Eine Geschichte
des anthropologischen Denkens
C.H.Beck
Der aufrechte Gang ist niemals nur ein anatomisches Faktum gewesen. Er hat stets auch menschlicher Selbstdeutung gedient. Dieses Buch macht deutlich, dass der aufrechte Gang schon in der Antike als Ausdruck der privilegierten Stellung des Menschen im Kosmos angesehen wurde. Es führt seine Leser auf anthropologischen Seitenwegen durch das Mittelalter und legt schließlich die Hintergründe des neuzeitlichen Bruches mit der klassischen Tradition offen: In der Moderne erscheint der aufrechte Gang nicht mehr nur als Privileg, sondern auch als Risiko. Kurt Bayertz legt damit die erste historische Gesamtdarstellung des anthropologischen Denkens auf der Grundlage des aufrechten Ganges vor.
Kurt Bayertz lehrt als Professor für Praktische Philosophie an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Neben ethischen Fragen, darunter Warum überhaupt moralisch sein?, 2004 erschienen bei C.H.Beck, ist die philosophische Anthropologie eines seiner wichtigsten Arbeitsgebiete.
Für Nikola
Vorwort
Zur Zitierweise
Erster Teil
Aufrechte Himmelsbetrachter
1. Die Wendung nach innen
2. Hier ist Platons Mensch!
3. Eine hartnäckige Anmutung
4. Der Mikrokosmos
5. Aufgaben eines göttlichen Wesens
6. Himmlische Schauspiele
Zweiter Teil
Verkrümmte Ebenbilder
7. Biblische Marginalisierung
8. Import eines heidnischen Topos
9. Ein Standbild Gottes
10. Die große Verkrümmung
11. Das Schicksal der Schlange (Exkurs)
12. Wegweiser zur Erlösung
13. Und nach dem Tod?
Dritter Teil
Aufrecht kriechende Maschinen
14. Geburt eines sterblichen Gottes
15. Einbruch der Kontingenz
16. Mechanik des Gehens
17. Die quadrupedische Bedrohung
18. Auftritt des natürlichen Menschen
19. Die nachtheilige Mode, zweyfüßig zu sein
20. Ein Versöhnungsversuch
21. Evolution der Bipedie
22. Der Wille zur Selbstaufrichtung
23. Postkosmologische Verunsicherung
Vierter Teil
Freihändige Kulturwesen
24. Das absolute Werkzeug
25. Gehen und Sprechen
26. Das Kapitel vom Sex
27. Soziale Auf- und Abrichtung
28. Kein Accessoire des eigentlichen Menschen
29. Von der Metaphysik zur Metaphorik
Anhang
Anmerkungen
Literaturverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Personenregister
Sachregister
Es kann Staunen erregen, welch eine üppige Vielfalt an Deutungen die schlichte Tatsache provoziert hat, dass der Mensch aufrecht geht. Seit der Antike hat man in dieser Tatsache sein Alleinstellungsmerkmal unter den Tieren sehen wollen: eine Besonderheit, die ihn unter den Vierfüßern buchstäblich ‹hervorhebt›. Zu einem Sprungbrett vielfältiger anthropologischer Selbstdeutungen konnte der aufrechte Gang nicht zuletzt deshalb werden, weil er auf zwei verschiedene Weisen aufgefasst werden kann: Zum einen als ein handfestes körperliches Merkmal, das anatomisch, mechanisch oder verhaltensbiologisch zu beschreiben und in seinen Konsequenzen zu analysieren ist; und zum anderen als ein Symbol für die besondere Stellung des Menschen in der Welt oder für seine besondere Beziehung zu Gott. In dieser symbolischen Deutung gewinnt der aufrechte Gang eine normative Funktion, die sich auf kreative Weise mit den jeweils dominanten moralischen, religiösen und kulturellen Werten verknüpfen lässt. Schon die in vielen Sprachen bestehende enge semantische Beziehung zwischen dem räumlichen Ausdruck ‹aufrecht› und dem normativen Begriffsfeld von ‹recht›, ‹richtig› oder ‹aufrichtig›, deutet darauf hin.
Umso merkwürdiger ist es, dass eine Gesamtdarstellung dieser Deutungsvielfalt und ihrer historischen Entwicklung bisher noch nicht versucht wurde. Dies mag damit zusammenhängen, dass der aufrechte Gang zwar stets ein Thema des anthropologischen Denkens war, aber nur selten in seinem Mittelpunkt stand. Dominiert wurde es in nahezu allen Phasen seiner Geschichte von dem Kontrast zwischen Leib und Seele bzw. Körper und Geist. Die folgenden Kapitel werden aber zeigen, dass sich die Geschichte des anthropologischen Denkens zu erheblichen Teilen auch am Leitfaden des Themas ‹aufrechter Gang› nachzeichnen lässt. Denn dieses Merkmal wurde oft als eine Gelenkstelle genommen, an der unterschiedliche, scheinbar weit auseinanderliegende Eigenschaften des Menschen miteinander verknüpft sind: sein Äußeres und sein Inneres, sein Körper und sein Geist, seine Natur und seine Kultur. Vor allem bot es sich als Brücke zwischen Anthropologie und Ethik an.
Das hier vorliegende Buch soll erstens die verschiedenen Deutungen darstellen, die der aufrechte Gang über die Jahrhunderte hinweg gefunden hat; es soll zweitens diese Deutungen in den Kontext des allgemeinen, jeweils epochal dominanten menschlichen Selbstverständnisses stellen; und es soll drittens die Hauptentwicklungslinien des anthropologischen Denkens sichtbar machen. Dabei wird ‹anthropologisches Denken› in einem weiten Sinne verstanden. Obwohl das Schwergewicht der nachfolgenden Darstellung auf der philosophischen Anthropologie liegt, schließt sie zum einen theologische und naturwissenschaftliche Selbstdeutungen des Menschen ein und berücksichtigt zum anderen auch mythologische und literarische Quellen. Alle diese Arten des Denkens werden als prinzipiell gleichberechtigt und gleichwertig behandelt. Es geht um die Frage, wie über den Menschen und seine Gangart gedacht wurde und wird; nicht von wem (einem Philosophen oder einem Dichter) oder wo (in einem Kloster oder in einem Labor) darüber gedacht wurde. Ein solcher nicht-exklusiver Zugang lässt gut erkennen, dass die grundlegenden Deutungsansätze und -perspektiven bezüglich des aufrechten Gangs (und des Menschen überhaupt) nicht auf bestimmte Disziplinen oder Textsorten beschränkt sind; dass Philosophie, Theologie, Naturwissenschaft und Dichtung über diese Ansätze und Perspektiven subkutan miteinander verknüpft sind; und dass aus diesen Verknüpfungen unterschiedliche Gesamtkonstellationen anthropologischen Denkens erwachsen.
Die ersten drei Teile dieses Buches stellen die Hauptlinien der Deutung des aufrechten Gangs von der Antike bis zur Gegenwart dar und konzentrieren sich dabei auf die jeweils zugrunde liegenden Ansichten über die Stellung des Menschen in der Welt bzw. zu Gott. Der vierte Teil ist demgegenüber sozial- oder kulturanthropologisch ausgerichtet. Er geht den zahlreichen Ansätzen nach, die der spezifischen Körperhaltung des Menschen eine kausale Rolle bei der Entstehung und Gestaltung seines sozialen und kulturellen Lebens zuschreiben. Die Darstellung dieses Teils folgt nicht mehr (wie die ersten drei Teile) durchgängig der chronologischen Ordnung.
Dieses Buch hätte ohne die Hilfe zahlreicher Kolleginnen und Kollegen nicht geschrieben werden können; ihnen bin ich zu Dank verpflichtet. Allen voran möchte ich Martin Engelmeier (Münster) nennen, der meine Arbeit von den ersten Monaten an mit uneigennützigem Interesse verfolgt und mit seinen beneidenswert weitläufigen Kenntnissen unterstützt hat. Wertvolle Hinweise auf einzelne Quellen verdanke ich Lothar Kreimendahl (Mannheim); Hermann Josef Real (Münster); Frank Schäfer (Münster); Kurt W. Schmidt (Frankfurt); Werner Schneiders (Münster); Ludwig Siep (Münster); und Dirk Westerkamp (Kiel). Vorläufige Fassungen des Buches oder einzelner seiner einzelner Kapitel wurden gelesen von Harald Burg (Münster); Alfons Fürst (Münster); Jörg Hardy (Berlin); Winfried Henke (Mainz); Norbert Herold (Münster); Wilfried Hinsch (Köln); Dirk Hueske-Kraus (Böblingen); Nikola Kompa (Osnabrück); Johann Kreuzer (Oldenburg); Thomas Leinkauf (Münster); Günther Mensching (Hannover); Peter Rohs (Münster); Folker Siegert (Münster); Andreas Vieth (Münster). Ihre kritischen Kommentare haben mich vor manchem Irrtum bewahrt und wesentlich zur Verbesserung beigetragen. Weiter danke ich meinen studentischen Hilfskräften für ihre Hilfe bei der Literaturbeschaffung und bei der Endredaktion.
Essentiell war auch die institutionelle Unterstützung, die mir zuteil wurde. So habe ich im Frühsommer 2006 einen zweimonatigen Aufenthalt als Visiting Fellow am Centro per le scienze religiose in Trento genießen und für wichtige Vorarbeiten nutzen können. Ich danke Antonio Autiero, dem damaligen Direktor des Instituts, für die Einladung und die hervorragenden Arbeitsmöglichkeiten vor Ort. Große Teile des Buches habe ich während einer anschließenden dreisemestrigen Beurlaubung von meinen universitären Pflichten geschrieben, die durch das von der Stiftung Volkswagenwerk und der Fritz-Thyssen-Stiftung gemeinsam finanzierte Programm «opus magnum» möglich wurde. Ich danke beiden Stiftungen für diese Förderung, ohne die es völlig aussichtslos gewesen wäre, dieses Projekt überhaupt in Angriff zu nehmen.
Zitierte Quellen werden im Text in runden Klammern nachgewiesen. Dabei werden zwei verschiedene Zitierweisen parallel verwandt:
Durchweg wurden leicht greifbare Ausgaben und, wenn immer möglich, deutsche Übersetzungen verwandt; in einigen wenigen Fällen wurde die zitierte Übersetzung stillschweigend modifiziert. Hervorhebungen im Original wurden grundsätzlich nicht übernommen. Wo im Literaturverzeichnis keine deutsche Übersetzung angegeben ist, wurden Übersetzungen verwandt, die zum Teil von Barbara Hosse, Ludger Jansen, Raja Rosenhagen und Anna Sindermann angefertigt wurden. Die Verantwortung für die Korrektheit dieser Übersetzungen liegt natürlich bei mir.
Zusätzliche Erläuterungen, Abseitiges und weiterführende Literatur wurden in (möglichst wenige) Anmerkungen ausgelagert; sie finden sich im Anhang. Das Buch ist ohne sie verständlich, bisweilen aber vielleicht weniger amüsant.
Aber das eigentliche Wesen des Menschen und was ihm demgemäß im Unterschied von den anderen zu tun oder zu leiden zukommt, das ist es, wonach [der Philosoph] sucht und unermüdlich forscht.
Platon
Obwohl die Wurzeln der von Ovid poetisch reformulierten klassischen Selbstdeutung des Menschen weit zurückreichen, wahrscheinlich über die Anfänge der Philosophie hinaus in den Mythos, sollte es sehr lange dauern, bis diese Selbstdeutung theorieförmig ausgearbeitet wurde. Von einem ausgeprägten Interesse am Menschen kann in der frühen Phase des philosophischen Denkens keine Rede sein. Wenn es eine Art natürlicher Reihenfolge gibt, in der die Dinge zu Bewusstsein kommen und zum Gegenstand des Denkens werden, dann steht der Mensch selbst nicht an ihrer Spitze! Die griechische Philosophie hat sich ihm erst spät zugewandt und an ihrer Entwicklung ist gut nachzuvollziehen, wie voraussetzungsreich die Idee des Menschen ist, wie lange es gedauert hat und wie viel Mühe aufgewandt werden musste, um sie klar zu erfassen. In seinen Anfängen richtete sich das griechische Denken bekanntlich vor allem auf die überwältigenden Phänomene ‹da draußen›, auf die leuchtenden Himmelskörper etwa, die ihre regelmäßigen Bahnen am nächtlichen Himmel ziehen. Es fragte also nach dem, was wir heute ‹Natur› nennen, und suchte sich ihre vielfältigen Erscheinungsformen zurechtzulegen. Wenn es richtig ist, dass die Philosophie mit der Verwunderung begann, so gehörte der Mensch damals nicht zu den Gegenständen, die Verwunderung hervorriefen. Bei genauerem Zusehen gibt es auch keinen Grund, etwas anderes zu erwarten. Denn was könnte gewöhnlicher und daher weniger verwunderlich für den Menschen sein, als jene Wesen, unter denen er aufgewachsen ist, mit denen er sein alltägliches Leben verbringt und von denen er selbst eins ist? Während die äußere Welt täglich aufs Neue Staunen hervorrufen und zum Anstoß des theoretischen Denkens werden konnte, gab sich der Mensch selbst keine Rätsel auf. Noch im fünften vorchristlichen Jahrhundert, als die allererste Jugend der Philosophie längst verstrichen war, charakterisierte Demokrit den Menschen als das Wesen, das wir alle kennen.[2] Warum hätte man über etwas eingehend nachdenken sollen, das alle kennen?
Dieses Desinteresse illustriert auch jene berühmte Anekdote aus vorsokratischer Zeit, die Platon im Theätet erzählt. Ihr zufolge war Thales von den Phänomenen am Himmel derart in Anspruch genommen und so sehr in den Blick «nach oben» vertieft, dass er einen Brunnen vor seinen Füßen übersah und hineinfiel. Eine Magd habe ihn daraufhin ausgelacht und ihm vorgehalten, das Studium der himmlischen Dinge halte ihn von der Erkenntnis dessen ab, «was vor der Nase und vor den Füßen liege». Dieser Spott, so lässt Platon sein Sprachrohr Sokrates kommentieren, passe auf jeden, der sich ganz der Philosophie verschrieben habe, denn ein solcher habe «keine Ahnung von seinem Nebenmann und Nachbar, nicht nur, was er betreibt, sondern beinahe, ob er überhaupt ein Mensch ist oder was sonst für eine Kreatur». (Tht. 174a-b) Die oft nacherzählte und gedeutete Thales-Anekdote macht auf den Gegensatz aufmerksam, der zwischen einer theoretischen Einstellung zur Welt und dem praktischen Leben in dieser Welt besteht; und auch auf die Risiken, die für den Theoretiker damit verbunden sind. Thales ist von seinen theoretischen Interessen so sehr absorbiert, dass er stürzt und sich vor der Magd lächerlich macht. Die Entfremdung des Theoretikers von den Menschen, die sich hier eher komödiantisch-harmlos ausnimmt, weist auf einen weit ernsteren Konflikt voraus, der dann später zur Verurteilung und Hinrichtung des Sokrates führen sollte. – Die Anekdote kann aber auch anders verstanden werden. Wir erfahren aus ihr ja, dass die theoretische Einstellung zur Welt und die Konzentration auf den Himmel mit einem theoretischen Desinteresse an dem scheinbar so naheliegenden Gegenstand ‹Mensch› verbunden war. Solange der Blick «nach oben» gerichtet bleibt, rangiert der «Nebenmann und Nachbar» unter den vielen Dingen, die zu sehr «vor der Nase und vor den Füßen» liegen, um mehr als nur beiläufig wahrgenommen zu werden. So verstanden, identifiziert die Anekdote einen Grund für das anthropologische Defizit der vorsokratischen Philosophie. Dass der Mensch in ihr nur am Rande vorkommt, ist kein Zufall, sondern Konsequenz einer bestimmten Ausrichtung der theoretischen Aufmerksamkeit.
Der anschließende Satz, den Platon Sokrates in den Mund legt, beginnt daher mit einem «aber» und plädiert für eine Neuausrichtung dieser Aufmerksamkeit. Er gibt eine Ultrakurzfassung des sokratischen Theorieprogramms: «Aber das eigentliche Wesen des Menschen und was ihm demgemäß im Unterschied von den anderen zu tun oder zu leiden zukommt, das ist es, wonach er sucht und unermüdlich forscht.» Die Theorie soll sich vom Himmel ab- und dem Menschen und seinen Angelegenheiten zuwenden. Damit wird ein Schritt in Richtung auf eine Theorie des Menschen getan und einige Interpreten haben tatsächlich von einer ‹anthropologischen Wende› bei Sokrates und der Sophistik allgemein gesprochen. Doch es war nur ein Schritt, der hier getan wurde, denn es geht Sokrates um das «eigentliche Wesen des Menschen» weniger aus anthropologischem als aus ethischem Interesse. Seine Fragen richten sich vornehmlich auf das, was dem Menschen aufgrund seines Wesens «zu tun oder zu leiden zukommt». Erst viele Jahrhunderte später, in der frühen Neuzeit, wird sich das Interesse am Menschen verselbstständigen; wird sich das anthropologische Denken von den ethischen, kosmischen oder theologischen Bezügen emanzipieren, an die es bis dahin gebunden war, und einen separaten Zweig der Theoriebildung austreiben. Davon ist Sokrates noch weit entfernt. Immerhin aber spricht er ausdrücklich vom «eigentlichen Wesen des Menschen» und wirft damit das Problem auf, das den Kern des anthropologischen Denkens bildet. Und zumindest in einem Dialog richtet er die von ihm in den Mittelpunkt seines philosophischen Ansatzes gerückte ‹Was-ist›-Frage auch auf den Menschen selbst.
Dabei handelt es sich um den im Altertum mit dem Untertitel Über die menschliche Natur versehenen Dialog Alkibiades I, der heute nicht mehr als authentischer Platon-Text gilt; da seine Entstehung im Umkreis der Akademie jedoch außer Zweifel steht, kann er als ‹platonisch› in einem weiteren Sinne gelten. In ihm stellt Sokrates direkt die Frage nach dem, was doch alle kennen: «Was ist nun also der Mensch?» (129e) Damit ist die Frage nach einer Definition des Menschen in der Welt; und es wird von nun an nicht an Bemühungen um eine Antwort fehlen. – Natürlich gibt Sokrates in Alkibiades I eine solche Antwort. Genauer: Er lässt eine Antwort geben. Zunächst konfrontiert er die Titelfigur des Dialogs mit drei Möglichkeiten: Der Mensch sei entweder Seele; oder Körper; oder aus beidem zusammengesetzt. Nachdem Alkibiades dies zugegeben hat, lenkt Sokrates das weitere Gespräch so, dass die zweite und dritte der genannten Möglichkeiten ausgeschieden werden. Es bleibt dann nur noch die erste, nämlich «daß die Seele der Mensch ist». (130b–c) Das ist natürlich eine eher einseitige Bestimmung. Sie geht weit über den ohnehin schon berüchtigten Leib-Seele-Dualismus hinaus, da sie den Körper und seine Gestalt für vollkommen irrelevant erklärt; irrelevant zumindest als definitorisches Merkmal. Uns interessiert hier aber nicht der darin liegende Extremismus, sondern der darin liegende Übergang von außen nach innen: Die Definition nimmt allein auf etwas Inneres, den Sinnen verborgenes Bezug. Wenn er zum Gegenstand des philosophischen Denkens wird, ergeht es dem Menschen nicht anders als beliebigen anderen Gegenständen: Seine sinnlich wahrnehmbare Gestalt tritt in den Hintergrund und eine hinter ihr liegende, ontologisch und epistemisch grundlegende Dimension wird hervorgehoben. Das körperliche Dasein des Menschen erscheint als eine bloße Oberfläche, hinter die zurückgegangen werden muss, um zu seinem «eigentlichen Wesen» vordringen zu können.
Mehr oder weniger stark ausgeprägt finden wir diese Tendenz auch im nachfolgenden anthropologischen Denken. Aristoteles, der die Frage ‹Was ist der Mensch?› häufiger stellt als sein Lehrer Platon, vollzieht in seinen berühmtesten und wirkmächtigsten Definitionen einen ähnlichen Übergang von der physischen Seite auf ein dahinterliegendes ‹Wesen›. Der Mensch wird in ihnen durch seine Vernunft- und Sprachbegabung (zoon logon echon) oder durch sein soziales Wesen (zoon politikon) bestimmt.[3] Beide Definitionen sind bis heute eng mit dem Namen Aristoteles’ verbunden und vor allem die erste von ihnen hat in der Philosophiegeschichte über viele Jahrhunderte hinweg eine geradezu kanonische Geltung besessen. Dies hängt zum einen damit zusammen, dass wir uns (in der Innenperspektive) als denkende und sprechende Wesen erleben und diesen Tätigkeiten große Bedeutung zuschreiben. Zum anderen liegt es daran, dass wir (in der Außenperspektive) mit dem Rückgriff auf die Vernunftbegabung eine Fülle von Eigenschaften, Verhaltensweisen und Errungenschaften des Menschen erklären und in ein zusammenhängendes Gesamtbild bringen können. Und genau das ist ja ein zentrales Ziel des philosophischen Denkens: ein möglichst stimmiges Bild der Welt, uns selbst eingeschlossen, zu liefern, dessen orientierende Kraft dem bloßen Augenschein überlegen ist. Dazu muss es etwas offenlegen, das in der ‹Tiefe› der Gegenstände verborgen ist; es muss ihr ‹Inneres› enthüllen, ihr ‹Wesen›. In der Wendung nach innen liegt der ganze Stolz der Philosophie; denn auf ihr beruht die Über legenheit, die sie sich im Vergleich nicht nur zum Alltagsdenken, sondern auch zum Mythos zuschreibt.
Dass diese Zuschreibung nicht grundlos ist, zeigt ein Rückblick auf das vorphilosophische Denken über den Menschen. Wenn die systematische philosophische Reflexion über diesen scheinbar bekanntesten aller Gegenstände auch erst spät einsetzt, so heißt das nicht, dass der Mensch vor und außerhalb der Philosophie vollkommen ignoriert worden wäre. Im Gegenteil: Die griechische Kultur, Religion und Mythologie, vor allem die berühmte Forderung des delphischen Apoll «Erkenne dich selbst!», sind oft als die Geburtsstätte der Idee des Menschen charakterisiert worden. In seinen Vorlesungen über die Geschichte deutet Georg Wilhelm Friedrich Hegel die Forderung so: «In diesem Spruche ist nicht etwa die Selbsterkenntnis der Partikularitäten seiner Schwächen und Fehler gemeint; es ist nicht der partikuläre Mensch, der seine Besonderheit erkennen soll, sondern der Mensch überhaupt soll sich selbst erkennen. Dieses Gebot ist für die Griechen gegeben, und im griechischen Geist stellt sich das Menschliche in seiner Klarheit und in der Herausbildung desselben dar.»[4] Im unmittelbaren Anschluss führt Hegel ein zweites Zeugnis der frühen Selbstvergewisserung des Menschen in der griechischen Kultur an: das Rätsel der Sphinx und seine Lösung durch Ödipus. Nach diesem Mythos ließ sich vor langer Zeit auf dem nahe der Stadt Theben gelegenen Berg Phikion eine Sphinx nieder, die jeden Vorbeiziehenden mit einem Rätsel konfrontierte. Wer es nicht lösen konnte, wurde von dem Ungeheuer umgebracht und verschlungen. Viele Menschen hatten auf diese Weise schon ihr Leben lassen müssen, bis Ödipus nach Theben kam und sich der Sphinx stellte. Als er ihr die richtige Antwort gab, sprang das Ungeheuer erschrocken in die Tiefe und zerschmetterte am Fuß des Berges. – Der Mythos ist bekannt. Dennoch sollten wir uns des genauen Wortlauts des Rätsels und seiner Lösung vergewissern, wie ihn Sophokles seiner Tragödie König Ödipus voranstellt:
Das Rätsel der Sphinx
Zweifüßig, dreifüßig, vierfüßig lebt es auf Erden, und eine
Stimme nur hat es; doch wechselt’s allein von allem Getier, das
Sich auf der Erde bewegt, in der Luft und im Meer, seine Haltung.
Aber sobald es auf den drei Füßen, sich stützend, einhergeht,
dann ist äußerst gering die Geschwindigkeit seiner Gelenke.
Lösung des Rätsels
Hör, auch wenn du nicht willst, bösflatternde Muse der Toten,
auf mein Wort: nach Gebühr hat nun dein Treiben ein End’!
Meintest du doch den Menschen, der, wenn er der Erde genaht ist,
vierfüßig, töricht zuerst geht aus den Windeln hervor;
doch ist er alt, so stützt er als dritten Fuß auf den Stab sich,
trägt eine Last auf dem Hals, weil ja das Alter ihn beugt.
Die Sphinx beginnt ihr Rätsel mit der wechselnden Zahl der Füße des gesuchten Wesens und spielt damit zugleich auf die sich daraus ergebenden Unterschiede in seinen Körperhaltungen und Fortbewegungsarten an. Die Sphinx hebt also die Veränderlichkeit und Wandelbarkeit des gesuchten Wesens hervor, die ausdrücklich als ein Alleinstellungsmerkmal hervorgehoben wird: Kein anderes Getier wechselt seine Haltung. In diesem Punkt erinnert das Rätsel an ein Dokument aus der ägyptischen Heimat der Sphinx, an einen Papyrus aus der 20. Dynastie (1171–1085 v. Chr.), in dem der Sonnengott sinngemäß von sich sagt: ‹Ich bin der Skarabäus am Morgen, ein Mann am Mittag und ein gebeugter, auf einen Stab gestützter Greis am Abend.›[5] Ein Rätsel liegt hier gar nicht vor, denn es ist ja der Sonnengott, der sich selbst beschreibt und damit offen zu erkennen gibt. Die thebanische Sphinx aber sagt nicht, wen sie beschreibt, sondern zählt die sich wandelnde Menge der Füße auf und stiftet gerade damit die Verwirrung, die ihre Aussage zu einem Rätsel macht. Die Lösung wäre ja leicht (zu leicht, um überhaupt noch von einem ‹Rätsel› sprechen zu können) gewesen, wenn die Sphinx nur eine der drei Körperformen genannt hätte: die zweifüßige. Dann wäre unmittelbar das Bild eines zweifüßigen und damit aufrechten Lebewesens evoziert worden und die Lösung hätte auf der Hand gelegen. Denn aufrecht und zweifüßig ist nur der Mensch! Das Rätsel entsteht überhaupt erst dadurch, dass zwei weitere Körperformen angeführt werden; und sicher auch dadurch, dass die drei nicht in der Reihenfolge ihres biographischen Auftretens, sondern in numerischer Ordnung genannt werden. Die List der Sphinx bestand darin, auch die Drei- und Vierfüßigkeit zu erwähnen und das gesuchte Wesen auf diese Weise unkenntlich zu machen. Doch Ödipus lässt sich von diesem Manöver nicht täuschen. Seine Leistung besteht darin, alle drei Körperhaltungen als menschlich zu identifizieren. Die Zweifüßigkeit nimmt unter ihnen jedoch eine Sonderstellung ein, die schon daran sichtbar wird, dass Ödipus sie in seiner Lösung gar nicht mehr erwähnt.
Die drei- und vierfüßige Fortbewegung bedürfen der Aufklärung; die zweifüßige ist selbstverständlich.
Für Hegel war die Lösung dieses Rätsels ein Sinnbild der menschlichen Selbsterkenntnis, wenn auch nicht schon der philosophischen Selbsterkenntnis. In seiner Deutung verschlingen sich zwei Gegensatzpaare: Dem orientalischen Geist steht der griechische gegenüber; und dem Mythos die Selbsterkenntnis und das Bewusstsein. Die aus einem menschlichen Kopf, Löwenkörper, Flügeln und Schlangenschwanz zusammengesetzte Sphinx repräsentiert den orientalischen Geist, in dem Mensch und Tier sich noch nicht voneinander gelöst haben; in dem sich der Mensch noch nicht als ein selbstständiges Wesen erfasst hat, sondern noch als ein Teil der Natur begreift. Die Sphinx stellt daher nicht nur das Rätsel, sondern ist es. Denn sie verkörpert eine mythologische Entwicklungsstufe des Menschen, auf der dieser noch kein klares Bewusstsein seiner selbst und seiner Differenz zum Tier entwickelt hat. Dies geschieht erst auf griechischem Boden. Vertreten durch Ödipus, erkennt sich der Mensch in dem Rätsel selbst und führt damit eine neue Epoche des Denkens herbei, in der der Geist aus seiner Versenkung in der Natur auf getaucht und der Mensch zur Erkenntnis seiner selbst erwacht ist. Die Sphinx kann diese Erkenntnis nicht überleben; sie geht zugrunde, sobald der Mensch aufhört, sich selbst ein Rätsel zu sein. Die Macht, die der Mythos über ihn hatte, bricht, wenn und indem der Mensch sich selbst erkennt.
Die Ödipussage ist demnach ein Mythos, der von der Überwindung des Mythos erzählt. Da die Macht des Mythos (nach Hegel jedenfalls) durch Selbsterkenntnis gebrochen wird, zeugt der Mythos selbst bereits von einer solchen Selbsterkenntnis. Lange vor aller Philosophie und diese vorbereitend, bildet der Mythos eine frühe Stufe des Denkens, in dem der Mensch seiner selbst gewahr wird. Aber dieser Durchbruch zur Selbsterkenntnis bleibt noch mythischer Natur. Das wird schon an der narrativen Form kenntlich, in der er sich präsentiert. Wir hören eine Geschichte, in der Personen agieren und in der selbst noch die zu überwindenden Mächte in leibhaftiger Gestalt auftreten. Vor allem aber zeigt die Ödipussage, wie rückhaltlos die menschliche Selbsterkenntnis hier noch auf die körperlichen Merkmale vertraut. Genauer: auf die Zahl der Füße und die davon abhängende körperliche Gestalt und Fortbewegungsweise des Menschen. Gerade darin erweist sich die hier praktizierte Denkform als vorphilosophisch: Sie konzentriert sich auf die äußere Erscheinung und schenkt dem Inneren keine Beachtung. Die Sphinx hatte in ihrem Rätsel ja auch die «Stimme» des gesuchten Wesens erwähnt. Diese ist leicht als die Sprache identifizierbar; als jenes Merkmal also, das im Anschluss an Aristoteles als eine Schlüsseleigenschaft des Menschen und damit auch als ein heißer Kandidat für sein definierendes Merkmal angesehen wurde. In Ödipus’ Lösung taucht die Stimme nicht mehr auf; sie wird übergangen. Als relevant gilt nur die wechselnde Zahl der Füße.
Genau diese Rangordnung kehrt die Philosophie um! Wenn es zutrifft, «daß die Seele der Mensch ist», dann stellt sich das Vertrauen auf äußere Merkmale als Charakteristikum einer naiven Stufe des Denkens dar. Der Zahl der Füße kann nun keine zentrale Bedeutung mehr für die Selbsterkenntnis des Menschen zukommen.
Mensch: Lebewesen, ohne Flügel, zweifüßig, mit breiten Nägeln, das als einziges unter allen, die es gibt, des vernunftgeleiteten Wissens teilhaftig ist.
Pseudo-Platon
Umso überraschter sind wir, wenn wir im corpus Platonicum auf eine zweite Definition des Menschen stoßen, in der die Zahl der Füße ein Comeback feiert. In dem späten Dialog Politikos geht es um ein Problem, das von jeglichem anthropologischen Interesse weitab zu liegen scheint: um den Staatsmann und seine Tätigkeit. Die Suche nach einer Antwort erweist sich als überraschend umständlich. Die Gesprächsteilnehmer wenden ein dihäretisches Definitionsverfahren an, das in der platonischen Akademie ausgearbeitet und vielfältig angewandt wurde. Es besteht in der schrittweisen Aufgliederung einer Gattung in die von ihr umfassten Arten, bis der zu definierende Gegenstand erreicht ist. Da es im hier vorliegenden Fall um die Tätigkeit des Staatsmanns geht, befasst sich der Dialog zunächst mit dem Oberbegriff, unter den sie fällt. Es handelt sich dabei, so kommen die Teilnehmer überein, um eine bestimmte Art der «anordnenden Kunst»; eine bestimmte Art des Befehlens also. Dies ist aber nur ein Zwischenergebnis, denn es gibt mehrere Varianten anordnender Kunst, von denen die des Staatsmannes nur eine darstellt. Als ein geeignetes Kriterium für die Unterteilung der anordnenden Kunst einigen sich die Gesprächspartner auf deren jeweilige Adressaten. Zu fragen ist also, wem der Staatsmann befiehlt. Die erste Unterscheidung, die nun eingeführt wird, ist die zwischen unbelebten und belebten Objekten, wobei klar ist, dass der Staatsmann es mit den zweiten zu tun hat. Die Lebewesen, an die sich die Befehle des Staatsmannes richten, werden dann in einer peniblen Sequenz von Unterscheidungen immer weiter differenziert, bis schließlich als Ergebnis festgehalten wird: Der Staatsmann befiehlt einer Herde von zweibeinigen, sich nur innerhalb ihrer Art fortpflanzenden, ungehörnten, zu Fuß gehenden, auf dem Lande lebenden, zahmen Tieren. (Pol. 264b-266b) – In unserem Zusammenhang kann offenbleiben, ob das eine erhellende Definition des Staatsmannes und seiner Tätigkeit ist. Was uns interessiert ist vielmehr, dass hier eine Definition des Menschen gegeben wird. Denn der Staatsmann befiehlt natürlich Menschen! Und diese werden, wie wir gerade erfahren haben, als zahme, auf dem Land lebende, zu Fuß gehende, ungehörnte, sich nur innerhalb ihrer Art fortpflanzende und zweibeinige Tiere bestimmt.
Die philosophische Wendung nach innen scheint hier rückgängig gemacht zu sein. Die Seele des Menschen wird nicht einmal erwähnt; auch seine Vernunft- und Sprachbegabung nicht. Das dihäretische Verfahren nimmt nur körperliche Merkmale in den Blick und die resultierende Definition ist daher rein zoologischer Natur. Auffällig ist dabei die zweifache Nennung der Fortbewegungsweise; denn der Mensch wird einmal als «zu Fuß gehend», später dann noch als «zweifüßig» bestimmt. Darin erinnert der Politikos an das Rätsel der Sphinx, in dem der Mensch durch seine Körperhaltung und Fortbewegungsweise charakterisiert worden war. Der Mythos hatte mit dieser Bestimmung aber wohl kaum irgendwelche theoretischen Ansprüche verbunden und wollte auch keine Definition des Menschen geben. Er nimmt auf die Körperhaltung und Fortbewegungsweise ganz unschuldig als ein augenfälliges Erkennungsmerkmal Bezug, während Platons Dialog ein penibles Verfahren vorführt, das durch eine längere methodologische Reflexion unterbrochen wird. (262a5–264b6) Umso merkwürdiger berührt das kuriose Resultat dieses Verfahrens, das, wie es im Dialog selbst heißt, «zum Lachen reizt». Auf umständlichen Wegen kommen wir ja zu einer Definition, die den Menschen unmittelbar neben das Schwein stellt: Mit ihm teilt er nämlich alle umständlich aufgeführten Merkmale, ausgenommen die Zahl der Beine. Ein solches Ergebnis, wiegelt dann aber der Wortführer ab, sei nicht verwunderlich, da sich die gewählte Methode nicht um Unterschiede in der Ehrwürdigkeit der untersuchten Sache kümmere und das Kleinere nicht geringer als das Große schätze, sondern zur Wahrheit durchzudringen suche. (266c–d) Als lächerlich, so wird uns hier bedeutet, kann die enge Nachbarschaft von Mensch und Schwein nur einem oberflächlichen und vorurteilsbehafteten Denken erscheinen, das sich noch nicht auf die Höhe des dihäretischen Verfahrens zu schwingen vermocht hat. – Zur Bekräftigung dieser Auskunft wird dann im unmittelbaren Anschluss ein zweiter, kürzerer Anlauf zur Definition des Staatsmannes unternommen, der dort einsetzt, wo in dem ersten Verfahren zwischen geflügelten und zu Fuß gehenden Tieren unterschieden worden war. Diese Letzteren werden in dem abgekürzten Definitionsverfahren nun in Vier- und Zweifüßige geteilt; und die Letzteren wiederum in Gefiederte und Nackte. Das Ergebnis dieser kürzeren Dihärese ist nicht ganz identisch mit dem der längeren, unterscheidet sich aber auch nicht gerade drastisch von ihm. Es lautet: Der Mensch ist ein ungefiederter Zweibeiner.
Der Mensch als ungefiederter Zweibeiner! Was sollen wir von diesem kläglichen Resultat eines umständlichen Definitionsverfahrens halten? Vor allem: Wie können wir es mit der in anderen Dialogen Platons entwickelten Auffassung vom Menschen vereinbaren? In der Sekundärliteratur ist die Definition des Politikos gelegentlich als Indiz für einen Wandel in Platons Auffassung vom Menschen gedeutet worden. Der Spiritualismus der frühen und mittleren Dialoge sei in den späteren Schriften wie dem Timaios und eben auch dem Politikos durch eine Aufwertung des Körpers korrigiert worden. Das dihäretische Verfahren lasse erkennen, dass in der Akademie nicht nur abstrakte Philosophie, sondern auch methodisch kontrollierte empirische Forschung betrieben wurde, die auf ähnliche spätere Arbeiten von Aristoteles vorausweise. Dies würde erklären, warum in den hier referierten Überlegungen ausschließlich auf körperliche Merkmale Bezug genommen, warum der Mensch als Tier unter Tieren behandelt und (in der langen Version) in die Nachbarschaft der Schweine oder (in der kurzen) in die Nachbarschaft der Hühner gerückt wird. In einem naturwissenschaftlichen Kontext sollten solche Affinitäten nicht als anstößig angesehen werden. – Besteht aber in Platons Werk tatsächlich eine solche Scheidung zwischen Philosophie und Naturwissenschaft? Können wir ihm eine theoretische Doppelstrategie zuschreiben, die in einem Teil seines Werkes den Menschen auf die Seele reduziert, in einem anderen Teil jedoch auf den Körper? Und sollen wir glauben, dass Platon den Menschen allen Ernstes für einen ungefiederten Zweibeiner hielt?
Schon die Zeitgenossen waren von dieser Definition irritiert oder amüsiert. Dies lässt eine Begebenheit erkennen, die Diogenes Laertios im VI. Buch seiner Philosophiegeschichte überliefert. Der berüchtigte Kyniker und notorische Spötter Diogenes von Sinope, der Platon ohnehin für einen «Schwätzer» hielt, machte auch die im Politikos entwickelte Definition zur Zielscheibe seines Witzes. «Da Platon mit seiner Definition, der Mensch sei ein zweifüßiges, federloses Lebewesen, Beifall fand, rupfte Diogenes einen Hahn, trug ihn in den Unterricht und rief: ‹Hier ist Platons Mensch.› Deshalb fügte man der Definition ‹breitnägelig› hinzu.» (26; 40) Für einen Antitheoretiker wie Diogenes war Platons Definition natürlich ein willkommener Beleg für die Verstiegenheit eines Denkens, das einen gewaltigen methodischen Aufwand betreibt und damit doch nur ein klägliches Resultat zutage fördert. – Das war aber nur der Anfang einer bis heute nicht abgerissenen Kette unschmeichelhafter Kommentare. Im 16. Jahrhundert rechnete Montaigne Platons Definition unter die «Eselsstreiche, welche die menschliche Vernunft begeht». Unser Wissen, so meint Montaigne in seiner Schutzschrift für Raimond von Sebonde, gleicht jenen bewohnten Ländern, die von Sümpfen, Wäldern und Wüsten umgeben sind; es bildet nur kleine Inseln in einem Meer der Unwissenheit. «Dieses ist die Ursache, warum diejenigen, welche die erhabensten Sachen abhandeln, und am weitesten darinnen gehen, in die gröbsten und kindischsten Fehler verfallen, und sich in ihrer Neugierde und Einbildung vertiefen. Das Ende und der Anfang der Wissenschaft laufen auf gleiche Dummheit hinaus. Man betrachte einmal den Plato, wenn er sich in seinen poetischen Wolken in die Höhe schwingt. Man betrachte einmal bey ihm das kauderwälsche Geplauder der Götter. Allein, wo dachte er dann hin, da er den Menschen als ein zweyfüßiges Thier ohne Federn beschrieb? Er gab hiedurch denenjenigen, die ihn zu verspotten geneigt waren, eine schöne Gelegenheit: denn, sie rupften einen Kapaun lebendig, und nannten denselben einen platonischen Menschen.» (1580: 255f.) Wenn die größten und weisesten Männer, so schließt Montaigne, in so offenkundige Irrtümer verfallen konnten, so lasse sich daraus zur Genüge feststellen, was von der menschlichen Vernunft zu halten sei: wenig oder nichts.
Gnädiger ist das Urteil John Lockes. Für die einen sei der Mensch ein «animal rationale», für die anderen eben ein «animal implume bipes latis ungibus», ohne dass den einen Recht und den anderen Unrecht gegeben werden könne. Es lasse sich nicht leicht nachweisen, «warum Platons animal implume, bipes, latis ungibus keine gute Definition für den Namen Mensch sein sollte». (1689: 69, 158) Mit einem Wort: Platons Definition ist zwar nicht schlechter als konkurrierende Definitionen, aber auch nicht besser. Dem mochte sich Leibniz nicht anschließen. Platons Definition sei «als schlecht zu bezeichnen» und wohl «nur zur Übung aufgestellt» worden. (1704: 396f.) Das ist eine seltsame Vermutung, denn üben sollte man doch an und mit dem, was Hand und Fuß hat; gerade das hat Platons Definition nach Leibniz aber nicht, obwohl Füße in ihr vorkommen. – Als Edgar Allan Poe in einem Zeitungsbeitrag aus dem Jahre 1843 vorschlug, den Menschen als «das Lebewesen, das schwindelt» zu definieren, da erinnerte er ausdrücklich an den Fehlschlag Platons und die Kritik des Diogenes, um die Überlegenheit seiner eigenen Definition zu unterstreichen: «Wäre Plato auf diesen Einfall gekommen, so hätte er sich die böse Blamage mit dem gerupften Huhn ersparen können. Dem Philosophen ward nämlich einmal mit der gar nicht so abwegigen Frage zugesetzt, warum ein gerupftes Hühnchen, das doch ganz offensichtlich ein ‹zweibeiniges Wesen ohne Federn› sei, denn nicht – nach seiner eigenen Definition – ein Mensch wäre. Mit solchen Querfragen soll man mir aber nicht kommen. Der Mensch ist ‹das schwindelnde Tier›, und es gibt kein schwindelndes Lebewesen außer dem Menschen. Um mir das zu widerlegen, müßte man mir schon gleich einen ganzen Stall voll gerupfter Hühner anbringen.» (1843: 159) – Von einem möglichen Missgriff Platons wollte Hans Blumenberg demgegenüber nichts wissen. Ähnlich wie Leibniz vermutet er daher, dass die irritierende Definition nicht ernst, sondern «ironisch und wohl den Definitionstypus parodierend» (2006: 511) gemeint gewesen sei.
In Platons Nachruhm mischen sich offenbar zwei Stimmen. Nach der einen ist seine Definition des Menschen einfach nur schlecht, wenn nicht absurd. Darin pflichtet ihr die zweite Stimme bei, glaubt aber den großen Platon vor der drohenden Blamage mit der These schützen zu müssen, er habe sie nur zur Übung oder zum Spaß aufgestellt. Der Text des Politikos selbst lässt im Hinblick auf die zweite Stimme keinen definitiven Entscheid zu; er gibt sich einerseits seriös und reflektiert, enthält andererseits aber auch den zitierten Hinweis auf den ausgelösten Lachreiz. Wenn der Text nicht eindeutig ist, so lassen sich vielleicht der zeitgenössischen Resonanz auf ihn Anhaltspunkte dafür entnehmen, ob der ‹ungefiederte Zweibeiner› Spaß oder Ernst war. So können wir beispielsweise fragen, ob Diogenes von Sinope wohl so sarkastisch reagiert hätte, wenn Platon bloß hätte scherzen wollen. Denn heißt es in dem Bericht von Diogenes Laertios nicht ausdrücklich, dass der gerupfte Hahn eingesetzt wurde, weil Platon mit seiner Definition «Beifall fand» (wenn auch nicht den von Diogenes)? Dafür, dass es sich nicht um eine Parodie handelte, spricht auch die von Diogenes Laertios angesprochene Weiterentwicklung der Definition. Konfrontiert mit einem gerupften Hahn, der nach der ursprünglichen Definition ja als ‹Mensch› hätte klassifiziert werden müssen, veränderte man in der Akademie die Definition, indem man die Unterscheidung zwischen ungefiederten Zweibeinern mit spitzen Nägeln (= Federvieh) und ungefiederten Zweibeinern mit breiten Nägeln (= Menschen) hinzufügte. Diese verbesserte Definition ist unter den pseudoplatonischen Begriffsbestimmungen überliefert. Sie lautet: «Mensch: Lebewesen, ohne Flügel, zweifüßig, mit breiten Nägeln, das als einziges unter allen, die es gibt, des vernunftgeleiteten Wissens teilhaftig ist.» (Def. 121) Bemerkenswert ist, dass diese erweiterte Fassung nicht nur die Breitnägeligkeit als ein weiteres körperliches Merkmal hinzufügt, sondern auch ein inneres Merkmal: die Fähigkeit zu rationaler Erkenntnis. Darauf wird später noch einzugehen sein. Hier genügt zunächst der Befund, dass man in der Akademie auf die Zweibeinigkeit nicht zu verzichten bereit war.
Der Akademie hatte auch Aristoteles über zwei Jahrzehnte hinweg angehört. Mit dem dihäretischen Verfahren war er daher bestens vertraut und hat es in seinen eigenen Schriften methodologisch reflektiert und weiterzuentwickeln versucht. Der «ungefiederte Zweibeiner» war ein Ergebnis dieses Verfahrens. Oder besser: Er war nicht ein, sondern das mit ihm erzielte Ergebnis. Diesen Schluss legt jedenfalls die extensive Verwendung dieser Definition in den aristotelischen Schriften nahe. Wer die im Organon zusammengefasste Reihe seiner frühen methodologischen Schriften durchgeht, wird den «ungefiederten Zweibeiner» in nahezu allen von ihnen finden; allein in der Topik mehr als ein Dutzend Mal. Auch in anderen Schriften wird diese Definition erwähnt oder wiederholt benutzt.[6] So beispielsweise in der Analytica posteriora in einem Kapitel, in dem Aristoteles die Größe und Grenzen des dihäretischen Verfahrens diskutiert: «Was ist ein Mensch? Lebewesen, sterblich, mit Füßen versehen, zweifüßig, ohne Flügel …» (II,5 91b39–92a2) Die Herkunft dieser Definition aus den platonischen Dihäresen ist deutlich erkennbar und charakteristischerweise argumentiert Aristoteles weder hier, noch an anderen Stellen für die Platonische Definition. Für so selbstverständlich hielt er sie offenbar. Das sollte genügen, um die geschmähte Definition nicht als bloße Parodie abzuhaken. Und wenn es einer weiteren Bestätigung dafür bedarf, so liefert sie Sextus Empiricus an zwei Stellen seines Werkes, an denen er Platons Definition zitiert und sich mit ihr als einem von mehreren Versuchen zur Definition des Menschen auseinandersetzt. (Adv. math. VII,281–82; Grundriß II,28) Natürlich findet sie bei Sextus ebenso wenig Gnade, wie sie bei Diogenes gefunden hatte. Aber dieses Schicksal teilt sie mit allen anderen Definitionen die Sextus diskutiert. –Für uns ist allein wichtig, dass sie genauso ernst genommen wurde wie die Bestimmung «Der Mensch ist ein rationales sterbliches Lebewesen, das des Denkens und des Wissens fähig ist». Und das berechtigt zu der Annahme, dass Platons Vorschlag nicht bloß als Übung oder Spaß, sondern als eine ‹echte› Definition des Menschen gemeint war und aufgefasst wurde.
Wir können also festhalten, dass die Zweifüßigkeit des Menschen und der durch sie bedingte spezifische Körperbau die philosophische Wendung nach innen unbeschadet überstanden hat; dass sie ungeachtet des höhnischen Gelächters der Mit- und Nachwelt zum Kern einer zwar umstrittenen, aber doch langlebigen Definition wurde. Immerhin bekannte sich Wolfgang Stegmüller noch im Jahre 1970 dazu, eher den Satz ‹alle und nur die Menschen sind ungefiederte Zweibeiner› für analytisch zu halten, als den Satz ‹alle und nur die Menschen sind vernünftige Lebewesen›. Denn: «Ich würde lieber die Tatsache in Kauf nehmen, ein lebendes gerupftes Huhn als Mensch zu bezeichnen, als ameisenähnliche vernünftige Wesen auf einem fernen Planeten als Menschen zu bezeichnen, ganz zu schweigen davon, daß ich größte Skrupel hätte, gewisse unter meinen Zeitgenossen unter die Rubrik ‹vernünftige Lebewesen› subsumieren zu müssen.» (1970: 208) Ob diese Einlassung ihrerseits ernst gemeint war, kann offenbleiben. (Wenn es um ungefiederte Zweibeiner geht, scheinen die Scherze kein Ende zu nehmen.) Dieses hartnäckige Überleben der menschlichen Zweibeinigkeit ist nicht zuletzt deshalb bemerkenswert, weil sie als Erkennungsmerkmal keineswegs alternativlos war und ist. Der Mensch ist nicht nur zweibeinig, sondern beispielsweise auch unbehaart. Aber schon die Sphinx hatte nicht gefragt, welches Wesen «allein von allem Getier» konstitutionell nackt umhergeht. Im Politikos wird zwar die Federlosigkeit erwähnt, aber diese ist nicht gleichbedeutend mit Nacktheit; auch Hunde und Fische sind federlos. Eine Ausnahme finden wir in der philosophischen Erzählung des mittelalterlichen arabischen Arztes Ibn Tufail, der im Vorgriff auf die ‹wilden Kinder› des 18. Jahrhunderts die hypothetische Entwicklung eines Säuglings schildert, der allein auf einer Insel aufwächst, von einer Gazelle ernährt wird, und dann schrittweise zu einem universal gebildeten Philosophen heranwächst. Die Selbsterkenntnis dieses Menschenkindes lässt Ibn Tufail nicht mit der Zweifüßigkeit und dem aufrechten Gang beginnen, sondern mit der Erkenntnis der Nacktheit. Zunächst ahmt das wilde Kind die Stimmen der Tiere nach, unterscheidet sich in der Sprache also nicht von ihnen; bald aber erkennt es, dass seine tierischen Kameraden mit Fellen, Haaren oder Federn bekleidet und ihm körperlich überlegen sind. «Darauf blickte er auf sich selbst und sah ein, dass er nackt und wehrlos war, ein schlechter Läufer und schwacher Kämpfer … Weiter schaute er auf die Austrittsstellen der Körperausscheidungen und fand, dass diese bei den anderen Tieren bedeckt waren, und zwar die für die festen Ausscheidungen mit einem Schwanz und die für die dünnflüssigen mit Haaren oder ähnlichem. Und auch die Geschlechtsteile waren bei ihnen besser versteckt als bei ihm. All das bereitete ihm Kummer und Sorge.» (1175: 26f.) Bei Ibn Tufail bilden also die Ausscheidungsorgane den Ausgangspunkt der menschlichen Selbsterkenntnis!
Das ist eine Alternative zu den Füßen. Aber warum hat sie sich nicht durchgesetzt? Wenn die Sphinx und Ödipus ihre Aufmerksamkeit auf die wechselnde Zahl der Füße und den damit verbundenen Wandel der Körperhaltung und der Fortbewegungsweise konzentriert hatten, so mag das an ihrer Befangenheit im mythischen Denken gelegen haben. Die Wendung nach innen hat noch nicht stattgefunden. Für Platons späte
Definition kann diese Entschuldigung nicht in Anspruch genommen werden, denn hier war diese Wendung lange vollzogen.
… denn die Gestalt scheint als die Hauptqualität diese Art [= Mensch] mehr zu bestimmen als die Fähigkeit des vernünftigen Denkens …
J. Locke