Eine kleine deutsche Verfassungsgeschichte
Verlag C.H.Beck
«Was wir als Anfänge glauben nachweisen zu können, sind ohnehin schon ganz späte Stadien.» Dieses Diktum aus den Weltgeschichtlichen Betrachtungen Jacob Burckhardts gilt auch für die deutsche Verfassungsgeschichte: Lange bevor auch nur der Begriff «Deutschland» entstand, wurden in antiken und frühmittelalterlichen Gesellschaften in Gestalt von Rechts- und Friedensregelungen erste Voraussetzungen für die Entstehung von Staatlichkeit geschaffen. So setzt Dietmar Willoweit konsequenterweise an diesem Punkt ein und führt von dort aus seine Leser Schritt für Schritt durch die deutsche Verfassungsgeschichte von ihren Ursprüngen bis zur Gegenwart: Er macht sie in seinem wunderbar verständlich und anregend geschriebenen kleinen Buch vertraut mit geistlicher und weltlicher Herrschaft, mit politischem und theologischem Denken und seiner Bedeutung für die Staatslehre, mit Kategorien wie Obrigkeit und Reich, mit wirkmächtigen Entwicklungen wie jener vom Absolutismus zur Aufklärung, mit den Anfängen deutscher Verfassungsstaatlichkeit im 19. Jahrhundert, der Entstehung des Kaiserreichs 1871, der Weimarer Republik als Frucht der Revolution von 1918 und mit dem Weg Deutschlands durch zwei Diktaturen zur heutigen Demokratie auf der Basis des Grundgesetzes.
Dietmar Willoweit lehrte bis zu seiner Emeritierung Deutsche Rechtsgeschichte, Bürgerliches Recht und Kirchenrecht an der Universität Würzburg. Von 2006 bis 2010 war er Präsident der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Von demselben Autor ist im Verlag C.H.Beck u.a. lieferbar: Deutsche Verfassungsgeschichte. Vom Frankenreich bis zur Wiedervereinigung Deutschlands (62009).
Einführung
I. Innergesellschaftliche Anfänge: Das Recht und die Gerichte
II. Frühe Formen politischer Organisation im Mittelalter
1. Das Königtum als Voraussetzung einer Friedensordnung
2. Das antike Erbe: Die römische Kirche und das römische Kaisertum
3. Die Scheidung weltlicher und geistlicher Herrschaft
4. Die Verwandlung des Denkens durch Jurisprudenz
5. Die Entstehung deutscher Staatlichkeit aus dem Reichsfürstentum
6. Die Stadtverfassung als Ursprung bürgerlicher Autonomie
7. Politisches Denken unterwegs von der Theologie zur Staatslehre
III. Deutsche Staatlichkeit im Alten Reich der Neuzeit
1. Die Reichsreform: Reichssteuerpflicht und «Ewiger» Landfrieden
2. Auf dem Wege zum Religionsfrieden
3. Von der mittelalterlichen «Herrschaft» zur neuzeitlichen «Obrigkeit»
4. Das Reich als Hüter alter Rechte
5. Neues Denken: Die Autonomie der Politik und das Recht der Natur
6. Neue Staatspraxis: Vom Absolutismus zur Aufklärung
7. Das Ende des Alten Reiches – Etappen und Ergebnisse
IV. Der monarchische Verfassungsstaat des «langen» 19. Jahrhunderts
1. Staats- und Gesellschaftsreformen
2. Anfänge deutscher Verfassungsstaatlichkeit im 19. Jahrhundert
3. Die Nation im Wartestand: Der Deutschen Bund
4. Das konstitutionelle Verfassungssystem des Deutschen Reiches seit 1867/71
5. Autoritäre, soziale, parlamentarische Tendenzen bis 1918
V. Von der Demokratie zur Diktatur und zurück: Das 20. Jahrhundert
1. Von der Monarchie zur Weimarer Verfassung
2. Sieg und Siechtum des Parlamentarismus
3. Zerstörung des Rechtsstaats, Verbrechen als Staatsaufgabe im «Dritten Reich»
4. Der Weg zum Grundgesetz nach 1945
5. Verfassungswandel in Ost und West: Die beiden deutschen Staaten
Die Deutsche Demokratische Republik
Die Bundesrepublik Deutschland
Anhang
Weiterführende Literatur
Personen- und Ortsregister
Staaten sind nicht nur Gegenwart, sondern Ergebnisse ihrer Geschichte, die ihr Erscheinungsbild, das politische Denken ihrer Bürger und das Verhalten ihrer Regierungen prägt. Das gilt auch für Deutschland. Dieses Buch handelt daher von der geschichtlichen Entwicklung der deutschen «Verfassung» seit den fernen Zeiten des Mittelalters. Unter einer «Verfassung» verstehen wir heute ein Dokument, dessen Text die elementaren, allen sonstigen Gesetzen übergeordneten rechtlichen Grundlagen eines Staates regelt. Solche Verfassungstexte moderner Art gibt es in der Geschichte der europäischen Staatenwelt erst seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Die deutsche Sprache kennt aber seit jeher auch einen Begriff von «Verfassung», der nicht einen bestimmten Text, sondern die Verfassung einer Person, einer Gesellschaft, auch staatlicher Verhältnisse meint, also deren «Verfasstheit». In diesem Sinne wollen wir nach den Verfassungszuständen unseres Landes vor den geschriebenen Verfassungen fragen. Damit ist dem Sprachsinne nach das rechtlich geordnete Gemeinwesen gemeint, also die Sphäre des Politischen, an der fast alle Glieder einer Gesellschaft als Handelnde oder Betroffene teilhaben. Unter der Verfassung eines Staates soll daher die Summe derjenigen rechtlichen Regeln und Strukturen zu verstehen sein, die das Gemeinwesen und damit die politische Ordnung prägen. Sinn dieses Buches ist es, in der Geschichte jene Institutionen und Verfahren zu beschreiben, die aus heutiger Sicht als Entwicklungsstufen der Staatlichkeit in Deutschland die Gesellschaft organisierten und bis heute für unser politisches Denken maßgebend geblieben sind.
Unter «Recht» verstehen wir heute ein System von Normen, die vom Staat in Gestalt von Gesetzen erlassen worden sind und durch die Rechtsprechung der höchsten Gerichte ständig im Detail ergänzt und verfeinert werden. «Normen» sind abstrakte, also nicht nur für einen Einzelfall gedachte, allgemeine, also gegenüber jedermann geltende Regelungen. Sie bilden im Staate ein «System», das den Anspruch erhebt, alle regelungsbedürftigen Lebensverhältnisse vollständig und widerspruchsfrei zu ordnen.
Recht ist jedoch keine Erfindung des Staates, sondern aus innergesellschaftlichen Wurzeln hervorgegangen, ohne die der evolutionsgeschichtliche Erfolg der sich organisierenden Menschengruppen nicht zu erklären ist. Gewalt musste begrenzt, Kooperation gesichert werden. Denkt man diese elementaren Mechanismen des Rechts weg, entsteht vor unseren Augen ein Szenarium willkürlicher Gewalt. Eine Gesellschaft, in der Verletzungen der Person und ihrer Güter sanktionslos hingenommen werden müssen, ist als eine rechtlich geordnete nicht vorstellbar. In ihr herrscht die Gewalt des Stärkeren. Ebenso wenig ist eine dauerhafte soziale Kommunikation ohne die Verbindlichkeit vertraglichen Einvernehmens denkbar. Große Rechtsdenker haben es daher unternommen, Recht aus der Individualität und den sich daraus ergebenden intersubjektiven Beziehungen herzuleiten: Hugo Grotius, Immanuel Kant, Johann Gottlieb Fichte und selbst Hegel, um nur einige zu nennen. Kants geniale Definition des Rechts eignet sich nicht nur als Grundlage eines menschenrechtlichen Programms moderner Prägung, sondern erschließt auch das Verständnis ältester Rechtsordnungen: «Eine jede Handlung ist recht, die oder nach deren Maxime die Freiheit der Willkür eines jeden mit jedermanns Freiheit nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann.»
Erstes Zeugnis des Rechtsbewusstseins ist die Rache. Vormenschlichen Primaten ist sie fremd. Rache setzt voraus, dass ein Eingriff in die Sphäre der Persönlichkeit und ihrer Güter als Unrecht begriffen wird, das gesühnt werden muss. Als Akt gewalttätiger Selbsthilfe gefährdet sie jedoch den inneren Frieden einer Gemeinschaft. An Texten des frühen Mittelalters lässt sich noch ablesen, wie das Recht dazu diente, Gewalt zu vermeiden. Die im frühen 6. Jahrhundert entstandene fränkische Lex Salica erklärt als ihr Ziel ausdrücklich die Bewahrung des Friedens unter den Stammesangehörigen. Der langobardische König Rothari betont im 7. Jahrhunderts ausdrücklich, er habe in seinem Gesetz deshalb höhere Bußleistungen festgesetzt, damit die Fehde vermieden und nach Erledigung der Sache wieder Freundschaft herrsche. Was in diesen und verwandten Gesetzen des frühen Mittelalters festgehalten worden ist, sind vor allem in abgestuften Geldbeträgen ausgedrückte Sanktionen für Gewalttaten aller Art – vom Diebstahl der verschiedensten Haustiere über vielerlei Arten von Verstümmelungen und Verletzungen bis zu Totschlag und Mord. Nicht blutige Strafen stehen am Anfang der Rechtsgeschichte, sondern Ausgleichsleistungen in Gestalt von Vermögenswerten. Wohl fand man immer Gründe, Menschen auch hinzurichten. Karl der Große droht den gerade getauften Sachsen die Todesstrafe für den Abfall vom christlichen Glauben an. Und wer für einen Totschlag keinen Vermögenswert als Ausgleich anzubieten hatte, musste gleichfalls mit dem Tode rechnen. Das brauchte man nicht zu regeln. Das vorrangige rechtspolitische Ziel war jedoch, Strafen an Leib und Leben zu vermeiden. Denn blutige Rache üben konnten die Betroffenen selbst, und genau das sollte zur Erhaltung des Friedens verhindert werden.
Der Ort friedlichen Ausgleichs ist das Gericht. Wenn es zu Beginn der ältesten römischen Rechtsquelle, im Zwölftafelgesetz aus dem 5. Jahrhundert v. Chr., heißt, «Si in ius vocat ito» (Wenn du vor Gericht gerufen wirst, sollst du gehen), dann klingt das wenig aufregend. Diese Pflicht kennt jeder Staat. Aber gleich darauf wirft der Text ein grelles Licht auf das Umfeld dieses Gesetzes: Wer nicht geht, den darf der Kläger unter Zeugen ergreifen und vor Gericht bringen. Es gibt noch keinen Polizeiapparat, der diese Aufgabe übernehmen könnte. Dem Kläger ist Gewaltanwendung erlaubt, um eine gerichtliche Entscheidung zu ermöglichen. Andernfalls, so ist zu befürchten, würde er sein Problem selbst gewaltsam gegen den Beschuldigten lösen wollen. Für die Entstehung von Gerichten genügt das gesellschaftliche Bedürfnis, Frieden zu wahren und Gewalt zu vermeiden. Gerichte gehen aus der Mitte der Gesellschaft hervor. Sie entstehen als Versammlung der wehr- und damit rachefähigen Männer. Man mag sie sich in diesem Rahmen ursprünglich auch als Tätigwerden einiger Schiedsleute vorstellen. Wer seinen Blick auf die indigenen, nicht staatlich organisierten Völker unserer Gegenwart mit ungefähr vergleichbarem Entwicklungsstand wirft, wird dort verwandte Mechanismen bemerken. Die Rechtsethnologie weiß von verschiedenen Wegen zu berichten, wie «akephale», das heißt vorstaatliche Gesellschaften ihren Binnenfrieden zu erhalten und im Falle seiner Verletzung wiederherzustellen wissen. Die Parallelen zur frühmittelalterlichen Geschichte können erstaunlich sein. Auch solche Sippen- und Stammesverbände verstehen ihre soziale Ordnung, wie die ethnologische Forschung betont, als eine solche rechtlicher Art, weil sie für alle Beteiligten verbindlich ist.
Das Gerichtswesen bleibt während des ganzen Mittelalters und weit in das 16. Jahrhundert hinein Grundlage und Rückgrat der öffentlichen Ordnung. Allerdings haben die Gerichte mit der Herausbildung politischer Strukturen seit frühmittelalterlicher Zeit eine institutionelle Verfestigung erfahren, in der sich die Stabilisierung von Königtum, Adel und kirchlichen Einrichtungen widerspiegelt. Gerichte sind zwar weiterhin die soziale Plattform innergesellschaftlicher Konfliktregulierung, zugleich aber auch ein Ort der Selbstdarstellung großer und kleiner Herren. Daraus ergab sich die organisatorische Unterscheidung zwischen dem vorsitzenden Richter und den Urteilern, die den Konflikt zu entscheiden hatten. Sofern zur Durchsetzung der gerichtlichen Autorität Gewalt anzuwenden war, etwa weil die Gerichtspflichtigen oder die Beklagten nicht vor Gericht erschienen oder ein Urteil durchgesetzt werden musste, griff der Gerichtsherr oder der von ihm eingesetzte Amtsträger ein. Zu seinen Aufgaben gehört auch, das Verfahren zu leiten und das Urteil zu erfragen. Die Urteiler dagegen sind noch lange Persönlichkeiten aus dem Kreise der Teilnehmer einer Gerichtsversammlung («Dinggenossen»). Aber schon Karl der Große erkannte, dass die Urteilsfindung immer denselben Personen obliegen sollte, weil nur so Kontinuität und damit Gleichheit vor dem Gericht gesichert werden konnte. Seitdem beherrschen Schöffen das Erscheinungsbild der Gerichtsbarkeit sowohl auf dem flachen Lande wie in den Städten.
Der ursprüngliche Zweck der Gerichtsbarkeit, den durch Gewalt oder aus anderen Gründen gestörten inneren Frieden durch sühnende Ausgleichsleistungen wiederherzustellen, ist niemals in Vergessenheit geraten und selbst noch im 17. Jahrhundert lebendig. Die Aufbringung einer solchen compositio in Gestalt von Vermögenswerten dürfte für den Täter oft schwierig gewesen und vielfach nur mit Unterstützung der Großfamilie gelungen sein. Als Alternative war die Selbstverknechtung nicht unbekannt. Das Leben des Rechtsbrechers zu schonen, lag auch aus religiösen Gründen nahe. Dem sündigen Christen sollte die Möglichkeit geistlicher Buße nicht genommen werden, wie besonders die aus dem fränkischen Reich zahlreich überlieferten Bußbücher zeigen. Aus dem quellenreicheren Spätmittelalter sind Fallgeschichten überliefert, in denen die materielle Sühneleistung mit persönlichen Bußübungen einhergeht: Der Täter muss nicht nur zahlen, sondern auch barfuß im Büßerhemd mit brennender Kerze vor der Kirche oder am Grabe des Getöteten stehen, strenge Fastengebote befolgen, eine Wallfahrt auf sich nehmen, ein Sühnekreuz am Tatort setzen und Messen lesen lassen. Erstaunlicherweise kommen solche vor den weltlichen Obrigkeiten vereinbarten oder verhängten Sanktionen vor allem in Nachrichten über die Sühne von Totschlägen vor. Man hegte ein gewisses Verständnis für den «ehrlichen» Gewalttäter, der aus Zorn oder im Streit zugeschlagen und dabei vielleicht sogar Waffen benutzt hatte. Aber es waren in der Regel «Nachbarn», Mitbürger also, denen solche Sühnen auferlegt wurden, die auch Kosten verursachten und ohne Geldleistungen an die Opfersippe kaum denkbar sind. Am Ende des 16. Jahrhunderts gerieten die Sühneverträge in Verruf. Niemand sollte sich «loskaufen» dürfen. Jeder Straftäter, gleich welchen Standes, war einer Bestrafung an Leib oder Leben zuzuführen.
Schon die germanischen Stämme der Völkerwanderungszeit drangen unter Königen in das römische Reich ein. Könige führten das Heer in den Krieg und machten nach römischem Vorbild und gewiss mit Unterstützung römischer Juristen Gesetze, nachdem sie sich niedergelassen hatten. Auch im Frankenreich erscheint das Königtum von Anbeginn als eine allgemein anerkannte Institution. Unverkennbar ist ihr sakraler Charakter. Könige vermittelten in alten Kulturen den Kontakt zu den Gottheiten, die Fruchtbarkeit und gute Ernten im Frieden ebenso gewährten wie Siege im Krieg. Solche Vorstellungen konnten nicht nur durch die geistliche Salbung in das christliche Weltbild integriert werden, sondern sie entsprachen auch einer sozialen Realität. Denn indem die Herrscher bestrebt waren, ihren Einflussbereich auszuweiten, um möglichst alle Stammesgenossen ihrer Gewalt zu unterwerfen, schufen sie große befriedete Räume mit weit entfernten Außengrenzen – zugleich Ausdruck eines auf Expansion gerichteten Machtwillens. An der pax Romana des römischen Reiches lassen sich die Wirkungen eines sogar völkerübergreifenden Eroberungsstrebens wie an einem Modell studieren. Auch Karl der Große, dessen Reich sich von Mittelitalien bis an die Nordsee und an den Atlantik erstreckte, ließ sich von solchen Vorstellungen leiten. Später, als das West- und Ostfrankenreich seit 843 getrennt waren und letzteres an der Schwelle zum 10. Jahrhundert zu zerfallen drohte, haben sich die mächtigsten und einst verfeindeten Stämme, Franken und Sachsen, für eine prekäre Einheit unter einem gemeinsamen König nicht ohne Grund entschieden. Für mehr als zwei Jahrhunderte regierten seit Heinrich I. mit den Liudolfingern (Ottonen) und den Saliern ausschließlich Herrscher sächsischer und fränkischer Herkunft das Reich. So begann der Weg in die gemeinsame deutsche Geschichte. Erst im 11. Jahrhundert spricht man im Ausland vom Reich der Deutschen (regnum Teutonicum oder Teutonicorum).
Der König steht für Frieden und Recht. Sichtbares Instrument und Symbol dieser Aufgabe ist das Königsgericht, eine mobile Institution, da der Königshof ohne dauerhafte Residenz durch die Lande zieht. Es war nicht nur notwendig, auf die begrenzten Ressourcen der einzelnen Königspfalzen Rücksicht zu nehmen, sondern auch Präsenz zu zeigen. In weniger königsnahen Regionen, wie in Bayern, Schwaben und Lothringen, nahmen Herzöge eine Art vizekönigliche Funktion wahr. Seinem eigenen Gericht sitzt der König nicht nur vor, er urteilt hier auch gemeinsam mit den Großen des Reiches über die vor ihn getragenen Streitsachen und Rechtsfragen. Wohin er kommt, werden ihm alle Gerichte «ledig», wie der Sachsenspiegel sagt, das im frühen 13. Jahrhundert entstandene Rechtsbuch des gerichtserfahrenen Eike von Repgow, das erstmals eine breit angelegte Aufzeichnung der in den Gerichten an der mittleren Elbe beobachteten Rechtsgewohnheiten enthält.
Die angedeuteten Umstände, unter denen das Königtum der Deutschen entstand, ließ, anders als im Westfrankenreich, eine «geborene» Königsdynastie nicht aufkommen. Vom Geschlecht der Karolinger hatte man sich schon verabschiedet. Nun galt es, sich nach dem Tode des Königs immer wieder von Neuem auf einen Nachfolger zu einigen, wollte man nicht das Risiko eines blutigen Machtkampfes auf sich nehmen, wie er später gelegentlich bei der Wahl von Gegenkönigen ausbrach. Die Königswahl blieb bis zum Ende des Reiches ein fundamentales Verfassungsprinzip auch in solchen Epochen, in denen faktisch nur eine Dynastie den Thron besetzte. Dann ist es das «Königsheil» der erfolgreichen Vorgänger und der Einfluss ihrer Anhängerschaft, die immer wieder für dynastische Kontinuitäten über mehrere Generationen sorgen. Unter solchen Bedingungen gerät der Wahlakt zur Formalität; auch die Designation des Sohnes durch den Vater kommt vor. Aber die Notwendigkeit der Wahl bleibt im Prinzip anerkannt und wird offenkundig dann, wenn ein Erbe nicht vorhanden und ein Dynastiewechsel zu vollziehen ist. Allein das Faktum der Königswahl hat den großen geistlichen und weltlichen Herren im Reich einen Rang verschafft, der sich mit einer unmittelbaren Königsherrschaft nicht vertrug. Zunächst war der Kreis der Königswähler nicht geschlossen. Über die Entstehung des Kurfürstenkollegiums im Laufe des 13. Jahrhunderts wird in der Wissenschaft lebhaft diskutiert. Dieser exklusiven Versammlung von sieben Königswählern gehörten die drei Erzbischöfe von Mainz, Köln und Trier, ferner der Pfalzgraf bei Rhein, der Herzog von Sachsen, der Markgraf von Brandenburg und der König von Böhmen an, während die führenden Geschlechter Bayerns, Schwabens und Lothringens zuschauen mussten. Eine Repräsentanz aller Landschaften des Reiches lag nicht in der Absicht der Zeitgenossen. Daher liegt eine auf genealogischen Forschungen beruhende Erklärung nahe: Das Königswahlrecht der vier weltlichen Kurfürsten ist aus ihrer Abstammung von Töchtern Heinrichs I. hervorgegangen. Ihre mit dem Charisma des ältesten königlichen Geschlechts begabten Nachkommen konnten auch in späteren Generationen für sich eine besondere Qualifikation beanspruchen, über die Person des nächsten Königs zu entscheiden. Seit 1356 regelte die Goldene Bulle das Königswahlrecht und die Rechtsstellung der Kurfürsten.
Der Aufgabe des Königtums, Frieden und Recht zu wahren, stand während des ganzen Mittelalters der Anspruch des Adels gegenüber, sein Recht mit der Waffe zu erzwingen. Wegen der immer wieder zum Ausbruch kommenden Bereitschaft, gleich Gewalt anzuwenden statt vor Gericht zu ziehen, hätte die seit der fränkischen Zeit aufgebaute Gerichtsbarkeit ihre Effizienz weitgehend einbüßen können. Im Westfrankenreich haben daher seit dem späten 10. Jahrhundert Bischöfe den nicht wenigen Rechtsbrechern Exkommunikation und Exilierung angedroht, wenn sie nicht zu Genugtuung und Buße vor Gericht bereit waren. Für diese Politik fanden sie auch adelige Unterstützer. «Gottesfrieden» nannte man solche, gegen unbelehrbare Gewalttäter gerichtete Vereinbarungen. Sie wagten zwar nicht, die Fehde generell zu verbieten, schrieben aber ihre Beschränkung auf einige Wochentage vor und erklärten kirchliche Fest- und Fastenzeiten für gewaltfrei. Daraus entstand eine politische Bewegung, die im Jahre 1083 Köln erreichte, wo der Erzbischof einen umfassenden Gottesfrieden aushandelte, der nicht nur die endgültige Verstoßung und Beerbung von Totschlägern, sondern für manche Fälle auch blutige Strafen vorsah. Schon aus dem Jahre 1103 datiert die erste Nachricht über einen vom deutschen König, Heinrich IV., mit vielen Fürsten beschworenen Frieden. Nun treten harte Strafen, die abschrecken sollen, ganz in den Vordergrund: Brandstifter, Räuber, Totschläger, Diebe wertvoller Güter sollen Auge oder Hand verlieren. Beschworene «Landfrieden» bilden seitdem ein zentrales Ziel königlicher Rechtspolitik. Bald drohen sie Totschlägern und Dieben auch die Todesstrafe an. Damit wird den von einem Verbrechen Betroffenen eine Alternative zu vielleicht schwierigen Sühneverhandlungen angeboten. Ausgeschlossen waren diese aber nur dann und eine blutige Strafe verwirkt, wenn ein schwerwiegender Friedensbruch die öffentliche Sicherheit gefährdete und die Gerichtsherrschaft herausforderte.
Die Herausbildung der europäischen Staaten seit dem frühen Mittelalter ist nicht allein das Ergebnis einer Evolution, in deren Verlauf allmählich komplexere Formen gesellschaftlicher Organisation die einfachen Mechanismen der älteren Zeit verdrängt hätten. Von Anbeginn haben in Europa die weit entwickelten Hochkulturen der Antike den Charakter der mittelalterlichen Welt wesentlich mitbestimmt. Dazu trug entscheidend die Kirche bei, weil sie die wichtigsten Strukturen ihrer Verfassung noch unter den Bedingungen des römischen Reiches gefunden hat. Schon wenige Jahre nach dem Religionsedikt Kaiser Konstantins und seines Mitkaisers Licinius vom Jahre 313, das den Christen freie Religionsausübung gewährte, hat das vom Reichsoberhaupt einberufene Konzil von Nicaea 325 nicht nur ein gemeinsames Glaubensbekenntnis festgeschrieben. Es setzt bereits die Existenz einer an das römische Provinzialsystem angelehnten Kirchenverfassung mit Metropoliten an der Spitze der Provinzen voraus. Als sich zu Beginn des 6. Jahrhunderts die Franken taufen ließen, war das territoriale Organisationsprinzip der Kirche nach dem Vorbild der römischen Verwaltung längst selbstverständlich geworden und bald auch in den Pfarrsprengeln präsent.
Den canones genannten Beschlüssen des Konzils von Nicaea ist noch eine andere Nachricht zu entnehmen, die für die weitere Entwicklung der Kirchenverfassung von größter Bedeutung werden sollte. Die Konzilsväter hielten fest, dass die besondere Autorität der Bischofssitze von Alexandrien, Rom und Antiochien unangetastet bleiben solle. Es ist die früh anerkannte apostolische Tradition, die in den Augen der Zeitgenossen angesichts vieler theologischer und administrativer Zweifelsfragen die Rechtgläubigkeit jener Ortskirchen gewährleistete und dort den Nachfolgern im Bischofsamt eine herausragende Stellung verschaffte. Damit wuchs Rom im Abendland eine geistliche Führungsrolle ohne Konkurrenz zu, da die Anwesenheit und den Tod des Apostels Petrus in der Hauptstadt des römischen Reiches niemand bestritt. So spiegelte die hierarchische Verfassung der abendländischen Kirche mit der besonderen Stellung des römischen Bischofs, mit ihren Metropolitanbezirken und Ortsbischöfen ziemlich genau das Verwaltungssystem des untergegangenen Reiches wider. Zu dieser antiken Prägung der Kirche gehörte auch die Fortdauer der Schriftlichkeit wichtiger Vorgänge in ihren höheren Rängen, die Bewahrung der Latinität und damit des Zugangs zur römischen Literatur und nicht zuletzt das Instrument der Gesetzgebung. Auch in den canones der Konzilien ebenso wie in päpstlichen Entscheidungen («Dekretalen») spiegelt sich die politische Praxis des späten römischen Reiches wider. Das Vorbild der Kaisergesetzgebung lehrte, wie durch hoheitliche Regelungen einzelner Probleme gesellschaftliche Verhältnisse gestaltet werden konnten.
Die Kirche vermittelte nicht nur einen neuen Glauben, sondern zugleich auch Grundsätze der Lebensführung. Frühzeitig gehören zu den wichtigsten Themen des Kirchenrechts Fragen der Klerikerdisziplin, die Erfüllung der Sonntagspflicht, die Begrenzung erlaubter Ehen durch das Inzestverbot. Die fränkischen Konzilien wandten sich gegen Frauenraub, heidnische Kulte, Ehen mit Juden. Die Aufmerksamkeit der Kirche richtete sich besonders auf solche Vergehen, deretwegen eine Klage vor dem weltlichen Gericht nicht zu erwarten war, wie bei Verwandtenmord oder unbeabsichtigter Tötung eines eigenen Kindes. Da jede Verfehlung nicht nur das Seelenheil des Sünders gefährdete, sondern Gottes Zorn nach sich zog, wie in Kriegen, Hungersnöten und anderem Unglück zu erfahren war, so galt es, Buße zu tun und Sünden überhaupt zu vermeiden. Von dieser Kausalität waren die Menschen bis an die Schwelle der Aufklärung überzeugt, und ohne diesen Gedanken sind manche Vorkehrungen in der mittelalterlichen Gesellschaft nicht zu verstehen. Im Zuge des fortschreitenden Ausbaus der kirchlichen Institutionen tritt das Ziel einer umfassenden Sündenkontrolle immer deutlicher in Erscheinung. Im letzten Drittel des 9. Jahrhunderts unternehmen Bischöfe alljährlich Rundreisen durch ihre Diözesen, um nach Verfehlungen zu fragen und Bußen zu verhängen. Auf diese Weise entsteht ein besonderer Typus kirchlicher Gerichtsbarkeit, das Sendgericht, in dem vereidigte Sendzeugen über anstößige Vorgänge im Lebenswandel des Pfarrklerus und der Gemeindeangehörigen zu berichten haben.
Die ganz verschiedenen Quellen entnommenen Rechtsnormen und Grundsätze ließen sich nicht immer miteinander vereinbaren. So erlaubte das römische Recht dem Ehemann, seine in seinem Hause beim Ehebruch angetroffene Ehefrau zu töten.