|2|Historische Biografie

herausgegeben von

Manfred Clauss

Nikolas Jaspert

Michael North

und

Volker Reinhardt

|3|Holger Sonnabend

Nero

Inszenierung der Macht

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Impressum

Menü

|5|Inhalt

  1 Einleitung: Der berühmteste römische Kaiser

  2 Die Herstellung eines Tyrannen: Nero-Bilder in den Quellen

  3 Der Bezugsrahmen: Die frühe römische Kaiserzeit

  4 Nero wird Kaiser

  5 Nero – Stationen seines kaiserlichen Lebens

  6 Familie

  7 Freunde und Helfer

  8 Der Brand von Rom und die Verfolgung der Christen

  9 Der Künstler

10 Griechenland-Tournee

11 Nero und die Politik

12 Gegner

13 Der Vorhang fällt

14 Nero lebt

15 Bilanz

Anmerkungen

Bibliografie

Abbildungsnachweis

Register

 

 

 

 

|6|Neros Geschichte haben viele geschrieben, von denen die einen aus Dankbarkeit für seine Gunstbezeugungen die Wahrheit absichtlich verschleierten, die anderen aber aus Hass und Feindseligkeit ihn derart mit Lügen verfolgten, dass sie dafür volle Verachtung verdienen.

Flavius Josephus, Jüdische Altertümer

 

Die Taten des Tiberius und Caligula sowie des Claudius und Nero sind zu ihren Lebzeiten aus Furcht gefälscht, nach ihrem Tod mit frischem Hass geschildert worden.

Tacitus, Annalen

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Einleitung: Der berühmteste römische Kaiser

In der modernen Medienlandschaft ist es üblich, in regelmäßigen Abständen den Bekanntheitsgrad und die Popularität der aktuellen politischen Prominenz zu erfragen. Eher unüblich ist es, die Werte historischer Persönlichkeiten zu ermitteln. Würde man aber ein Ranking der bekanntesten römischen Kaiser aufstellen, so dürfte der Name Nero mit einer signifikanten Häufigkeit auftauchen, vermutlich auch in der Spitzengruppe und wahrscheinlich sogar noch vor Augustus, dem Begründer der römischen Monarchie, und sicher vor Herrschern wie, um nur einige Beispiele zu nennen, Claudius, Nerva und Antoninus Pius. Würde man die Befragten weiterhin auffordern, Kaiser Nero einige charakteristische Eigenschaften zuzuordnen, so wäre das Ergebnis für den Betroffenen wenig erfreulich. Man würde von einem blutrünstigen Tyrannen sprechen, der wie kein anderer Inbegriff der sprichwörtlichen „Zustände wie im alten Rom“ war. Und wenn die Meinungsforscher sich weiterhin nach einem repräsentativen Auszug aus dem Sündenregister Neros erkundigen würden, so würden Stichworte wie Brandstifter, Christenverfolger, Muttermörder oder eine unpassende Affinität zu eigenen musikalischen Darbietungen fallen.

Bald 2000 Jahre ist es her, dass Kaiser Nero das römische Imperium regierte. Woher kommt dieser zweifelhafte Ruhm? Wieso ist sein Name bis heute präsent und so berüchtigt? Eine nicht zu unterschätzende Quelle sind ohne Frage cineastische Hollywood-Produktionen wie Quo vadis aus dem Jahre 1951, in der Peter Ustinov unter Aufbietung all seiner Schauspielkunst einen so hinreißend dekadenten Nero verkörperte, dass viele der Meinung waren, den echten, wenn nicht gar einen besseren Nero als das Original gesehen zu haben. Wer konnte auch die Szene vergessen, wie Ustinov-Nero auf der Terrasse seiner Villa, umgeben von Getreuen und flackerndem Lichtschein, angesichts der brennenden Hauptstadt Rom ein selbst komponiertes Lied über den Brand von Troja vortrug? Oder wie er in der Arena den Daumen senkte, was seitdem – übrigens nicht korrekt – als typisch römisch-kaiserliche Geste für die Lizenz zum Töten gilt? (In |8|Wirklichkeit war es umgekehrt. Daumen herunter bedeutete: Der Kaiser lässt Gnade walten).

Eine wesentliche Rolle bei der Produktion des grausamen Nero spielte aber auch eine Fülle von Büchern, seien es wissenschaftliche Darstellungen, historische Romane oder populäre Sachtitel. Sie bedienten in mehr oder weniger spektakulärer Weise jene Vorstellungen, die mit Nero anscheinend untrennbar verbunden waren. Jedoch hat sich die internationale Forschung in den letzten Jahren und Jahrzehnten mit Erfolg darum bemüht, ein differenzierteres Bild vom Leben und der Herrschaft dieses Kaisers zu zeichnen. Die Bandbreite der dabei vorgenommenen Analysen und Interpretationen lässt allerdings gelegentlich daran zweifeln, ob dabei immer vom selben Nero die Rede ist. Zwar scheint es unmöglich zu sein, die negativen Seiten in der Person des letzten Herrschers aus der von Augustus gegründeten iulisch-claudischen Dynastie komplett zu ignorieren oder schönzuschreiben. Einen Friedens- oder Humanitätspreis wird man Nero posthum kaum verleihen können, und dafür hat sich auch keiner seiner modernen Biografen eingesetzt. Doch fehlt es nicht an Versuchen, Nero von dem Odium des bloß tyrannischen Kaisers zu befreien und seinen scheinbar nur abstrusen Handlungen einen zumindest partiell politisch-pragmatischen Anstrich zu verleihen. Stützen kann man sich dabei auf einen bekannten Ausspruch des späteren Kaisers Traian, der zwischen 98 und 117 n.Chr. das Reich regierte und der eigentlich keinen Grund hatte, sich für ein positives Andenken an Nero einzusetzen. Dennoch sagte er wiederholt, fünf Jahre der Herrschaft Neros – im Allgemeinen werden darunter seine ersten Regierungsjahre von 54 bis 59 n.Chr. verstanden – seien besser gewesen als die aller anderen Kaiser.1

Beliebt ist in der modernen, zumal deutschsprachigen Nero-Forschung die Tendenz, Nero gewissermaßen von der Couch des Psychotherapeuten abzuholen, ihn als eine labile, suchende, irrlichternde, durch Autoritäten wie die dominante Mutter und einflussreiche Berater gelenkte Natur auf der Suche nach einer eigenen Identität zu analysieren. Man darf skeptisch sein, ob solche Versuche in der Weise von Erfolg gekrönt sein können, dass sie geeignet sind, das Phänomen Nero erklären zu helfen. Medizinische und psychologische Ferndiagnosen sind, wenn man mit ihnen den Blick auf die Geschichte lenkt, stark problembehaftet, zumal gerade die antiken Quellen eine eigene Terminologie und Vorstellungswelt hatten, wenn sie politischen Führungspersönlichkeiten „Wahnsinn“ oder |9|„Verrücktheit“ attestierten. Bezeichnenderweise ist der Begriff „Caesarenwahn“, mit dem man Attitüden gekrönter Häupter und anderer Mächtiger wie Verschwendungssucht, Brutalität und Realitätsverlust gerne zu geißeln pflegt, eine Erfindung des 19. Jahrhunderts. Geprägt von dem Schriftsteller Gustav Freytag, wurde er durch den Publizisten und späteren Friedensnobelpreisträger Ludwig Quidde salonfähig gemacht. Dieser veröffentlichte 1894 ein Buch über Neros Vorvorgänger Caligula, dem er den Titel Caligula und den Untertitel Eine Studie über römischen Caesarenwahn gab. Dabei handelte es sich um eine kaum verklausulierte Abrechnung mit dem theatralischen Gehabe des damaligen deutschen Kaisers Wilhelm II. Der Deckname Caligula diente dabei als Quiddes Lebensversicherung, denn eine offene Kritik an Wilhelm wäre undenkbar gewesen und hätte für den Autor unangenehme Konsequenzen gehabt.

An Neros Psyche heranzukommen, ist angesichts der zeitlichen Distanz und der Ausrichtung der zur Verfügung stehenden literarischen Quellen eher schwierig. Natürlich gibt es unbestreitbare, durch die schriftlichen Quellen abgesicherte, durch Inschriften, Münzen und Archäologie bestätigte oder ergänzte Fakten. Was jedoch einer Annäherung an die Person Nero massiv im Wege steht, ist die Tatsache, dass der Kaiser die antiken Berichterstatter, sogar, wenn sie vorgaben, objektiv schreiben zu wollen, in einer sonst nicht bekannten Weise zu meist negativen Wertungen veranlasste. Ziel einer modernen Nero-Biografie kann es daher nicht nur sein, Nero so darzustellen, „wie er wirklich gewesen ist“. Natürlich verfügt die moderne Geschichtswissenschaft über ein ausgefeiltes, sich ständig erweiterndes Repertoire an kritisch-analytischer Methodik. Und selbstverständlich ist in der Forschung ein hohes Maß an intellektuellen Energien aufgewendet worden, um dem Phänomen Nero auf die Spur zu kommen.2 Doch beweist eben schon die große Zahl an unterschiedlichen Deutungen, Sichtweisen und Interpretationen, dass nicht alle richtig sein können. Zwischen einem wahnsinnigen Monster und einem unterschätzten Staatsmann ist Nero in der modernen Forschung so ziemlich alles gewesen. Man weiß heute, jedenfalls in einzelnen Bereichen, vielleicht mehr darüber, wie man in der Antike Nero gesehen und beschrieben hat, als darüber, wie Nero „wirklich“ gewesen ist.

Eine moderne Biografie über Kaiser Nero muss sich also ihrer Grenzen bewusst sein – jedoch auch ihrer Möglichkeiten. Das Faktum, zu welchen Ansichten Zeitgenossen und spätere Generationen eine zweifellos unkonventionelle |10|Gestalt wie Nero herausforderte, liefert wertvolle Erkenntnisse über die besondere Form der Erfassung einer politisch prägenden Persönlichkeit und bei Nero geradezu paradigmatisch über Grundlagen und Voraussetzungen des historischen Urteils. Andere Kaiser haben jedenfalls in der antiken Publizistik viel weniger Aufmerksamkeit gefunden, und sie haben auch nicht in vergleichbarer Weise polarisiert. Also muss Nero etwas an sich gehabt haben, was die Menschen – negativ, aber auch, wie sich zeigen wird, positiv – ansprach. Wenn man die jeweiligen Parameter kennt, die antike Informanten anlegten, wenn sie über Nero sprachen, besteht wiederum auch die Chance, etwas über den Herrscher an sich zu erfahren. Und wenn man weiß, was die einzelnen Autoren von einem Kaiser grundsätzlich erwarteten, lassen sich aus ihren Aussagen und Wertungen Rückschlüsse auf das tatsächliche Verhalten Neros ziehen.

Und ein zweiter Ansatz kann einen Ausweg aus dem möglichen Dilemma weisen, zu keinem klaren biografischen Profil des Kaisers Nero zu gelangen. Denn selbst ein Nero, vielfach stilisiert zu einer Figur jenseits von Raum und Zeit, agierte nicht in einem Vakuum, und mochte er in mancher Hinsicht auch exzentrisch sein, in dem Sinne, dass sein Verhalten nicht mit dem früherer Kaiser konform ging, so agierte er doch ganz notwendigerweise in dem politisch-sozialen Rahmen seiner Zeit. Daher gilt es, den politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Koordinaten des Römischen Reiches der frühen Kaiserzeit die gebührende Aufmerksamkeit zu schenken. Nero regierte über ein riesiges Imperium, das sich von Syrien bis nach Spanien, von Nordafrika bis nach Britannien erstreckte. Daraus ergaben sich Anforderungen, denen sich jeder Kaiser und somit auch Nero zu stellen hatte. Seine Rolle als Administrator wird in den literarischen Quellen gerne unterschlagen beziehungsweise nur am Rande erwähnt (und das auch eher unabsichtlich), weil sie nicht zu dem Bild passte, das die Informanten gerne von Nero zeichnen wollten. Weiterhin hatte es Nero, wie alle seine Vorgänger und alle seine Nachfolger, mit den relevanten gesellschaftlichen Gruppen in Italien und vor allem in der Hauptstadt Rom zu tun. Aus Senatoren, Rittern, Soldaten und der Plebs urbana genannten Masse der städtischen Mittel- und Unterschichten rekrutierte sich ein enges Beziehungsgeflecht, in dem der Kaiser die zentrale Figur war – oder es jedenfalls sein sollte.

Diese Biografie des Kaisers Nero will, wie jede Biografie, ein Leben nachzeichnen. Sie soll aber auch zeigen, wie die antiken Biografen und |11|Historiker arbeiteten, wenn sie einen Kaiser zu porträtieren hatten, der als ganz junger Mann von seiner ambitionierten Mutter auf den Thron gehievt und der im Alter von 30 Jahren, vom Senat zum Staatsfeind erklärt, zum Selbstmord gezwungen wurde und der danach der Sanktion des offiziellen Vergessens anheimfiel. Die formale „Tilgung der Erinnerung“ (damnatio memoriae) als Höchststrafe für einen Römer, insbesondere für einen aristokratischen Römer und erst recht für einen Kaiser, blieb ihm zwar erspart, nicht aber die Erklärung zum „Staatsfeind“. Das war schlimm genug. Eine wichtige Maxime für jeden Römer von Stand lautete: So zu leben, dass man nach dem Tod nicht wirklich stirbt, denn wichtiger als die physische Absenz ist die Gewissheit, im kollektiven Gedächtnis der Menschen weiter präsent zu sein. Der Versuch des römischen Senats, nach dem Tod Neros am 9. Juni des Jahres 68 n.Chr. die Erinnerung an einen Herrscher der besonderen Art zu verdrängen, erwies sich als Fehlschlag. Nicht nur, dass sich viele Menschen schon bald nach dem unfreiwilligen Ableben Neros nach ihm zurücksehnten. Es gibt, wie die Nero-Rezeption bis heute zeigt, kaum einen römischen Kaiser, der sich über einen vergleichbaren Bekanntheitsgrad freuen darf.

Von Arnaldo Momigliano, dem bedeutenden italienischen Althistoriker und ausgewiesenen Kenner der antiken Literatur, stammt eine in ihrer Schlichtheit kaum zu übertreffende Definition dessen, was eigentlich eine Biografie ist. Eine Biografie, so sagte Momigliano, ist die „Darstellung des Lebens eines Menschen von der Geburt bis zum Tod“3. Wenn man sich an diese Anweisung hält, kann man nicht viel falsch machen. Und sie heißt auch nicht, und das wollte Momigliano damit auch nicht verlangen, dass man in einer modernen Biografie eine streng chronologische Vorgehensweise wählen muss. Nero wurde geboren, Nero wurde Kaiser, Nero war Kaiser, Nero starb – damit wird man sich so sicher nicht zufriedengeben wollen. Heutige Biografien sollten, anders als das bei den in der Antike entstandenen Lebensbeschreibungen der Fall war, zeigen, in welchem politisch-gesellschaftlich-kulturellen Umfeld die im Mittelpunkt stehende Persönlichkeit agierte, wie sie von diesem beeinflusst und geprägte wurde. Und auf der anderen Seite sollte umgekehrt deutlich werden, wie die betreffende Persönlichkeit ihre Zeit geprägt, ihr ihren Stempel aufgedrückt hat.

In der Form der Darstellung wird in den folgenden Ausführungen nicht durchgängig das meist favorisierte rein chronologische Schema verwendet. |12|Vielmehr wird der Tatsache, dass die antiken Quellen tendenziell mehr ihr – unterschiedlich motiviertes – eigenes Nero-Bild präsentieren, als den Versuch unternehmen, den „echten“ Nero zu porträtieren, Rechnung getragen. Es wird eine Differenzierung zwischen sicheren Fakten, vermittelt auch aus nichtliterarischen Quellen wie Inschriften, Münzen und archäologischen Zeugnissen und Wertungen vorgenommen. Ein eigenes Kapitel fasst kompakt zusammen, was sich über die Stationen der Herrschaft Neros authentisch festhalten lässt. In einzelnen Sachrubriken folgt eine systematische Analyse einzelner Themen, die mit Neros Tätigkeit als Kaiser prominent verbunden werden, mit dem Versuch, aus der vielschichtigen Überlieferung das herauszufiltern, was man als historische Realität ansehen kann. Dann wird sich auch ein Schema im Handeln Neros erkennen lassen, das als eine Art Schlüssel zum Verständnis dieses Kaisers gelten kann und das geeignet ist, die scheinbar so unvereinbaren Facetten auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen.

Im Prinzip hat es, was die hier verfolgte Vorgehensweise angeht, der berühmte römische Kaiserbiograf Sueton, dem eine wichtige Lebensbeschreibung Neros zu verdanken ist, nicht viel anders gemacht. Jedoch gibt es einige Unterschiede, neben der Tatsache, dass sich inzwischen eine hochkomplexe Forschung des Themas Nero angenommen hat: Zum einen gilt es bei einer Vorgehensweise, in der prägende sachliche Segmente von Neros Leben unter die Lupe genommen werden, den Zusammenhang mit dem Ganzen im Auge zu behalten. Und zum anderen besteht die Möglichkeit und Notwendigkeit, diese Überlieferung, von der Sueton ein relevanter Teil ist, in ihrer Bedeutung für die Verbreitung einer bis heute wirkenden Vorstellung von Kaiser Nero zu würdigen.

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Die Herstellung eines Tyrannen: Nero-Bilder in den Quellen

Zur Rekonstruktion von Leben und Herrschaft des Kaisers Nero liegen viele Quellen vor. Im Vergleich zu anderen Persönlichkeiten der antiken Geschichte können die Historiker hier aus dem Vollen schöpfen. Jedoch ist es gerade bei einem polarisierenden Kaiser wie Nero wichtig, die Quellen auf ihre Glaubwürdigkeit hin zu überprüfen. Das gilt insbesondere für die schriftlichen Quellen, als deren herausragende Vertreter, die das Bild Neros entscheidend beeinflusst haben, Tacitus, Sueton, Cassius Dio und Aurelius Victor gelten können. Zu unterschiedlichen Zeiten schrieben sie aus unterschiedlichen Motiven Unterschiedliches, aber auch Ähnliches über Nero. Diese Hintergründe müssen aufgezeigt und aufgeklärt werden, will man nicht nur Aussagen über Nero-Urteile, sondern auch über den „richtigen“ Nero treffen. Unglücklicherweise hat es der Kaiser versäumt, selbst etwas Schriftliches zu hinterlassen, das es der Nachwelt erlaubt hätte, seine eigenen Gedanken, Ziele, Wünsche, Einstellungen zu analysieren. Augustus hat immerhin einen Tatenbericht, die Res Gestae, geschrieben, in dem er in knapper, aber auch sehr aussagekräftiger Weise Rechenschaft über seine Herrschaft ablegte. Dabei stellte er ein ausgesprochenes Geschick unter Beweis, sich selbst als Garant von Wohlstand, Sicherheit und Ordnung darzustellen. Augustus wurde knapp 76 Jahre alt und schrieb diesen Tatenbericht, der auf zwei großen Bronzetafeln vor seinem Mausoleum in Rom und später dann in vielen Kopien überall im Reich publiziert wurde, gerade noch rechtzeitig ein Jahr vor seinem Tod. Nero starb schon mit 30 Jahren, und dies ganz und gar unfreiwillig, sodass weder Zeit noch Gelegenheit zu autobiografischen Reminiszenzen blieb. Es wäre ein reizvolles Unternehmen, sich vorzustellen, wie der Tatenbericht Neros wohl ausgesehen haben würde.

|14|Münzen

So bleiben als wichtigste Quellen die Aussagen derjenigen, die in der Antike über Nero geschrieben haben. Einfacher als die antike Historiografie und Biografie sind jene Quellen einzuordnen, die man, weil sie aus der Zeit selbst stammen und nicht mit der Absicht der Überlieferung produziert wurden, als Primärquellen bezeichnen kann. Sie bilden ein wichtiges Korrektiv zu den literarischen Quellen und ein Gerüst für die Fakten. Wichtige Informationen liefern die Münzen als Medium der Selbstdarstellung des Herrschers und der monarchischen Repräsentation. Wie jeder Kaiser vor ihm und nach ihm hat auch Nero die Chance genutzt, gerade jenen Menschen in seinem Reich, die weit entfernt lebten und nicht so nah am Geschehen waren wie die Bevölkerung in Italien (ganz zu schweigen von den Einwohnern der Haupt- und Residenzstadt Rom), den gewünschten Eindruck von seiner Regierung und seinen kaiserlichen Unternehmungen zu vermitteln. So ist es beispielsweise von einiger Aussagekraft, dass die ersten Münzen, die zwischen Oktober und Dezember 54 geprägt wurden, also gleich nach Neros Herrschaftsantritt, auf der Vorderseite die Porträts des neuen Kaisers und seine Mutter Agrippina zeigen – einander zugewandt, als ob es sich um ein Herrscherpaar handele. So etwas ist bei den römischen Kaisermünzen bis dahin ohne Beispiel gewesen. Man darf vermuten, dass diese Münzen weniger als Dankbarkeitsadresse Neros an seine Mutter gedacht gewesen sind, als vielmehr auf das Bestreben Agrippinas zurückgehen, ihren Anteil an der Herrschaft des Sohnes in das ihrer Meinung nach rechte Licht zu rücken.

Inschriften

Die antike Kultur war eine Inschriftenkultur. Auf Bronze, Stein oder anderen dauerhaften Materialien wurden Mitteilungen an die Zeitgenossen festgehalten – Grabinschriften für Verstorbene, Ehreninschriften für verdiente Persönlichkeiten, Bauinschriften für öffentliche Gebäude, Weihinschriften für die Götter, angebracht an Tempeln oder Altären. Die Verfasser dieser Texte dachten bei ihrer Produktion nicht daran, späteren Generationen historisch verwertbare Informationen über ihre Zeit zu liefern. Die Aussagen galten für das Hier und Jetzt, und daher sind Inschriften |15|für Historiker Botschaften aus der Vergangenheit, die Erkenntnisse über diese Vergangenheit vermitteln, ohne dass dies die primäre Absicht derjenigen gewesen wäre, die diese Inschriften in Auftrag gaben. Selbstverständlich spielten Inschriften auch in der großen Politik eine Rolle. Kaiser wie Senatoren oder Feldherrn nutzten sie, um ihre Leistungen adäquat publik zu machen. Auf der anderen Seite pflegten diejenigen, die beim Kaiser gut angesehen werden wollten, wie die Honoratioren von Städten oder die Kommandeure von Legionen, jede Chance beim Schopf zu ergreifen, dem Kaiser ehrenvolle Beschlüsse zukommen zu lassen und diese epigrafisch zu dokumentieren. Was Nero betrifft, so geben die Inschriften Hinweise auf seine Herrschertitulatur, seine Vorliebe für bestimmte Götter, seine als segensreich deklarierte Tätigkeit für Stadt und Reich, aber auch umgekehrt dafür, wie man mittels Inschriften die Gunst des Kaisers zu erwerben versuchte.

Archäologische Überreste

Den Rang von Primärquellen dürfen auch Statuen des Kaisers und seiner Familie sowie Bauten, die von ihm initiiert wurden, beanspruchen. Allerdings stellt sich hier das Problem, dass nach dem Tod Neros viele nicht mehr an ihn erinnert werden wollten, und auf ihn zurückgehende Bauten, wenn nicht zerstört, so doch nicht weiter gepflegt oder umgewidmet wurden. Andere, wie das berühmte „Goldene Haus“ Neros, wurden in spätere Palastanlagen integriert.

Literarische Zeugnisse

Quantitativ am ergiebigsten aber sind die literarischen Quellen, die sowohl Biografien als auch historiografische Werke umfassen. Keine der großen Nero-Darstellungen aus der Antike stammt von Zeitgenossen des Kaisers. Insofern handelt es sich bei ihnen um Sekundärquellen. Das muss im Prinzip kein Nachteil sein. Wer als Zeithistoriker arbeitet und seine eigene Zeit beschreibt, hat als Zeitgenosse den unschätzbaren Vorteil, bei allem, was passiert, dabei zu sein. Daraus kann im Ideal ein großer Kenntnisreichtum und eine spezielle Nähe zu den Dingen resultieren. Auf der |16|anderen Seite hat der Status des Zeitgenossen auch seine Tücken und Fallstricke. So ist er in die Abläufe involviert und hat womöglich auch einen parteiischen Standpunkt. Auf jeden Fall fehlt die zeitliche Distanz, die notwendig ist, um über eine Epoche oder eine Persönlichkeit zu einem ausgewogen-kritischen Urteil zu gelangen. Der Zeitgenosse ist zu sehr Zeitgenosse, um als unabhängiger, neutraler Beobachter und Chronist gelten zu können.

Also ist es besser, wenn man später schreibt? Auch hier hat die Medaille zwei Seiten. Der Historiker oder Biograf, der rückblickend über Vorgänge schreibt, die er selbst nicht oder noch nicht bewusst miterlebt hat, läuft nicht Gefahr, an Diskussionen und Auseinandersetzungen direkt teilzunehmen, die in dieser Epoche stattfanden. Er verfügt zunächst einmal über das positive Kriterium der zeitlichen Distanz, die dazu verhelfen kann, die Dinge sachgerecht und angemessen einzuordnen. Doch ist er auf der anderen Seite selbst auf Quellen angewiesen, aus denen er sein Wissen bezieht. Und vor allem: Er schreibt aus einer bestimmten Perspektive heraus, die notwendigerweise von seinem eigenen Standpunkt, seiner politischen Einstellung und seiner sozialen Verortung geprägt ist. Nero wurde beschrieben von Historikern und Biografen, die ihn selbst nicht kannten. Und er wurde beschrieben von Autoren, die ein ganz dezidiertes, nicht eben vorurteilsfreies Urteil über diesen Kaiser hatten.

Der Nero des Tacitus

Tacitus ist einer jener Autoren, die das Bild Neros ganz entscheidend geprägt haben. Von ihm stammt das berühmte Postulat, er wolle Geschichte darstellen sine ira et studio1. „Ohne Zorn und Eifer(n)“ hat er nun aber gerade nicht geschrieben. Vielmehr hat er Nero in seinen Annalen, die die Zeit vom Tode des Augustus bis zum Tode Neros zum Gegenstand haben, dem letzten Herrscher aus der iulisch-claudischen Dynastie ein wenig schmeichelhaftes Zeugnis ausgestellt. Wer heute nach negativen antiken Urteilen über Nero sucht, verfügt in Tacitus über einen optimalen Versorger mit Verdikten jeder Art. Auch mit den anderen Kaisern ging Tacitus nicht zimperlich um, manche hingegen fanden vor seinem strengen Auge Gnade. Kriterium seines Urteils war die Art und Weise, wie die Kaiser mit der Oberschicht, insbesondere mit den Senatoren, also der |17|politischen Elite, umgingen. So zu denken, hatte er einen sehr naheliegenden Grund, denn er stammte selbst aus dieser Gruppe, die einst, in den Zeiten der Republik, an den Schaltzentralen der Macht gesessen hatte, nun aber im Princeps jemanden vor sich hatte, der ihre Bedeutung, ihren politischen Einfluss und ihre gesellschaftliche Stellung zumindest potenziell dezimieren konnte.

Geboren wurde er um das Jahr 55, im zweiten Jahr der Herrschaft Neros. Als der Kaiser starb, war Tacitus etwa dreizehn Jahre alt – zu jung, um sich einen eigenen, authentischen Eindruck zu verschaffen. Seine Familie stammte wahrscheinlich aus Gallien, jener nachhaltig romanisierten Region des Römischen Reiches, aus der viele Talente des politischen Führungsnachwuchses kamen. Als junger Mann genoss er die für einen hoffnungsvollen römischen Aristokraten obligatorische Ausbildung in Philosophie, Rhetorik und Rechtswesen. Unter Neros Nachfolgern, den flavischen Kaisern Vespasian, Titus und Domitian, startete er eine beachtliche politische Karriere, die ihm einen Platz im Senat sicherte und die ihn unter Kaiser Nerva 97 bis zum Konsulat führte, das immer noch als die Krönung der Laufbahn eines Senators galt. Um 112 hatte er die Statthalterschaft in der Provinz Asia inne. Für seine politische Einstellung ist das im Jahre 98 publizierte Erstlingswerk, eine Biografie seines Schwiegervaters Agricola, mehr als aufschlussreich. Primär eine Abrechnung mit der von ihm als Willkürherrschaft charakterisierten Regierung des im Jahr 96 verstorbenen Domitian, offenbart die Schrift ganz am Anfang viel über seine Haltung zu Kaisern, die nicht seiner Vorstellung vom Verhältnis zwischen Princeps und Senatoren entsprachen – und damit auch zu Nero.

Nunc demum redit animus – „Jetzt endlich kehrt der Mut wieder“ lautet die entscheidende Formel: Bei einem Herrscher wie Domitian, der das Recht aus den Angeln gehoben hatte, der keine Kritik duldete, der die Freiheit der Senatoren und der Autoren unterdrückte, der wie ein Tyrann geherrscht hatte, befand sich Rom in einem traumatischen Zustand der Erstarrung: Erst Nerva, von Tacitus fast zu einem Heilsbringer stilisiert – was für den alten Senator und Übergangskaiser zwischen den Flaviern und den nachfolgenden Kaisern aus der Generation der Adoptivkaiser zweifellos eine nicht den realen Umständen entsprechende Beförderung darstellt –, habe zwei Kategorien wieder vereinigt, die eigentlich unvereinbar seien – principatum ac libertatem, die Herrschaft eines Einzelnen und die Freiheit – wobei Freiheit bei Tacitus immer ein für die politischen |18|Führungszirkel reserviertes Privileg ist. Er schrieb eine Biografie seines Schwiegervaters, um zu demonstrieren, dass es nun wieder möglich sei, jemanden anders zu rühmen und zu preisen und zu ehren als den Kaiser.

Mit dieser Einstellung und Mentalität verfasste Tacitus auch seine Annalen, die mit dem Tod Neros endeten. Die Darstellung der letzten beiden Jahre seiner Herrschaft ist allerdings nicht erhalten, der Text bricht mitten in der Szene ab, als Thrasea Paetus Selbstmord begeht beziehungsweise begehen muss.2 Bemerkenswerterweise führt Tacitus diesen Politiker und Intellektuellen der neronischen Zeit in den Anfangskapiteln des Agricola auch als Beispiel für den Umgang Domitians mit Opponenten an: „Wir haben gelesen, dass die Lobschrift des Arulenus Rusticus auf Paetus Thrasea und die des Herennius Seneco auf Priscus Helvidius beiden den Tod gebracht habe, und dass man nicht nur gegen die Person der Verfasser, sondern auch gegen ihre Schriften rigoros eingeschritten sei, indem man … den Auftrag erteilte, die Denkmäler jene ruhmreichen Geister auf dem Forum … zu verbrennen. Man bildete sich ein, mit jenem Feuer die Stimme des römischen Volkes, die Unabhängigkeit des Senats, das Gewissen des Menschengeschlechts zu vertilgen …“ Und etwas später im Text folgt das Bekenntnis des Tacitus: „Wir haben wahrlich eine gewaltige Probe von Geduld abgelegt. Und so, wie die alte Zeit das Optimum an Freiheit erlebt hat, so erlebten wir die äußerste Grenze der Knechtschaft, da wir durch Bespitzelung nicht einmal durch Sprechen und Hören miteinander verkehren konnten.“

Der stoisch gebildete Senator Thrasea gehörte nicht zu Neros besten Freunden. Im Gegenteil: Schon früh trat er als Kritiker des Kaisers auf, verließ eine Senatssitzung, als für Nero ehrende Beschlüsse gefasst werden sollten und weigerte sich, einer Gesangsdarbietung des Kaisers Aufmerksamkeit zu schenken. Ein Alarmsignal musste es für ihn gewesen sein, dass Nero ihn nicht vorließ, als er dem Kaiser zur Geburt seiner Tochter gratulieren wollte. 66 wurde der von Tacitus zu einem unbeugsamen, stoisch inspirierten freiheitlichen Fels in der Brandung kaiserlicher Willkür stilisierte Politiker schließlich zum Opfer eines Herrschers, den Tacitus, aus der strikten Sicht des Senators und damit des Kollegen Thraseas, als Tyrann abzustempeln nicht müde wurde. Dabei handelte es sich in der Realität um zwei unvereinbare, von beiden Seiten durch Unverständnis für die jeweils andere Seite geprägte Positionen: Nero war der Princeps, der die Welt der Politik als seine persönliche Domäne, als seine Bühne sah, |19|während Persönlichkeiten wie Thrasea oder Tacitus einem alten, bewährten, letztlich republikanischen Verständnis von Politik anhingen. Für einen Nero, der die Rolle des ersten Mannes im Staat für sich neu interpretierte, konnte ein konservativ denkender Senator wie Tacitus kein Gespür entwickeln. Da Tacitus aber ein berühmter Schriftsteller war, viel gelesen und bis heute eifrig rezipiert, ist seine subjektive Sicht der Dinge, die durchaus repräsentativ für große Teile der damaligen Senatoren war, von prägender Wirkung gewesen. Der Nero der Annalen ist mithin mehr der Nero des Tacitus als der echte Kaiser Nero – jedenfalls, was die Bewertungen und Einschätzungen von dessen Handlungen angeht.

Der Nero Suetons

Müssen wir dasselbe auch für die zweite Hauptquelle annehmen? Hat der berühmte Kaiserbiograf Sueton sich seine Kaiser so gezeichnet, wie er sie haben wollte (im positiven wie im negativen Sinn), oder hielt er sich bei seiner Darstellung an die Fakten? Ist sein Nero der „richtige“ Nero? Suetons Biografien sind in jedem Falle die wichtigsten Quellen für die Kenntnis der römischen Geschichte im 1. Jahrhundert, auch wenn man ihn wegen der Art und Weise seiner biografischen Arbeit immer wieder heftig kritisiert hat. Die offenkundige Freude des Autors an Klatsch, Anekdoten, Gerüchten und Intimitäten, seine Vorliebe für die Schlüsselloch-Perspektive und der Anspruch, Kaiser so zu zeigen, wie sie keiner kannte, schmälert seinen Wert als historische Quelle nicht. Es kommt entscheidend darauf an, wie man mit dem, was er bietet, umgeht. Auf jeden Fall stellt sein Werk einen instruktiven Kontrast zum Schaffen des Tacitus dar. Dieser beschrieb die frühe Kaiserzeit in der schon etwas angestaubten Tradition der senatorischen Geschichtsschreibung nach dem annalistischen Schema, das heißt, er berichtete, was Jahr für Jahr passiert war, stellte die Ereignisse vor die Personen. Sueton orientierte sich zeitgemäßer und moderner an den Viten der Protagonisten; zeitgemäßer deshalb, weil sich das Lesepublikum der Kaiserzeit weniger für Abläufe als vielmehr für das Leben der diese Abläufe lenkenden Protagonisten interessierte. So entstand eine höchst anschauliche Sammlung von zwölf Biografien, von Iulius Caesar, dem Ahnherrn der iulisch-claudischen Dynastie und Wegbereiter der römischen Monarchie, bis Domitian, den Tacitus in seinem Agricola so |20|heftig kritisiert hatte. Wer sich in der ersten Hälfte des 2. Jahrhunderts über römische Geschichte der jüngeren Vergangenheit informieren wollte, hatte also zwei Optionen. Entweder griff man zu den Annalen oder auch zu den früher verfassten, jedoch die spätere Zeit nach Nero thematisierenden Historien aus der Feder des Tacitus, in der man die konservative Sicht des Senators vorgeführt bekam. Oder man las Sueton, der die Zeit nach Kaisern geordnet und mit dem Fokus auf das Biografische präsentierte. Aus Tacitus sprach der Senator, aus Sueton der Hofbeamte.

Gaius Suetonius Tranquillus, wie der komplette Name dieses Klassikers der biografischen Literatur lautete, wurde um das Jahr 70, also zwei Jahre nach dem Tod Neros, geboren. Gestorben ist er um das Jahr 130. Seine Heimat war aller Wahrscheinlichkeit nach das römische Nordafrika, mutmaßlich die Stadt Hippo Regius im heutigen Algerien. Sueton war, anders als Tacitus, kein Politiker und Senator. Erst war er in Rom Rechtsanwalt, bald aber wandte er sich, von Hause aus begütert, der Schriftstellerei zu. Unter Kaiser Traian trat Sueton um 100 in die kaiserliche Kanzlei ein und bekleidete dort verantwortungsvolle Ämter. Für seine Tätigkeit als Kaiserbiograf entscheidend war die Tätigkeit als ab epistulis. In dieser Eigenschaft war er für die gesamte amtliche Korrespondenz des Kaisers mit den Städten, Statthaltern und sonstigen Funktionsträgern zuständig. Der ab epistulis entwarf die Briefe, der Kaiser leistete seine Unterschrift. Häufig war es notwendig, zur Beantwortung von Anfragen oder für die Formulierung kaiserlicher Richtlinien die Archive zu konsultieren, um nach entsprechenden Fällen aus der Vergangenheit zu forschen. Dabei stieß er auf viele Informationen auch aus dem Privatleben der Kaiser, wie Briefe und Akten. Auf diese Weise dürfte auch der Entschluss gereift sein, dem römischen Publikum das Leben der Kaiser in leicht verständlicher Form zu beschreiben. Die Möglichkeit dazu hatte er bis 121, als er, angeblich im Rahmen einer Hofaffäre mit Intrigen und Verleumdungen, seinen lukrativen Posten räumen musste. Bis zu seinem Tod widmete er sich einer Tätigkeit als Privatgelehrter.

Die berühmten Kaiserbiografien sind unter dem originalen Titel De vita Caesarum (Über das Leben der Caesaren) überliefert. Es sind insgesamt zwölf Persönlichkeiten, deren Biografien Sueton in seinem Sammelwerk vereinigt hat und die in chronologischer Vorgehensweise, Kaiser für Kaiser, abgehandelt werden. Diese Kaiserbiografien haben einen außerordentlich hohen Stellenwert. Sueton saß sozusagen an der Quelle und |21|verfügte daher über Informationen, die selbst einem gut instruierten, aber eben nur senatorischen Historiker wie Tacitus verschlossen blieben. So kann man gegenüber seinem Werk viel Kritisches vorbringen, sich über seine Vorliebe für Klatsch und Anekdoten beschweren – nicht vorwerfen kann man Sueton auf jeden Fall, kein erstklassiges Material zur Verfügung gehabt zu haben.

Archivstudien des Sueton verdankt man beispielsweise Originalzitate aus Briefen, die Augustus an seinen späteren Nachfolger Tiberius geschrieben hat. Das war Material, an das der Normalhistoriker erst gar nicht herankam. Die Verfügungsgewalt über das kaiserliche Archiv versetzte Sueton auch in die Lage, in historischen Streitfragen einen Wissensvorsprung in die Waagschale zu werfen. Ein Charakteristikum seiner Biografien ist die bis ins Alltäglichste und Privateste gehende Detailkenntnis. Auch hier hat er von seinem freien Zugang zum kaiserlichen Archiv profitieren können. Diese Detailkenntnis bezieht sich nicht nur auf die Kaiser selbst, sondern auch auf viele namhafte und namenlose Römer, mit denen die Kaiser zu tun hatten. Dem Leser wird ein kultur- und sittengeschichtliches Kaleidoskop der frühen römischen Kaiserzeit, insbesondere, was die Verhältnisse in der Hauptstadt Rom betrifft, präsentiert. So war Sueton nicht nur ein Kenner der Kaiser, sondern auch ein Experte bezüglich stadtrömischer Skandalchroniken.

Im Gegensatz zu Tacitus hat Sueton kein literarisches Kunstwerk schaffen wollen. Und anders als sein griechischer Kollege, der Biograf Plutarch, der etwa zur selben Zeit seine Parallelbiografien von großen Griechen und Römern vorlegte, schrieb er auch nicht mit dem erhobenen moralischen Zeigefinger. Seine Biografien sollten die Menschen nicht besser, sondern informierter machen. Mit Wertungen hält er sich normalerweise zurück. Der Biograf versorgt den antiken und damit auch den modernen Leser mit historischem Rohmaterial, das eine umfassende, vom Autor aber nicht in jedem Fall vorinterpretierte historische Deutung ermöglicht. Das bedeutet allerdings nicht, dass er völlig auf subjektive Aussagen verzichtet. Er lässt durchaus erkennen, wen er für einen guten oder schlechten Kaiser hält, und er zeigt auf, welche Handlungen er als vorbildlich oder kritikwürdig ansieht. Caligulas Biografie etwa besteht aus zwei Teilen, von Sueton mit den Worten voneinander separiert: „Soviel vom Kaiser Caligula, im folgenden haben wir vom Scheusal zu sprechen“3. Auch von Nero hat er eine dezidierte Meinung, dementsprechend setzt er wie |22|bei Caligula eine deutliche Zäsur: „Das, was teilweise überhaupt keine Kritik, teilweise sogar ausgesprochen deutliche Anerkennung verdient, habe ich in einem Kapitel zusammengefasst, um es klar von seinen Schandtaten und Verbrechen zu trennen, über die ich jetzt sprechen werde.“4

Ist für Tacitus der Maßstab bei der Verteilung guter oder schlechter Noten an die Kaiser deren Umgang mit dem Senat und den Senatoren, so bei Sueton offenbar, auch wenn er sich in dieser Hinsicht nicht dezidiert äußert, das Vorbild zweier Herrscher: zum einen Augustus, der das Principat gründete und eine stabile neue Ordnung schuf, zum anderen Hadrian, unter dessen Herrschaft die meisten der Kaiserbiografien entstanden sind. So wie Augustus sich trotz vieler Kriege, die er führte, als Friedensfürst zu stilisieren wusste, verstand es Hadrian, der das Römische Reich zwischen 117 und 138 führte, als Garant von Ruhe und Ordnung im Reich aufzutreten. Anders als sein Vorgänger Traian, der viele militärische Unternehmungen gestartet hatte und unter dessen Regierung das Römische Reich seine größte Ausdehnung erreichte, setzte Hadrian auf Konsolidierung und Sicherung der bestehenden Grenzen. Bei Sueton findet diese Politik insofern ihre Resonanz, als er Kriege nicht zu den Faktoren zählte, die in den Leistungsbilanzen der Kaiser ganz oben angesiedelt waren. Das ist auch der Grund dafür, dass er die relative Zurückhaltung Neros bei kriegerischen Aktionen noch zu dessen positiven Eigenschaften zählte: „Er hatte niemals vor, das Reich noch weiter über seine Grenzen auszudehnen, noch versprach er sich etwas davon. Er hatte sogar daran gedacht, das Heer aus Britannien abzuziehen“5.

Bedeutsam für die Einschätzung Suetons als Quelle für die römischen Kaiser und insbesondere auch für Nero ist dessen Praxis, seine Biografien nach einem bestimmten, immer wiederkehrenden Schema aufzubauen.6 Die Darstellung beginnt chronologisch, mit Angaben über Herkunft, Familie, Geburt, diese in der Regel begleitet von ominösen Phänomenen, mit meist knappen Informationen über die Zeit bis zum Regierungsantritt. Dann wechselt Sueton die Darstellungsweise und geht systematisch vor. Leben und Taten der Kaiser werden in einzelnen Rubriken geschildert: Kriege, Gesetze, Finanzen, Verwaltung, Bautätigkeit, positive und negative Charaktereigenschaften. Das sind die Schubladen, auf die er sein reichhaltiges Material verteilt. Danach kommt der Tod, inklusive der diesen ankündigenden Vorzeichen, der immer sehr ausführlich geschildert |23|wird, möglichst auch mit den letzten Worten des Kaisers, und das Begräbnis. Den Schluss bilden in der Regel Angaben über die äußere Erscheinung des Kaisers und über testamentarische Verfügungen.

Diese Kombination von Chronologie und rubrizierender Systematik hat Sueton selbst, in einer Art interner Regieanweisung, so beschrieben: „Nachdem ich so gewissermaßen einen Überblick über sein Leben (des Augustus) gegeben habe, will ich jetzt einzeln die Abschnitte behandeln, allerdings nicht zeitlich, sondern thematisch geordnet, damit die Darstellung und das Verständnis umso klarer werde.“7 In der Caesar-Vita unterbricht er sich selbst, als er chronologisch bei dem Tod des Diktators angelangt ist: „Doch bevor ich darüber spreche, wird es nicht unpassend sein, in aller Kürze seine Gestalt, sein Äußeres, seine Bildung, seinen Charakter und seine Fähigkeiten als Politiker und Soldat darzustellen.“8 In der Augustus-Vita leitet er eine Zäsur in der Darstellung mit den Worten ein: „Da ich nun dargelegt habe, welche charakterlichen Merkmale Augustus als Inhaber von militärischen und zivilen Ämtern und als Herrscher über ein Weltreich im Krieg und im Frieden gezeigt hat, will ich nun über sein Leben im häuslichen und familiären Bereich berichten: nach welchen Grundsätzen und unter welchen Verhältnissen er zu Hause und mit den Seinen von der Jugend bis zum letzten Tag seines Lebens gelebt hat.“9 Den Wandel des Tiberius von einem verantwortungsvollen Herrscher zu einem, nach seiner Ansicht, debilen Wüstling leitet er mit der Bemerkung ein: „Über diese Sünden will ich im folgenden berichten, Laster für Laster, von Anfang an.“10 Auf den Tod Neros kommt Sueton in folgender, dezidierter Weise zu sprechen: „Einen solchen Herrscher hatte die Welt nicht ganz 14 Jahre ertragen, dann endlich war Schluss damit. Den ersten Schritt dahin taten die Gallier unter der Führung des Iulius Vindex.“11

Das Verfahren, die Leistungen und Taten der Kaiser in Rubriken unterzubringen, dient Sueton also, in Abkehr von seinem sonstigen Bemühen um Neutralität, auch dazu, sie negativ oder positiv zu klassifizieren. Und für eine historische Auswertung birgt das Zettelkastenverfahren zudem eine Reihe von Gefahren. Das Hauptproblem besteht darin, dass auf diese Weise historische Zusammenhänge getrennt werden. Das zeigt sich in aller Deutlichkeit bei dem Brand von Rom im Jahre 64, der als einer der herausragenden und bekanntesten Vorfälle aus der Regierungszeit Neros gelten kann. Ein Vergleich zwischen den diesbezüglichen Angaben Suetons mit denen des Tacitus ist sehr aufschlussreich. Der Historiker Tacitus |24|berichtet über dieses Ereignis in den Annalen getreu seiner Devise, die Dinge in ihren chronologischen Zusammenhang zu setzen.12 Das Feuer bricht aus. Als Gerüchte aufkommen, dass Kaiser Nero das Feuer selbst gelegt oder zumindest den Befehl dazu gegeben habe, sucht dieser, so Tacitus, nach Schuldigen und findet sie in den Christen der Stadt Rom, die er daraufhin grausam töten lässt. Sueton ordnet die Nachrichten nach seiner Schubladentechnik und hebt dabei den Zusammenhang zwischen dem Brand von Rom und den Christenverfolgungen auf, indem er an zwei ganz verschiedenen Stellen darauf zu sprechen kommt. Im 16. Kapitel der Nero-Vita, noch unter der Überschrift „gute Taten Neros“, heißt es kurz und bündig: „Über die Christen, Menschen, die sich einem neuen und gefährlichen Aberglauben ergeben hatten, wurde die Todesstrafe verhängt.“ Von dem Brand ist hier keine Rede, man erfährt nichts über den Grund der Sanktionen gegen die Christen, und den will Sueton hier auch gar nicht mitteilen, nur das seiner Meinung nach Nero günstig charakterisierende Faktum wird erwähnt. Positiv ist seine Handlungsweise für Sueton deswegen, weil er das von einem Hofbeamten erwartete harte Vorgehen gegen angeblich konspirative, den Staat gefährdende Kräfte unter Beweis stellt. Als Ordnungsstifter ist der Kaiser bei ihm positiv konnotiert. Die Nachricht über den Brand findet sich in Kapitel 38 der Nero-Vita, diesmal platziert unter der Kategorie „Nero, der Verbrecher“: „Unter dem Vorwand, die Hässlichkeit der alten Gebäude und die Enge und Gewundenheit der Straßen beleidige sein Auge, steckte er Rom in Brand.“An dieser Stelle fehlt nun wiederum jegliche Anspielung auf die Christen, weil dieser Aspekt Sueton in dem Zusammenhang nicht interessierte. Theoretisch wäre es denkbar, dass Brand und Verfolgung der Christen tatsächlich in keiner Verbindung standen. Jedoch sind die Aussagen des Tacitus und anderer Quellen eindeutig. So hat Sueton von sich die wahren Abläufe nicht gänzlich verfälscht, wohl aber in ihrer Relation verändert. Die Verfolgung der Christen war gut, der Brand von Rom schlecht, also mussten sie getrennt voneinander geschildert werden.

Der Nero des Cassius Dio

Der dritte Autor, dem viele Informationen über die Herrschaft Neros zu verdanken sind, ist der griechische Historiker Cassius Dio. Auch er hat |25|seinen Anteil an der Kreation des überwiegend negativen Bildes von Kaiser Nero. Was er von ihm hielt, hat er in einer zusammenfassenden Charakteristik drastisch geschildert.13 Zunächst habe er sich noch ganz ordentlich verhalten, doch als er merkte, was er sich alles erlauben konnte, habe er sich zu einem wahren Tyrannen gewandelt: „Schließlich verlor Nero alle Scham, schlug alle Mahnungen in den Wind und ging darüber hinweg und begann in die Fußstapfen eines Gaius (Caligula) zu treten. Nachdem er einmal das Verlangen gespürt hatte, diesem nachzueifern, übertraf er ihn auch schon, denn er hielt es auch für eine Verpflichtung kaiserlicher Macht, selbst in den schlimmsten Dingen hinter niemandem zurückzustehen. Als Nero dann auch noch den Beifall der Massen für sein Verhalten fand und von ihr viele Schmeicheleien hören durfte, tat er sich keinerlei Zwang mehr an, sondern vollbrachte seine Untaten zuerst im eigenen Haus und in den Kreisen seiner Freunde, später dann sogar in aller Öffentlichkeit. Damit fügte er dem ganzen Volk der Römer Schande zu, und es musste durch ihn viel Böses erleiden. Unzählige Gewalttaten und Verbrechen, Räubereien und Morde wurden nämlich sowohl vom Kaiser selbst als auch von jenen verübt, die bei ihm Einfluss hatten.“14

So, wie der Autor Nero hier beschreibt, hätte er auch von Tacitus dargestellt werden können. Kein Zufall, denn Cassius Dio gehörte wie Tacitus zur elitären Gruppe der Senatoren. Allerdings schrieb er viel später, und seine Heimat war nicht der Westen, sondern der Osten des Römischen Reiches. Als er um 164 geboren wurde, gehörte die Herrschaft Neros bereits gut 100 Jahre der Vergangenheit an. Nicht lange zuvor war Kaiser Antoninus Pius gestorben, der auch deswegen als ein „guter“ Kaiser in die Geschichte eingegangen ist, weil zu dieser Zeit das Römische Reich eine politische und kulturelle Blütezeit erlebte. Als Cassius Dio etwa 70 Jahre später (um 235) starb, hatten sich die Verhältnisse verändert. Sein Tod fällt mit dem Ende der Dynastie der Severer zusammen. Unter dieser Familie, die aus Libyen und Syrien stammte, machten sich eine Reihe von Krisenfaktoren bemerkbar. So gab es wirtschaftliche Probleme, und auch außenpolitisch waren die besten Zeiten vorüber. Im Osten bereiteten die Perser, im Westen Germanen Schwierigkeiten. Die Kaiser, allen voran der Dynastiegründer Septimius Severus, der zwischen 193 und 211 herrschte, reagierten mit einer Stärkung der militärischen Kräfte. Alles wurde auf die Bedürfnisse der Armee ausgerichtet, was zulasten der anderen gesellschaftlichen Gruppen ging. Diese Entwicklung führte nach dem Ende |26|des letzten severischen Kaisers Severus Alexander 235 zur Ära der sogenannten Soldatenkaiser. Nicht nur, dass ab jetzt alle Kaiser direkt von den Legionen proklamiert wurden, es stammten die meisten von ihnen nun aus den Reihen der Soldaten. Die Militarisierung der römischen Gesellschaft hatte damit ihre Vollendung gefunden.