Mickaël Launay
Der große Roman der
MATHEMATIK
Von den Anfängen bis heute
Aus dem Französischen von
Jens Hagestedt und Ursula Held
C.H.BECK
Von Null bis π – eine Liebeserklärung an die Mathematik
Die meisten Menschen halten die Mathematik für eine abstrakte Wissenschaft. Dabei wurde sie entwickelt, um unser Verständnis der Welt zu vereinfachen. Schon 8000 Jahre vor unserer Zeitrechnung finden wir in Mesopotamien geniale geometrische Muster, die auf Symmetrien und Rotationen basieren. Später, um die Zahl der Tiere einer Herde zu bestimmen oder die Grenzen eines Grundstücks zu ziehen, mussten die Menschen zählen und messen lernen, kurz gesagt Arithmetik und Geometrie erfinden. Wie sie das machten, erzählt dieses Buch, das in Frankreich ein Bestseller war. Von der Schönheit der Zahl π bis hin zu Theoremen, die noch zu entdecken sind, nimmt uns der junge französische Starmathematiker und Youtuber Mickaël Launay auf eine abenteuerliche Reise mit, auf der wir verstehen lernen, wie die Mathematik zu uns kam und was wir mit ihr anfangen können.
«Der Mann, der erreicht, dass Sie die Mathematik lieben.»
– France Info über Mickaël Launay
Mickaël Launay hat Mathematik studiert und über Wahrscheinlichkeitstheorie promoviert. Anfang 30, hat er bereits zahlreiche Projekte entwickelt, um insbesondere junge Leute für Mathematik zu begeistern, darunter den millionenfach angeklickten Youtube-Kanal «Micmaths».
Prolog
1: Mathematiker wider Willen
2: Und es ward die Zahl
3: «Kein der Geometrie Unkundiger trete hier ein»
4: Die Zeit der Theoreme
5: Über Methodik
6: π und kein Ende
7: Nichts und weniger als nichts
8: Wozu Dreiecke gut sind
9: Auf dem Weg zur Unbekannten
10: Der Reihe nach
11: Imaginäre Welten
12: Eine Sprache für die Mathematik
13: Das Alphabet der Welt
14: Das unendlich Kleine
15: Die Zukunft messen
16: Die Ankunft der Maschinen
17: Mathe der Zukunft
Epilog
Wenn Sie weitergehen möchten …
Museen und Veranstaltungen
Bücher
Bibliographie
Bildnachweis
Fußnoten
«Oh, in Mathe war ich immer eine Niete!»
Ich bin es ein bisschen leid. Das muss heute das zehnte Mal sein, dass ich diesen Satz höre.
Vor einer guten Viertelstunde hat diese Dame mit einer Gruppe anderer Passanten bei meinem Stand haltgemacht und seither aufmerksam zugehört, wie ich diverse geometrische Kuriositäten präsentierte. Dabei ist der Satz gefallen.
«Und was machen Sie beruflich?», hatte sie mich gefragt.
«Ich bin Mathematiker.»
«Oh, in Mathe war ich immer eine Niete!»
«Ach wirklich? Trotzdem schien Sie das, was ich gerade erzählt habe, zu interessieren.»
«Ja, aber das ist keine richtige Mathematik … Das kann man noch verstehen.»
Nanu! Das hatte ich noch nie gehört: Die Mathematik wäre also, per definitionem, eine Disziplin, die man nicht verstehen kann?
Wir haben Anfang August, und ich stehe auf dem Cours Félix Faure in La Flotte auf der Île de Ré an der Atlantikküste. Die Urlauber schlendern in der Abendkühle gemütlich umher. Auf dem kleinen Sommermarkt wird zu meiner Linken Handyzubehör angeboten, zu meiner Rechten befindet sich ein Stand, an dem man sich Henna-tattoos und afrikanische Haarflechten machen lassen kann, und gegenüber zieht eine Auslage mit Schmuck und Schnickschnack aller Art Passanten an. Zwischen all dem habe ich meinen Mathestand aufgeschlagen. An ausgefallenen Orten treibe ich Mathematik besonders gern. Dort, wo die Leute sie nicht erwarten. Wo sie vor ihr nicht auf der Hut sind …
«Wenn ich meinen Eltern sage, dass ich in den Ferien Mathe gemacht habe!», ruft mir ein Gymnasiast zu, der auf dem Rückweg vom Strand vorbeigekommen ist.
Es stimmt, ich überfalle sie ein bisschen aus dem Hinterhalt. Aber was sein muss, muss sein. Ich liebe es, die Miene von Leuten, die sich von Mathematik überfordert, hoffnungslos überfordert glaubten, in dem Augenblick zu sehen, in dem ich ihnen sage, dass sie sich gerade eine Viertelstunde lang mit ihr beschäftigt haben. Und mein Stand ist nie verwaist! Ich präsentiere Origami, Zaubertricks, Spiele, Rätsel … für jeden Geschmack und jede Altersgruppe ist etwas dabei.
Doch auch wenn es mich amüsiert – im Grunde betrübt es mich. Wie ist es dazu gekommen, dass man Leuten verheimlichen muss, dass sie Mathematik betreiben, damit sie Freude daran haben? Warum macht das Wort so sehr Angst? Hätte ich über meinem Tisch ein Schild mit der Aufschrift «Mathematik» angebracht, das genauso sichtbar wäre wie die Wörter «Schmuck», «Handys» und «Tattoos», die über den Ständen um mich herum zu lesen sind, ich hätte nur einen Bruchteil meines jetzigen Erfolgs. Das ist sicher. Die Leute würden nicht stehen bleiben. Vielleicht würden sie sogar einen Schritt zur Seite machen und wegschauen.
Dennoch, die Neugier ist da. Ich stelle sie jeden Tag fest. Mathematik macht Angst, aber mehr noch fasziniert sie. Man liebt sie nicht, würde sie aber gern lieben. Oder zumindest einen indiskreten Blick in ihre dunklen Geheimnisse werfen. Man hält sie für unzugänglich. Aber das ist sie nicht. Man kann Musik lieben, ohne Musiker zu sein, und ein leckeres Essen genießen, ohne Sternekoch zu sein. Warum also müsste man Mathematiker sein oder über außergewöhnliche Intelligenz verfügen, um sich von Mathematik erzählen und sich den Geist von Algebra oder Geometrie kitzeln zu lassen? Man braucht nicht in die technischen Details zu gehen, um die großen Ideen zu verstehen und über sie ins Staunen zu geraten.
Zahlreiche Künstler, Erfinder, Handwerker oder ganz einfach Träumer und Neugierige haben seit Urzeiten Mathematik betrieben, ohne es zu wissen. Sie haben die ersten Fragen gestellt, haben als Erste geforscht und sich als Erste den Kopf zerbrochen. Wenn wir verstehen wollen, warum es Mathematik gibt, müssen wir ihren Spuren folgen, denn mit ihnen hat alles angefangen.
Es ist Zeit, eine Reise anzutreten. Lassen Sie sich mitnehmen auf die verschlungenen Wege einer der faszinierendsten und verblüffendsten Wissenschaften, denen die Menschheit sich gewidmet hat. Brechen wir auf zur Begegnung mit den Frauen und Männern, deren überraschenden Entdeckungen und fabelhaften Einfällen wir die Geschichte dieser Wissenschaft zu verdanken haben.
Schlagen wir gemeinsam den großen Roman der Mathematik auf.
1
Zurück in Paris, beschließe ich, unsere Untersuchung im Louvre, im Herzen der Hauptstadt, zu beginnen. Im Louvre Mathe machen? Das mag unpassend erscheinen. Die als Museum genutzte alte königliche Residenz scheint heute eher das Reich der Maler, der Bildhauer, der Archäologen und der Historiker zu sein als das der Mathematiker. Dennoch werden wir deren frühesten Spuren dort nachgehen.
Bei meiner Ankunft empfinde ich schon die große Glaspyramide, die in der Mitte des Cour Napoléon prangt, als Einladung zur Mathematik, genauer zur Geometrie. Aber ich habe heute ein Rendezvous mit einer viel älteren Vergangenheit. Ich betrete das Museum, und die Zeitreisemaschine setzt sich in Gang. Ich komme an den französischen Königen vorbei, ich verfolge die Renaissance und das Mittelalter zurück und lande in der Antike. Die Säle ziehen an mir vorüber, ich begegne einigen römischen Statuen, den griechischen Vasen und den ägyptischen Sarkophagen. Ich gehe noch ein Stück weiter und trete in die Vorgeschichte ein. Ich eile die Jahrhunderte hinab und muss nach und nach alles vergessen. Muss die Zahlen vergessen, die Geometrie vergessen, die Schrift vergessen. Am Anfang wusste niemand etwas. Es gab nicht einmal etwas zu wissen.
Erster Halt ist Mesopotamien. Ich bin jetzt zehntausend Jahre zurückgegangen.
Wenn ich’s mir recht überlege, hätte ich noch weiter gehen können. Eineinhalb Millionen Jahre weiter zurück bis mitten in die Altsteinzeit. In dieser Epoche ist das Feuer noch nicht gezähmt und der Homo sapiens nicht mehr als ein in der Ferne liegendes Projekt. In Asien herrscht der Homo erectus, in Afrika der Homo ergaster; vielleicht auch der eine oder andere Cousin, der noch zu entdecken ist. Es ist das Zeitalter des geschnittenen Steins. Der Faustkeil ist in Mode.
In einer Ecke des Lagerplatzes sind die Schneider an der Arbeit. Einer von ihnen nimmt sich einen Brocken jungfräulichen Feuersteins, so wie er ihn vor einigen Stunden gefunden hat. Er setzt sich auf die Erde – wahrscheinlich im Schneidersitz –, umschließt den Stein fest mit einer Hand und schlägt mit einem massiven Stein in der anderen auf den Rand. Ein erster Splitter bricht ab. Der Steinschneider betrachtet das Resultat, dreht den Feuerstein um und schlägt – nun also von der anderen Seite – ein zweites Mal darauf. Die beiden ersten auf diese Weise einander gegenüber abgeschlagenen Splitter haben einen scharfen Grat an der Kante des Feuersteins hinterlassen. Jetzt muss die Operation nur noch ringsherum wiederholt werden. An einigen Stellen ist der Feuerstein zu dick oder zu breit, und unser Steinschneider muss größere Stücke entfernen, um dem Objekt die gewünschte Form zu geben.
Die Form des Faustkeils wird nämlich weder dem Zufall noch der Eingebung des Augenblicks überlassen. Sie ist durchdacht, erarbeitet, von einer Generation an die andere weitergegeben. Zwar unterscheiden sich die Modelle, die man gefunden hat, je nach Zeit oder Ort der Herstellung: So haben einige die Form eines Wassertropfens mit vorstehender Spitze, während andere, rundere, das Profil eines Eies haben und wieder andere sich der Form eines gleichschenkligen Dreiecks mit kaum gewölbten Seiten annähern.
Aber eines haben sie alle gemeinsam: eine Symmetrieachse. Hatte diese Geometrie einen praktischen Sinn, oder war es nur eine ästhetische Intention, die unsere Vorfahren veranlasst hat, sich für diese Formen zu entscheiden? Schwer zu sagen. Sicher ist nur, dass die Symmetrie nicht das Ergebnis eines Zufalls sein kann. Der Steinschneider musste so schlagen wollen, wie er es tat. Musste an die Form denken, bevor er sie dem Gegenstand geben konnte. Musste sich von diesem ein geistiges, abstraktes Bild machen. Mit anderen Worten, er musste Mathematik treiben.
Wenn der Steinschneider fertig ist, betrachtet er sein neues Werkzeug, hält es mit ausgestrecktem Arm gegen das Licht, um die Kontur besser prüfen zu können, und bessert durch zwei oder drei zusätzliche leichte Schläge einige Schliffe nach. Dann ist er zufrieden. Was empfindet er in diesem Augenblick? Hat er schon das erhebende Gefühl des wissenschaftlichen Schaffens, die reale Welt durch eine abstrakte Idee ein Stück weit begriffen und ihr Fasson gegeben zu haben? Egal. Die großen Stunden der Abstraktion haben noch nicht geschlagen. Es ist die Zeit des Pragmatismus. Der Steinschneider wird seinen Faustkeil benutzen können, um Holz oder Fleisch zu schneiden, Häute zu durchbohren oder im Boden zu graben.
Aber lassen wir diese alten Zeiten – und diese gewagten Interpretationen –, und kehren wir zurück zum wahren Ausgangspunkt unseres Abenteuers: nach Mesopotamien, ins Zweistromland des achten Jahrtausends vor unserer Zeitrechnung.
Entlang dem sogenannten Fruchtbaren Halbmond, in einem Gebiet, das ungefähr das umfasst, was eines Tages als «der Irak» bezeichnet werden wird, ist die jungsteinzeitliche Revolution im Gange: Seit einiger Zeit lässt man sich hier nieder. In den Hochebenen des Nordens ist das Sesshaftwerden ein großer Erfolg. Diese Region ist das Labor für alle Innovationen der nächsten Zeit. Die Behausungen aus Lehmziegeln – die kühnsten Erbauer setzen auf das ebenerdige sogar schon ein Stockwerk drauf – bilden die ersten Dörfer. Der Ackerbau ist eine Spitzentechnologie. Das großzügige Klima gestattet die Kultivierung des Bodens ohne künstliche Bewässerung. Tiere werden nach und nach zu Haustieren gezähmt, Pflanzen werden gezüchtet. Und nicht mehr lange, dann beginnt man zu töpfern.
Sprechen wir über das Töpfern! Denn während viele andere Zeugnisse aus diesen Epochen verloren gegangen sind, sich hoffnungslos verirrt haben im Labyrinth der Zeit, tragen die Archäologen Töpfe, Vasen, Krüge, Teller und Schalen zu Tausenden zusammen. Die Vitrinen um mich herum sind voll davon. Die ersten stammen aus der Zeit von vor neuntausend Jahren, die späteren führen uns von Saal zu Saal durch die Epochen und markieren uns den Weg wie dem Kleinen Däumling seine Kieselsteine. Es gibt sie in allen Größen und Formen und mit den verschiedensten – geritzten oder gemalten – Dekorationen. Es gibt welche mit Füßen und welche mit Henkeln. Einige sind unversehrt, andere gesprungen, zerbrochen oder aus Scherben wiederhergestellt. Von manchen sind nur vereinzelte Bruchstücke geblieben.
Die Keramik ist die erste Kunst, die vom Feuer Gebrauch macht, lange vor der Arbeit mit Bronze, Eisen oder Glas. Aus Lehm, der formbaren Paste aus Erde, die es in diesen feuchten Zonen im Überfluss gibt, können die Töpfer die Gegenstände nach Belieben formen. Anschließend brauchen sie sie nur einige Tage trocknen zu lassen und dann in einem großen Feuer zu brennen, damit sie fest werden. Die Technik ist damals längst bekannt. Schon zwanzigtausend Jahre zuvor hat man auf dieselbe Art kleine Figuren geschaffen. Doch erst in jüngster Zeit, mit dem Sesshaftwerden, ist man auf die Idee gekommen, so auch Gebrauchsgegenstände herzustellen. Die neue Lebensweise erfordert Gefäße zur Vorratshaltung, also fertigt man Töpfe en masse!
Diese Gefäße aus Terrakotta setzen sich rasch als für die dörfliche Gemeinschaft unverzichtbare Gegenstände des täglichen Lebens durch. Aber wenn man schon Geschirr töpfert, das man lange benutzen will, dann soll es auch schön sein. Bald schon sind die Keramiken dekoriert. Und auch da gibt es verschiedene Schulen. Einige ritzen ihre Motive mit einer Muschel oder einem kleinen Zweig in den noch frischen Lehm. Andere brennen zuerst und ritzen ihre Dekors dann mit geschnittenen Steinen ein. Noch wieder andere bemalen die Oberfläche mit natürlichen Pigmenten.
Beim Gang durch die Säle der Abteilung für Orientalische Antike bin ich beeindruckt vom Reichtum geometrischer Motive, die der Phantasie der Mesopotamier entsprungen sind. Wie beim Faustkeil unseres Steinschneiders sind einige Symmetrien zu raffiniert, um nicht reiflich bedacht worden zu sein. Vor allem die Friese, die auf den Rändern dieser Gefäße entlanglaufen, ziehen meine Aufmerksamkeit auf sich.
Die Friese, das sind diese Bänder, auf denen sich um den ganzen Topf herum ein und dasselbe Motiv wiederholt. Zu den häufigsten gehören die, die dreieckige Sägezähne aneinanderreihen. Oft findet man auch Friese, auf denen sich zwei Schnüre umwickeln. Dann kommen die Friese mit Ähren, mit quadratischen Zinken, mit gepunkteten Rauten, mit gestrichelten Dreiecken, mit ineinandergreifenden Kreisen und so weiter.
Beim Übergang von einer Zone oder Epoche zur anderen werden Moden deutlich. Einige Motive sind sehr populär. Sie werden übernommen, umgebildet, auf mannigfache Weise verfeinert. Dann, einige Jahrhunderte später, sind sie aufgegeben, aus der Mode gekommen, durch andere, zeitgemäße Muster ersetzt.
Ich sehe sie vorbeiziehen, und meine Mathematikeraugen leuchten. Ich sehe Symmetrien, Achsendrehungen, Parallelverschiebungen. Und ich fange an, im Geiste zu ordnen. Theoreme aus meiner Studienzeit fallen mir wieder ein. Die Klassifikation der geometrischen Transformationen: Genau, die brauche ich. Ich hole ein Heft und einen Stift hervor und fange an zu kritzeln.
Da sind zunächst die Achsendrehungen. Direkt vor mir habe ich einen Fries aus ineinandergreifenden «S»-förmigen Motiven. Ich lege den Kopf schräg, um mich zu vergewissern. Ja, eindeutig, dieses Band würde sich durch eine Drehung um 180° nicht verändern: Würde man den Krug auf den Kopf stellen, sähe der Fries genauso aus.
Dann die Symmetrien. Es gibt mehrere Typen. Ich vervollständige nach und nach meine Liste, und eine Schatzsuche beginnt. Für jede geometrische Transformation suche ich den entsprechenden Fries. Ich gehe von einem Saal in den anderen und wieder zurück. Einige Objekte sind beschädigt, und ich muss die Augen zusammenkneifen, um die Motive zu rekonstruieren, die vor Jahrtausenden über diesen Ton liefen. Wenn ich eine neue Transformation gefunden habe, hake ich sie ab. Ich schaue auf die Datierungen, um die Chronologie des erstmaligen Auftretens zu erstellen.
Wie viele verschiedene Kategorien muss ich insgesamt finden? Mit ein bisschen Nachdenken gelingt es mir, sieben Kategorien von Friesen und entsprechend sieben Typen geometrischer Transformationen auszumachen, die die Friese unverändert lassen würden. Keine mehr, keine weniger.
Natürlich wussten die Mesopotamier das nicht. Schließlich wurde die entsprechende Theorie erst seit der Renaissance formalisiert! Dennoch waren die prähistorischen Töpfer, ohne es zu ahnen und ohne anderen Anspruch, als ihre Tongefäße mit harmonischen und originellen Linien zu dekorieren, drauf und dran, die allerersten Überlegungen einer phantastischen Disziplin anzustellen, die Jahrtausende später die Mathematiker erregen sollte.
Ich schaue auf meine Notizen: Ich habe sie fast alle. Nur einer der sieben Friese fehlt mir noch. Ich habe mir Zeit gelassen, denn es ist zweifellos der komplizierteste auf der Liste. Ich suche einen Fries, der genauso aussieht, wenn man ihn auf den Kopf stellt, aber um die halbe Länge eines Motivs versetzt ist. Wir sprechen heute von «verschobener» Symmetrie. Eine echte Herausforderung für unsere Mesopotamier!
Wie gesagt, ein solcher Fries fehlt mir noch. Aber ich verliere die Hoffnung nicht, schließlich habe ich noch längst nicht alle Säle durchlaufen. Die Treibjagd geht weiter. Ich achte auf das kleinste Detail, das kleinste Indiz. Die sechs anderen Kategorien, jene, die ich schon gesehen habe, häufen sich. Die Daten, die Schemata und anderen Kritzeleien in meinem Heft geraten durcheinander. Doch noch immer kein Anzeichen von dem geheimnisvollen siebten Fries.
Plötzlich schüttet mein Körper Adrenalin aus. Ich habe hinter einer Scheibe ein Objekt von erbarmungswürdigem Aussehen, ein bloßes Bruchstück, erblickt, auf welchem untereinander vier nur teilweise erhaltene Friese gut sichtbar sind. Einer von ihnen hat sofort meine Aufmerksamkeit geweckt. Es ist der dritte von oben. Er ist aus Fragmenten von schräg gestellten Rechtecken zusammengesetzt, die denen ähneln, die in Ähren ineinandergreifen. Ich kneife die Augen zusammen, schaue genau hin und kritzle das Motiv schnell in mein Heft, als fürchtete ich, es würde vor meinen Augen in nichts vergehen. Die Geometrie ist die gesuchte. Es handelt sich um die verschobene Symmetrie. Der siebte Fries ist gefunden!
Das Kärtchen neben dem Objekt sagt: Bruchstück eines horizontal mit Bändern und gepunkteten Rauten dekorierten Bechers – Mitte des 5. Jahrtausends v. Chr.
Ich ordne diesen Fries in meine Chronologie ein, die ich im Kopf entworfen habe. Mitte des 5. Jahrtausends v. Chr.: Wir befinden uns immer noch in der Vorgeschichte. Ohne es zu wissen, hatten die mesopotamischen Töpfer schon mehr als tausend Jahre vor der Erfindung der Schrift sämtliche Fälle eines Theorems aufgelistet, das erst sechstausend Jahre später formuliert und demonstriert werden sollte!
Einige Säle weiter stoße ich auf einen Krug mit drei Henkeln, dessen Fries ebenfalls in die siebte Kategorie gehört: Auch wenn das Motiv spiralenartig ist, die geometrische Struktur ist dieselbe. Ein Stück weiter sehe ich noch einen Fries dieser Art. Als ich weitersuchen will, ändert sich plötzlich das Dekor. Ich befinde mich am Anfang der orientalischen Sammlungen. Wenn ich in dieser Richtung weitergehe, lande ich in Griechenland. Ich werfe einen letzten Blick auf meine Notizen: Die Friese mit verschobener Symmetrie lassen sich an den Fingern einer Hand abzählen. Mir ist warm.
Die erste Kategorie ist die der Friese, die keine besondere geometrische Eigenschaft besitzen. Ihnen liegt einfach ein Motiv zugrunde, das sich ohne Symmetrien und Drehpunkte wiederholt, was insbesondere bei Friesen der Fall ist, die nicht auf geometrischen Mustern basieren, sondern auf figürlichen Motiven wie etwa Tieren.
Die zweite Kategorie umfasst jene Friese, bei denen die horizontale Linie, die den Fries in zwei Teile teilt, eine Symmetrieachse ist.
Die dritte Kategorie enthält die Friese, die eine vertikale Symmetrieachse haben. Weil jedem dieser Friese ein Motiv zugrunde liegt, das sich horizontal wiederholt, wiederholt sich auch die vertikale Symmetrieachse.
Die vierte Kategorie ist die der Friese, die sich durch eine Drehung um 180° nicht verändern. Wenn Sie diese Friese auf den Kopf stellen, sehen Sie das Gleiche wie zuvor.
Die fünfte Kategorie ist die der verschobenen Symmetrien, also jene Kategorie, die ich bei den mesopotamischen Friesen als letzte entdeckt habe. Wenn Sie einen solchen Fries an einer Symmetrieachse spiegeln (an derselben wie bei der zweiten Kategorie), ihn also auf den Kopf stellen, erhalten Sie den gleichen Fries, aber um die Länge eines halben Motivs verschoben.
Die sechste und die siebte Kategorie basieren nicht auf neuen geometrischen Transformationen, sondern kombinieren mehrere Eigenschaften aus den ersten fünf Kategorien. So haben die Friese der sechsten Kategorie zugleich eine horizontale und eine vertikale Symmetrie und einen Drehpunkt für eine Drehung um 180°.
Zur siebten Kategorie gehören Friese, die eine vertikale Symmetrie, eine Drehung um 180° und eine verschobene Symmetrie haben.
Anzumerken ist, dass diese Kategorien sich nur auf die geometrische Struktur der Friese beziehen, Variationen in der Gestalt der Motive also nicht ausschließen. Die folgenden Friese etwa, so verschieden sie sind, gehören alle zur siebten Kategorie:
Alle Friese, die man sich vorstellen kann, gehören also einer dieser sieben Kategorien an. Jede andere Kombination ist geometrisch unmöglich. Interessanterweise sind Friese der beiden letzten Kategorien am häufigsten. Warum? Weil es einfacher ist, Figuren zu zeichnen, die viele, als solche, die nur wenige Symmetrien haben.
Tollkühn geworden durch meine mesopotamischen Erfolge, bin ich am nächsten Tag bereit, das antike Griechenland in Angriff zu nehmen. Doch kaum angekommen, weiß ich schon nicht mehr, wo mir der Kopf steht. Hier ist die Jagd auf Friese ein Kinderspiel. Ich brauche nur einige Schritte zu gehen, in einige Vitrinen zu schauen, einige schwarze Amphoren mit roten Figuren näher zu betrachten – schon habe ich meine Liste mit den sieben Friesen.
Angesichts eines solchen Überflusses verzichte ich schnell darauf, Statistiken zu führen, wie ich es in der mesopotamischen Abteilung getan habe. Die Kreativität dieser Künstler haut mich um. Neue Motive, immer komplexer und raffinierter, tauchen auf. Mehrmals muss ich haltmachen und mich konzentrieren, um diese Flechtwerke, die mich umwirbeln, nicht durcheinanderzubringen.
Auf meinem Rundgang macht mich eine Loutrophore mit roter Zeichnung sprachlos.
Eine Loutrophore ist eine lange Vase mit zwei Henkeln zum Transportieren von Badewasser. Diese hier ist fast einen Meter hoch. Sie weist zahlreiche Friese auf, unter denen ich je einen aus jeder der sieben Kategorien auszumachen versuche, und zwar in deren Reihenfolge. Eins. Zwei. Drei. Vier. Fünf. In nur wenigen Sekunden habe ich fünf der sieben geometrischen Strukturen identifiziert. Die Vase ist an der Wand befestigt, aber wenn ich mich ein wenig vorbeuge, kann ich auf der Rückseite einen Fries der sechsten Kategorie erkennen. Mir fehlt nur eine einzige Kategorie. Es wäre zu schön, wenn sich auch die auf der Vase fände! Erstaunlicherweise ist die fehlende nicht die gleiche wie in der mesopotamischen Abteilung. Die Zeiten haben sich geändert, die Moden ebenfalls, und die Kategorie, die mir fehlt, ist nicht die verschobene Symmetrie allein, sondern die Kombination aus vertikaler Symmetrie, Drehung um 180° und verschobener Symmetrie.
Ich suche sie hektisch, ich scanne mit meinen Blicken den kleinsten Winkel des Objekts. Ich finde sie nicht. Ein bisschen enttäuscht, bin ich kurz davor aufzugeben, als meine Augen sich auf ein Detail richten. In der Mitte der Vase ist eine Szene mit zwei Figuren dargestellt. Auf den ersten Blick scheint sich an dieser Stelle kein Fries zu befinden. Doch rechts unten zieht ein Gegenstand meine Aufmerksamkeit auf sich: eine Vase, auf die sich die Hauptfigur stützt. Eine Vase auf der Vase! Die Mise en abyme, die Rekursion, macht mich lächeln. Ich kneife die Augen zusammen, denn das Bild ist ein bisschen schadhaft. Doch kein Zweifel, diese gezeichnete Vase trägt selbst einen Fries, und zwar, o Wunder! den, der mir fehlte!
Trotz wiederholter Bemühungen habe ich kein anderes Objekt mit dieser Besonderheit gefunden. Die Loutrophore scheint in ihrer Art einzigartig zu sein in den Sammlungen des Louvre: Sie scheint die Einzige zu sein, die alle sieben Kategorien von Friesen aufweist.
Ein Stück weiter erwartet mich eine andere Überraschung. Friese in 3D! Und ich glaubte, die Perspektive sei eine Erfindung der Renaissance! Dunkle und helle Bereiche, vom Künstler gekonnt gesetzt, bilden ein Spiel aus Licht und Schatten, das den geometrischen Formen auf diesem gigantischen Gefäß ein räumliches Aussehen verleiht.
Je weiter ich gehe, umso mehr neue Fragen stellen sich mir. Einige Stücke sind nicht von Friesen bedeckt, sondern von Pflasterungen. Mit anderen Worten, die geometrischen Motive begnügen sich nicht mehr damit, zu einem zierlichen Band gereiht um das Objekt herumzulaufen, sondern sie überwuchern schon seine ganze Oberfläche und vermehren dadurch die Möglichkeiten geometrischer Kombinationen.
Nach den Griechen kommen die Ägypter, die Etrusker und die Römer. Ich entdecke ein in Stein geschnittenes Motiv, das den Eindruck einer geklöppelten Spitze macht. Die Fäden aus Stein schlingen sich ineinander, über- und unterqueren einander abwechselnd in einem vollkommen ebenmäßigen Gewebe. Dann, als genügten die ausgestellten Arbeiten nicht mehr, ertappe ich mich dabei, den Louvre selbst zu betrachten: seine Plafonds, seine gefliesten Böden, seine Türrahmen. Auf dem Heimweg habe ich das Gefühl, nicht mehr aufhören zu können. Auf der Straße betrachte ich die Balkons der Häuser, die Motive auf der Kleidung der Passanten, die Wände der Gänge in der Metro.
Man braucht die Welt nur mit anderen Augen zu sehen, schon entdeckt man Mathematik. Die Suche ist faszinierend und kommt an kein Ende.
Das Abenteuer hat gerade erst begonnen!
2
Es geht damals rasch voran in Mesopotamien. Am Ende des 4. Jahrtausends vor unserer Zeitrechnung haben sich die kleinen Dörfer, von denen die Rede war, in blühende Städte verwandelt. Einige haben mehrere zehntausend Einwohner! Die Technologien machen Fortschritte wie noch nie. Ob Architekten, Schmiede, Töpfer, Weber, Tischler oder Bildhauer, die Handwerker und Künstler müssen immer wieder von neuem ihre Findigkeit unter Beweis stellen, um die technischen Herausforderungen zu bewältigen, vor denen sie stehen. Die Metallurgie ist zwar noch nicht voll ausgereift, aber man arbeitet daran.
Nach und nach legt sich ein Wegenetz über die gesamte Region. Die kulturellen und die Handelsbeziehungen werden enger. Immer kompliziertere Hierarchien entstehen, und der Homo sapiens entdeckt die Freuden der Verwaltung. Denn all das schreit nach Organisation. Um ein bisschen Ordnung hineinzubringen, ist es höchste Zeit für unsere Spezies, die Schrift zu erfinden und in die Geschichte einzutreten. In dieser sich vorbereitenden Revolution spielt die Mathematik die Rolle der Avantgarde.
Verlassen wir, dem Lauf des Euphrat folgend, die Hochebenen im Norden, in denen die ersten Dauersiedlungen entstanden, und begeben wir uns nach Sumer in die Ebenen Niedermesopotamiens. Hier, in den Steppen des Südens, gibt es schon die ersten Ballungszentren. Wir kommen an den Städten Kisch, Nippur und Schuruppak vorbei, die alle unweit des Flusses liegen. Sie sind noch jung, aber die folgenden Jahrhunderte werden ihnen Glanz und Wohlstand bringen.
Und dann erscheint plötzlich Uruk am Horizont.
Uruk ist ein menschlicher Ameisenhaufen, der mit seiner Macht und seinem Ruhm den ganzen Nahen Osten erhellt. Erbaut hauptsächlich aus Lehmziegeln, stellt die Stadt ihre hellbraunen Farbtöne auf einer Fläche von mehr als hundert Hektar zur Schau, und ein Fußgänger, der sich verlaufen hat, kann in ihren überfüllten Gassen stundenlang unterwegs sein. Im Herzen der Stadt sind mehrere monumentale Tempel errichtet worden. Man huldigt in ihnen An, dem Vater aller Götter, vor allem aber Inanna, der Herrin des Himmels. Ihr Hauptheiligtum ist der Eanna-Bezirk, dessen größter Tempel sich auf einer Grundfläche von 80 mal 30 Metern erhebt. Eindrucksvoll für die zahlreichen Durchreisenden!
Der Sommer steht vor der Tür, und wie jedes Jahr in dieser Epoche hat eine besondere Unruhe Besitz von der Stadt ergriffen. Bald werden die Schafherden zu den Weidegründen im Norden aufbrechen, um erst am Ende der warmen Jahreszeit zurückzukehren. Mehrere Monate lang werden die Schäfer die Aufgabe haben, für den Fortbestand und die Sicherheit der Tiere zu sorgen, um sie deren Eigentümern wieder vollzählig zurückzubringen. Der Eanna-Tempel besitzt selbst mehrere Herden, von denen die größten zehntausende Köpfe zählen. Die Herden sind so riesig, dass einige von Soldaten begleitet werden, die sie vor den Gefahren der Expedition schützen sollen.
Aber natürlich lassen die Besitzer ihre Schafe nicht losziehen, ohne Vorsichtsmaßnahmen zu ergreifen. Die Abmachung mit den Schäfern ist klar: Sie müssen genauso viele Tiere zurückbringen, wie sie mitgenommen haben. Es geht nicht an, dass sie einen Teil der Herde sich verlaufen lassen oder gar einige Schafe unter der Hand eintauschen.
Damit ergibt sich ein Problem: Wie kann man die Größe der Herde, die losgezogen ist, mit der Größe der Herde vergleichen, die zurückgekehrt ist?
Um diese Frage zu beantworten, hat man schon vor Jahrhunderten ein System mit Zählsteinen aus Ton entwickelt. Es gibt mehrere Typen von Zählsteinen, von denen jeder, je nach Form und eingeritztem Motiv, für ein oder mehrere Objekte oder Tiere steht. Für ein Schaf steht eine einfache Scheibe mit einem Kreuz darauf. Bei der Abreise hinterlassen die Schäfer in einem Gefäß eine Anzahl von Zählsteinen, die der Größe der Herde entspricht. Bei der Rückkehr genügt es, die Größe der Herde mit dem Inhalt des Gefäßes zu vergleichen, um festzustellen, ob Tiere fehlen oder nicht. Viel später wird ein solcher Zählstein den lateinischen Namen calculus, «kleiner Kieselstein», erhalten, von dem das Wort Kalkül abgeleitet ist.
Die Methode ist praktisch, hat aber einen Nachteil: Wirft sie doch die Frage auf, wer auf die Zählsteine aufpasst. Denn beide Seiten sind misstrauisch, und die Schäfer können ihrerseits befürchten, dass während ihrer Abwesenheit von skrupellosen Eigentümern einige Zählsteine zusätzlich in die Urne geworfen werden. Könnten jene doch Schadensersatz für Schafe fordern, die es nie gegeben hat!
Man sucht, man zerbricht sich den Kopf, und schließlich findet man eine Lösung: Die Zählsteine werden in einer versiegelten hohlen Kugel aus Ton aufbewahrt. Wenn diese Bulle verschlossen wird, setzt jeder seine Unterschrift auf die Oberfläche. Von nun an ist es unmöglich, die Anzahl der Zählsteine zu verändern, ohne die Bulle zu zerbrechen. Die Schäfer können beruhigt losziehen.
Doch jetzt sind es wieder die Eigentümer, die Nachteile bemerken. Denn für ihre Geschäfte müssen sie jederzeit die Anzahl der Tiere in ihren Herden kennen. Wie soll das möglich sein? Können sie sich die Anzahl der Schafe merken? Natürlich nicht, wenn man weiß, dass die Sprache der Sumerer noch keine Wörter für so große Zahlen hat. Sollen sie sich ein nicht versiegeltes Gefäß mit je einem zweiten Exemplar der in allen Bullen enthaltenen Zählsteine zulegen? Nicht sehr praktisch.
Schließlich findet man eine Lösung. Man ritzt mit einem aus Schilfrohr geschnittenen Stift in die Oberfläche jeder Bulle die Muster der sich darin befindenden Zählsteine. So ist es jederzeit möglich, den Inhalt der Bulle in Erfahrung zu bringen, ohne sie zu zerbrechen.
Diese Methode scheint von nun an alle zu befriedigen. Sie wird universell verwendet, nicht nur, um Schafe zu zählen, sondern um alle Arten von Abmachungen zu besiegeln, wobei die Getreide (etwa Gerste oder Saatweizen), die Wolle und die Spinnstoffe, das Metall, die Schmucksachen, die Edelsteine, das Öl und die Tongefäße ihre eigenen Zählsteine haben. Auch über die Steuern wird mit Zählsteinen Buch geführt. Kurzum, am Ende des 4. Jahrtausends muss in Uruk jeder formgerechte Vertrag mit einer Bulle besiegelt werden, die Zählsteine aus Ton enthält.
All das funktioniert wunderbar, und eines Tages kommt man auf eine brillante, zugleich geniale und doch so einfache Idee, dass man sich fragt, warum sie einem nicht schon früher eingefallen ist. Da die Anzahl der Tiere ja auf der Oberfläche der Bulle vermerkt ist, wozu dann weiter Zählsteine hineinwerfen? Und wozu weiter Bullen töpfern? Man könnte doch einfach die Bilder der Zählsteine in ein beliebiges Stück Ton ritzen. Zum Beispiel in eine flache Tafel.
Und würde dieses Verfahren als Schreiben bezeichnen.
Ich befinde mich wieder im Louvre. Die Sammlungen der Abteilung «Alter Orient» legen von der Geschichte, die ich in aller Kürze erzählt habe, Zeugnis ab. Was mich angesichts der besagten Bullen als Erstes erstaunt, sind ihre Abmessungen. Diese kleinen Kugeln aus Ton, die die Sumerer einfach mit ihrem Daumen ausformten, sind kaum größer als Pingpongbälle. Und die Zählsteine messen in Länge und Breite nicht mehr als einen Zentimeter.
Etwas weiter stoße ich auf die ersten Tafeln. Es werden rasch mehr, und bald füllen sie ganze Vitrinen. Die Schrift wird allmählich genauer, und die kleinen Einkerbungen in Form von Nägeln nehmen Keilform an. Nach dem Verschwinden der ersten Zivilisationen Mesopotamiens vor etwa zweitausend Jahren schliefen die meisten dieser Fundstücke jahrhundertelang unter den Ruinen verlassener Städte, bis sie ab dem 17. Jahrhundert von europäischen Archäologen ausgegraben wurden. Nach und nach entziffert wurden sie erst im Laufe des 19. Jahrhunderts.
Auch diese Tafeln sind nicht sehr groß. Einige haben nur das Format von Visitenkarten, sind aber von hunderten dicht gedrängten winzigen Zeichen bedeckt. Auch nur die kleinste Fläche Ton zu verschenken, kam für die mesopotamischen Schreiber nicht in Frage. Dank der Kärtchen, die sich im Louvre neben den Ausstellungsstücken befinden, weiß ich, was die rätselhaften Symbole bedeuten. Es geht um Vieh, um Schmuckstücke und um Getreide.
Neben mir machen Touristen Fotos – mit ihren Tablets, deren Gestalt an die alten Tafeln erinnert. Wie unheimlich, dieses Augenzwinkern der Geschichte, die der Schrift so viele verschiedene Unterlagen beschert hat, vom Ton über den Marmor, das Wachs, den Papyrus und das Pergament bis zum Papier, um in einer letzten, ironischen Wendung den elektronischen Tablets die Form ihrer Vorläufer aus Erde zu geben! Die Konfrontation der beiden Gegenstände hat etwas sehr Bewegendes. Wer weiß, ob sich diese beiden Erscheinungsformen von Tafeln nicht in fünftausend Jahren nebeneinander, auf derselben Seite der Vitrine, wiederfinden werden!
Viel Zeit ist vergangen – wir befinden uns am Beginn des dritten vorchristlichen Jahrtausends. Eine weitere Etappe liegt hinter uns: Die Zahl hat sich von den Dingen befreit, die sie zählt! Vorher, bei den Bullen und den allerersten Tafeln, standen die Zählsymbole in einem Bezug zu den Dingen, um die es ging. Ein Schaf ist keine Kuh, daher war das Symbol zum Zählen von Schafen nicht dasselbe wie das zum Zählen von Kühen. Jedes Ding, das gezählt werden konnte, hatte sein eigenes Symbol, wie es seine eigenen Zählsteine gehabt hatte.
Aber all das gehört jetzt der Vergangenheit an. Die Zahlen haben ihre eigenen Symbole erhalten. Im Klartext: Die Anzahl von acht Schafen stellt man nicht mehr mit acht Schafsymbolen dar, sondern man schreibt die Zahl Acht und setzt ein Schafsymbol dahinter. Um die Anzahl von acht Kühen darzustellen, braucht man nur das Schafsymbol durch das Kuhsymbol zu ersetzen. Die geschriebene Zahl bleibt die gleiche.
Dieser Schritt in der Geschichte des Denkens ist von absolut fundamentaler Bedeutung. Gälte es, ein Datum für die Geburt der Mathematik zu nennen, so würde ich mich ohne Zweifel für diesen Augenblick entscheiden, in dem die Zahl an und für sich zu existieren beginnt, weil sie sich vom Realen gelöst hat, um es von oben zu betrachten. Alles davor war Vorbereitung. Faustkeile, Friese und Zählsteine waren nur gleichsam Vorspiele zu dieser Geburt der Zahl.
Die Zahl ist jetzt auf die Seite der Abstraktion übergegangen, und eben das macht die Identität der Mathematik aus: Die Mathematik ist die Wissenschaft der Abstraktion par excellence. Die Gegenstände der Mathematik haben keine physische Existenz. Sie sind nicht materiell, nicht aus Atomen gemacht. Sie sind nur Ideen. Doch von welch furchterregender Effizienz sind diese Ideen für das Begreifen der Welt!
Es ist wahrscheinlich kein Zufall, dass die Notwendigkeit, Zahlen zu schreiben, an diesem Punkt für die Herausbildung der Schrift entscheidend wurde. Denn während andere Vorstellungen problemlos mündlich übermittelt werden konnten, scheint es schwierig, ein Zahlensystem einzuführen, ohne den Weg einer geschriebenen Notation zu beschreiten.
Können denn wir heute die Vorstellungen, die wir uns von den Zahlen machen, von deren Schriftform trennen? Wenn ich Sie bitte, sich ein Schaf vorzustellen, was sehen Sie dann? Sie stellen sich vermutlich ein blökendes vierbeiniges Tier mit Wolle auf dem Rücken vor. Es käme Ihnen nicht in den Sinn, sich die fünf Buchstaben des Wortes «Schaf» vorzustellen. Aber wenn ich Ihnen jetzt die Zahl Hundertachtundzwanzig nenne, was sehen Sie dann? Ist es nicht so, dass die 1, die 2 und die 8 vor Ihrem geistigen Auge Form annehmen und sich verketten, als wären sie mit der unsichtbaren Tinte Ihrer Gedanken geschrieben? Die geistige Vorstellung, die wir uns von großen Zahlen machen, scheint unlösbar an deren Schriftform gebunden.
Während die Schrift bei allen anderen Dingen nur überträgt, was schon in der gesprochenen Sprache existiert, drückt sie bei den Zahlen der gesprochenen Sprache ihren Stempel auf. Wenn Sie «Hundertachtundzwanzig» sagen, tun Sie nichts anderes, als «128» zu lesen: «100, 8 und 20». Oberhalb einer bestimmten Schwelle wird es unmöglich, von den Zahlen zu sprechen, ohne sich auf die Schrift zu stützen. Bevor sie geschrieben wurden, gab es für die großen Zahlen keine Wörter.
Es gibt heute noch indigene Völker, die zur Bezeichnung der Zahlen nur sehr wenige Wörter haben. So zählen die Angehörigen des Stammes der Pirahã, Jäger und Sammler, die an den Ufern des Rio Maici in Amazonien leben, nur bis zwei. Für alles darüber hinaus gebrauchen sie ein und dasselbe Wort mit der Bedeutung «mehrere» oder «viele». Die ebenfalls in Amazonien lebenden Munduruku haben nur Wörter für die Zahlen bis fünf, das heißt für eine Handvoll.
In unseren modernen Gesellschaften sind die Zahlen in den Alltag eingedrungen. Sie sind so allgegenwärtig und unverzichtbar geworden, dass man oft vergisst, wie genial die Idee war und dass unsere Vorfahren Jahrhunderte gebraucht haben, um das zu schaffen, was sich von selbst zu verstehen scheint.