Michael Brenner
ISRAEL
TRAUM UND WIRKLICHKEIT
DES JÜDISCHEN STAATES
Von Theodor Herzl bis heute
Verlag C.H.Beck
Juden waren über Jahrhunderte verfolgte Außenseiter. Die Gründung des Staates Israel sollte endlich eine ganz normale Heimat für sie schaffen. Doch heute sieht sich der jüdische Staat selbst in der Rolle des misstrauisch beobachteten Außenseiters. Michael Brenner erklärt, wie es dazu kommen konnte. Er verwebt auf meisterhafte Weise die politische und gesellschaftliche Entwicklung Israels mit der Geschichte seiner Selbstentwürfe, Träume und Traumata. Nur wer diese Tiefendimension kennt, kann das große kleine Land, das immer wieder die Welt in Atem hält, wirklich verstehen.
Michael Brenner ist Inhaber des Lehrstuhls für Jüdische Geschichte und Kultur an der Universität München und Direktor des Center for Israel Studies an der American University in Washington, DC. Daneben nimmt er viele weitere Funktionen wahr, u.a. als Internationaler Präsident des Leo Baeck Instituts und ordentliches Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Bei C.H.Beck erschienen von ihm u.a. «Kleine jüdische Geschichte» (2008) und «Geschichte der Juden in Deutschland. Von 1945 bis zur Gegenwart» (Hg., 2012).
Die Sehnsucht nach Normalität
Ein Staat wie jeder andere?
Ein Volk wie jedes andere?
Vom Außenseitervolk zum Außenseiterstaat
1. Am Scheideweg: 1897
Winter in Berlin
Frühling in Wien
Sommer in Basel
Herbst in Wilna
Winter in Odessa
2. Der Traum vom Siebenstundenland (1897–1917)
Pogromland
Altneuland
Hebräerland
3. Die nationale Heimstätte (1917–1947)
Die Autonomielösung
Die Einstaatenlösung
Die Zweistaatenlösung
Die Fata-Morgana-Lösung
4. Vom Traum zur Wirklichkeit (1947–1967)
Ein Staat wie jeder andere oder ein Licht unter den Völkern?
Wer ist Jude im jüdischen Staat?
Ein neues Kanaan?
5. Von der Wirklichkeit zum Traum (1967–1995)
Der siebte Tag
Siedlerträume
Friedensträume
Endzeitträume
6. Das globale Israel
Zwischen Israel und der Diaspora
Das Neuland
Die neuen Israelis
Die zwei Gesichter Israels
Dank
Anmerkungen
Die Sehnsucht nach Normalität
1. Am Scheideweg: 1897
2. Der Traum vom Siebenstundenland (1897–1917)
3. Die nationale Heimstätte (1917–1947)
4. Vom Traum zur Wirklichkeit (1947–1967)
5. Von der Wirklichkeit zum Traum (1967–1995)
6. Das globale Israel
Die zwei Gesichter Israels
Literatur
Bildnachweis
Personenregister
Für meine Tochter Simone –
Traum und Wirklichkeit
«‹Wie ist es in Palästina?› ‹Anders, meine Lieben!› antwortete ich. ‹Ganz anders wie in allen anderen Ländern unserer Erdteile … Denn Palästina ist nicht von dieser Welt!›»
Else Lasker-Schüler[1]
Der in Oxford lehrende Philosoph Isaiah Berlin erzählte gerne davon, wie Chaim Weizmann einmal in den dreißiger Jahren auf einer Party von einer britischen Lady, die den führenden Zionisten und späteren ersten Staatspräsidenten Israels bewunderte, gefragt wurde: «Dr. Weizmann, ich verstehe Sie nicht. Sie gehören dem kultiviertesten, zivilisiertesten, klügsten und kosmopolitischsten Volk an, und Sie wollen das alles aufgeben, um so zu werden wie – Albanien?» Weizmann, so berichtete Berlin weiter, grübelte langsam und bedächtig über diese Frage, dann leuchtete sein Gesicht auf, und er rief begeistert aus: «Ja! Albanien! Albanien!»[2]
Berlin selbst wurde einige Jahre später von dem russisch-französischen Philosophen Alexandre Kojève eine ähnliche Frage gestellt: «Die Juden mit ihrer reichhaltigen und außerordentlichen Geschichte, wundersame Überlebende der klassischen Epoche unserer Zivilisation – dieses faszinierende Volk sollte seine Einzigartigkeit aufgeben? Wofür? Um ein anderes Albanien zu werden! Wie können sie das nur wollen?» Berlins Antwort war scharf: «Wie auch immer es für die Welt im Allgemeinen erscheinen mag; die Auster dafür zu verdammen, dass sie das Leiden vermeiden möchte, das zu einer Krankheit führt, die in manchen Fällen eine Perle entstehen lässt, ist weder vernünftig noch gerecht. Die Auster möchte das Leben einer Auster führen, sich als Auster verwirklichen und nicht nur das unglückliche Medium sein, das die Welt um den Preis des eigenen Leidens mit Meisterwerken der Kunst oder Philosophie oder Religion beglückt.»[3]
Die Geschichte Israels ist zum einen der Versuch, nicht mehr der ewige Andere zu sein. Der am Ende des neunzehnten Jahrhunderts entstandene Zionismus bot eine Antwort auf das, was damals als «Judenfrage» in aller Munde war. Er wollte die Juden zu einem ganz normalen Volk mit einem ganz normalen Staat machen. Ein ganz normaler Staat – genau dafür stand das kleine, 1912 unabhängig gewordene Albanien symbolhaft.[4] Die Zionisten wollten aus der klassischen Rolle der Juden als die Außenseiter, als die «Anderen» in der Geschichte fliehen. Der deutsch-jüdische Philosoph – und Antizionist – Hermann Cohen brachte es einmal auf den Punkt, als er – halb abwertend und halb anerkennend – auf die Frage antwortete, was die Zionisten denn eigentlich wollen: «Die Kerle wollen glücklich sein.»[5] Der Wunsch, die mit viel historischer Tragik bekleidete Außenseiterrolle abzulegen, ist in die Unabhängigkeitserklärung des Staates Israel aus dem Jahre 1948 eingegangen, in der es heißt: «Es ist das natürliche Recht des jüdischen Volkes, ein Leben wie jedes andere Volk in einem eigenen souveränen Staat zu führen.» Dieser Drang, so zu sein «wie alle anderen», war in der langen jüdischen Geschichte nicht gerade neu. Der Wunsch nach Normalität findet seinen Ausdruck schon in der Hebräischen Bibel. Das 1. Buch Samuel berichtet davon, wie die Ältesten des Volkes Israel vom greisen Richter Samuel verlangen: «Gib uns einen König, der uns richte wie alle anderen Völker.» (8:5) Auch wenn Samuel sich anfangs weigerte und Gott das Königtum nicht guthieß, bestand das Volk doch darauf, so zu sein «wie alle anderen Völker».
Doch die Geschichte des Staates Israel entspringt nicht nur dem Wunsch, so zu sein wie die anderen, sondern ist gleichzeitig aus der Idee heraus geboren, anders zu sein und ein Vorbild für den Rest der Welt darzustellen. Auch die Vorstellung vom «auserwählten Volk» geht auf die Bibel zurück. Sie sollte die Juden immer wieder in ihrer Geschichte einholen – im positiven wie im negativen Sinne. Diejenigen, die in Israel einen ganz besonderen Staat sehen wollten, beriefen sich auf das Buch Jesaja (49:6), in dem Israel als «ein Licht unter den Völkern» bezeichnet wird. Die Mission des Judentums als ein Licht unter den Völkern war für viele Zionisten nicht damit abgetan, mit einer Art Musterreligion den Monotheismus unter die Völker gebracht zu haben. Die Herausforderung für die Zionisten bestand darin, einen Musterstaat zu etablieren, der eine bessere Welt schaffen sollte.
Entweder so zu sein «wie jedes andere Volk» oder aber «ein Licht unter den Völkern» – dieses Spannungsverhältnis hat nicht nur die Geschichte des Zionismus geprägt, sondern auch die Diskussion um den Charakter eines zukünftigen jüdischen Staates und des bestehenden Staates Israel.
Dieses Buch verfolgt die Debatten über den Charakter des ersten jüdischen Staates in der Moderne und versucht dabei den Fragen nachzugehen, was dieser sein wollte, wozu er wurde und wie er von der Welt wahrgenommen wird. Die These dieses Buches lautet: Obwohl Israels Vordenker und später Israels Politiker immer wieder den Weg in die Normalität einzuschlagen versuchten und dem «besonderen» Schicksal der jüdischen Geschichte entfliehen wollten, konnten sie sich nicht von dem Bann lösen, der die Geschichte der Juden über Jahrtausende begleitet hat. Zu tief verankert waren die jahrhundertealten Vorstellungen von den Juden als den «Anderen», um sie in wenigen Jahrzehnten spurlos verschwinden zu lassen. Zu sehr verinnerlicht wurden die Sichtweisen von außen, wie auch die eigenen Erfahrungen als die «ewigen Anderen». Und zu ungewöhnlich waren die Umstände, die zur Gründung des Staates Israel führten: die Proklamation der Souveränität nach zwei Jahrtausenden Staatenlosigkeit und der unmittelbar vorausgegangene Genozid.
Jeder, der die Zeitung aufschlägt oder Nachrichten hört, weiß: Israel ist keineswegs ein nur für Israelis relevantes Thema. Seine Geburt ist zutiefst mit den Wunden Deutschlands und Europas verbunden, seine politische Entwicklung hat Auswirkungen weit über den Nahen Osten hinaus, und die Religion der meisten Menschen hat ihre Ursprünge im Gebiet des heutigen Israel. Vielleicht hat es mit dieser gefühlten Nähe zu tun, dass mit keinem anderen Staat so klare Vorstellungen verbunden werden wie mit diesem winzigen Stück Land. Die einen sehen in Israel die einzige Demokratie inmitten autoritärer Regime und einen westlichen Vorposten im Nahen Osten, manche gar den Vorboten des messianischen Zeitalters; andere dagegen betrachten Israel als eine anachronistische Schöpfung, als kolonialistischen Aggressor und als Terrorstaat. Für einen Teil der Welt ist Israel ein Musterstaat, für einen anderen ein Pariastaat. Nur eines ist er ganz selten: das von Chaim Weizmann erträumte fiktive Albanien, «ein ganz normaler Staat».
Unter den 194 unabhängigen Staaten steht der Staat Israel in Bezug auf seine geographische Ausdehnung an 152. Stelle, in Bezug auf seine Einwohnerzahl an 97. Stelle. Er ist etwa so groß wie Belize, Djibouti oder das Bundesland Hessen (kleiner im Übrigen als Albanien) und zählt ungefähr so viele Einwohner wie Tadschikistan, Honduras oder das Bundesland Niedersachsen. Schlägt man aber eine Zeitung auf oder hört die aktuellen Nachrichten, könnte man meinen, dass Israel neben China, Russland und den USA zu den wichtigsten Staaten der Erde gehört.
In den Vereinigten Staaten betonen die Präsidentschaftskandidaten beider Parteien in jedem Wahlkampf ihre Verbundenheit mit Israel stärker als die Solidarität zu ihren mächtigen Verbündeten. Evangelikale Prediger in aller Welt betrachten Israels Konflikt im Nahen Osten als Teil des messianischen Endzeitplans. Auch in Deutschland wird Israel nicht wie jedes andere Land behandelt. Sobald ein neuer deutscher Bundespräsident in sein Amt gewählt wird, gehört – zumindest seit den achtziger Jahren – ein Staatsbesuch in Israel zu einer seiner ersten und heikelsten Aufgaben. Bundeskanzlerin Merkel unterstrich in ihrer Rede vor dem israelischen Parlament im März 2008: «Jede Bundesregierung und jeder Bundeskanzler vor mir waren der besonderen historischen Verantwortung Deutschlands für die Sicherheit Israels verpflichtet. Diese historische Verantwortung Deutschlands ist Teil der Staatsräson meines Landes.»[6]
In anderen Teilen der Welt ist Israel das Feindbild Nummer eins. Im von Israel Tausende Kilometer entfernten Iran gehört es zu einem wichtigen politischen Ritual, dem «zionistischen Gebilde» öffentlich den Kampf anzusagen und israelische Fahnen zu verbrennen. Auch in Staaten, in denen so gut wie niemand jemals einen israelischen Staatsbürger zu Gesicht bekommen hat, wird die zionistische Weltverschwörung angeprangert, und die Landkarten des Nahen Ostens werden so gedruckt, als existiere der jüdische Staat überhaupt nicht. In einer weltweiten BBC-Umfrage nach den beliebtesten Ländern der Welt liegt Deutschland, von dem im zwanzigsten Jahrhundert zwei Weltkriege ausgingen, an der Spitze, während der jüdische Staat, der von den Überlebenden des größten Völkermords des zwanzigsten Jahrhunderts gegründet wurde, sich die negativsten Werte mit den Pariastaaten Iran und Nordkorea teilt.[7] Es passt in diesen Rahmen, dass die UNO-Menschenrechtskommission seit ihrem Bestehen gegen Israel allein fast genauso viele Resolutionen erlassen hat wie gegen sämtliche andere Staaten zusammen.
Die Israelis haben längst die Sonderrolle ihres Staates verinnerlicht, egal welcher politischen Richtung sie angehören und wie sie diese Sonderrolle interpretieren. Die verstorbene Bürgerrechtlerin und Mitbegründerin der linken Meretz-Partei Shulamit Aloni etwa forderte: «Die Einzigartigkeit Israels liegt nicht darin, daß es das auserwählte Volk ist – und daher für sich mehr beanspruchen kann als es anderen zubilligt –, sondern in der Verpflichtung, an sich höhere Ansprüche zu stellen als an andere.»[8] Auf der anderen Seite betonte Premierminister Benjamin Netanjahu von der rechten Likud-Partei: «Die größte Chance, die die Etablierung des jüdischen Staates mit sich brachte, war die Tatsache, dass die Juden mehr als nur eine Ansammlung von Individuen, Gemeinden und Resten von Gemeinden wurden. Sie wurden ein souveränes Kollektiv in ihrem eigenen Territorium. Unsere Fähigkeit, als Kollektiv unser eigenes Schicksal zu bestimmen, lässt uns unsere eigene Zukunft bestimmen, nicht mehr als ein Volk, das von Anderen regiert, besiegt und verfolgt wird, sondern als ein stolzes Volk mit einem wunderbaren Land, das immer danach strebt, ein ‹Licht unter den Völkern› zu sein.»[9]
Um Israels Selbstverständnis und seine Wahrnehmung in der Welt zu verstehen, ist ein Blick auf die Wahrnehmung der Juden während ihrer langen Geschichte unentbehrlich. Die Juden galten über viele Jahrhunderte und in zahlreichen Gesellschaften als die klassischen Anderen. Von den Völkern, unter denen sie in ihrer Zerstreuung lebten, wurden sie als Monotheisten in der paganen Gesellschaft betrachtet, als Verstockte gegenüber dem wahren Glauben in der christlichen Gesellschaft, als Verfälscher der ursprünglichen Lehre in der muslimischen Gesellschaft. Im biblischen Buch Esther werden einige der später zum Charakteristikum der Juden (und des Judenhasses) gewordenen Merkmale erstmals zur Sprache gebracht: «Da ist ein Volk, zerstreut und versprengt unter die Völker, durch alle Landschaften deines Königreichs, deren Gesetze unterschieden sind von denen anderer Völker; sie tun nicht nach den Gesetzen des Königs, und dem König bringt es nichts ein, wenn er sie lässt. Wenn es dem Könige gefällt, so lasse er sie umbringen.» (Esther 3:8–9) Diese Worte legt der biblische Erzähler dem persischen Königsberater Haman in den Mund.
Die Vorstellung von den in aller Welt verstreuten Juden, deren Gesetze sich von denen der anderen Völker unterschieden und die ihrem Hass ausgesetzt sind, ist also bereits in diesem während des dritten vorchristlichen Jahrhunderts niedergeschriebenen Buch festgehalten. Sie lässt sich auch bei zahlreichen antiken Autoren in ihrer Betrachtung des Judentums wiederfinden. Am bekanntesten und prägnantesten ist die Feststellung des Tacitus, basierend auf antijüdischen Autoren des hellenistischen Ägypten, zu den Gesetzen Moses’: «Unheilig ist [den Juden] alles, was bei uns heilig, andererseits ist erlaubt bei ihnen, was für uns als Schande gilt.»[10]
Das den Juden zugeschriebene «Andere» machte sie keineswegs immer zu Feinden. Manchen Römern erschien gerade dies attraktiv. Dass die Juden keinen sichtbaren Gott verehrten, besondere Speisevorschriften einhielten und einen wöchentlichen Ruhetag einführten, übte seine Reize auf eine Reihe von Menschen aus, die sich als Proselyten dem Judentum anschlossen oder zumindest mit dem jüdischen Kultus sympathisierten. Das Andere konnte abstoßend ebenso wie anziehend wirken.[11] Mit zunehmender gesellschaftlicher Ausschließung der Juden wurde deren vermeintliche Andersartigkeit immer mehr zu ihrem Erkennungsmerkmal.[12]
Die Idee einer Sonderrolle der Juden in der Geschichte erhielt mit dem Siegeszug des Christentums eine neue Dimension. Einerseits wurden sie als das Volk Gottes, dem auch Jesus entstammte und dem eine Sonderrolle in der Menschheitsgeschichte zusteht, angesehen. Andererseits wurde ihnen vorgeworfen, ihre eigene heilige Schrift nicht richtig gedeutet und daher Jesus nicht als Messias erkannt zu haben. «Ihr seid Kinder des Teufels, der ist euer Vater, und nach seinen Wünschen handelt ihr», heißt es im Johannesevangelium (8:44). Wie die später an zahlreichen Kathedralen als blind und mit gebrochenem Stab dargestellte allegorische Figur der Synagoga galten die Juden als unfähig, ihre eigene Schrift richtig auszulegen, und als aller weltlichen Macht beraubt. Für Juden im christlichen Herrschaftsraum bedeutete dies jahrhundertelange Unterdrückung, aber auch die Möglichkeit, zu überleben und die eigene Religion auszuüben. Im Gegensatz zu christlichen Häretikern sollten sie wegen ihrer besonderen historischen Rolle als Zeugen der Wahrheit Christi (selbst wenn sie diese nicht erkannten), als Bewahrer der Heiligen Schrift und letztlich als diejenigen, die vor dem Ende aller Tage zum Christentum konvertieren müssten, am Leben bleiben. Aus der einzigartigen Rolle der Juden im christlichen Heilsplan leitet sich die besondere Vehemenz ab, mit der Martin Luther auf das Festhalten der Juden an ihrem Glauben reagierte. Er war zunächst überzeugt davon, dass es ihm mit wohlwollendem Zureden gelingen würde, die Juden zu seiner neuen Lehre zu bekehren. Als er feststellen musste, dass er daran genauso scheiterte wie die «Papisten», empfahl er in seiner Schrift Von den Juden und ihren Lügen (1543), dass man «ihre Häuser zerbreche und zerstöre», «ihre Synagoga oder Schule mit Feuer anzünde» und «man ihnen alle Bücher nehme … auch die ganze Bibel».[13]
Unter muslimischer Herrschaft stellte sich die Situation der Juden zunächst nicht ganz so deutlich als Sonderrolle dar, weil sie ihre Religion wie alle anderen Anhänger von «Buchreligionen» – wenn auch nicht auf gleicher Stufe wie die Muslime – ausüben durften. Doch nehmen sie bei genauerem Hinsehen auch im Islam eine besondere Stellung ein. Während die Christen den Juden vorwerfen, die Hebräische Bibel falsch zu interpretieren, lautet der Vorwurf der Muslime an die Juden, dass sie den Text der Bibel verfälscht hätten. Insbesondere die im Islam verehrte Figur des Ismael sei fälschlicherweise zugunsten seines Bruders Isaak degradiert worden. Zudem hatten sich die Hoffnungen der ersten Muslime, die Juden zu ihrem Glauben zu bekehren, nicht erfüllt. Wie in der christlichen Literatur gibt es auch im Koran und in seinen Auslegungen positive und negative Charakterisierungen der Juden. Sowohl wegen ihrer historischen Rolle im biblischen Text als auch wegen ihrer Präsenz in großen Teilen des islamischen Herrschaftsraums erfüllen sie eine ganz besondere Funktion im theologischen Diskurs.
Die Juden überlebten als winzige Minderheit nicht trotz ihrer Sonderstellung in der Geschichte, sondern genau deswegen. Ihr Überleben war für das Christentum, und in geringerem Maße auch für den Islam, von theologischer Bedeutung. Mit besonderen Zeichen als «Andere» gekennzeichnet, von zahlreichen Berufen ausgeschlossen, in europäische Ghettos und nordafrikanische Mellahs gezwängt und auf vielfache Weise gedemütigt, durften sie doch in großen Teilen der christlichen und islamischen Welt leben und ihren Glauben ausüben. Selbstverständlich waren sie keineswegs die einzigen «Anderen» in den paganen, christlichen oder muslimischen Gesellschaften, doch gab es wohl keine andere Gruppe, die in so vielen unterschiedlichen Räumen und Zeitaltern immer wieder als Minderheit auftauchte. In diesem Sinne wurden sie im Laufe der Zeit zu den klassischen Anderen.
Gleichgültig, ob verfolgt oder toleriert, die Juden nahmen in der antiken, mittelalterlichen und modernen Vorstellungswelt einen viel größeren Raum ein, als es ihrer kleinen Bevölkerungszahl entsprechen würde. So beginnt der Historiker David Nirenberg seine Geschichte des Antijudaismus mit der Feststellung: «Über zweitausend Jahre lang haben Menschen über das Judentum nachgedacht. Die alten Ägypter beschrieben viel Papyrus über die Hebräer. Die frühen (und auch die späten) Christen füllten zahlreiche Seiten bei dem Versuch, Judentum und Christentum, altes und neues Israel, voneinander zu unterscheiden. Die Anhänger Mohammeds dachten über das Verhältnis ihres Propheten zu den Juden und ‹Söhnen Israels› nach. Die Europäer des Mittelalters benutzten Juden zur Erklärung von so unterschiedlichen Dingen wie Hungersnöten, Pest und der Steuerpolitik ihrer Herrscher. Und in den gewaltigen Archiven mit Quellen, die uns aus Europa seit der Frühen Neuzeit überliefert sind, lässt sich leicht zeigen, dass Wörter wie Jude, Hebräer, Semit, Israelit und Israel mit einer Häufigkeit auftauchen, die in keinem Verhältnis zur tatsächlichen Zahl von Juden in diesen Gesellschaften steht.»[14]
Mit dem zunehmenden Rückgang des Primats der Religion in der aufgeklärten Gesellschaft wurde auch die traditionelle Sonderrolle der Juden in Frage gestellt bzw. später neu gestellt. In den Augen vieler moderner Denker waren sie nun das, was der englische Historiker Arthur Toynbee einmal als «Fossil» bezeichnete.[15] Voltaire berief sich auf die antiken römischen Autoren und deren Abneigung gegen das Judentum als Aberglauben. Für Kant und Hegel war das Judentum eine antiquierte Gesetzesreligion, ein Relikt aus vergangener Zeit, das nicht in die neue Zeit passen wollte. Um ihnen Bürgerrechte zu geben, sah Fichte kein anderes Mittel «als das, in einer Nacht ihnen allen die Köpfe abzuschneiden, und andere aufzusetzen, in denen auch nicht eine jüdische Idee sei». Und dann fährt er fort: «Um uns vor ihnen zu schützen, dazu sehe ich wieder kein anderes Mittel, als ihnen ihr gelobtes Land zu erobern, und sie alle dahin zu schicken.»[16]
Fichte nahm mit diesen Worten von 1793, ohne dies wohl allzu ernst gemeint zu haben, einen Plan vorweg, der erst ein Jahrhundert später Gestalt annehmen sollte: den Juden einen eigenen Staat in ihrer historischen Heimat zu geben. Tolerantere Stimmen sahen mittlerweile in der Umerziehung und Integration der Juden eine Möglichkeit, sie zu «nützlichen Bürgern» der Staaten, in denen sie lebten, zu machen. Seit Ende des achtzehnten Jahrhunderts versuchten westliche Denker, die Juden zu «normalisieren». Sie sollten nicht länger eine Sonderstellung in der Gesellschaft einnehmen. Die Unterschiede in Sprache, Kleidung, Nahrung und Berufsstruktur, ja selbst im Aussehen würden verschwinden, wenn man die diskriminierenden Gesetze gegen sie aufhebe und sie in die Gesellschaft integriere.
Der preußische Kriegsrat Christian Wilhelm Dohm ist ein frühes Beispiel für diese Argumentation. Er führte in seinem 1781 erschienenen Werk Über die bürgerliche Verbesserung der Juden die angebliche Verdorbenheit der Juden auf die jahrhundertelange Unterdrückung von außen zurück und wollte zeigen, «wie die Juden nur deshalb als Menschen und Bürger, verderbt gewesen, weil man ihnen die Rechte beyder versagt habe». Damit «Juden nützlichere Glieder der bürgerlichen Gesellschaft» werden, bedürfe es äußerer ebenso wie innerer Maßnahmen.[17] Zum einen müsse man Bedingungen schaffen, um die Juden als gleichberechtigte Bürger leben zu lassen. Zum anderen müssten die Juden sich selbst verändern, zahlreiche Eigenheiten aufgeben und sich an die Mehrheitsbevölkerung assimilieren. Dies war der Beginn der Debatte über die Normalisierung der Juden und ihrer Geschichte.
Wenige Jahre später drückte dies in Frankreich der Abbé Grégoire in seinem Aufsatz «Über die physische, moralische und politische Regeneration der Juden» ähnlich aus. Wenn man sie nur ließe, so Grégoire, würden die Juden zu ganz normalen Bürgern werden. Nicht nur in moralischer und politischer Hinsicht, ja auch körperlich würden sie sich dann der christlichen Bevölkerung angleichen, argumentierte der fortschrittlich gesinnte Geistliche in Beantwortung der im Jahre 1787 von der Akademie der Wissenschaften von Metz in Form eines Preisausschreibens gestellten Frage: «Gibt es ein Mittel, um die Juden nützlicher und in Frankreich glücklicher zu machen?» In einer Eingabe an die Französische Nationalversammlung ging er – wie vor ihm Dohm – davon aus, dass die Juden bisher eine einzigartige historische Rolle erfüllten: «Die Zerstreuung der Juden, die seit achtzehnhundert Jahren herumirren, unglücklich und verbannt in der ganzen Welt sind, ist eine Erscheinung, wovon die Geschichte weiter kein Beispiel aufweisen kann.»[18]
Im Dezember 1789 brachte der Abgeordnete der Französischen Nationalversammlung, Graf Clermont-Tonnerre, die neue Haltung der europäischen Nationalstaaten auf einen Nenner, als er den Juden «alles als Individuen, aber nichts als Nation» versprach.[19] Die Gesetze, die die Normalisierung des Status der jüdischen Minderheit begründen sollten, entsprachen der unterschiedlichen politischen Entwicklung der einzelnen Staaten. In Frankreich erhielten sie im Zuge der Revolution zügig die gleichen Rechte, deren Legitimität später von Napoleon noch einmal kurz hinterfragt wurde. In den deutschen Staaten, in denen es keine Revolution gab, mussten sie dagegen zuerst einmal beweisen, dass sie die Emanzipation verdienten, indem sie sich vorher ihrer Umwelt anpassten. Die gleichen Rechte als «Belohnung» für ihre Assimilation erhielten sie flächendeckend erst mit der Verfassung des neuen Reiches 1871.
Die Juden versuchten also fortan, so zu sein wie alle anderen Franzosen, Deutschen oder Italiener, doch verschwand der Vorwurf des Andersseins damit nicht, er nahm lediglich andere Formen an. Die nun erstarkende antisemitische Bewegung warf ihnen vor, sich nur eine Maske aufgesetzt zu haben. Richard Wagners Tiraden gegen das «Judenthum in der Musik» aus dem Jahre 1850 etwa richteten sich nicht zuletzt gegen die vermeintlich unaustilgbaren «jüdischen» Eigenschaften des bereits als Kind getauften Felix Mendelssohn-Bartholdy. Die Juden blieben für ihn hinter ihrer Maske weiterhin «die Anderen», die weder zu wahrer Kreativität noch zu normaler Sprache fähig seien.[20] Mit Hilfe der im neunzehnten Jahrhundert entstehenden Rassenlehre schuf sich der moderne Antisemitismus im Juden ein Feindbild, das alle Eigenschaften verkörperte, die von der Norm des «arischen» Europäers abwichen. Mit dem Begriff des «Antisemitismus», der 1879 von dem Journalisten Wilhelm Marr geprägt wurde, versuchte man, diesem Feindbild einen wissenschaftlichen Anstrich zu geben. Die «Judenfrage» war am Ende des neunzehnten Jahrhunderts in aller Munde.
Die Entstehung des politischen Zionismus war eine Reaktion auf diese neue Form der Zurückweisung durch die europäischen Gesellschaften. Sein Begründer Theodor Herzl, der in einer assimilierten deutschsprachigen Familie in Budapest aufgewachsen war und später einer der erfolgreichsten Journalisten in Wien werden sollte, teilte zunächst die Vorstellung, dass die Juden eine normale Existenz führen könnten, wenn sie nur ihr Judentum widerriefen. Sehr bald wurde ihm jedoch bewusst, dass der neue, rassisch begründete Antisemitismus sich nicht um religiöse Zugehörigkeit scherte. Die Andersartigkeit der Juden galt nun als ein vererbtes Merkmal, das durch keinen Willensakt abgeschüttelt werden konnte. Wenn dies tatsächlich so war, so Herzl, dann waren alle Versuche, im deutschen oder französischen Volk als deutsche oder französische Staatsbürger jüdischen Glaubens aufzugehen, verfehlt. Die Juden, so Herzl, sollten sich stattdessen wieder auf ihre Zugehörigkeit zum jüdischen Volk besinnen. Als Untertitel zu seinem 1896 erschienenen Buch Der Judenstaat wählte er die Worte: «Versuch einer modernen Lösung der Judenfrage».
Noch etwas ließ die Juden aus dem Rahmen der üblichen Definitionen fallen. Die grundlegende Frage, was die Juden eigentlich waren, war an der Wende zum zwanzigsten Jahrhundert schwieriger zu beantworten als jemals zuvor. Seit der Antike ließen sich Ethnizität und Religionszugehörigkeit im Judentum nicht voneinander trennen. Jude war zum einen, wer das Kind einer jüdischen Mutter war: ein biologisches Kriterium. Jude war aber auch, wer zur jüdischen Religion konvertierte: ein konfessionelles Kriterium. Bis sie im neunzehnten Jahrhundert die Möglichkeit erhielten, gleichberechtigte Bürger der Staaten zu werden, in denen sie lebten, war diese ethnisch-religiöse Doppelidentität ohne große Diskussion von den Juden selbst und von anderen akzeptiert worden. Nun aber mussten sie bzw. ihre Umwelt sich entscheiden, ob die Juden ein Volk, eine Religion oder gar eine Rasse darstellten.[21]
Doch selbst nach all ihren Bemühungen während des Emanzipationsprozesses ließen sich die Juden nicht in die modernen Kategorien von Nation und Religion pressen. In Osteuropa galten sie in der Regel als eine nationale Minderheit, in Westeuropa als eine religiöse. Was aber, wenn die offiziell als Teil einer Religionsgemeinschaft definierten Juden – ebenso wie viele Protestanten und Katholiken der bürgerlichen Mittelschichten – immer weniger religiös waren und daher nach neuen Definitionen suchen mussten? Zahlreiche deutschsprachige Juden stellten die bisher gültige Definition als deutsche Staatsbürger jüdischen Glaubens nun öffentlich in Frage. Sigmund Freud etwa lehnte religiöse und nationale Kategorien der Zugehörigkeit zum Judentum ab, «aber es blieb genug anderes übrig, was die Anziehung des Judentums und der Juden so unwiderstehlich machte, viele dunkle Gefühlsmächte, umso gewaltiger, je weniger sie sich in Worten erfassen ließen, ebenso wie die klare Bewußtheit der inneren Identität, die Heimlichkeit der gleichen seelischen Konstruktion».[22] Freud beschrieb hier für seine eigene Person, was Isaak Deutscher später als den «nichtjüdischen Juden» bezeichnete. Manche deutsche Juden zogen Begriffe wie Schicksalsgemeinschaft und Stammesgemeinschaft vor. In jedem Falle wurde die Definition dessen, was jüdisch ist, in dieser Zeit noch komplizierter – und entfernte sich von der eindimensionalen konfessionellen Definition, die im neunzehnten Jahrhundert vorgeherrscht hatte.
Auch in ihrer Berufsstruktur hatten sich die Juden um die Wende zum zwanzigsten Jahrhundert keineswegs so sehr an ihre Umwelt angeglichen, wie es die Aufklärer des späten achtzehnten Jahrhunderts forderten und die Politiker des neunzehnten Jahrhunderts umzusetzen suchten. Dabei unterschieden sich die dominanten Berufe der Juden in den einzelnen Ländern erheblich voneinander. In Saloniki gab es jüdische Hafenarbeiter, in Antwerpen und Amsterdam Diamantenschleifer, im Elsass und in Süddeutschland Viehhändler. Doch überall waren auch noch zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts Juden im Bereich des Handels klar überrepräsentiert und in der Landwirtschaft deutlich unterrepräsentiert. Auf diesem Gebiet wirkten historische Voraussetzungen noch lange nach.[23] Der Zionismus versprach auch hier Normalisierung: Er wollte den Typus des «neuen Juden» schaffen, der sich nicht mehr in den Bereichen betätigte, in den ihn das Exilsdasein gezwungen hatte. Statt Händler sollten die Juden nun zu Bauern werden. Landwirtschaftliche Genossenschaften waren von Anfang an ein Vorzeigeprojekt der zionistischen Ideologen. Das Scheitern dieser beruflichen Angleichung war ebenfalls vorprogrammiert: In einem Zeitalter, in dem die Landwirtschaft einen Niedergang erlebte, konnten die Juden gewiss nicht massenhaft zu Bauern werden.
So blieb zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts die wirtschaftliche und politische Sonderrolle der Juden bestehen. Egal, wie sehr sie sich zu integrieren suchten, ihre Stigmatisierung nahm weiter zu, und der Antisemitismus wurde in seinen verschiedenen Schattierungen in großen Teilen Europas zur Staatsräson. In den dreißiger Jahren schien es, als ob der einhundertfünfzig Jahre zuvor begonnene Versuch der «Normalisierung» der jüdischen Geschichte gescheitert war.
Es kann in diesem Buch selbstverständlich nicht darum gehen, die vermeintliche Einzigartigkeit oder Normalität Israels aufzuzeigen, sondern lediglich darum, den Diskurs über diese Einzigartigkeit und Normalität nachzuzeichnen. Fragen um die Einzigartigkeit nationaler Geschichte sind nicht auf Israel beschränkt. In den USA hat der Historiker C. Vann Woodward darauf hingewiesen, dass amerikanische Historiker mehr als andere unter der Anklage standen, «Ansprüche auf Verschiedenartigkeit und Einzigartigkeit» gegenüber ihrer eigenen Geschichte zu hegen.[24] In Diskussionen um die Geschichte der USA wird immer wieder dem «American Exceptionalism» das Wort geredet, der sich unter anderem durch Werte wie Freiheit, Egalitarismus, Individualismus und Laissez-faire-Denken kennzeichnen soll.[25] In Deutschland wurde die These eines historischen «Sonderwegs» über Jahrzehnte hinweg heftig diskutiert.[26]
Die Diskussion um die Einzigartigkeit jüdischer Geschichte und israelischer Existenz ist Teil all dieser Sonderwegsdebatten, allerdings mit einem kleinen Unterschied. Die Geschichte der Juden nämlich erscheint anderen «auserwählten Völkern» auf dem gesamten Globus oftmals als das Paradigma eines Sonderwegs. Sie haben häufig die Geschichte der Juden als das Vorbild für ihre eigene Erwählung auserkoren. Die Berufung auf das «auserwählte Volk», die vom «neuen Zion» in den USA über die Rastafari-Bewegung in Jamaika bis zum Selbstbild der äthiopischen Christen reicht, ist ohne die Hebräische Bibel und die jüdische Geschichte nicht verständlich.
Ein Blick in neuere Veröffentlichungen zu Israels Geschichte und Gesellschaft macht klar, dass die von Chaim Weizmann so heiß ersehnte Normalisierung auch in der wissenschaftlichen Betrachtung eine Illusion ist. Einige Beispiele mögen das verdeutlichen: Daniel Elazars Studie über die Gesellschaft Israels beginnt mit dem Satz: «Der Staat Israel ist in vielerlei Hinsicht sui generis.»[27] Der erste Satz in Uri Bialers Untersuchung zur Außenpolitik Israels lautet: «Unter den Nationen der Welt ist Israel einzigartig.»[28] Und Michael Barnett schreibt in einer Abhandlung über Israels vermeintliche Singularität, Israel sei zwar nicht einzigartig, aber doch «außergewöhnlich und untypisch».[29] In Jerold Auerbachs Buch über die Legitimität Israels heißt es ebenfalls bereits in der Einleitung: «Israel bleibt eine Anomalität.»[30]
Aus arabischer Sicht ergibt sich ein ganz ähnlicher Normalitätsdiskurs, allerdings unter umgekehrten Vorzeichen. Für israelkritische Autoren resultiert die erstrebte Normalität der Juden in einem eigenen Staat in der Anomalität der palästinensischen Existenz. So behaup-tet Edward Said: «Wenn in einem jüdischen Staat Normalität durch Jüdischsein definiert wird, so ist Anomalität die normale Situation für die Nichtjuden.»[31] Daran anlehnend schreibt der das Existenzrecht Israels vehement verneinende Wirtschaftswissenschaftler M. Shahid Alam: «Eine tiefere Ironie umgibt das zionistische Projekt. Es beabsichtigte, die jüdische ‹Anomalität› in Europa zu beenden, indem es einen ‹anomalen› jüdischen Staat in Palästina schuf … Offensichtlich schlugen die Zionisten vor, eine Art von ‹Anomalität› für eine andere größere und bedenklichere einzutauschen.»[32]
Zionisten und Antizionisten, Israelis und Gegner des Staates Israel sind sich weitgehend einig darin, dass Israel «anders» ist als andere Staaten. Umso erstaunlicher mag es anmuten, dass es bisher keine systematische Studie zu dieser unterstellten Andersartigkeit gibt. Es existiert mittlerweile eine Fülle von Büchern zu Israel, darunter sind auch einige Überblickswerke. Fast alle dieser Bücher beschreiben die militärischen Auseinandersetzungen von der Geburt des Staates bis in seine Gegenwart, sie geben seine politischen Auseinandersetzungen und zahlreichen inneren Konflikte wieder, sie nehmen Bezug auf die Kluft zwischen Juden und Arabern, zwischen Religiösen und Säkularen und zwischen Einwanderern aus europäischen und arabischen Ländern.[33] Doch geht keines der Werke zu Israel systematisch der Frage nach, was die Idee eines jüdischen Staates eigentlich ausmacht, wie sie umgesetzt wurde und wie sie sich im Laufe der Jahrzehnte veränderte.[34]
Dieses Buch beschäftigt sich nicht mit der äußeren Bedrohung Israels und all seinen inneren Konflikten, auch nicht mit dem arabischen Bevölkerungsteil Israels. All dies sind wichtige Aspekte der Existenz Israels, die aber bereits in zahlreichen Abhandlungen ausführlich beschrieben sind. Es konzentriert sich stattdessen auf die Frage, wie seit Ende des neunzehnten Jahrhunderts die Idee eines jüdischen Staates in den Köpfen seiner Visionäre heranreifte, welche unterschiedlichen Formen sie annahm und wie sie schließlich ab der zweiten Hälfte des Jahrhunderts konkrete Gestalt annahm. David Ben Gurion und seine Mitstreiter meinten nach 1948, Herzls Traum vom Judenstaat realisiert zu haben. Doch sollten in den verschiedenen politischen Lagern bald neue Träume die Wirklichkeit ersetzen: Die Rechte träumte nach dem israelischen Triumph von 1967 von einem Groß-Israel in biblischen Grenzen, während die Linke nach den Friedensschlüssen mit den Palästinensern und Jordaniern ab Mitte der neunziger Jahre die Vision eines Neuen Nahen Ostens hatte. Die Umsetzung der Gründerträume in die Realität und die Aufgabe der Realität für neue Träume gaben Raum für Konflikte und Widersprüche, die bis heute die israelische Gesellschaft spalten und ihr Bild nach außen prägen.
In gewisser Weise nimmt der Staat Israel auf kollektiver Ebene sieben Jahrzehnte nach seiner Gründung dieselbe Rolle des «Anderen» ein, die die Juden jahrtausendelang als Individuen gespielt haben und der die Zionisten eigentlich entkommen wollten. Die «Judenfrage» des neunzehnten Jahrhunderts ist im zwanzigsten und einundzwanzigsten Jahrhundert durch die «Israel-Frage» ersetzt worden. «Israel» und «Antizionismus» haben die Begriffe «Jude» und «Antisemitismus» als kulturellen Code abgelöst. Der Literaturwissenschaftler Hans Mayer schreibt in seinem Buch Außenseiter über die Gründung des Staates Israel: «Im Ergebnis aber wurden dadurch bloß die Antithesen der einstigen ‹Judenfrage› ins Weltpolitische erweitert. Aus dem bisherigen jüdischen Außenseiter inmitten einer nichtjüdischen Bevölkerung wurde ein jüdischer Außenseiterstaat inmitten einer nichtjüdischen Staatengemeinschaft.»[35]
Chaim Weizmanns Sehnsucht nach einem «Albanien», einem Staat «wie jedem anderen», war aufgrund der Wirkmächtigkeit tradierter historischer Vorstellungen, von außen wie von innen, zum Scheitern verurteilt. Man ist versucht, an den exotisch wirkenden, künstlerisch und intellektuell begabten Protagonisten in Thomas Manns Erzählung Tonio Kröger zu denken, der nichts mehr möchte als «frei vom Fluch der Erkenntnis und der schöpferischen Qual leben, lieben und loben in seliger Gewöhnlichkeit!».[36] Er möchte so sein wie sein blauäugiger, blonder Schulkamerad Hans Hansen, der Pferdebücher liebt, bastelt und turnt. So wie Thomas Manns Spiegelbild Tonio Kröger nicht zu Hans Hansen wurde, so ist Israel auch sieben Jahrzehnte nach seiner Gründung kein Staat, der «in seliger Gewöhnlichkeit» existieren kann.
«The Jews have suffered from too much
history and not enough geography.»
Sir Lewis Namier
Das neunzehnte Jahrhundert begann für die Juden mit vielerlei Versprechungen. Die Aufklärung hatte einer neuen Einstellung den Boden bereitet, der zufolge sie nicht mehr als Gottesmörder und Wucherer, sondern als ganz normale Menschen wahrgenommen werden konnten. Sie könnten so werden wie ihre christliche Umgebung, versprachen die Emanzipationsedikte quer durch Europa, wenn sie nur einen gewissen Erziehungsprozess durchliefen und sich ihrer Umwelt anpassten. Das Jahrhundert hatte in der Tat viele Fortschritte gebracht, im Westen mehr als im Osten. Viele Juden waren wirtschaftlich aufgestiegen und in weiten Teilen Europas kulturell, zuweilen sogar gesellschaftlich integriert. Doch als sie am Ende des Jahrhunderts Bilanz zogen, mussten sie feststellen, dass trotz ihrer Bemühungen um Integration den Fortschritten nun neue Hindernisse gegenüberstanden: Im Osten erschütterten Pogrome ihren Alltag, im Westen war ein neuartiger, rassisch begründeter Antisemitismus entstanden.
Die Juden konnten versuchen zu flüchten: in eine andere Religion oder in einen anderen Kontinent. Doch beide Fluchtwege waren nur für eine Minderheit gangbar und versprachen nicht immer Linderung, denn auch nach der Taufe wurden sie von den Antisemiten als Juden gesehen, und nach der Ankunft in Amerika erwartete sie oft unbeschreibliches Elend. Die meisten Juden blieben daher Juden und Europäer. Aber sie suchten verstärkt nach neuen Wegen, um die von Aufklärung und Emanzipation versprochene Normalisierung endlich zu erreichen.
Im Jahr 1897 wurden gleich mehrere Wege konzipiert, die in ganz verschiedene Richtungen führten. In Berlin verfasste der Industrielle und spätere deutsche Außenminister Walther Rathenau ein radikales Plädoyer für ein völliges Aufgehen der Juden in ihrer Umgebung. In Wien konkretisierte der Feuilletonredakteur der Neuen Freien Presse Theodor Herzl unmittelbar nach der Wahl des Antisemiten Karl Lueger zum Bürgermeister seine zionistischen Pläne. Er berief im August den ersten Zionistenkongress nach Basel ein. Nur wenig später trafen sich in Wilna die führenden Köpfe des Allgemeinen Jüdischen Arbeiterbunds, um die erste jüdische sozialistische Bewegung ins Leben zu rufen. Und in Odessa schrieb Simon Dubnow, einer der wichtigsten Historiker jüdischer Geschichte, an der theoretischen Untermauerung des jüdischen Diasporanationalismus, der auf einer kulturellen Autonomie der Juden Osteuropas aufbaute.
Innerhalb weniger Monate lagen damit die wesentlichen Konzepte der jüdischen Moderne vor: Sie standen für die bedingungslose Assimilation, für den Zionismus, für den sozialistischen Bundismus und für die jüdische Autonomiebewegung. Während sich ihre Wege grundsätzlich unterschieden, sollten sie nach dem Willen ihrer Träger doch alle dasselbe Ziel erreichen: die Normalisierung der Juden.