Die Welt an der Schwelle zum Atomkrieg
Verlag C.H.Beck
Was sich im Oktober 1962 abspielte, hatte die Welt nach 1945 noch nicht erlebt. Und zu Ihrem Glück ist Ähnliches bisher ausgeblieben: Wegen der Stationierung sowjetischer Mittelstreckenraketen auf Kuba verhängten die USA eine Blockade über die Insel und versetzten ihre Atomraketen und Langstreckenbomber in den höchsten Alarmzustand unterhalb der Schwelle eines Nuklearkrieges. Gestützt auf amerikanische, sowjetische und kubanische Akten, erzählt Bernd Greiner die Geschichte der Kuba-Krise: Warum sie bis zur Schwelle eines Atomkrieges eskalierte, wie letztlich ein politischer Ausweg gefunden wurde und wie diese Konfrontation bis weit in die 1980er Jahre nachwirkte.
Bernd Greiner, geb. 1952, ist Leiter des Arbeitsbereichs «Theorie und Geschichte der Gewalt» am Hamburger Institut für Sozialforschung und Professor am Fachbereich Philosophie und Geschichtswissenschaften der Universität Hamburg.
Einleitung
Vorgeschichte
Kuba – Symbol des Kalten Krieges
Kennedy, Chruschtschow, Castro
Die gewollte Krise
16.–22. Oktober 1962
«Die Sowjets würden aussehen, als wären sie mit uns gleich»
Absage an die Diplomatie
Die Entscheidung für die Blockade
Erste Reaktionen in Moskau und Havanna
Eine Bühne für John F. Kennedy
23.–26. Oktober 1962
Chruschtschow lenkt ein
Die Blockade, ein Kommunikationsdesaster
Konfrontation auf hoher See
Ein Angebot aus Moskau
Gereizte Stimmung in Washington
Kuba vor der Invasion?
27. und 28. Oktober 1962
Fidel Castro fordert zum Atomkrieg auf
Raketenhandel?
Eskalation hinter dem Rücken der Akteure
John F. Kennedys Geheimdiplomatie
Nikita Chruschtschow löst den Knoten
Keine Kompromisse
Schockwellen
Die «endgültige» Beilegung der Kuba-Krise
Kubanische Vorwärtsverteidigung
Sowjetischer Nachholbedarf
Amerikanischer Triumphalismus
Höhepunkt, aber kein Wendepunkt
Literatur
Register
Was sich im Oktober 1962 abspielte, hatte die Welt nach 1945 noch nicht erlebt. Und zu ihrem Glück ist Ähnliches seither ausgeblieben. Angesichts der knapp 150 heißen Kriege im Kalten Krieg und der Gewaltexzesse seit den 1990er Jahren mag eine solche Behauptung übertrieben klingen – immerhin weitete sich die Krise um Kuba nicht zu einem Krieg aus. Dennoch trifft dieses Resümee den Kern der Sache.
Mitte des Monats ging «Operation Anadyr» in ihre entscheidende Phase, das logistisch anspruchsvollste und zugleich umfangreichste Unternehmen der sowjetischen Streitkräfte seit dem Zweiten Weltkrieg. Niemals zuvor hatte man in Friedenszeiten Waffen, Material, technisches Personal und Truppen in einem derartigen Umfang ins Ausland verlegt, geschweige denn nach Übersee. Auf Kuba wurden angelandet: eine aus fünf Regimentern bestehende Raketendivision; zwei Luftabwehrdivisionen mit sechs Regimentern, die neben 144 SA-2-Raketen auch über ein Geschwader von MiG-21-Jägern verfügten; vier motorisierte Schützenregimenter und zwei Panzerbataillone; drei mit konventionellen Kurzstreckenraketen ausgestattete Bataillone für den Küstenschutz; 98 Sprengköpfe für nukleare Gefechtsfeldwaffen; vier dieselgetriebene U-Boote der «Foxtrot»-Klasse mit je einem Atomtorpedo; 42.000 Soldaten, darunter eine 10.000 Mann starke Kampftruppe. Und vor allem: 36 nukleare Mittelstreckenraketen vom Typ R-12, die mit einer Reichweite von 1100 nautischen Meilen oder 2000 Kilometern Verwüstungen weit im Inneren der USA hätten anrichten können.
Unumstößliche Beweise für das Herzstück der sowjetischen Waffenlieferungen hatte die amerikanische Luftaufklärung am 15. Oktober geliefert: Fotos über im Bau befindliche Abschussrampen für die R-12. Von den nahe San Cristobal, Remedios, Sagua la Grande und Guanajay gelegenen Anlagen abgesehen, entdeckte man wenige Tage später auch noch unfertige Startplätze für so genannte «Intermediate-Range Ballistic Missiles» (IRBM) vom Typ R-14, ausgelegt auf Ziele in einer Entfernung von 2200 nautischen Meilen oder 4000 Kilometern.
Um Moskau zum Abzug seiner ballistischen Raketen zu zwingen, rief Präsident John F. Kennedy eine Seeblockade Kubas aus und versetzte die strategischen Luftstreitkräfte der USA am 24. Oktober in den höchsten Alarmzustand unterhalb der Schwelle eines umfassenden Nuklearkrieges: «Defense Condition 2». Zum ersten und bisher einzigen Mal in der Geschichte des Landes galt «DefCon 2» für alle Interkontinentalraketen (ICBM) und Langstreckenbomber. Den Vorgaben einer «immediate execution policy» entsprechend, konnten fortan 1479 Langstreckenbomber vom Typ B-52 und B-47 sowie 183 ICBM aus der Baureihe «Atlas», «Titan» und «Minuteman» spätestens 60 Minuten nach einem Befehl aus dem Weißen Haus eingesetzt werden. Ohne jede Verzögerung angriffsbereit waren zwischen 65 und 76 B-52, die bis Ende November Tag für Tag und Nacht für Nacht die Grenzen des sowjetischen Luftraums abflogen, aktualisierte Ziellisten im Cockpit. Allein mit diesen Trägersystemen – 128 Polaris-Raketen auf U-Booten im Atlantik sowie grenznah zum Warschauer Pakt stationierte Kampfbomber mittlerer und kurzer Reichweite nicht eingerechnet – hätten 2962 großkalibrige Nuklearwaffen abgeworfen werden können. Als «high priority – Task 1 targets», unbedingt und sofort auszulöschende Ziele in der Sowjetunion, hatte das «Strategic Air Command» unter General Thomas Power 220 Städte, Militär- und Industrieanlagen sowie Verkehrsknotenpunkte festgelegt.
Zur gleichen Zeit wurde Florida in ein Heerlager verwandelt. Der britische Konsul in Miami fühlte sich an Südengland im Juni 1944 und die letzten Tage vor der Landung in der Normandie erinnert; andere Beobachter sahen die Halbinsel unter der Last des militärischen Geräts alsbald im Meer versinken. Knapp 600 taktische Kampfbomber waren über die Flugfelder der Region verteilt worden, ausgestattet mit Treibstoff, Bomben und Bordmunition für tausende von Angriffen; 1190 hätten bereits am ersten Tag eines Krieges gegen Kuba geflogen werden sollen. Unter dem Kommando der Armee bereiteten sich acht Divisionen mit insgesamt 120.000 Mann und dem größten seit 1944 mobilisierten Kontingent an Fallschirmspringern auf eine amphibische Landung östlich von Havanna vor. Zum Vergleich: In der Normandie hatte man 150.000 Soldaten abgesetzt. Die Marine bot 180 Schiffe, darunter acht Flugzeugträger und 26 Zerstörer, in den Gewässern um Florida auf. Und so weiter und so fort in einer mit Superlativen überquellenden Statistik. Für die ersten zehn Kriegstage rechnete das Pentagon allein in den eigenen Reihen mit 19.000 Toten und Verwundeten.
Auf Kuba selbst erklärte Fidel Castro am späten Nachmittag des 22. Oktober den Ausnahmezustand. Wie viele reguläre Soldaten und auf die Schnelle bewaffnete Milizionäre aus Arbeitern, Bauern und Studenten man mobilisierte, ist umstritten. Manchmal ist von 350.000, mitunter auch von 420.000 die Rede – gemessen an einer Bevölkerung von sieben Millionen eine in jedem Fall enorme Quote. Die in drei Verteidigungszonen aufgeteilte Insel glich fortan einer zum Äußersten vorbereiteten Festung. «Ein Zurückweichen gab es für uns nicht», beschrieb Fidel Castro die Situation im Rückblick. «Um die Wahrheit zu sagen: Es kam uns überhaupt nicht in den Sinn, nachzugeben.» Der Diktator meinte tatsächlich, was er eine gute Woche lang in der Zeitung Revolución zum Besten gab: dass seine Regierung notfalls an der Seite des Volkes «in größter Würde» den Heldentod sterben würde. Eingedenk dieser «suprema dignidad» gab Castro nicht nur den Befehl, amerikanische Tiefflugaufklärer unter Feuer zu nehmen. Am 27. Oktober, die Entwicklung schien auf allen Seiten außer Kontrolle zu geraten, forderte er Nikita Chruschtschow in einem gewundenen Brief auch zum nuklearen Erstschlag gegen die USA auf – für den Fall, dass die USA auf Kuba einmarschieren sollten und zur Rache für das gewaltsame Ende einer Revolution, die mittels der sowjetischen Waffen eigentlich hatte geschützt werden sollen.
Warum ausgerechnet Kuba? Wieso zu diesem Zeitpunkt? John F. Kennedy war sich mit seinen engsten Beratern einig, dass drei Dutzend sowjetische Mittelstreckenraketen vor der eigenen Haustür am militärischen Kräfteverhältnis nicht das Mindeste änderten. Die USA verfügten auf absehbare Zeit über ein turmhoch überlegenes Arsenal an nuklearen Waffen, wären selbst nach einem sowjetischen Erstschlag noch in der Lage gewesen, den Angreifer samt seiner Verbündeten vollständig zu vernichten. In anderen Worten: Die nationale Sicherheit war nicht berührt, die Logik der beiderseitigen Abschreckung war und blieb in Kraft. In Kuba ging es einzig und allein um ein politisches Problem, um das Problem, dass die sowjetischen Raketen die politischen Gewichte der Macht zu verschieben drohten. Zumindest, so John F. Kennedy, hätte es den Anschein gehabt. «Und der Schein ist Teil der Realität.»
Dennoch bleibt die Frage, wovon diese Geschichte im Kern handelt. Seit 1947 lieferten sich Ost und West einen psychologischen Abnutzungskrieg um Prestige und Symbole ihrer Macht: 1948 in Berlin, 1950 bis 1953 in Korea, 1956 wegen Ungarn, Polen und Suez, seit 1956 wiederholt in den Meerengen vor Taiwan und zwischen 1958 und 1961 erneut in Berlin. In allen Fällen hatte man es bei verbalen Drohkulissen belassen und sich mit ideologischen Redeschlachten zufriedengegeben, zu keinem Zeitpunkt machte der Eine gegen den Anderen mobil. In Kuba indes wurde der Einsatz erhöht – und zwar auf die provokanteste Art und Weise. 1962 schickte man keine Stellvertreter aufs Feld, wegen Kuba gingen beide Seiten direkt aufeinander los. Vor allem diese Besonderheit verlangt nach einer Erklärung.
Der Kalte Krieg musste erst zu Ende gehen, ehe einigermaßen befriedigende Antworten gegeben werden konnten. Gewiss lag bereits vor dem Zusammenbruch der UdSSR eine kaum noch zu überschauende Fülle an Literatur zur Kuba-Krise vor, nicht zuletzt angeregt durch Tonbandaufnahmen, auf denen die wichtigsten Sitzungen von John F. Kennedys Krisenstab dokumentiert sind. Die Entscheidung, überall im Weißen Haus Abhöranlagen zu installieren – im Kabinettssaal, im Oval Office sowie in einigen Privatgemächern – und die Bänder in der Präsidentenbibliothek aufzubewahren, war für Historiker einerseits ein Glücksfall; andererseits vergrößerte dieser Fund die Asymmetrie des Wissens. Während sich die Ereignisse in Washington beinahe minutiös rekonstruieren ließen, blieb das Geschehen in Moskau und Havanna allenfalls in Umrissen erkennbar. Quellen aus der Sowjetunion standen kaum, aus Kuba überhaupt nicht zur Verfügung. Folglich wurde die Geschichte der Kuba-Krise bis zum Ende der 1980er Jahre immer nur zu einem Drittel erzählt.
Seither hat sich die Situation grundlegend verbessert, in erster Linie, weil eine Gruppe amerikanischer Historiker die Umbrüche in der UdSSR und Osteuropa geschickt zu nutzen verstand. Allen voran Mitarbeitern der Harvard- und der Brown-University, des National Security Archive und des Cold War International History Project war es zu verdanken, dass Veteranen der Kuba-Krise, Fidel Castro eingeschlossen, auf internationalen Tagungen ihre Erinnerungen zu Protokoll gaben. Dieser Initiative folgte eine unerwartet großzügige Freigabe sowjetischer und kubanischer Akten. Dass Bestände des Zentralkomitees der KPdSU, der sowjetischen Geheimdienste und Streitkräfte weiterhin verschlossen bleiben, ist ebenso bedauerlich wie der auf Kuba zu beobachtende Rückfall in alte Archivsitten. Aber dergleichen ist längst kein Einwand mehr gegen den Anspruch, alle Beteiligten einbeziehen und ein aufregendes Kapitel Zeitgeschichte aus drei Perspektiven erzählen zu wollen.
Ironischerweise trug ausgerechnet die Erweiterung der Quellenbasis zu einer neuerlichen Verengung der Diskussion bei. Nachdem Anfang 1992 bekannt geworden war, dass Moskau auch nukleare Gefechtsfeldwaffen nach Kuba verschifft hatte, feierte eine Erzählung im Konjunktiv ihre Triumphe: Wenn die USA einmarschiert wären, hätten die Sowjets dann ihre taktischen Atomwaffen an den Stränden Kubas eingesetzt? Wäre der Dritte Weltkrieg ausgelöst worden, weil die Amerikaner nicht wussten, was sie auf der Insel erwartete? Hätte ein nachrangiger Kommandeur die ganze Welt in den Abgrund reißen können? Gerade die Prominenten unter den Zeitzeugen und Historikern wollten die Fragezeichen erst gar nicht gelten lassen. Für sie stand fortan fest: Die Kuba-Krise ist die Geschichte eines nur um Haaresbreite vermiedenen Weltkrieges. Bis heute erliegen Autoren der Versuchung, die Kriegsgefahr möglichst grell auszuleuchten und mit immer neuen Details aufzuwarten, die reißerisch zu glimmenden Lunten am nuklearen Pulverfass erklärt werden, auch um den Preis, dass Spekulationen den Platz von Fakten einnehmen. «Am Abgrund», «Nervenprobe», «Eine Minute bis Mitternacht»: Wie in den 1960er Jahren wird die Kuba-Krise als Kriminalgeschichte aufbereitet, ohne Vorher und Nachher, auf die berühmten 13 Tage im Oktober 1962 und mitunter auf einen einzigen Tag fixiert, den berüchtigten «Schwarzen Samstag».
Zwar gibt es keinen Grund, die Risiken dieser Konfrontation in Abrede zu stellen. Wer Apparate in der eingangs beschriebenen Dimension in Bewegung setzt, muss mit unangenehmen Überraschungen und letzten Endes auch mit Kontrollverlust rechnen. Je mehr Akteure im Spiel sind, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit von Eigenmächtigkeiten, Fehlwahrnehmungen oder schlicht Missverständnissen. John F. Kennedy brachte es auf den Punkt, als ihn an einem hektischen Tag obendrein die Nachricht vom Irrflug eines U-2-Aufklärers über der UdSSR erreichte: «Es gibt immer irgendeinen Hurensohn, der nicht mitbekommt, was Sache ist.» Aber Dramatisierungen sind gleichermaßen fehl am Platz. Geschichte wird nicht von Autopiloten dirigiert, eine auf Kuba getroffene Entscheidung musste nicht zwingend einen andernorts vorbereiteten Gewaltfahrplan aktivieren. Das marktgängige Kokettieren mit dem Weltuntergang trägt zum Verständnis komplexer Zusammenhänge wenig, zur Legendenbildung umso mehr bei.
Legenden sind seit Jahrzehnten die Krux der Geschichte. Wie Mehltau liegen sie über den Erzählungen zur Kuba-Krise, in die Welt gesetzt keine sechs Wochen nach dem Rückzug der sowjetischen Raketen. John F. Kennedy persönlich sorgte dafür, dass über seinen Freund Charles Bartlett Anfang Dezember 1962 die gewünschte Lesart ihren Weg in die Saturday Evening Post fand. Erstens: Man wurde von den Russen im Oktober kalt erwischt, niemand hatte mit einem solchen Schritt gerechnet, und von der Unberechenbarkeit Chruschtschows abgesehen gibt es keine andere Erklärung. Zweitens: Wer Moskau in die Schranken weisen will, muss sich die Lektionen der 1930er Jahre zu eigen machen und falschen Kompromissen widerstehen; einzig unnachgiebige Härte führt zum Erfolg. Drittens: John F. Kennedy leitete eine Gruppe abgeklärter Krisenmanager von kühler Vernunft und souveränem Überblick, Männer mit eisernen Nerven und moralischem Gewissen; die Welt aus der Gefahrenzone herausgelotst zu haben, ist hauptsächlich, wenn nicht einzig ihr Verdienst. Dieser Dreiklang wurde seither in der akademischen Literatur immer wieder variiert. Mehr als andere und mit ausnehmend nachhaltigem Erfolg waren Historiker aus Harvard darauf bedacht, dem großen Sohn von Massachusetts einen immergrünen Lorbeerkranz zu flechten. Bei ihnen bedienten sich im Jahr 2000 auch die Drehbuchautoren von «Dreizehn Tage», als sie Kevin Costner die Worte in den Mund legten: «Jack und Bob sind clevere Jungs. […] Es gibt niemanden, dem ich lieber das Leben von Helen anvertrauen würde und das der Kinder.» Von kriegstreiberischen Militärs und ignoranten Kongressabgeordneten bedrängt, blieben Costners Helden prinzipienfest – «und wenn diese Regierung die Toilette runtergespült wird».
Sich der Kuba-Krise auf ein Neues zu nähern, heißt also in erster Linie, Sichtachsen in einem überwucherten Terrain freizulegen. Vor allem aber muss es um eine ausgewogene Justierung der Gewichte gehen. In diesem Sinne gebührt der Vorgeschichte besondere Aufmerksamkeit, insbesondere der Frage, weshalb der «Regimewechsel» auf Kuba sich von einer politischen Option zu einer psychologischen Obsession auswuchs. Obsessiv ist keineswegs ein auf John F. Kennedy allein gemünztes Attribut; in der einen oder anderen Weise trifftes auch auf Nikita Chruschtschow und Fidel Castro zu. Dass ausgerechnet diese drei Männer sich als Kontrahenten begegneten, ist ein lange Zeit unterschätzter Umstand. Vieles spricht sogar dafür, dass es mit einer anderen Besetzung an den Staatsspitzen überhaupt nicht zu einer Krise gekommen wäre. Andererseits hing die Krisenpolitik im engeren Sinne, die Entscheidungsfindung im Laufe der 13 Tage also, von vielfältigen Faktoren jenseits der Hauptprotagonisten ab. Wie es um die Rolle des Militärs und der Geheimdienste bestellt war, welchen Handlungsspielraum man untergeordneten Kommandeuren einräumte, inwieweit fehlerhafte Informationen oder gestörte Kommunikation eine Rolle spielten, ob man sich Ausstiegsszenarien zurechtgelegt hatte und welche Risiken vorsätzlich eingegangen wurden – dergleichen wird bei der Bewertung der turbulenten Oktobertage vorrangig zu würdigen sein. Schließlich und endlich sollte die Nachgeschichte nicht als bloßer Nachklapp in Erscheinung treten. Die Krise wurde am 28. Oktober zweifelsohne entschärft; von einer Beilegung hingegen konnte bis weit in den Dezember hinein keine Rede sein. Und ob von einer Wende im Kalten Krieg gesprochen werden sollte, erscheint mehr als zweifelhaft. Denn auf allen Seiten wurden Lehren gezogen, die in späteren Jahren den Kalten Krieg aufs Neue anheizen sollten. Darin liegt, jenseits der Aufregung und Aufgeregtheiten vom Oktober 1962, die eigentliche Bedeutung der Kuba-Krise.
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«Unmöglich ist nichts. Es gibt nur unfähige Menschen.» (Fidel Castro) |
Ende November 1956 machen sich 83 Guerilleros mit einem viel zu kleinen Schiff, der später legendären «Granma», von Mexiko nach Kuba auf. Dass sie wenige Tage später die Insel tatsächlich erreichen, grenzt an ein Wunder. «Das war keine Landung», so einer der Beteiligten, «das war ein Schiffbruch.» Die Truppe verliert 61 Mann durch Tod und Verhaftung, dennoch erklärt ihr Führer: «Jetzt werden wir den Krieg gewinnen. Der Kampf kann beginnen.» Jeder andere wäre wahrscheinlich ausgelacht worden. Fidel Castros Auftreten indes, eine Mischung aus Schwärmerei und Fanatismus, erstickt jeden Zweifel. Man zieht sich in die Sierra Maestra zurück, liefert sich Scharmützel mit der Armee, verübt Sabotageakte und hofft auf die Unterstützung der Unterdrückten und Entrechteten. Auf knapp 3000 Mann wächst die «Befreiungsarmee» in den nächsten Monaten an, genug, um den verhassten Despoten Fulgencio Batista am Neujahrstag des Jahres 1959 zum Rückzug zu zwingen und tags darauf triumphierend in Havanna einzuziehen.
Der Anfang der Geschichte klingt wie eine Posse und leuchtet dennoch ein. Kubas moralische und politische Reserven waren verbraucht. Batista, in wechselnden Rollen seit den 1930er Jahren die Schlüsselfigur einer auf Intrigen gegründeten Macht, hatte am Ende sogar Teile der eigenen Armee gegen sich aufgebracht. Die Mehrheit im Lande wollte einen Wechsel, vermochte es aber nicht, ihrem Wunsch politische Gestalt und Richtung zu geben. Ganz anders Fidel Castro: Der begnadete Redner, im Umgang mit Massenmedien schon damals gewieft, zelebrierte Kubas Aufbruch in eine selbstbestimmte Zukunft wie ein religiöses Hochamt: «Patria o muerte», «Vaterland oder Tod». Obendrein spielte er die untereinander zerstrittenen Oppositionsgruppen erfolgreich gegeneinander aus – entgegenkommend, wenn ihm keine andere Wahl blieb, skrupellos, sobald sich die Gelegenheit bot. Chaos, das Unvermögen der Anderen, Zufall und schieres Glück bestellten einem charismatischen Hasardeur das Feld.
Welche Absichten Fidel Castro in der Frühphase der Revolution verfolgte, ist eine nach wie vor umstrittene Frage. Die Einen sehen ihn als in der Wolle gefärbten Kommunisten, der aus taktischen Gründen Zurückhaltung üben wollte, um die Konsolidierung seiner Macht nicht unnötig zu gefährden. In der Tat hofierte er den kommunistischen Flügel seiner «Bewegung 26. Juli» und verhalf Kadern der Sozialistischen Volkspartei (PSP) zu einem raschen politischen Aufstieg, ganz zu schweigen von seinen engsten Freunden und Weggefährten Raul Castro, Emilio Aragones und Ernesto «Che» Guevara, die schon damals aus ihrer Verehrung Stalins keinen Hehl machten. Andererseits gibt es ebenso gute Gründe für die Behauptung, dass Castro weder damals noch zu einem späteren Zeitpunkt irgendeiner Ideologie, sondern immer nur sich selbst verpflichtet war. Von einem glaubhaften Nationalismus abgesehen, trat er hauptsächlich als selbstverliebter «Fidelista» in Erscheinung, als erster und wortgewaltigster Vertreter seiner selbst, dem persönliche Anerkennung und uneingeschränkte Macht über alles ging.
In Washington forderten derweil alte Reflexe ihren Tribut, Reminiszenzen an das 1901 vom US-Kongress reklamierte und ein Jahr später tatsächlich in der kubanischen Verfassung verbriefte Recht der Vereinigten Staaten, sich jederzeit auf der Insel einmischen zu dürfen. Dass Kuba im Zeichen dieses so genannten «Platt-Amendment» jahrzehntelang wie ein Protektorat behandelt wurde und dass zur Sicherung nordamerikanischer Wirtschafts- und Militärinteressen zwischen 1906 und 1923 wiederholt Marines auf die Insel entsandt wurden, lag nahe. Die zwischenzeitlich von Franklin D. Roosevelt proklamierte, auf Gleichberechtigung gründende «Politik der guten Nachbarschaft» war mit Beginn des Kalten Krieges Makulatur. 1954 sorgten die USA auf einer Konferenz der Organisation Amerikanischer Staaten in Caracas dafür, dass ihr Anspruch auf Intervention erneut bekräftigt und auf Lateinamerika als Ganzes ausgeweitet wurde, zwecks «Abwehr der internationalen kommunistischen Bewegung», wie es in der Sprache der Zeit hieß. Vor diesem Hintergrund machte sich kaum jemand in der Administration Eisenhower für eine Politik des Abwartens stark. Kurz: Castro musste weg, ehe er mit seinen Ideen eines unabhängigen Entwicklungsweges auch andernorts für Unruhe sorgte.
Anfang März 1959, gut acht Wochen nach dem Sieg der Rebellen, stand der «Regimewechsel» in Havanna erstmals auf der Tagesordnung des Nationalen Sicherheitsrats in Washington. Zu einer Zeit, als von einer kubanisch-sowjetischen Liaison keine Rede sein konnte und Nikita Chruschtschow dem Vernehmen nach über Fidel Castro noch die Nase rümpfte, skizzierten Mitarbeiter der CIA, des Außen- und Verteidigungsministeriums sowie des Weißen Hauses bereits in Umrissen Amerikas künftige Kuba-Politik: Exilkubaner militärisch ausbilden und auf eine Invasion vorbereiten, Saboteure einschmuggeln, Oppositionelle auf Kuba unterstützen und ein Klima allgemeiner Unzufriedenheit schaffen, Pläne für ein militärisches Eingreifen der USA und nicht zuletzt für die Ermordung Fidel Castros parat halten. Die gesamte Führungsspitze zu ermorden, galt schon bald als Voraussetzung eines erfolgreichen Putsches und rückte auf der Agenda sukzessive nach oben – Szenarien vorwegnehmend, die auch für den Kongo unter Patrice Lumumba und mit Blick auf Rafael Trujillo in der Dominikanischen Republik ausgearbeitet wurden.
Die Umsetzung dieser Vorgaben ist weithin bekannt, vorweg die Rekrutierung von ungefähr 1500 Söldnern, überwiegend Exilkubanern, die seit Herbst 1960 in Guatemala ihre Landung auf Kuba trainierten. Dass die CIA zeitgleich Widerständler im Südosten der Insel aus der Luft mit Waffen versorgte und vielerorts Tonnen von Gewehren, Munition und Granaten in Bunkern deponierte, dass binnen eines Jahres über 1000 Bomben und Brandsätze gezündet wurden, die schätzungsweise 300.000 Tonnen Zucker nebst Dutzenden von Tabaklagern vernichteten, ist ebenfalls gut dokumentiert. Andere, gleichermaßen seriös recherchierte Facetten amerikanischer Politik sorgen indes noch immer für Erstaunen. Gemeint ist in erster Linie Washingtons Verbindung zum organisierten Verbrechen. Ende August 1960 nahm die CIA mit ausdrücklicher Billigung des Behördenchefs Allan Dulles Kontakt zu Santos Trafficante, Meyer Lansky, Johnny Rosselli und Sam Giancana auf, Mafiagrößen, denen man wegen verloren gegangener Bordelle und Kasinos ein Motiv für die Ermordung Castros zuschrieb. Es war der Beginn einer langjährigen Geschäftsbeziehung, über die aus naheliegenden Gründen nur in Ausnahmefällen Buch geführt wurde. Offiziell bekennt sich die CIA für die Zeit von 1960 bis 1965 zu acht Mordversuchen; der kubanische Geheimdienst zählt bis heute deren 638.
Im Sommer und Herbst 1960 wurde die «kubanische Gefahr» zum Reizthema im Wahlkampf um das Weiße Haus. Beide Kandidaten – John F. Kennedy für die Demokraten, Richard Nixon für die Republikaner – hatten insofern leichtes Spiel, als Castro die düstersten Prognosen zu bestätigen schien: Militärgerichte und Revolutionstribunale verurteilten allein im ersten Jahr seiner Herrschaft 1900 politische Gegner zum Tode, die 1960 forcierte Enteignung ausländischer Industrie-, Handels- und Agrarunternehmen sowie die Verstaatlichung der Banken kostete große amerikanische Unternehmen, von Esso über Procter&Gamble bis zur Chase Manhattan Bank, weit über eine Milliarde Dollar an Investitionen. Kennedy gab sich mit dergleichen gar nicht mehr ab; er erklärte Kuba kurzerhand zu einer militärischen Bedrohung für die Vereinigten Staaten. Zum ersten Mal war von «roten Raketen» und von der Möglichkeit die Rede, dass Kuba zu einem riesigen Flugzeugträger vor Floridas Küste hochgerüstet werden könnte. «In den nächsten Monaten wird der Kampf gegen Castro nicht nur in den Bergen von Kuba stattfinden», so Kennedy weiter, «sondern überall in den Bergen, in den Ebenen und Tälern Lateinamerikas.»