geendet hatte, begann der Comte de Provence seine Rede und informierte mich, dass ich seit langem und ungeduldig in Frankreich erwartet worden sei …»[2]
Auch der dritte Sohn des Dauphins, der Comte d’Artois, hatte noch seinen kurzen Auftritt, womit der englische Gelehrte die frühe Bekanntschaft der späteren drei letzten Könige Frankreichs aus der Dynastie der Bourbonen – Ludwig XVI, Ludwig XVIII und Karl X – gemacht hatte. Doch bei aller zeremoniellen Leere der Vorstellung war doch erkennbar geworden, dass sich der Duc de Berry tatsächlich bereits der Lektüre der Werke Humes zugewandt hatte und bei seinem ausgeprägten Sinn für Historie auf Humes Werk «The history of Great Britain» (1754–62) gestoßen war. Dieses Buch begleitete ihn lebenslang, und das Kapitel über die Hinrichtung des englischen Königs Charles I im Jahr 1649 forderte ihn immer aufs Neue zum Vergleich mit seinem eigenen Schicksal heraus – noch im Januar 1793, in den letzten Tagen vor seiner eigenen Hinrichtung, versenkte er sich in diese Lektüre, hatte doch auch er selbst nicht den politischen Weg gefunden, der im Kampf zwischen Krone und Volk um die Vormacht im Staat am Verlust der Macht und am eigenen Untergang hätte vorbeiführen können.
Wie wenig er sich selbst für die Rolle des Königs, gar eines machtvoll regierenden Herrschers, geeignet fühlte, war ihm umso unausweichlicher bewusst, als sie ihm unerwartet und ungewollt zugefallen war. Bei seiner Geburt am 23. August 1754, als sein drei Jahre älterer Bruder Louis Joseph, Duc de Bourgogne, sich bereits als Thronfolger präsentierte und von seinen Eltern so liebevoll wie ehrgeizig in diesem Rang bestärkt wurde, fiel dem Jüngeren allenfalls eine Nebenrolle zu. Maria Josepha, die Prinzessin aus Sachsen, Tochter des sächsischen Kurfürsten August III, der von seinem Vater August dem Starken auch die polnische Königskrone geerbt hatte, und Louis Ferdinand, der einzige Sohn Ludwigs XV, dessen Mutter die Tochter des gescheiterten Königs Stanislaus Leszczynski von Polen war, dem sein königlicher Schwiegersohn einen Ersatzthron in Lothringen errichtet hatte, waren vernarrt in ihr erstes männliches Kind, sollte dieses doch nach seinem Vater, dem Dauphin, dessen vornehmste Pflicht übernehmen – den Fortbestand der Dynastie Bourbon zu garantieren.
Natürlich gab es auch bei der Geburt des zweiten Sohnes der Dauphine die obligatorischen Festlichkeiten am Hofe, ein Te Deum in der Schlosskapelle von Versailles, ein Feuerwerk über der Place d’Armes vor dem Schloss und schließlich die Aufführung des neuen Balletts von Jean-Philippe Rameau «La Naissance d’Osiris». Aber diesen Festen fehlte der Glanz – keine Serenade, kein Tanz, keine bischöfliche Eloge, kein Horoskop. Denn diese Hoffeste fielen mit den überschäumenden Freudenfesten des Volkes zusammen, das einen Sieg über den König feierte – Ludwig XV war in seinem ständigen Kampf gegen das Parlament von Paris ein weiteres Mal gescheitert. Da das Parlament seinen Gesetzesdekreten, die sowohl die notwendigen Reformen des Landes vorantreiben wie das Staatsdefizit durch höhere Steuern reduzieren sollten, die Registrierung verweigerte, die ihnen erst Gesetzeskraft verliehen hätte, hatte er es aufgelöst und durch neue, neutrale Gerichtshöfe zu ersetzen versucht, aber diese Politik der Härte hatte er nicht durchhalten können. Seinem Nachfolger, dessen Geburt mit dieser Niederlage gegenüber dem Parlament zusammenfiel, sollte er diese Konfrontation ungelöst vererben.
Vorläufig aber folgte das Hofleben in Versailles noch dem traditionellen Ritus, nach dem die Prinzen von Geblüt sehr früh einer Gouvernante übergeben wurden, nicht nur die beiden ersten, sondern auch die folgenden. Die Aufgabe, die «Kinder Frankreichs» («Enfants de France») zu erziehen, war nach dem Willen des Vaters Madame de Marsan übertragen worden. Sie war die Witwe eines lothringischen Prinzen und die Schwester des Marschalls de Soubise. Dieser stand lange hoch in der Gunst der Marquise de Pompadour, und während alle vier Söhne des Dauphins diese lothringische Amme zärtlich «Mamam Marsan» nannten, nannte dieser die Mätresse seines Vaters nur «Mamam Putain» («Mama Hure»).
Diese Provokation war Programm, denn Louis Ferdinand verurteilte aufs Schärfste den ihm und nicht nur ihm anstößig erscheinenden Lebenswandel seines Vaters, zumal Ludwig XV aus seiner Leidenschaft für junge schöne Frauen kein Geheimnis machte, sich dieser «Sünden» sogar bis zum Grad der Reue bewusst war, dass er an den hohen christlichen Feiertagen den Sakramenten fernblieb. Seine Mutter Maria Leszczynska, eine in ungetrübtem Glauben ruhende Christin, hat Gott nicht nur für diesen einzigen Sohn gedankt, sondern auch für dessen frommen Charakter: «Ich habe nur einen Sohn, aber dem Himmel hat es gefallen, ihn klug, tugendhaft und wohltätig zu gestalten, und zwar in dem Maße, wie ich es kaum zu hoffen gewagt hatte.»[3] Diese Frömmigkeit teilte der Dauphin mit allen seinen neun Schwestern, besonders aber mit denen, die dauerhaft am Hofe waren, an ihrer Spitze Marie-Adélaïde und Henriette – sie bildeten den harten Kern der «Partei der Devoten».
Louis Ferdinand, ergeben an seiner Seite Maria Josepha, demonstrierte gegen seinen Vater nicht nur eheliche Treue, sondern auch Verachtung für die Jagd – die große Leidenschaft aller Könige aus dem Geschlecht der Bourbonen von Heinrich IV bis Ludwig XVI. Jedes Vergnügen an der Jagd war ihm zusätzlich abhanden gekommen, als er einst seinen treuen Stallmeister Chambors so unglücklich in einen Jagdunfall verwickelte, dass dieser tödlich getroffen vom Pferd fiel, sich aber noch im Fall als perfekter Höfling aus dem Leben verabschieden konnte: «Das macht nichts, Monseigneur.»[4] Seine Abneigung gegen das Theater war so ausgeprägt, dass er an dem Gebäude nicht vorbeigehen konnte, ohne sich zu bekreuzigen. Konsequenz seines weitgehenden Verzichts auf Bewegung und sogar in frischer Luft war allerdings eine erhebliche Fettleibigkeit.
Bei aller Frömmigkeit, die sich bis zum Fanatismus steigerte, war der Dauphin aber überaus gebildet. Als guter Lateiner hatte er Cicero und Sallust übersetzt und sich auch der schönen Literatur zugewandt – Corneille, Racine, Boileau, Bossuet und natürlich Fénelon, dem «Schwan von Cambrai». Mit Maria Josepha, die bei ihrer Ankunft in Versailles mit ihrer Natürlichkeit und Fröhlichkeit den Duc de Croÿ zu der Formulierung verführt hatte, sie sei «ein hübsches hässliches Entlein, das einem den Kopf verdrehen könnte»[5] – ein Urteil, das Ludwig XV gern teilte –, zog sich Louis Ferdinand in die Enge eines geradezu bürgerlichen Familienlebens zurück.
Das Paar sang gemeinsam, spielte gemeinsam Clavichord, oder beide versenkten sich in die Lektüre von Heiligenleben. Dieses Idyll stiller Zurückgezogenheit, das mit dem hektisch-vergnügungssüchtigen Treiben der Höflinge merklich kontrastierte, erregte Aufsehen. Dufort de Cheverny hat das Genrebild festgehalten: «Ich sah die Dauphine bei der Arbeit an ihrem Stickrahmen in einem kleinen Zimmer mit nur einem Fenster, aus dem der Dauphin seine Bibliothek gemacht hatte. Sein Schreibtisch war übersät mit den besten Büchern. Der Comte de Lusace (Xavier de Saxe, der Bruder der Dauphine, d. A.), der die gemeinsame und sehr bürgerliche Atmosphäre teilte, saß auf einem Hocker, oder war es ein Stuhl; der Dauphin ging auf und ab, zuweilen setzte er sich. Ich war, als ich mehrere Male mit ihm sprach, überrascht, wie wenn ich in einer bürgerlichen Gesellschaft gewesen wäre.»[6]
Doch die Erziehung für die vier Söhne wurde so gründlich und umfassend gestaltet, auf dass jeder von ihnen, selbst bei der Förderung seiner speziellen Talente, befähigt wäre, eine führende Rolle im Machtmechanismus von Versailles zu spielen – und sei es nicht zuletzt die des Monarchen. Diese ungewöhnlich weittragende Verantwortung war dem Duc de La Vauguyon übertragen worden – eine Entscheidung, die der Dauphin allein getroffen hatte –, und sie war nicht unumstritten, da La Vauguyon zunächst als Haudegen aufgefallen war. Bravourös hatte er sich 1745 in der Schlacht von Fontenoy geschlagen, an der, ging es doch um nicht weniger als die Wahrung der Unabhängigkeit Frankreichs gegenüber den eingedrungenen Engländern, Ludwig XV selbst teilgenommen hatte, an seiner Seite der sechzehnjährige Louis Ferdinand. Während der Kampagne in Flandern hatte seine Tapferkeit ihn bis zum Marschall aufsteigen lassen, und mit der Position eines Generalleutnants hatte er die höchste Stufe der militärischen Hierarchie erreicht. Daraufhin wechselte er, der zugleich ehrgeizig und hochmütig war, die Karriereleiter und wurde Höfling – 1753 Maître de la Garderobe und Kammerherr, 1758 Erzieher der «Enfants de France» und ein Jahr später sogar Duc und Pair von Frankreich. Mit dem Dauphin teilte er den religiösen Eifer, den Hass auf die «Philosophen», wie die Aufklärer von Voltaire bis zu den Enzyklopädisten um Diderot genannt wurden, und die Vorstellung von einer unumstößlichen, aber moderat auszuübenden Monarchie.
Der älteste Sohn Louis Joseph wurde ihm, wie es die Tradition vorschrieb, im Alter von sieben Jahren übergeben, doch da dieses aufgeweckt-selbstbewusste Kind häufig und gern mit seinem jüngeren Bruder spielte, musste der erst sechsjährige Berry die mütterliche Wärme von «Mamam Marsan» vorzeitig verlassen und geriet ebenfalls unter die Aufsicht des strengen La Vauguyon. Die beiden Jungen konnten deshalb ihre Rollenspiele auch nach 1760 fortsetzen – der Ältere tyrannisierte gern den Jüngeren, was dieser in Anerkennung von dessen frühreifer Autorität sogar gern ertrug. Doch die ihm verfrüht entzogene zärtliche Zuneigung der Amme entbehrte er sehr, zumal, was unbeklagt den Regeln und Anforderungen des Hoflebens entsprach, Maria Josepha diesem Kind wie den nachfolgenden wenig Aufmerksamkeit entgegenbrachte. Einzig dem Thronprätendenten, dem übermäßig geliebten und schon auf seine spätere Souveränität pochenden Louis Joseph, galt ihre besondere Zuneigung, ja ihr dynastischer Stolz.
Doch im Herbst desselben Jahres erweiterte sich die schon diagnostizierte Knochentuberkulose des Erstgeborenen zu einer Lungentuberkulose, und auch die von Entsetzen ergriffenen Eltern konnten sich der Einsicht nicht länger entziehen, dass ihr Sohn, dieses geistig hellwache, nobel auftretende, allseitig Sympathie und Bewunderung hervorrufende Kind, verloren war. Da es bei seiner Geburt nicht getauft worden war, wurde diese Zeremonie im November 1760 vollzogen. Seine Lebenskraft reichte nur bis kurz nach Ostern des folgenden Jahres. Vor seinem Ende stellte La Vauguyon ihm die Frage: «Bedauern Sie den Verlust des Lebens?» und der bis zuletzt in seiner Haltung untadelige Prinz antwortete: «Ja, ich gestehe, dass ich es nur mit Bedauern verliere, aber ich habe es seit langem Gott als Opfer dargebracht.»[7] Die in ihrem Schmerz untröstliche Mutter schrieb an ihren Bruder Xavier: «Er ist mit soviel geistiger Würde, Mut, Resignation und Frömmigkeit gestorben wie ein Mann von dreißig Jahren.»[8]
Der Duc de Berry, wohl nicht zuletzt getroffen von der Agonie seines ihm eng vertrauten Bruders, erkrankte seinerseits und blieb unbeachtet fern von der grenzenlosen Trauer seiner Eltern und der Zeremonie des düster majestätischen Trauerkondukts, der den kleinen, ausgemergelten Leichnam von Versailles in die Totenkathedrale der Könige Frankreichs nach Saint-Denis entführte. Als eine unrechtmäßige und anmaßende Okkupation erschien es besonders seinen Eltern, dass nun der ungeliebte, unbeachtet an den Rand gedrängte, in langem Schweigen verschlossene und in seinen Bewegungen linkische Zweitgeborene in die direkte Linie der Thronfolge aufrückte, auf den zuvor schon so glanzvoll besetzten Platz des Lieblingssohnes Louis Joseph. War der nun ins Zentrum der zukünftigen Machtfülle sowie der politischen Hoffnungen aufgestiegene Junge nicht schon aufgrund seiner geringeren Talente, ja seines begrenzten Geistes eine traurige Randerscheinung gewesen? Man erinnerte sich wohl an das Lotteriespiel der Prinzen, die sich gegenseitig kleine Geschenke machten – jeder jeweils dem, dem seine besondere Zuneigung galt. Inmitten der Heiterkeit und des Gelächters war kein Geschenk in die Hand Berrys gelangt, und in vollem Respekt vor den emotionalen Regeln der Kinderlotterie behielt dieses Kind sein eigenes Geschenk trotzig in der Hand: «Ja, ich weiß, dass niemand mich liebt, ich liebe auch niemanden, und glaube, dass ich nun auch keine Geschenke austeilen muss.»[9] Aber es führte auch kein Weg an dem Vollzug des salischen Rechts vorbei, Berry rückte an die zweite Stelle in der Thronfolge, und sein Name wandelte sich in Louis Auguste.
Die Zweifel des Vaters, ob sein zweitgeborener Sohn langfristig in der Lage sein würde, einst die volle Verantwortung der Krone zu tragen, ließen ihn, der seinem eigenen Urteil nicht voll vertraute, das Votum eines lebensklugen, feinsinnigen Jesuiten suchen. Der Pater Charles Frey de Neuville mischte sich in die kindlichen Spiele der drei Brüder, lockte sie in Fangfragen und kam am Ende zu dem Urteil, dass Louis Auguste «weniger Lebhaftigkeit und sich in seinen Gesten weniger graziös zeigte als die Prinzen, seine Brüder; aber was die Gründlichkeit des Urteils und die Qualitäten seines Charakters beträfe, verspräche er, ihnen nicht nachzustehen». Louis Ferdinand, erleichtert, ließ den Jesuiten dankbar wissen: «Ich bin entzückt über die Art, wie Sie meinen Ältesten sehen. Ich hatte immer geglaubt, in ihm eines jener ungekünstelten Naturelle zu erkennen, die nur zurückhaltend das versprechen, was sie eines Tages freiwillig leisten müssen …»[10]
Damit waren uneingeschränkt die Voraussetzungen gegeben, den präsumtiven Thronfolger mit jener breiten Bildungsbasis zu versehen, die ihn später zum kompetenten Gesprächspartner seiner Minister und – nachdem er deren Votum gehört hatte – zum allein verantwortlichen Entscheidungsträger in den Regierungsgeschäften machen sollte. Zunächst verbanden seine Lehrer, denn La Vauguyon zog für verschiedene Fächer Experten hinzu, die seinerzeit übliche Lektüre für Jugendliche mit dem Sprachunterricht. So lernte Louis Auguste das Italienische mit Ariosts «Befreitem Jerusalem» oder das Englische mit Daniel Defoes «Robinson Crusoe» kennen. Da er zudem eine starke Neigung für das Lateinische zeigte, erschloss er sich die Texte von Sueton, Seneca oder auch Tacitus, bei dessen Lektüre er seiner frühen Vorliebe für die Geschichte nachgehen konnte. Dagegen empfand er wenig Interesse für die schöne Literatur, die Poesie, die Musik oder auch die Rhetorik, aber die Wissenschaften zogen ihn an – so die Physik und Mathematik, vor allem jedoch Geographie. Hier war es der Abbé d’Argentré, der ihn mit Globen, Spezialkarten und geographischen Puzzlespielen versorgte, so dass er sich über einzelne Regionen exakt unterrichten konnte – über Klima, Wirtschaft, Verwaltung, Militär oder auch die Glaubenszugehörigkeit der Bevölkerung. In dieser Disziplin verfügte er später über Kenntnisse, die Erstaunen erregten. La Vauguyon verband schließlich mit der Lektüre von Fénelons «Télémaque», die übrigens in jener Epoche zum allgemeinen Bildungskodex gehörte, die Unterweisung in Politik, Religion und Moral, methodisch eingesetzt in kasuistischen Fragespielen. Im Übrigen galten für seinen Erzieher die vier Kardinaltugenden, die er von Jacques Bénigme Bossuet, dem wortgewaltigen Hofprediger Ludwigs XIV, übernahm – Frömmigkeit, Güte, Gerechtigkeit und Festigkeit.
Der Dauphin und die Dauphine legten größten Wert darauf, die Resultate dieser weit gefächerten Pädagogik selbst zu überprüfen. Zweimal in der Woche – mittwochs und samstags – kam es zu regelrechten Examina, und die Eltern befragten ihren Sohn überaus streng. So konnte es passieren, dass der junge Louis Auguste gelegentlich eine falsche Antwort gab oder die richtige schuldig blieb, was mit Strafen geahndet wurde, einmal besonders hart, denn der Vater untersagte ihm die Teilnahme an der Hubertusjagd am 3. November 1765, dem Jahresfest der Jäger, dessen leidenschaftlichster Teilnehmer Ludwig XV selbst war. Selbst dem Einspruch der Tante Marie-Adélaïde, doch dem Neffen das Vergnügen nicht zu versagen, begegnete Louis Ferdinand nicht mit einer großzügigen Begnadigung: «Ich würde jedem anderen gegenüber Gnade walten lassen …, aber mein Sohn befindet sich an einem Platz, wo Vorsicht angebracht ist, damit er sich nicht an die Nachlässigkeit gewöhnt …»[11] Der König selbst votierte mit seiner Autorität für seinen Enkel, indem er seinen Sohn kritisierte: «Wenn Ihr Eure Kinder hindert, sich bei meinen Jagden einzufinden, bin ich es so wie sie, den Ihr unter Strafe stellt.»[12] Der Dauphin blieb hart.
Aber zu diesem Zeitpunkt war er bereits bettlägerig, und die Härte gegenüber seinem Sohn war auch der Verachtung gegenüber seinem Vater geschuldet – nicht nur lehnte er dessen Jagdleidenschaft ab, der Vorwurf betraf ebenso dessen verlustreiche Politik, denn bereits 1762 gegen Ende des Siebenjährigen Krieges hatte er in einem Brief an den Bischof von Verdun geklagt: «Die politischen Angelegenheiten gehen nicht besser als die der Religion: die Autorität um die Hälfte gemindert, Amerika verloren und ein ruinöser Krieg … kündigen mir den Rest meines verhinderten Lebens an, beschämt und gedemütigt als jener, der eine Rolle in Europa spielen möchte.»[13] Jetzt aber, im Herbst 1765, obgleich er noch immer streng über die Studien seines Sohnes wachte, lag er bereits nieder auf den Tod.
Noch im Spätsommer hatte er, vom Fieber und vom Husten geschüttelt, sein Regiment der «Dauphin Dragons» glanzvoll paradieren lassen, ja es selbst kommandiert, als der König die jährlichen Manöver in Compiègne abhielt. Aber die Tuberkulose hatte ihn schon erfasst. Das strenge Studienprogramm seines Sohnes, dessen Vollzug er sogar vom Bett aus kontrollierte, nahm indes unverändert seinen Fortgang, aber sich seines nahen Todes bewusst, hatte der Dauphin den König um die testamentarische Gunst gebeten, dass Maria Josepha «die absolute Herrin der Erziehung seiner Kinder»[14] bleibe. Tief verankert in seinem Glauben und seinen Maximen unantastbarer Würde verpflichtet, starb Louis Ferdinand am 20. Dezember. Auf ihn hatte nicht zuletzt das einfache Volk große Hoffnungen gesetzt, er werde dem ausschweifend-kostspieligen Hofleben Ludwigs XV ein Ende setzen, und bekränzte die Statue Heinrichs IV auf dem Pont Neuf in Paris zu seinen Ehren. Der König – selbst tief getroffen von dem Tod seines einzigen Sohnes – schloss den elfjährigen Louis Auguste in die Arme, beider Tränen sollen sich vereinigt haben, und während der Großvater seine Trauer im Jagdschloss Choisy verbarg, erhielt der Enkel, der nun nächste Erbe des Thrones, den Titel Monseigneur le Dauphin.
Louis Auguste, dessen verschlossenes Wesen ihn bereits geistig und emotional isoliert hatte, sah sich durch den Tod des Vaters nun erneut wie seinerzeit nach dem Tod des älteren Bruders in sich zurückgedrängt. Auch seine Mutter fand keinen Zugang zu ihm, da sie sich selbst in eine strikte Trauer zurückzog, allein mit ihrem Schmerz und mit ihrem unangefochtenen Glauben an einen Gott, der noch im Töten reine Güte ist: «Meine Seele betet die Hand an, die ihn geschlagen hat …»[15] Sie schnitt sich die Haare ab und verzichtete auf jede Gesichtsschminke: «Möge meine Seele doch so rein von Sünde sein, wie mein Gesicht zukünftig frei von Rot sein wird.»[16] Ihr Blick wanderte ständig von einem Elfenbeinkruzifix zu dem Entwurf eines Mausoleums, das Guillaume Coustou für die Kathedrale von Sens gestalten sollte – es zeigte die Allegorie der ehelichen Treue. Dort würde der Leichnam ihres Gemahls die letzte Ruhe finden, während sein Herz in die Kathedrale von Saint-Denis überführt würde. Ludwig XV zeigte sich ihr in gemeinsamem Schmerz verbunden, besuchte sie täglich am Nachmittag zu einem Kaffee in ihren Gemächern. Er gestattete ihr, im Nordflügel ein Appartement über seinen Räumen zu beziehen, bis die Zimmer im Erdgeschoss, die Madame de Pompadour bewohnt hatte, restauriert seien. Sie konnte sich, derart in die Nähe des Monarchen gerückt, in besonderer Weise geehrt fühlen. Doch ihr einst so fröhliches Temperament verwandelte sich mehr und mehr in Schwermut.
Hinzukam, dass die Tuberkulose sich von ihrem Gemahl auf sie übertragen hatte und sie Anfällen von Fieber ausgesetzt war, das sie in ein Delirium, einen Status ekstatischer Entrückung versetzte. So verfiel sie der Obsession, eine zweite Blanche de Castille zu sein, wie die Mutter Ludwigs des Heiligen, die ihrem minderjährigen Sohn einst die Herrschaft verteidigt und gesichert hatte: «Welch ein König – Ludwig IX! Er war der Schiedsrichter der Welt. Welch ein Heiliger! Er war der Ahnherr Eurer erlauchten Familie und der Schutzherr der Monarchie. Könntet Ihr doch seinen Spuren folgen! Könnte ich doch, wie die weiße Königin, die Keime der frommen Gefühle wachsen sehen, die ich nicht aufhören werde, in Euch einzupflanzen.»[17]
Mit Hilfe eines Jesuiten und eines Historikers entwarf sie einen weitgefassten Erziehungs- und Bildungsplan, der ihren Sohn mit der magischen Macht eines großen Monarchen ausstatten sollte: «Wer mehr als ich ist an Eurem Ruhm interessiert? Wer mehr als ich sehnt sich nach Eurem Glück? Ich liebe Euch, mein Sohn, dieses Gefühl, das so kostbar in meinem Herzen ist, wird meine Tröstung sein, wenn Ihr, indem Ihr der Belehrung einer Mutter folgt, der das Leben ohne diese Hoffnung verhasst geworden ist, in deren Befolgung ein großer König werdet.»[18] Ungewiss ist, in welchem Ausmaß diese Impulse tiefer Frömmigkeit auf den späteren Ludwig XVI eingewirkt haben, sicher aber ist, dass sie ihn in seiner lebenslang unangefochtenen Gläubigkeit zusätzlich gefestigt haben. Der Einfluss seiner Mutter war jedoch nicht von langer Dauer, denn die Krankheit und ein bereits abgestorbener Lebensmut mündeten schließlich in ihren Tod am 13. März 1767, vor dem sie in Würde von ihren Kindern Abschied nahm – nur der Älteste gab sich äußerlich dem Schmerz hin, während seine beiden Brüder sich derartigen Gefühlen gegenüber als standhaft erwiesen.
Aber bereits unmittelbar nach dem Tod des Vaters war der Erzieher La Vauguyon, in dem die Zeitgenossen nur einen sehr eitlen und ehrgeizigen Höfling gesehen haben, dazu übergegangen, ein speziell für den Thronfolger bestimmtes Unterrichtsprogramm zu gestalten. Methodischer Ausgangspunkt waren die dominierenden Erziehungsschriften der Zeit – an erster Stelle natürlich der bereits erwähnte «Télémaque» Fénelons. Aus diesem romanhaften Bildungsepos, das den Sohn des Odysseus – geführt von Mentor, in Wahrheit aber von niemand anderem als der Göttin Athene in Menschengestalt – auf dem windungsreichen Weg zum humanen Monarchen zeigt, wurden die wichtigsten Maximen exzerpiert und zur Grundlage langer und präziser Dialoge zwischen La Vauguyon und seinem Zögling gemacht. Diesem war aufgegeben, den Gehalt der Sentenzen zu überprüfen, ihn in Gegenfragen als stabil nachzuweisen oder auch als instabil abzulehnen, um schließlich selbst zu einem gefestigten Urteil zu gelangen. Das Ergebnis ging in die vom Dauphin selbst formulierten Maximen eines Herrschers ein – er musste sie eigenhändig niederschreiben. und sie stellten gleichsam sein theoretisch-moralisches Regierungsprogramm dar, mochten diese Absichtserklärungen auch lückenhaft und weit von der politischen Realität entfernt sein.
In diesem ersten Exerzitium «Maximes morales et politiques tirées du Télémaque» verharrte der Dauphin nicht lange bei dem unerschütterlichen Bekenntnis seines Vertrauens in Gott, sondern öffnete recht konkret die Perspektive zur universalen Verantwortung für sein Volk: «Die Blicke des Monarchen müssen sich weiten auf alle Teile seiner Bürger (citoyens)»,[19] und das gelte nicht zuletzt für den Bauernstand, der in jener Epoche noch immer achtzig Prozent zum Wohlstand des Landes beitrug: «Die Lebensumstände der Bauern müssen geachtet werden als die am nützlichsten für den Staat: Man soll die Hochzeiten erleichtern, indem man die Oberhäupter kinderreicher Familien belohnt, ihnen einen realen Vorteil gewährt, um viele Kinder zu haben, die dagegen mit Steuern belastet, die ihr Land vernachlässigen, und die mit Vergünstigungen und Steuernachlässen versieht, die ihr Land sorgfältig bewirtschaften.»[20] Dem Handel wurde der Rang zugesprochen, «für ein Volk eines der sichersten Mittel zu sein, sich zu bereichern – dessen völlige Freiheit» müsse garantiert werden, sogar über die Grenzen des Landes hinaus: «Wenn der Handel in einem Staat frei ist, ist alles, was von draußen kommt, nützlich, und alles, was hinausgeht, lässt bei seinem Verlassen einen gewissen Reichtum zurück.»[21]
Schon in diesem ersten Ausblick auf die spätere Regierungsverantwortung wagte der Dauphin eine indirekte Attacke auf seinen Großvater und ließ zugleich eine gewisse Freiheit des Denkens und Handelns nur so weit gelten, als sie sich in den Grenzen eines unantastbaren Moralkodex bewegte: «Die Fürsten müssen die Lasterhaften verachten. Ohne die Herzen zu ergründen und einen Despotismus auf die Gewissen ausüben zu wollen, der schädlich wäre, muss der Fürst aus seinem Vertrauen entfernen und Zeichen seiner Unzufriedenheit und Verachtung jenen geben, die, nachdem sie die Stimme der Religion, der Scham und der Zurückhaltung in sich zum Schweigen gebracht haben, das Laster öffentlich zur Schau stellen und sich zum Ruhme anrechnen, was besser als Schande und Missachtung verdeckt werden sollte.»[22] Es waren noch Sandkastenspiele eines zur Herrschaft bestimmten Halbwüchsigen, der jedoch 1766 nur noch zwei Jahre von seiner, seinerzeit mit dem 14. Lebensjahr erreichten Volljährigkeit entfernt war, aber La Vauguyon setzte die moralisch-politischen Übungen fort und dehnte sie auf zahlreiche andere Gebiete aus.
Am Anfang aber stand stets das Axiom des Glaubens an Gott und des Glaubens an die allein von Gott gewährte und allein vor ihm zu verantwortende Gnade der königlichen Herrschaft, der sich früh würdig zu zeigen das Ziel der Erziehung sein musste, weshalb diese Verpflichtung an der Spitze des Ausbildungsplanes stand: «Ich fühle, was ich Gott schulde aufgrund der Wahl, dass er mich zum Regieren erwählt hat, und dank der Tugenden meiner Ahnen, um unaufhaltsam meine Kindheit zu verlassen und mich des Thrones würdig zu erweisen, wo ich, so es sich fügt, eines Tages sitzen werde; aus diesen Gründen darf ich nichts vergessen, um ein wirklich frommer, guter, gerechter und standfester Fürst zu werden; ich kann diese Eigenschaften nur durch fortdauernde Arbeit erreichen, und ich bin fest entschlossen, mich dem ganz hinzugeben.»[23] Das Bewusstsein, ein von Gott ihm anvertrautes Amt zu verwalten, war früh und unantastbar ausgebildet.
Diese Nähe zu Gott gab Louis Auguste die subjektive Sicherheit, aus der er seine Rolle als regierender Fürst direkt ableitete: «Gott zu erkennen, das ist die Wurzel aller Güte und jeder Justiz.»[24] Somit war er seinerseits, wenigstens analog, an jene Güte gebunden, die von Gott ausging und deren Sachwalter auf Erden er sich zu sein verpflichtete: «Der König, der Hirte, der Vater sind ein und dieselbe Sache. Gott hat mir meine Untertanen nur gegeben, sagte Heinrich der Große (i. e. Heinrich IV), um sie zu erhalten wie meine eigenen Kinder. Ein guter König, ein großer König soll kein anderes Ziel haben als sein Volk glücklich und tugendhaft zu machen.»[25] Dieses Postulat der patriarchalischen Monarchie, dem Beispiel des ersten Bourbonenkönigs entlehnt, zumindest wie es die höfischen Historiker entworfen hatten, schloss das Ideal der umfassenden Menschlichkeit ein: «Alles was der Vater seinen Kindern, der Bruder seinen Brüdern, der Freund seinen Freunden schuldet, der Fürst schuldet es seinen Untertanen, und jede Tat der Souveränität soll eine Wohltat der Humanität sein.»[26]
Diese Humanität, die Herrscher und Untertan verbindet, auch wenn sie in der Regel nur von oben nach unten ausgeübt wird, führte den Thronfolger zu der gedanklichen Konsequenz einer natürlichen Gleichheit der Individuen, wie sie seinerzeit das Naturrecht voll entwickelt hatte – gleichsam den Herrscher auf die Ebene einer so umfassenden wie nivellierenden Menschlichkeit herabziehend: «Ich muss alle Menschen gleich und unabhängig durch das Recht der Natur betrachten.»[27] So weit waren die liberalen Ideen bereits über den Erzieher La Vauguyon an den Hof vorgedrungen – bis zu eben jener Égalité, die einer der Grundwerte der Französischen Republik werden sollte. Völlig unbekümmert, da noch keinerlei Berührung mit der konkreten Politik stattgefunden hatte, sollte der dreizehnjährige Louis Auguste daneben und nicht dagegen den Anspruch auf seine Souveränität erheben – auf die einsame, gegenüber allen Untertanen höchst ungleiche Höhe seiner von Gott allein ihm gewährten Machtfülle: «Die Macht des Throns ist absolut. Nichts kann die Ausübung anhalten, aber sie muss zur Grundlage das Recht und die Vernunft haben.»[28] Diese unantastbare Gewissheit der absoluten Macht war das Erbe Ludwigs XIV, und er, der Nachkomme sechs Generationen später, erklärte sich wenigstens dem Wortlaut nach gleichfalls diesem Erbe verpflichtet.
Louis Auguste war jedoch weit entfernt von der menschlichen Härte und politischen Versiertheit des Sonnenkönigs, der noch die territoriale Expansion und die militärische Gloire zu seinen zentralen Werten zählte. Sein nicht einmal ein Jahrhundert später sich auf die Regierung vorbereitender Nachfolger kämpfte dagegen mit seiner persönlichen Unsicherheit, die sich nicht selten in unkontrollierte Brüskheit flüchtete, eine Schwäche, die der Erzieher seinem Zögling zum selbstkritischen Bewusstsein gebracht hatte: «Um mich zu vergewissern, dass ich niemals die Härte missbrauchen werde, muss ich gerecht und tugendhaft sein, meine Völker lieben und nur für ihr Glück arbeiten; wenn ich jeden Missbrauch der Härte vermeide, die in meinem Naturell angelegt ist, werde ich nicht Sturheit, Stolz, Eigensinn und Launen zu fürchten haben, die so häufig für die Fürsten gefährliche Klippen sind.»[29]
Die Ausbildung, die der Thronfolger erhielt, war nicht umfassend, aber vielseitig. Er war der erste Bourbone, der sich für die Wissenschaften und den technischen Fortschritt interessierte – bis zu eigenen Experimenten. In Mathematik übertraf er seinen Bruder, den geistvollen Comte de Provence, durch gründlichere Studien, besonders in Algebra. Seine Interessen erstreckten sich nicht zuletzt auf die politischen Verhältnisse Europas, und auf England war seine besondere Aufmerksamkeit gerichtet. Die Kenntnis der englischen Sprache, die er fließend beherrschte, erlaubte ihm die regelmäßige Lektüre des «Spectator» und die genaue Beobachtung der Debatten im englischen Unterhaus. Man hat unter den 7833 Büchern seiner Bibliothek nicht weniger als 586 in englischer Sprache gefunden.
Dagegen blieben ihm die modernen Ideen der Epoche vorenthalten – er kaufte sich erst 1777 die Encyclopédie von d’Alembert und Diderot, die schon Madame de Pompadour zu ihrer Lektüre erkoren hatte. Jeden Ausflug über das Terrain des Schlosses von Versailles hinaus hatte man ihm vorenthalten, auch jedes Theaterstück, jeden Ball. So war er, der einen plumpen Körper besaß und sich ungelenk bewegte, auch nicht in der höfischen Eleganz unterwiesen worden, für die es seit dem 16. Jahrhundert in Frankreich zahlreiche Akademien gab – ihre Lehrstoffe waren Fechten, Tanzen, die Damen mit kunstvoll formulierten Komplimenten zu umschwärmen und die Konversation windungssowie pointenreich zu gestalten. Nichts dergleichen war vom Vater ins puritanische Lehrprogramm aufgenommen worden, und der strenge La Vauguyon hatte auch verhindert, dass Louis Auguste zu majestätischer Haltung und formvollendeter Gestik gelangte, deren Meister Ludwig XV war, der jedoch auch nicht auf diesen Lehrstoff gedrungen hatte.
Ein Politikum aber hatte La Vauguyon dem jungen Bourbonen nicht vorenthalten, es ihm sogar in aller Klarheit zur Kenntnis gebracht – den Kampf der Monarchie gegen die aggressiv vordringenden Parlamente. Ursprünglich war deren Aufgabe gewesen, nur für die reibungslose Rechtsprechung zu sorgen, doch zunehmend hatten sie den Anspruch erhoben, als volksnahe Instanz auch an der politischen Gestaltung des Landes mitzuwirken. Nach den Generalständen von 1614, die Maria von Medici zum letzten Mal einberufen hatte, hatten alle nachfolgenden Herrscher diese Institution des sich offen erklärenden Volkswillens mit ihren Ansprüchen an die Mitgestaltung der Politik derart gefürchtet, dass sie strikt vermieden hatten, eine erneute Einberufung zu gestatten – die wesentliche Leistung ihrer Regierung war jeweils gewesen, dazu niemals gezwungen worden zu sein. Die Parlamente hatten sich zu Mandatsträgern der Wünsche des Volkes erklärt – ohne gesetzliche Grundlage, aber von der öffentlichen Meinung legitimiert und nicht zuletzt durch den Umstand verleitet, dass Frankreich im Zeitalter der absoluten Monarchie über keinerlei legitimierte Institution verfügte, den Wünschen des Volkes Einfluss bis auf die Gesetzgebung zu verschaffen. Das einzige Mittel, politischen Einfluss auszuüben, war die Remonstranz – das Recht des Einspruchs der Parlamente gegen einen Gesetzesentwurf und die Darlegung der Gegenargumente. Der Konflikt mit dem Monarchen entfaltete sich vor allem und fast ausschließlich, wenn es galt, der Krone über den Weg neuer Steuergesetze neue Gelder zu beschaffen, meist für den Fall eines Krieges, aber auch um das Staatsdefizit nicht in die Nähe des Staatsbankrotts geraten zu lassen.
Das Mittel, über das der Monarch verfügte, um die Remonstranz bis zur Wirkungslosigkeit zurückzuweisen, war das «lit de justice», ein altes Recht des Herrschers, das jeden Widerspruch des Parlaments aufhob, wenn er selbst im Parlament erschien. Dies musste formgerecht in der Weise geschehen, dass er auf seinem Thron ins Parlament getragen wurde – gleichsam wie in einem Bett liegend, daher der Begriff «Bett des Rechts». Mit diesem Akt verschaffte er seinem Votum letzte Gültigkeit und seinen Gesetzen Rechtskraft.
Ludwig XIV war einst, als ihn die Nachricht von dem Widerspruch seines Parlaments gegen eines seiner Gesetze bei der Jagd in den Wäldern von Vincennes erreichte, sporenklirrend im Parlament erschienen und hatte gleichsam mit der Reitpeitsche, so will es wenigstens die Legende, die aufsässigen Gerichtsherren zur Unterwerfung gezwungen. In seiner Machtfülle hatte er das Remonstranzrecht auf Dauer, zumindest für seine Regierungszeit, außer Kraft gesetzt. Doch die Zeiten hatten sich geändert – und Ludwig XIV war daran nicht schuldlos, denn er hatte wesentliche Rechte der Krone testamentarisch – unter dem Einfluss von Madame de Maintenon – seinen Bastarden übertragen, vor allem dem Duc de Maine. Der Regent Philippe d’Orléans, der die Thronrechte des minderjährigen Ludwig XV zu wahren hatte, war gezwungen gewesen, das Remonstranzrecht den Parlamenten erneut einzuräumen, um die Regierungsansprüche der Bastarde mit Unterstützung des Parlaments zurückzuweisen. Daraufhin hatten die gestärkten Gerichtsherren während des ganzen 18. Jahrhunderts von diesem Recht exzessiven Gebrauch gemacht. Ludwig XV hatte sich, um dringenden Reformvorhaben Gesetzesgültigkeit zu verschaffen, zu dem Kraftakt bereitgefunden, das Pariser Parlament zu entmachten, ins Exil der tiefen Provinz zu schicken und neue Gerichtshöfe, nur der Rechtsprechung verpflichtet, ins Leben zu rufen.
Doch dieser Machtkampf war keineswegs endgültig entschieden, und Vauguyon brachte seinem Zögling diesen Konflikt in seiner weitreichenden politischen Konsequenz zum Bewusstsein. Louis Auguste bezog daraufhin in seinen Maximen für die spätere Regierung eindeutig Position – die der uneingeschränkten Dominanz der Krone und der definitiven Begrenzung der Parlamente auf die Rechtsprechung, einschließlich des Verzichts auf das Recht der Remonstranz: «Sie (die Parlamente) können niemals ein Organ der Nation gegenüber dem König sein.»[30] An diesem «Niemals» sollte sich das Schicksal Ludwigs XVI entscheiden.
«Wie die Natur jedem Menschen eine uneingeschränkte Gewalt über seine Glieder gegeben hat, so gibt der Gesellschaftsvertrag der politischen Körperschaft eine uneingeschränkte Gewalt über alle die ihren …»[1] «Die souveräne Gewalt ist völlig uneingeschränkt, geheiligt und unverletzlich.»[2] «Im Übrigen wird jeder Missetäter, der das gesellschaftliche Recht angreift, durch seinen Frevel zum Rebellen und Verräter am Vaterland: dadurch, dass er dessen Gesetze verletzt, hört er auf, sein Glied zu sein, ja er liegt sogar mit ihm im Krieg. Jetzt ist die Erhaltung des Staates mit seiner Erhaltung unvereinbar, und wenn man den Schuldigen zu Tode bringt, dann weniger als Bürger denn als Feind.»[3] Kernsätze wie diese aus dem 1762 erschienenen «Gesellschaftsvertrag» («Contrat social ou Principes du Droit politique») von Jean-Jacques Rousseau werden und bleiben das politische Glaubensbekenntnis von Maximilien de Robespierre, und Letzterer diente ihm bis zur Wörtlichkeit in seiner Rede am 3.12.1792 vor dem Konvent, in der er Ludwig XVI nicht nur das Recht auf einen Prozeß verweigerte, sondern auch das Recht auf Leben absprach, da er «als Rebell»[4] zu behandeln sei.
Als Robespierre am 26. April 1789 zum Abgeordneten von Arras in die Generalstände gewählt wurde, die wenige Wochen später in Versailles zusammentraten, war er dreißig Jahre alt, und sein selbsterteilter Auftrag war es, den Weg zu gehen, den Rousseau seinen Zeitgenossen in die Zukunft gewiesen hatte – in Richtung einer makellosen Basisdemokratie, deren Realisierung sogar «die Veränderung der menschlichen Natur»[5] einschloss – genauer die Schaffung eines «neuen Menschen». Zu dieser Doktrin hat sich Robespierre bis zu dem Grad verpflichtet gefühlt, dass er zu Beginn seiner politischen Laufbahn vor dem Philosophen aus Genf wie vor einem Heiligen niederkniete: «Du göttlicher Mensch! Du hast mich gelehrt, mich zu erkennen; schon in meiner Jugend hast Du mich dazu gebracht, die Würde meiner Natur in ihrem vollen Wert einzuschätzen und über die großen Prinzipien der Gesellschaftsordnung nachzudenken … Aufgerufen, eine Rolle inmitten der größten Ereignisse zu spielen, die die Welt jemals erlebt hat, meinen Anteil habend an der Aporie des Despotismus und am Erwachen der wahren Souveränität … unendlich glücklich in der gefährlichen Laufbahn, die eine bisher unbekannte Revolution uns soeben eröffnet hat, werde ich felsenfest treu bleiben jenen Erleuchtungen, die ich aus Deinen Schriften geschöpft habe.»[6]
Darüber, wer ihm wann die Schriften Rousseaus nahebrachte, hat sich Robespierre Zeit seines Lebens nicht geäußert, und auch von seinen Erziehern und Mitschülern hat sich kein Zeugnis über diese frühe geistige Begegnung mit Rousseau, gleichsam seine politische Erweckung, erhalten. So liegt es nahe, dass Robespierre den Weg zu Rousseau selbst gefunden hat, zumal er den Selbstfindungsprozess nach dem Tod beider Elternteile früh vollziehen musste und die Düsternis wie die Freiheiten der Einsamkeit früh durchlebte.