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Harald Haarmann

DIE INDOEUROPÄER

Herkunft, Sprachen, Kulturen

 

 

 

 

 

 

 

 

C.H.Beck

 


 

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Zum Buch

Europäische Sprachen weisen in Wortschatz und Grammatik erstaunliche Ähnlichkeiten mit östlichen Sprachen wie dem Persischen und dem Sanskrit auf. Wie kommt es zu dieser Verwandtschaft in einem so weiten Raum von Westeuropa bis Indien? Harald Haarmann beschreibt anschaulich, was wir über die Ursprache der Indoeuropäer und ihre Urheimat in der südrussischen Steppe wissen, und erklärt, wie die berittenen Steppennomaden ab dem 4. Jahrtausend v. Chr. nach Westen und Osten gewandert sind, wo sie sich mit vorindoeuropäischen Kulturen vermischten und schließlich in Persien, Indien, Westeuropa und andernorts sesshaft wurden. Nicht nur die Sprachen der Indoeuropäer legen Zeugnis von dieser Entwicklung ab, sondern auch ihre Mythen sowie archäologische Funde.

Über den Autor

Harald Haarmann gehört zu den weltweit bekanntesten Sprachwissenschaftlern. Bei C.H.Beck erschienen von ihm zuletzt «Weltgeschichte der Sprachen» (2. Aufl. 2010), «Weltgeschichte der Zahlen» (2008) sowie «Das Rätsel der Donauzivilisation» (2011).

Inhalt

Die Spur der Sprachen: Forschung und Mythos

Verwandtschaften

Der Ariermythos

Indoeuropäisierung

1. Auf der Suche nach der Urheimat

Südrussische Steppe oder Anatolien?

Indoeuropäer und Uralier in Osteuropa

2. Lebenswelten der frühen Indoeuropäer

Das Pferd in der nomadischen Weidewirtschaft

Prähistorische Klimaschwankungen als Auslöser der Migrationen

Die Steppennomaden im Kontakt mit den Ackerbauern

Wagenbau und Metallhandwerk – Neue Technologien

Akkulturation und Sprachwandel

3. Die Ursprache und ihre Verzweigung

Struktur und Typik des Proto-Indoeuropäischen

Kulturwandel und Sprachwechsel unter dem Druck der Elite

Exkurs nach Mauritius: Die Entstehung einer Fusionssprache

Die Geburt der Tochtersprachen

4. Migration nach Westen (ab ca. 4000 v. Chr.)

Die Symbiose mit Kultur und Sprachen Alteuropas

Sprachkontakte zwischen Ackerbauern und Wildbeutern

Die Ausbildung der Regionalkulturen in Europa

Griechisch und Mazedonisch

Italisch

Kelten

Germanen

Slawen

Balten

Thraker

Illyrer und Messapier

Albaner

Veneter

5. Migration nach Osten (ab ca. 2500 v. Chr.)

Die Arier: Von Zentralasien nach Iran und Indien

Arisch-dravidische Mischkultur

Die Urbevölkerung im Kontakt mit den Indo-Ariern

Die Indo-Iranische Makrogruppierung

Die Skythen

Indo-arische Sprachen

Altindisch: Vedisch und Sanskrit

Iranische Sprachen

Die Perser

6. Indoeuropäische Außenlieger (ab ca. 2000 v. Chr.)

Westchina

Das Mysterium der Mumien von Ürümchi

Die Tocharer im Tarim-Becken

Anatolien

Die hethitische Mosaikkultur

Keilschrift und Hieroglyphen der Luwier

Die Phryger

Südkaukasus: Die Armenier

7. Indoeuropäische Sprachen heute

Literatur

Register der Völker und Sprachen

Die Spur der Sprachen:
Forschung und Mythos

Verwandtschaften. Als William Jones im Jahre 1786 in einem Vortrag vor der «Asiatick Society» in Calcutta die Ähnlichkeit des Sanskrit mit dem Griechischen, Lateinischen und anderen Sprachen herausstellte, konnte er nicht ahnen, dass er damit eine Bewegung auslösen würde, die Generationen von Forschern beschäftigt hat und bis in unsere Zeit für wissenschaftlichen Zündstoff sorgt. Jones war nicht der Einzige, der sich zum Sprachvergleich äußerte. Hinweise auf die Ähnlichkeiten zwischen den Sprachen Indiens und Europas finden sich bereits im 16. Jahrhundert, und einige Zeitgenossen von Jones hatten auf Ähnlichkeiten im Sprachbau von Sanskrit und verschiedenen Sprachen Europas bereits früher aufmerksam gemacht. Im Jahre 1767 hatte der französische Jesuit Coeurdoux dem «Institut Français» in Paris eine Studie über lexikalisch-grammatische Vergleiche zwischen Sanskrit und Latein übermittelt. Diese Studie blieb aber lange unbeachtet und wurde erst vierzig Jahre später gedruckt (Seuren 1998: 80). Auch in der umfangreichen Sprachenenzyklopädie von Lorenzo Hervás y Panduro (1784–87), der nach den Ursprachen (matrices) suchte, sind bereits erste, wenn auch nebulöse Konturen vom Komplex der indoeuropäischen Sprachen zu erkennen.

In der damaligen Zeit stützte man sich bei Beobachtungen zur Verwandtschaft von Sprachen überwiegend auf Wortvergleiche, und intuitiv erkannte man, dass Sanskrit matár, griechisch meter, lateinisch mater, englisch mother u.a. ähnlich lautende Ausdrücke irgendwie zusammengehören. Aber woher kommt das? Eine Sprachverwandtschaft allein auf Wortvergleiche zu stützen, ist viel zu oberflächlich, um verlässlich zu sein. Dabei kann man auch in eine Sackgasse geraten, und es «fehlen» Wörter, die man eigentlich erwartet. Beispielsweise gibt es zum erwähnten Stammwort für ‹Mutter› kein verwandtes Äquivalent im Gotischen. Dies kann nur bedeuten, dass das aus der indoeuropäischen Grundsprache stammende Erbwort in der Tochtersprache durch einen anderen Ausdruck ersetzt wurde: Das gotische aithei leitet sich vermutlich von der Wurzel at- her, die wie ähnliche Bildungen auf an-, ak- und n-an als Reflexe von Lallwörtern der Kindersprache erklärt wird (z.B. hethit. annas, alb. nënë, altind. akka ‹Mutter›); aithei ist später als äiti ‹Mutter› ins Finnische entlehnt worden.

Forschung zur Sprachverwandtschaft wird erst dann sinnvoll, wenn es gelingt, Ähnlichkeiten nicht nur im Wortschatz, sondern auch im Lautsystem, im grammatischen Bau und in der Syntax aufzuspüren und zu belegen. Von einfachen Wortvergleichen zur komparatistischen Analyse ganzer Sprachsysteme ist es ein langer Weg. Wenn nun also Sanskrit, Griechisch und Lateinisch irgendwie ähnlich erscheinen, wie kommt es dann, dass das Sanskrit und die damit verwandten Sprachen Indiens offensichtlich weiter entfernt von den anderen sind? Diese Frage stellten sich die europäischen Sprachforscher im 19. Jahrhundert, und sie fanden darauf eine typisch europäische Antwort. Im Zeitalter des Nationalismus, als Völker aufgrund der Sprachen identifiziert wurden, die sie sprachen, kreierte man für jede der verwandten Sprachen ein Volk. Da gab es dann die alten Inder, die Perser, die Griechen und Römer usw. Aber schon bei der Identifizierung der lateinischsprechenden Bevölkerung mit den Römern verstrickte man sich in unlösbare Widersprüche. Die Römer als Volk hat es nie gegeben, im weitest entwickelten Sinne waren alle freien Untertanen des Imperium Romanum «Römer». Und es waren viele Völker, die Lateinisch sprachen: nicht nur die Latiner, sondern auch alle anderen italischen Völker, sodann zahlreiche indoeuropäische (Veneter, Gallier, Daker, Illyrer u.a.) und nichtindoeuropäische (Etrusker, Ligurer, Iberer, Numider u.a.) Völker, die sich sprachlich assimilierten. Und die Völker – auch die, die es gar nicht gab – ließ man wandern, mal von Indien nach Europa, mal auch in umgekehrter Richtung. Die Ergebnisse solcher «Völkerverschiebungen» blieben aber letztlich unbefriedigend, und das aus gutem Grund.

Das Verhältnis zwischen Sprachen und Völkern lässt sich nicht auf eine einfache Gleichung bringen. Jahrzehntelange Forschung war nötig, um Klarheit über die Beziehung der verwandten Sprachen und Kulturen zu den Populationen zu schaffen, die damit leben. In vielen Fällen hat erst die moderne Humangenetik verlässliche Informationen ermittelt, wer die Sprecher bestimmter Sprachen waren und woher sie kamen; dies gilt beispielsweise für die Sprecher des Tocharischen (s. Kap. 6). Die Verwandtschaft der Sprachen Indiens und Europas war der Ausgangspunkt für Beobachtungen über den Zusammenhang einer ganzen Sprachfamilie, und erst später beschäftigte sich die Forschung mit den kulturellen Traditionen und der Mythologie ihrer Sprecher. Die indische Mythologie wurde bereits von den Sprachforschern im frühen 19. Jahrhundert untersucht. Eine ernstzunehmende Archäologie der alten indoeuropäischen Völker entwickelte sich erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit den Ausgrabungen der hethitischen Hauptstadt Hattusa. Und die frühen Nomadenkulturen der Steppenregion Südrusslands und Zentralasiens sind erst in den vergangenen Jahrzehnten systematisch erforscht worden.

Die Benennung der indoeuropäischen Sprachen stammt aus dem 19. Jahrhundert. Thomas Young war in der englischsprachigen Welt der erste, der im Jahre 1813 den Begriff «Indo-European» verwendete. In der älteren deutschsprachigen Tradition nennt man diese Familie «indogermanisch», ein Ausdruck, der dem Zeitgeist der Romantik entsprang und zuerst 1823 von Friedrich von Schlegel verwendet wurde. In Franz Bopps vergleichender Grammatik aus dem Jahre 1816 ist von «indisch-europäischen» Sprachen die Rede. In beiden Namenformen weisen die Komponenten jeweils auf die Peripherien des Verbreitungsgebiets, die östliche (indo-) und die westliche (germanisch bzw. europäisch), hin. Wollte man das Kriterium der geographischen Ausdehnung exakt anwenden, müsste die Sprachfamilie das Attribut «indoromanisch» erhalten, mit Bezug auf die Pyrenäenhalbinsel im Südwesten, oder aber «indokeltisch», wenn man die Situation im extremen Nordwesten Europas berücksichtigt, wo keltische, nicht germanische Sprachen verbreitet sind. In der modernen deutschsprachigen Terminologie kann man eine Tendenz zur Angleichung an internationale Benennungen feststellen: dt. indo-europäisch als Äquivalent zu engl. Indo-European, franz. indoeuropéen, ital. indoeuropeo oder russ. indoevropejskij.

Auch wenn die Zusammengehörigkeit der verschiedenen regionalen Sprachgruppen (d.h. indische, germanische, slawische Sprachen, Griechisch, Lateinisch usw.) früh erkannt wurde, kursierten noch lange allerlei Spekulationen über die «Urmutter» der Sprachen. Das Sanskrit mit seiner uralten schriftsprachlichen Tradition schien ein guter Kandidat zu sein, und jahrzehntelang gingen die Forscher davon aus, dass sich alle indoeuropäischen Sprachen von dieser Quelle ableiten. Entsprechend galten als Träger dieser Kultur und Urahnen aller Europäer die Arier (nach ihrer Selbstbezeichnung Arya). Erst in den 1870er Jahren, durch die Arbeiten der Junggrammatiker, gelangte die historisch-vergleichende Sprachwissenschaft zu der Erkenntnis, dass das Sanskrit selbst die Tochtersprache einer Ursprache ist: des «Proto-Indoeuropäischen», damals auch «Ur-Indogermanisch» genannt.

Der Ariermythos. Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, wenn die Begriffe «indogermanisch» und «arisch» miteinander verquickt und quasi wie Synonyme gebraucht wurden. Die Verherrlichung arischer Kulturtraditionen war nicht nur eine Triebkraft nationalen Selbstwertgefühls bei den indischen Ariern selbst (s. Kap. 5), das Prestige des Ariertums wurde auch von anderen Völkern usurpiert, besonders bei den Europäern. Vor allem bei den germanischen Völkern war der Arierkult seit dem 19. Jahrhundert populär (Marchand 2009).

Die Selbstidentifizierung der Europäer als Arier im Sinn einer Völkerbezeichnung war – entgegen allen neuen sprachwissenschaftlichen Erkenntnissen – fest im westlichen Kulturbewusstsein verwurzelt. Eurozentrische Spekulationen und völkische Mystifizierungen prägten einen Zeitgeist, der auf ethnisch-rassische Segregation abzielte. Damit standen die Deutschen nicht allein. Auch französische und britische Intellektuelle werkelten am Fundament einer europazentrierten Rassenkunde. Joseph Arthur Gobineau legte mit seiner Studie über die Ungleichheit der Rassen («Essai sur l’inégalité des races humaines», 1853–55) die Grundlagen für den Mythos von der Überlegenheit der arischen Rasse, und der Begründer des Sozialdarwinismus, Herbert Spencer («Social statics» von 1851, «Synthetic philosophy», 1896), untermauerte den vermeintlichen Anspruch auf Weltherrschaft der weißen Rasse. Dieses Ideengut fand weite Verbreitung vor allem in den Ländern des britischen Kolonialreichs (Ballantyne 2002). Die Essenz des Arier-Mythos als Deutung und Legitimation für die imperial-koloniale Überlegenheit der Europäer in der Welt wurde schließlich um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert schlichtweg als «Axiom» gehandelt (Poliakov 1993), also als Gesetzmäßigkeit, die keiner Begründung bedurfte.

Noch bevor die Nationalsozialisten die Überlegenheit der «arischen Rasse» predigten und gewaltsam durchzusetzen begannen, wurde das Gedenken an das Ariertum in den nordischen Ländern, insbesondere in Schweden, gepflegt. Seit den 1920er Jahren war Skandinavien mit seiner nordgermanischen Population eine wichtige Orientierung für den nationalsozialistischen Arier-Mythos (Lutzhöft 1971), der in der NS-Rassenideologie mit ihren fatalen Abwertungen von Nicht-Ariern gipfelte. Als im Jahre 1934 das «Rassehygienische Institut» gegründet wurde, war dies keine Innovation des Dritten Reichs. Vorbild war eine ähnliche Einrichtung, die bereits 1924 in Schweden ins Leben gerufen worden war. Der nordische Schwerpunkt des Ariertums hatte auch seit 1935 in der Gesellschaft «Deutsches Ahnenerbe – Studiengesellschaft für Geistesurgeschichte» Priorität. Während in den 1930er Jahren die nordischen Länder und Finnland im Brennpunkt des Arier-Mythos standen, verlagerte sich das Hauptaugenmerk der deutschen Arier-Ideologen im Verlauf des Zweiten Weltkriegs allerdings nach Osten, mit Blick auf die indischen Arier als Träger einer Hochkultur.

Hätten sich die Ideologen mit den historischen Wurzeln der Arier, ihrer Kultur und Sprache beschäftigt und die alten Quellen studiert, dann wäre ihnen klargeworden: Weder im Rig-Veda noch in den alten Sanskrit-Schriften werden die Arier als «auserwähltes Volk» hervorgehoben. Der Begriff des Ariers wird in der schriftlichen Überlieferung ursprünglich nicht mit ethnisch-anthropologischen Kriterien assoziiert, sondern ist an sprachlich-kulturelle Verhaltensweisen gebunden (s. Kap. 5). «Wenn eine Person den richtigen Göttern in der rechten Art opferte, wobei er die korrekten Formeln der traditionellen Hymnen und Poesie verwendete, dann war diese Person ein Arier. … Rituale, die mit den richtigen Worten ausgeführt wurden, waren die Quintessenz dessen, was hieß, Arier zu sein» (Anthony 2007: 408f.).

Im deutschen Sprachraum ist der Arier-Begriff bis heute durch die Auswüchse der NS-Zeit belastet. Im angelsächsischen Kulturkreis sowie in anderen Kulturen (so auch in Indien) ist der traditionelle Umgang mit den Ariern als historischer Realität ungebrochen. Dies gilt auch für die Symbolkraft des Hakenkreuzmotivs. Im deutschen Sprachraum absolut tabuisiert, ist das Hakenkreuz wie eh und je sakrales Symbol in hinduistischen und buddhistischen Tempeln, wobei Rechtsdrehung Glück (svastika) und Linksdrehung Unglück (sauvastika) bedeutet. Als uraltes finnisch-ugrisches Glückssymbol mit Schutzfunktion wird es in Finnland verwendet, etwa auf den Standarten der finnischen Armee, oder auf Todesanzeigen von Kriegsveteranen.

Das von den Rassenfanatikern als arisches Symbol par excellence hochstilisierte Hakenkreuz ist sogar viel älter als alle Kulturen der Indoeuropäer (s. Abb. 1). Es ist nicht von den Ariern in Indien eingeführt worden, sondern gehört zum Symbolschatz der altdravidischen Indus-Zivilisation. Auch in Europa tritt das Hakenkreuz nicht erst in der griechischen Kunst der archaischen Zeit auf, sondern es figuriert als eines der Symbole der alteuropäischen (= vorindoeuropäischen) Donau-Zivilisation, auf Keramik gemalt oder in Tonstempel eingraviert (s. Kap. 4). Sowohl in Indien als auch in Südosteuropa haben die später eingewanderten indoeuropäischen Populationen dieses Kultursymbol von den Alteingesessenen übernommen, in ihre eigene Kultur integriert und dann weiter tradiert.

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I Das Hakenkreuz ist nicht indoeuropäischen Ursprungs, weder in Europa noch in Indien. Die ursprüngliche Symbolik des Hakenkreuzes war möglicherweise mit mythopoetischen Vorstellungen über die Umlaufbahn der Sonne und ihre lebensspendende Kraft assoziiert. Bereits in der vor-indoeuropäischen Ikonographie gibt es mehrere Varianten: Rechtsdrehung und Linksdrehung, gerade und schräge Stellung.
a) Alteuropäische Keramik, 5. Jahrtausend v. Chr.
b) Vorgriechische Siegel, Lerna; 3. Jahrtausend v. Chr. (nach Haarmann 1995a: 71)
c) Altindisches (altdravidisches) Siegel, 3. Jahrtausend v. Chr., lange vor der Immigration der Arier (nach Parpola 1994: 227)

Indoeuropäisierung. Die indoeuropäische Sprachfamilie gehört zu den am besten erforschten weltweit, die Entwicklungsprozesse historischer Einzelsprachen können über einen Zeitraum von mehr als 6000 Jahren zurückverfolgt werden. Die Rekonstruktion einer indoeuropäischen Grundsprache reicht zeitlich noch weiter zurück, bis um 7000 v. Chr. Anhand von Vergleichen des Wortschatzes, des grammatischen Baus und des Lautsystems der mehr als 400 indoeuropäischen Einzelsprachen ist es möglich, die Phonetik, die Grundzüge der Grammatik und elementare Bezeichnungsbereiche des Proto-Indoeuropäischen zu rekonstruieren – ein theoretisches Konstrukt, da es darüber keine historische Dokumentation gibt.

Die schriftsprachliche Überlieferung setzte erst zu einer Zeit ein, als sich die Grundsprache längst in regionale Sprachzweige ausgegliedert hatte. Die indoeuropäischen Schriftsprachen mit der ältesten Tradition sind das Mykenisch-Griechische (bezeugt seit dem 17. Jh. v. Chr.), das Hethitische (bezeugt seit dem 16. Jh. v. Chr.) und das Luwische (bezeugt seit dem 16. Jh. v. Chr.). Daher werden sämtliche Formen und Ausdrücke der rekonstruierten Grundsprache mit einem Asterisk (Sternchen) versehen, um sie von belegten Formen zu unterscheiden; z.B. septm ‹sieben› > altir. sechtn, mittelkymr. seith, latein. septem, altnord. sjau, altengl. seofon, got. sibun, litau. septynì, altkirchenslav. sedmi, russ. sem’, alban. shtatë, griech. hepta, armen. ewt’n, hethit. sipta-, avest. hapta, altind. saptá, tochar. spät u.a.

Aber das Indoeuropäische ist nicht nur graue, schemenhafte Vorgeschichte. Im Gegenteil: Der wohl markanteste Faktor in der Geschichte der Kulturlandschaften Europas ist die Indoeuropäisierung, die Ausbreitung indoeuropäischer Kulturen und Sprachen. Dieser Prozess, der mit der Konsolidierung des Proto-Indoeuropäischen in der Vorgeschichte (um 7000 v. Chr.) beginnt und sich mit den Abspaltungen regionaler Sprachzweige seit ca. 4500 v. Chr. fortsetzt, ist nicht nur charakteristisch für Europa, sondern auch für das südliche Asien, in einer breiten Zone, die sich von Anatolien über das iranische Hochland und Zentralasien bis nach Indien erstreckt. Dieser Prozess der Indoeuropäisierung ist nicht als Ablösung «primitiver» Kulturen durch solche der Indoeuropäer misszuverstehen, denn einige der vorindoeuropäischen Zivilisationen waren Hochkulturen, und zwar die Donauzivilisation und die alte Indus-Zivilisation (bzw. Harappa-Kultur). Städtische Siedlungen, Schriftverwendung und Metallverarbeitung waren Errungenschaften der Alteuropäer und Alt-Draviden, lange bevor Indoeuropäer in jenen Regionen heimisch wurden.

Die Indoeuropäisierung hat ältere Sprach- und Kulturschichten nicht einfach überdeckt oder verdrängt, sondern vielfältige Transformationsprozesse in der sprachlich-kulturellen Landschaft Eurasiens initiiert – eine Umschichtung der Vielfalt, nicht aber ihre Auflösung. Die Kulturen Europas und Asiens, die als Folge der Indoeuropäisierung entstanden, sind Mosaikkulturen, die alte (vorindoeuropäische) und neue (indoeuropäische) Elemente in sich vereinigen.

Die Kontakte zwischen indoeuropäischen und nichtindoeuropäischen Sprachen sowie daraus resultierende Assimilationsprozesse dauern an. Dabei sind indoeuropäische Sprachen häufig dominant. Dies gilt nicht nur für die globale Modernitätsikone Englisch – genauer: ihrer Varianten, der «Englishes of the world» (Kachru 2006) –, sondern beispielsweise auch für den situationellen Druck, den das Spanische und Französische seit langem auf das Baskische ausüben oder für die Assimilationsprozesse, die das Russische bei den finnisch-ugrischen Minoritätssprachen im europäischen Teil der Russischen Föderation bewirkt (Kolga et al. 2001).

Multikulturalität ist für uns Europäer heute eine Selbstverständlichkeit. Ihre anthropologische, sprachliche und soziokulturelle Binnenstruktur als Ergebnis interaktiver historischer Prozesse zu begreifen, ist es noch nicht (Haarmann 1995b). Heute zeigen uns wissenschaftliche Erkenntnisse, dass die seit Jahrtausenden anhaltende Indoeuropäisierung dabei eine zentrale Rolle spielt.

1. Auf der Suche nach der Urheimat

Die Ursprünge der kulturellen und sprachlichen Vielfalt Europas lagen lange Zeit im Dunkeln. Das hing zum einen damit zusammen, dass einfach zu wenig verlässliche Informationen verfügbar waren, die eine Rekonstruktion prähistorischer Zustände erlaubt hätten. Zum anderen verharrten die wissenschaftlichen Einzeldisziplinen, die sich an der Erforschung beteiligten, in der Isolation ihrer Fächergrenzen, und das behinderte die Erarbeitung einer Gesamtschau. So findet man noch in den 1980er Jahren ratlose Stellungnahmen zu den indoeuropäischen Ursprüngen «im Dunkel der Jäger- und Sammlerepoche der Geschichte, ohne dass die Sprachforschung nähere Aussagen darüber treffen» könne (Herrmann 1986: 13). Die gewaltige Aufgabe, die Ursprünge und Migrationen indoeuropäischer Populationen sowie die Ausgliederung ihrer Sprachen und Kulturen auszuleuchten, ist kaum anders als in interdisziplinärer Kooperation zu meistern (s. Haarmann 1999, 2009b u.a. zu einer interdisziplinären Europäistik). Dieses Postulat ist allerdings relativ neu angesichts der rund 250 Jahre alten Geschichte der europäischen Sprach- und Kulturforschung. Das Potenzial an Daten, mit denen die Kultur- und Sprachforschung heute umzugehen hat, entstammt der Kontaktlinguistik, der historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft, der Archäologie, der Anthropologie, den Geschichts- und Kulturwissenschaften, der Antikenforschung, der Soziologie, der Humangenetik u.a.

Es ist viel über die Herkunft der Indoeuropäer spekuliert worden. Ihren Ursprung hat man in Europa, Asien und sogar in Afrika gesucht. Ungefähr zehn Theorien zur Urheimat haben Eingang in die wissenschaftliche Forschung gefunden; die meisten von ihnen sind zu einseitig ausgerichtet, greifen zu kurz. Heutzutage werden eigentlich nurmehr zwei Theorien ernsthaft diskutiert. Sie schließen sich gegenseitig aus, und man kann die Aussagekraft der einen nicht verstehen, ohne die andere im Kontrast zu betrachten.

Südrussische Steppe oder Anatolien?

Nach der älteren Theorie lag die Urheimat der Indoeuropäer in Europa, und zwar in der südrussischen Waldsteppe zwischen Wolga und Don. Dies ist die sogenannte Kurgan-Theorie von Marija Gimbutas aus den 1970er Jahren. Zu den markanten Hinterlassenschaften der frühen Steppennomaden gehören Kammergräber, über denen monumentale Erdhügel aufgeschüttet wurden. Sie werden mit einem aus dem Tatarischen stammenden Wort als Kurgane bezeichnet. Gimbutas identifizierte die Errichter der Erdhügel als frühe indoeuropäische Steppennomaden, und sie sah in der weiten geographischen Verbreitung der Kurgane, die man bis ins Kaukasusvorland und rings um das Schwarze Meer bis nach Südosteuropa findet, Hinweise auf die frühen Wanderwege der Steppennomaden nach Westen und Osten.