Roman
Aus dem Englischen von
Werner Löcher-Lawrence
C.H.BECK
Saint-Malo 1944: Marie-Laure, ein junges, blindes Mädchen, ist mit ihrem Vater, der am „Muséum National d’Histoire Naturelle“ arbeitet, aus dem besetzten Paris zu ihrem kauzigen Onkel in die Stadt am Meer geflohen. Einst hatte er ihr ein Modell der Pariser Nachbarschaft gebastelt, damit sie sich besser zurechtfinden kann. Nun ist in einem Modell Saint-Malos, der vielleicht kostbarste Schatz aus dem Museum versteckt, den auch die Nazis jagen.
Werner Hausner, ein schmächtiger Waisenjunge aus dem Ruhrgebiet, wird wegen seiner technischen Begabung gefördert, auf eine Napola geschickt und dann in eine Wehrmachtseinheit gesteckt, die mit Peilgeräten Feindsender aufspürt, über die sich der Widerstand organisiert. Während Marie-Laures Vater von den Deutschen verschleppt und verhört wird, dringt Werners Einheit nach Saint-Malo vor, auf der Suche nach dem Sender, über den Etienne, Marie-Laures Onkel, die Résistance mit Daten versorgt …
Kunstvoll und spannend, mit einer wunderschönen Sprache und einem detaillierten Wissen um die Kriegsereignisse, den Einsatz des Radios, Widerstandscodes, Jules Verne und vieles andere erzählt Anthony Doerr mit einer Reihe unvergesslicher Figuren eine Geschichte aus dem zweiten Weltkrieg, und vor allem die Geschichte von Marie-Laure und Werner, zwei Jugendlichen, deren Lebenswege sich für einen folgenreichen Augenblick kreuzen.
Anthony Doerr, 1973 in Cleveland geboren, hat die Erzählungsbände „The Shell Collector“ („Der Muschelsammler“, C.H.Beck 2007) und „Memory Wall“ sowie den Bericht „Four Seasons in Rome“ und die Romane „About Grace“ („Winklers Traum vom Wasser“, C.H.Beck 2005) und „All the Light We Cannot See“ veröffentlicht. Er wurde u.a. mit dem Barnes & Noble Discover Prize, dem Rome Prize, dem New York Public Library’s Young Lions Fiction Award und zwei Mal mit dem Pushcart Prize ausgezeichnet. Für seine Erzählungen hat er bislang vier Mal den renommierten O. Henry Prize erhalten. Im Jahr 2007 wurde Anthony Doerr von der britischen Literaturzeitschrift „Granta“ auf die Liste der 21 Best Young American Novelists gesetzt.
Werner Löcher-Lawrence, geb. 1956, studierte Journalismus, Literatur und Philosophie. Arbeitete als wissenschaftlicher Assistent an der Universität München und etwa zwanzig Jahre als Lektor in verschiedenen Verlagen. Heute ist er als literarischer Agent und Übersetzer tätig. Zu den von ihm übersetzten Autoren gehören u.a. John Boyne, Patricia Duncker, Nathan Englander, Hilary Mantel, Hisham Matar, Louis Sachar und Colin Thubron.
Aus dem folgenden Werk wird mit freundlicher Genehmigung zitiert:
Jules Verne: Zwanzigtausend Meilen unter Meer. Ausgabe in zwei Bänden.
Band 1: Aus dem Französischen übersetzt von Peter Laneaus.
Band 2: Aus dem Französischen übersetzt von Peter G. Hubler.
Copyright der deutschsprachigen Übersetzung:
© 1966/1976 Diogenes Verlag AG, Zürich.
Titel der amerikanischen Originalausgabe: «All the Light we cannot see»
Scribner, A Division of Simon & Schuster, Inc., New York, 2014
Copyright © 2014 by Anthony Doerr
Für die deutsche Ausgabe:
1. Auflage 2014
© Verlag C.H.Beck oHG, München 2014
Umschlaggestaltung: Geviert Grafik & Typografie
Umschlagabbildung: Ansicht von Saint-Malo © Manuel Clauzier (36195)
ISBN Buch 978 3 406 66751-0
ISBN eBook 978 3 406 66752-7
Die gedruckte Ausgabe dieses Titels erhalten Sie im Buchhandel sowie versandkostenfrei auf unserer Website
www.chbeck.de.
Dort finden Sie auch unser gesamtes Programm und viele weitere Informationen.
Für Wendy Weil
1940–2012
«Im August 1944 brannte das alte Saint-Malo, das strahlendste Juwel an der Smaragdküste der Bretagne, fast völlig nieder … Von den 865 Häusern innerhalb der Stadtmauern blieben nur 182 stehen, unversehrt blieb nicht eines.»
Philip Beck
«Ja, man kann, ohne zu übertreiben sagen, dass die deutsche Revolution sich mindestens nicht in den Formen, in denen sie sich abgespielt hat, hätte abspielen können, hätte es kein Flugzeug und keinen Rundfunk gegeben.»
Joseph Goebbels
Null
7. August 1944
Flugblätter
Bomber
Das Mädchen
Der Junge
Saint-Malo
4, Rue Vauborel
Der Keller
Bombardement
Eins
1934
Muséum national d’Histoire naturelle
Zollverein
Schlüssel
Radio
Bring uns nach Hause
Etwas entsteht
Licht
Unsere Fahne flattert uns voran
In achtzig Tagen um die Welt
Der Professor
Das Meer der Flammen
Öffne deine Augen
Verblassen
Die Prinzipien der Mechanik
Gerüchte
Größer, schneller, heller
Zeichen der Bestie
Guten Abend, oder Heil Hitler!, wenn es dir lieber ist
Tschüss, blindes Mädchen
Strümpfe stricken
Flucht
Herr Siedler
Der Auszug
Zwei
8. August 1944
Saint-Malo
4, Rue Vauborel
Hôtel des Abeilles
Fünf Stockwerke hinunter
In der Falle
Drei
Juni 1940
Das Château
Aufnahmeprüfung
Bretagne
Madame Manec
Du bist berufen
Occuper
Erzähl keine Lügen
Etienne
Jungmänner
Wien
Les Boches
Hauptmann
Fliegendes Sofa
Die Summe der Winkel
Der Professor
Parfümhändler
Die Zeit der Strauße
Der Schwächste
Zwingende Aufgabe
Museum
Der Schrank
Amseln
Bad
Der Schwächste (Nr. 2)
Die Verhaftung
Vier
8. August 1944
Das Fort de La Cité
Atelier de Réparation
Zwei Dosen
4, Rue Vauborel
Was sie haben
Die Klingel
Fünf
Januar 1941
Januarferien
Er kommt nicht zurück
Der Gefangene
Plage du Môle
Edelsteinschleifer
Entropie
Rundgänge
Nadel im Heuhaufen
Vorschlag
Du hast andere Freunde
Der Widerstandsclub der alten Damen
Diagnose
Der Schwächste (Nr. 3)
Die Grotte
Berauscht
Die Klinge und das Wellhorn
Lebe, bevor du stirbst
Kein Weg hinaus
Das Verschwinden Hervé Bazins
Alles vergiftet
Besucher
Der Frosch wird gekocht
Befehle
Lungenentzündung
Behandlungen
Der Himmel
Frederick
Rückfall
Sechs
8. August 1944
Jemand im Haus
Der Tod Walter Bernings
Das Zimmer im fünften Stock
Das Funkgerät bauen
Auf dem Dachboden
Sieben
August 1942
Gefangene
Der Kleiderschrank
Osten
Ein einfaches Brot
Volkheimer
Herbst
Sonnenblumen
Steine
Die Grotte
Jagen
Mitteilungen
Loudenvielle
Grau
Fieber
Der dritte Stein
Die Brücke
Rue des Patriarches
Die weiße Stadt
Zwanzigtausend Meilen unter dem Meer
Das Telegramm
Acht
9. August 1944
Fort National
Auf dem Dachboden
Die Köpfe
Delirium
Wasser
Die Balken
Der Sender
Die Stimme
Neun
Mai 1944
Am Rand der Welt
Zahlen
Mai
Jagen (wieder)
Clair de Lune
Die Antenne
Der Dicke Claude
Boulangerie
Die Grotte
Platzangst
Nichts
Vierzig Minuten
Das Mädchen
Das kleine Haus
Zahlen
Das Meer der Flammen
Die Verhaftung Etienne LeBlancs
7. August 1944
Flugblätter
Zehn
12. August 1944
Begraben
Fort National
Kapitän Nemos letzte Worte
Der Besucher
Das letzte Urteil
Musik (Nr. 1)
Musik (Nr. 2)
Musik (Nr. 3)
Hinaus
Der Schrank
Kameraden
Die Gleichzeitigkeit der Augenblicke
Bist du da?
Die zweite Dose
Birds of America
Waffenruhe
Schokolade
Licht
Elf
1945
Berlin
Paris
Zwölf
1974
Volkheimer
Jutta
Der Beutel
Saint-Malo
Das Labor
Die Besucherin
Papierflugzeug
Der Schlüssel
Das Meer der Flammen
Frederick
Dreizehn
2014
Dank 519
Bei Tagesanbruch regnen sie vom Himmel. Sie wehen über die Befestigungsmauern, fliegen radschlagend über die Dächer und flattern in die Schluchten zwischen den Häusern. Ganze Straßen sind von ihren Wirbeln erfüllt, weiß blitzen sie auf dem Pflaster. Dringende Mitteilung an die Bewohner dieser Stadt, steht auf ihnen. Begeben Sie sich sofort aufs offene Land.
Die Flut steigt. Klein, gelb und bucklig hängt der Mond am Himmel. Auf den Dächern des Strandhotels im Osten und in den Gärten dahinter lädt ein halbes Dutzend amerikanischer Artillerie-Einheiten ihre Mörser mit Brandgranaten.
Sie überqueren den Kanal um Mitternacht. Es sind zwölf, und sie sind nach Liedern benannt: Stardust und Stormy Weather, In the Mood und Pistol-Packin’ Mama. Das Meer gleitet tief unter ihnen her, übersät mit zahllosen weißen, zackigen Schaumkronen. Bald schon können die Navigatoren die flachen, mondbeschienenen Umrisse von Inseln ausmachen.
Frankreich.
Funkgeräte knistern. Bedächtig, fast gemächlich verlieren die Bomber an Höhe. Rote Lichtstrahlen steigen von den Flugabwehrstellungen entlang der Küste auf. Dunkle Schiffswracks tauchen auf, versenkt oder zerschossen, eines mit abgetrenntem Bug, ein zweites brennt flackernd. Auf einer weit der Küste vorgelagerten Insel rennen verschreckte Schafe zwischen Felsen umher.
In jedem Flugzeug sitzt ein Bombenschütze, sieht durchs Zielfenster und zählt bis zwanzig. Vier, fünf, sechs, sieben. Für die Schützen sieht die näher kommende, ummauerte Stadt auf ihrer granitenen Landzunge wie ein fürchterlicher Zahn aus, schwarz und gefährlich, ein letzter Abszess, der weggeschnitten werden muss.
In einer Ecke der Stadt, in dem hohen, schmalen Haus mit der Nummer 4 in der Rue Vauborel, kniet die blinde sechzehnjährige Marie-Laure LeBlanc im fünften und obersten Stock über einem niedrigen Tisch, der ganz von einem Modell bedeckt ist. Es ist eine Miniaturausgabe der Stadt, in der sie kniet, mit maßstabsgetreuen Nachbildungen der Häuser, Läden und Hotels innerhalb der Stadtmauern. Hier ist die Kathedrale mit dem durchbrochenen Turm, dort das wuchtige alte Château von Saint-Malo, und rundum ranken sich die Reihen zum Meer gewandter Häuser mit ihren Schornsteinen. Ein schmaler hölzerner Steg ragt von der Plage du Môle ins Wasser, über dem Fischmarkt wölbt sich ein zartes, netzartiges Dach, und auf den kleinen öffentlichen Plätzen stehen winzige Bänke, kaum größer als Apfelkerne.
Marie-Laure fährt mit den Fingerspitzen über die zentimeterbreite Brüstung oben auf der Mauer, die einen unregelmäßigen Stern um das Modell zeichnet. Sie findet die Öffnung auf der Mauer, wo die vier Böllerkanonen aufs Meer hinausdeuten. «Bastion de la Hollande», flüstert sie, und ihre Finger wandern eine kleine Treppe hinunter, zur anderen Seite. «Rue des Cordiers. Rue Jacques Cartier.»
In einer Ecke des Zimmers stehen zwei verzinkte, bis an den Rand mit Wasser gefüllte Eimer. Fülle sie, wann immer du kannst, hat ihr Großonkel gesagt, und die Badewanne im dritten Stock auch. Wer weiß, wann das Wasser wieder versiegt.
Ihre Finger wandern zurück zum Turm der Kathedrale. Nach Süden zum Tor von Dinan. Den ganzen Abend schon durchstreift sie das Modell und wartet auf ihren Großonkel Etienne, dem das Haus gehört. Gestern Nacht ist er weggegangen, als sie schlief, und noch nicht zurückgekommen. Und jetzt wird es wieder Nacht, der Zeiger hat das Zifferblatt ein weiteres Mal umkreist, in den Häusern ringsum ist es ruhig, und sie kann nicht schlafen.
Sie hört die Bomber, als sie bis auf fünf Kilometer herangekommen sind. Ein lauter werdendes Summen. Das Rauschen in einer Muschel.
Als sie das Schlafzimmerfenster öffnet, wird der Flugzeuglärm lauter. Ansonsten ist die Nacht schrecklich still: keine Motoren, keine Stimmen, kein Geklapper. Keine Sirenen, keine Schritte auf dem Pflaster. Nicht mal Möwen sind zu hören. Nur die Flut, die einen Block weiter und fünf Stockwerke tiefer gegen den Fuß der Stadtmauer schlägt.
Und noch etwas.
Da raschelt etwas. Leise und sehr nahe. Sie öffnet den linken Fensterladen und fährt mit der Hand hinaus über die Latten des rechten. Da steckt ein Blatt Papier.
Sie hält es sich an die Nase. Es riecht nach frischer Tinte. Vielleicht auch Benzin. Das Papier ist trocken, es hat nicht lange dort gesteckt.
Marie-Laure steht zögernd am Fenster, in Strümpfen, das Zimmer im Rücken. Muscheln und Schneckenhäuser sind auf dem Schrank aufgereiht, Steine entlang der Fußleiste. Ihr Stock steht in der Ecke, der große Roman in Blindenschrift liegt umgedreht auf dem Bett. Das Dröhnen der Flugzeuge wird lauter.
Fünf Straßen weiter nördlich wird der achtzehnjährige, weißhaarige deutsche Gefreite Werner Hausner von einem schwachen, abgehackten Brummen geweckt. Kaum mehr als ein Summen. Fliegen an einer weit entfernten Fensterscheibe.
Wo ist er? Der süße, leicht chemische Geruch von Gewehröl hängt in der Luft, der Holzgeruch frisch gezimmerter Granatenkisten, das Mottenkugelaroma alter Bettwäsche – er ist in einem Hotel. Dem Hôtel des Abeilles, dem Hotel der Bienen.
Es ist immer noch Nacht. Immer noch früh.
Vom Meer her erklingen Pfiffe und Explosionen. Flak-Feuer.
Der Feldwebel des Luftabwehrkommandos läuft über den Korridor zur Treppe. «Runter in den Keller», ruft er über die Schulter. Werner schaltet seine Lampe ein, rollt die Decke in sein Bündel und macht sich auf den Weg.
Vor noch gar nicht so langer Zeit war das Hôtel des Abeilles ein fröhlicher Ort, hellblaue Fensterläden schmückten die Fassade, im Café gab es Austern auf Eis, und hinter der Theke standen bretonische Kellner mit Fliegen und polierten Gläsern. Das Hotel hatte einundzwanzig Gästezimmer, alle mit Seeblick, und der Kamin in der Halle war groß wie ein Lastwagen. Wochenendausflügler aus Paris nahmen hier einen Aperitif, vor ihnen waren es gelegentlich Abgesandte der Republik gewesen, Minister und Vizeminister, Äbte und Admiräle, und in den Jahrhunderten davor windgegerbte Korsaren: Mörder, Plünderer, Piraten, Seefahrer.
Noch früher, bevor es zu einem Hotel wurde, vor gut fünfhundert Jahren, war es das Heim eines wohlhabenden Privatiers gewesen, der das Schiffekapern aufgegeben hatte, um die Bienen auf den Weiden außerhalb von Saint-Malo zu studieren, seine Beobachtungen in Notizbüchern festzuhalten und den Honig direkt aus den Waben zu essen. In den aus Eichenholz geschnitzten Wappen über den Türstöcken sind immer noch Hummeln zu erkennen, und der mit Efeu überwucherte Brunnen im Hof hat die Form eines Bienenstocks. Am besten gefallen Werner fünf verblichene Fresken an den Decken der schönsten Räume oben, auf denen kindsgroße Bienen vor einem blauen Hintergrund schweben, große, faule Drohnen und Arbeiterinnen mit durchscheinenden Flügeln, und über einer achteckigen Badewanne windet sich eine einzelne, fast drei Meter lange Königin über die Decke. Sie hat zahllose Augen und einen pelzigen Leib.
Während der letzten vier Wochen ist das Hotel zu etwas anderem geworden: einer Festung. Ein österreichisches Flugabwehrkommando hat die Fenster vernagelt und die Betten beiseitegeräumt. Sie haben die Eingangstür verstärkt und die Treppe kistenweise mit Artilleriegranaten vollgestellt. Der dritte Stock des Hotels, dessen «Gartenzimmer» mit ihren großen Balkontüren direkt auf die Befestigungsmauer hinausführen, ist das Zuhause einer alternden Hochgeschwindigkeits-Flak geworden, einer Acht-Acht, deren Zehn-Kilo-Granaten eine Reichweite von fünfzehn Kilometern haben.
Ihre Majestät nennen die Österreicher ihre Kanone, und während der letzten Woche haben die Männer sie umsorgt, wie Arbeiterbienen eine Königin umsorgen. Sie haben sie mit Öl gefüttert, ihre Läufe frisch lackiert und die Räder geschmiert. Sandsäcke haben sie wie Opfergaben um sie herum angeordnet.
Die königliche Acht-Acht, die tödliche Monarchin, die sie alle beschützen soll.
Werner ist auf der Treppe, auf halbem Weg nach unten, als die Acht-Acht in schneller Folge zweimal feuert. Es ist das erste Mal, dass er die Kanone aus solcher Nähe feuern hört, und es klingt, als wäre der obere Teil des Hotels weggesprengt worden. Er stolpert, reißt die Arme hoch und drückt sich die Hände auf die Ohren. Die Wände erbeben bis hinunter ins Fundament, und von dort wieder herauf.
Werner kann die Österreicher zwei Stockwerke über sich herumrennen hören, wie sie nachladen, und dazu das abschwellende Kreischen der beiden übers Meer schießenden Granaten, die bereits vier, fünf Kilometer entfernt sind. Einer der Soldaten singt, vielleicht sind es auch mehrere. Vielleicht singen sie alle. Acht Männer der Luftwaffe, die keine Stunde mehr zu leben haben, singen ihrer Königin ein Liebeslied.
Werner folgt dem Lichtkegel seiner Lampe durch die Hotelhalle. Die mächtige Kanone detoniert ein drittes Mal, nicht weit zerspringt Glas. Ein Schwall Ruß rauscht den Kamin herunter, und die Wände des Hotels dröhnen wie eine angeschlagene Glocke. Werner fürchtet, der Lärm könne ihm die Zähne aus dem Mund reißen.
Er zieht die Kellertür auf und hält einen Moment lang inne, sein Blick verschwimmt. «Ist es so weit?», fragt er. «Kommen sie wirklich?»
Aber wer soll ihm darauf antworten?
Überall in den Straßen schrecken die letzten, nicht evakuierten Bewohner aus dem Schlaf, stöhnen, seufzen. Alte Jungfern, Prostituierte, Männer über sechzig. Zauderer, Kollaborateure, Ungläubige, Trinker. Nonnen jeden Ordens. Die Armen. Die Sturen. Die Blinden.
Einige eilen in die Luftschutzkeller. Einige sagen sich, es ist nur eine Übung. Einige nehmen noch schnell eine Decke mit, ein Gebetbuch, ein Kartenspiel.
D-Day, der Tag der Invasion, liegt zwei Monate zurück. Cherbourg ist befreit, Caen ist befreit und auch Rennes. Die Hälfte West-Frankreichs ist befreit. Im Osten haben die Russen Minsk zurückerobert, in Warschau rebelliert die Polnische Heimatarmee. Einige Zeitungen sind so kühn zu behaupten, das Blatt habe sich gewendet.
Aber nicht hier. Nicht in dieser letzten Zitadelle am Rande des Kontinents, diesem letzten deutschen Bollwerk an der bretonischen Küste.
Hier, flüstern die Leute, haben die Deutschen zwei Kilometer unterirdischer Gänge unter den mittelalterlichen Mauern instand gesetzt. Sie haben neue Verteidigungsanlagen gebaut, neue Verbindungen, neue Fluchtwege, haben unterirdische Strukturen von verblüffender Komplexität geschaffen. Unter der Halbinsel-Feste von La Cité im Süden gibt es Lager mit Verbandszeug, Lager mit Munition, sogar ein unterirdisches Lazarett, heißt es. Da haben sie eine Belüftungsanlage, einen zweihunderttausend Liter fassenden Wassertank und eine direkte Telefonverbindung mit Berlin. Da gibt es Flammenwerferfallen und ein ganzes Bunkernetz mit Periskopen. Die Deutschen haben genug Nachschub angesammelt, um rund um die Uhr mit Granaten das Meer zu beharken, Tag für Tag, ein ganzes Jahr lang.
Hier, so flüstern sie, sind tausend Deutsche bereit zu sterben. Vielleicht auch fünftausend. Vielleicht auch mehr.
Saint-Malo: Wasser umgibt die Stadt auf vier Seiten. Ihre Verbindung mit dem Rest Frankreichs ist schmal, ein Damm, eine Brücke, ein Streifen Sand. Zunächst einmal sind wir Malouins, sagen die Bewohner von Saint-Malo. Dann Bretonen. Und wenn dann noch etwas bleibt, auch Franzosen.
Bei Sturm schimmert der Granit bläulich. Bei heftigen Springfluten dringt das Meer bis in die Keller im Zentrum der Stadt. Zieht es sich besonders weit zurück, ragen die muschelüberzogenen Gerippe Tausender Schiffswracks aus dem Wasser.
Über dreitausend Jahre lang ist diese Landspitze immer wieder belagert worden.
Aber nie wie dieses Mal.
Eine Großmutter drückt sich ein quengelndes Kleinkind an die Brust. Ein, zwei Kilometer weiter, in einer Gasse außerhalb von Saint-Servan, uriniert ein Betrunkener in eine Hecke und zieht ein Blatt Papier daraus hervor. Dringende Mitteilung an die Bewohner dieser Stadt, steht darauf. Begeben Sie sich sofort aufs offene Land.
Über den Flugabwehrbatterien auf den vorgelagerten Inseln blitzt es auf, und die großen deutschen Kanonen in der Altstadt jagen eine weitere heulende Salve aufs Meer hinaus. Dreihundertachtzig französische Gefangene hocken im mondhellen Hof des Fort National, einer Inselfeste vierhundert Meter vor dem Strand, und sehen zum Himmel.
Vier Jahre Besatzung, und was bedeutet das Dröhnen der herannahenden Bomber? Erlösung? Auslöschung?
Das Knattern von Gewehrfeuer. Das rasselnde Trommeln der Flak. Ein Dutzend Tauben hockt auf der Spitze der Kathedrale, stürzt am Turm herunter und schwenkt aufs Meer hinaus.
Marie-Laure LeBlanc steht allein in ihrem Zimmer und riecht an dem Flugblatt, das sie nicht lesen kann. Sirenen heulen. Sie schließt Fensterläden und Fenster. Mit jeder Sekunde kommen die Flugzeuge näher, jede Sekunde ist eine verlorene Sekunde. Sie sollte nach unten laufen. Sie sollte in die Küche laufen, in deren Ecke es durch eine Falltür in einen staubigen Keller mit von Mäusen angefressenen Teppichen und uralten, seit langer Zeit nicht geöffneten Truhen geht.
Stattdessen kehrt sie zum Tisch zurück und kniet sich vor das Modell der Stadt.
Wieder tasten ihre Finger über die äußere Mauer, die Bastion de la Hollande, die kleine Treppe, die von ihr herabführt. In dem Fenster, genau da, schlägt eine Frau jeden Samstag ihre Teppiche aus, und aus dem Fenster dort schrie einmal ein Junge: Pass auf, wo du hintrittst, bist du blind?
Die Fensterscheiben scheppern in den Rahmen. Die Flak feuert eine weitere Salve ab. Die Erde dreht sich ein kleines Stück weiter.
Unter ihren Händen trifft die winzige Rue d’Estrées auf die winzige Rue Vauborel. Marie-Laures Finger wenden sich nach rechts, fahren an Haustüren entlang. Eins, zwei, drei. Vier. Wie oft haben sie das schon getan?
Nummer 4: das große, heruntergekommene, vogelnestartige Haus ihres Onkels Etienne, in dem sie seit vier Jahren lebt. In dem sie allein auf dem Boden des fünften Stocks kniet, während ein Dutzend amerikanische Bomber auf sie zurast.
Sie drückt gegen die winzige Haustür, und ein versteckter Riegel öffnet sich. Das kleine Haus löst sich vom Modell. In ihrer Hand ist es etwa so groß wie eine der Zigarettenschachteln ihres Vaters.
Jetzt sind die Bomber so nahe, dass der Boden unter ihren Knien zu beben beginnt. Draußen im Flur schlagen die Glasanhänger des Kronleuchters gegeneinander. Marie-Laure kippt den Kamin des winzigen Hauses zur Seite und entfernt drei Holztäfelchen, die das Dach bilden. Sie dreht das Haus herum.
Ein Stein fällt in ihre Hand.
Er ist kalt. Groß wie ein Taubenei. In der Form einer Träne.
Marie-Laure hält das kleine Haus in der einen, den Stein in der anderen Hand. Das Zimmer kommt ihr brüchig und instabil vor. Riesige Finger drohen durch die Wände zu stoßen.
«Papa?», flüstert sie.
Unter dem Eingang des Hôtel des Abeilles haben die Korsaren einen Keller in den Fels gemeißelt. Hinter Kisten, Schränken und hängenden Brettern voller Werkzeuge findet sich nackter Granit. Drei mächtige handbehauene Balken aus einem alten bretonischen Wald sind vor Jahrhunderten hier hineingehievt worden und stützen die Decke.
Eine einzelne Glühbirne taucht alles in wandernde Schatten.
Werner Hausner sitzt auf einem Klappstuhl vor einer Werkbank, überprüft die Ladung seiner Batterie und setzt die Kopfhörer auf. Das Funkgerät in seinem stählernen Gehäuse hat eine 1,6-Meter-Band-Antenne, die es mit einem Funkgerät oben im Haus verbindet, mit zwei weiteren Flugabwehrbatterien innerhalb der Stadtmauern und der unterirdischen Kommandozentrale der Garnison im Süden, jenseits des Hafens.
Das Funkgerät wird summend warm. Ein Aufklärer liest Koordinaten in sein Mikrofon, und ein Artillerist wiederholt sie. Werner reibt sich die Augen. Hinter ihm türmen sich bis zur Decke konfiszierte Schätze: aufgerollte Teppiche, Standuhren, Schränke und ein riesiges, rissiges Landschaftsgemälde. Auf dem Regal gegenüber stehen acht oder neun Gipsköpfe, deren Zweck er nicht kennt.
Der riesige Oberfeldwebel Frank Volkheimer kommt die schmale hölzerne Treppe herunter und zieht den Kopf unter den Balken ein. Er lächelt Werner zu und setzt sich in einen großen, mit goldener Seide gepolsterten Sessel, das Gewehr auf den mächtigen Schenkeln, wo es wie ein Stecken wirkt.
Werner sagt: «Geht’s los?»
Volkheimer nickt. Er schaltet seine Lampe aus und blinzelt mit seinen seltsam zarten Lidern ins Dämmerlicht.
«Wie lange wird es dauern?»
«Nicht lange. Hier unten sind wir sicher.»
Berning, der Ingenieur, kommt als Letzter. Er ist klein, hat mausgraues Haar und einen auseinanderstrebenden Blick. Er schließt die Kellertür hinter sich, legt einen Balken vor die Tür und setzt sich auf die hölzernen Stufen. Sein Gesicht scheint feucht, ob es Angst ist oder Schmutz, lässt sich schwer sagen.
Bei geschlossener Tür heulen die Sirenen weniger laut. Die Glühbirne über ihren Köpfen flackert.
Wasser, denkt Werner. Ich habe das Wasser vergessen.
Eine zweite Flugabwehrbatterie feuert aus einer fernen Ecke der Stadt, und schon kracht die Acht-Acht oben erneut, ohrenbetäubend, tödlich, und Werner hört die Granate in den Himmel kreischen. Staub und Sand brechen fauchend aus der Decke. In seinem Kopfhörer kann Werner die Österreicher immer noch singen hören.
«… auf d’Wulda, auf d’Wulda, da scheint d’Sunn a so gulda …»
Volkheimer kratzt schläfrig an einem Fleck auf seiner Hose. Berning bläst sich in die Hände. Im Funkgerät knistern und knacken Wind, Luftdruck und Geschosse. Werner denkt an Zuhause, sieht Frau Elena über seine kleinen Schuhe gebückt, die sie ihm mit einem extra Knoten zuschnürt. Sterne ziehen an einem Mansardenfenster vorbei. Seine kleine Schwester Jutta hat sich eine Decke um die Schultern gelegt und trägt einen Kopfhörer im linken Ohr.
Vier Stockwerke über ihm schieben die Österreicher eine weitere Granate in den rauchenden Verschluss der Acht-Acht, überprüfen die Zielrichtung und drücken sich die Hände auf die Ohren, als das Geschütz feuert, aber Werner im Keller hört nur die Radiostimmen seiner Kindheit: Die Göttin der Geschichte sah auf die Erde hinab. Nur durch die heißesten Feuer kann Reinigung erfolgen. Er sieht einen Wald sterbender Sonnenblumen. Ein Schwarm Amseln bricht aus einem Baum.
Siebzehn, achtzehn, neunzehn, zwanzig. Das Meer rast unter den Zielfenstern durch. Dann Dächer. Zwei kleinere Flugzeuge säumen den Korridor mit Rauch, der führende Bomber wirft seine Ladung ab, elf weitere folgen. Die Bomben fallen diagonal, die Bomber steigen auf.
Die Unterseite des Himmels füllt sich mit schwarzen Flecken. Marie-Laures Großonkel, der mit Hunderten anderer im Fort National vierhundert Meter vor der Küste gefangen sitzt, blickt zum Himmel auf und denkt: Heuschrecken, und ein Bibelspruch aus dem Alten Testament hebt sich zwischen Spinnweben aus einer lange vergangenen Unterrichtsstunde in der Gemeindeschule hervor: Die Heuschrecken haben keinen König, und doch ziehen sie allesamt aus in geordneten Scharen.
Eine dämonische Horde. Umgedrehte Bohnensäcke. Hundert zerrissene Rosenkränze. Es gibt tausend Metaphern, und alle sind unzureichend: vierzig Bomben pro Flugzeug, vierhundertachtzig insgesamt, zweiunddreißigtausendfünfhundert Kilogramm Sprengstoff.
Eine Lawine geht auf die Stadt nieder. Ein Orkan. Tassen treiben aus Regalen, Bilder springen von ihren Nägeln. Eine Viertelsekunde später sind die Sirenen nicht mehr zu hören. Nichts ist zu hören. Das Donnern ist laut genug, um Trommelfelle platzen zu lassen.
Die Flugabwehrkanonen feuern ihre letzten Geschosse ab. Zwölf Bomber drehen ab und steigen unversehrt in die blaue Nacht auf.
Im fünften Stock von Nummer 4, Rue Vauborel kriecht Marie-Laure unter ihr Bett und drückt sich den Stein und das kleine Modell ihres Hauses an die Brust.
Im Keller unter dem Hôtel des Abeilles verlöscht die einzige Glühbirne an der Decke.
Marie-Laure LeBlanc ist eine große, sommersprossige Pariser Sechsjährige mit schnell abnehmendem Sehvermögen, als ihr Vater sie auf eine Kinderführung durch das Museum schickt, in dem er arbeitet. Der Führer ist ein buckliger alter Aufseher, selbst kaum größer als die Kinder. Er klopft mit der Spitze seines Stocks auf den Boden, um ihre Aufmerksamkeit zu erlangen, und führt die ihm anvertraute Schar durch den Park in die Ausstellungsräume.
Die Kinder sehen Technikern zu, wie sie den versteinerten Oberschenkelknochen eines Dinosauriers mit Flaschenzügen anheben. Sie bestaunen eine ausgestopfte Giraffe, deren Rückenfell langsam dünner wird, sehen in die Schubladen eines Präparators voller Federn, Klauen und Glasaugen und blättern durch zweihundert Jahre alte Herbariumsblätter mit Orchideen, Gänseblümchen und fremdartigen Kräutern.
Schließlich steigen sie die sechzehn Stufen zum Mineraliensaal hinauf. Der Führer zeigt ihnen Achat aus Brasilien, violette Amethyste und einen Meteoriten mit winzigen weißen Einschlüssen, der auf einem Sockel liegt und, so heißt es, so alt wie das Sonnensystem selbst ist. Anschließend führt er sie im Gänsemarsch zwei Wendeltreppen und verschiedene Korridore hinunter und bleibt vor einer Eisentür mit einem einzelnen Schlüsselloch stehen. «Das ist das Ende der Führung», sagt er.
Ein Mädchen fragt: «Und was ist hinter der Tür da?»
«Hinter dieser Tür ist eine andere verschlossene, etwas kleinere Tür.»
«Und was ist hinter der?»
«Eine dritte verschlossene Tür, die wiederum etwas kleiner ist.»
«Und dahinter?»
«Eine vierte Tür, und eine fünfte, und so geht es immer weiter, bis zur dreizehnten, die ebenfalls verschlossen und nicht größer als ein Schuh ist.»
Die Kinder beugen sich vor. «Und dann?»
«Hinter der dreizehnten Tür», sagt der Führer und fährt mit seinen unglaublich faltigen Händen durch die Luft, «liegt das Meer der Flammen.»
Verblüffung. Unruhe.
«Kommt schon, habt ihr noch nie vom Meer der Flammen gehört?»
Die Kinder schütteln die Köpfe. Marie-Laure blinzelt zu den in drei Meter Abstand von der Decke hängenden nackten Glühbirnen hinauf. Um jede von ihnen rotiert in ihren Augen eine regenbogenfarbene Aureole.
Der Führer hängt sich den Stock an das Handgelenk und reibt sich die Hände. «Das ist eine lange Geschichte. Wollt ihr sie dennoch hören?»
Sie nicken.
Er räuspert sich. «Vor Hunderten von Jahren, auf einer Insel, die wir heute Borneo nennen, fand ein Prinz einen blauen, sehr hübschen Stein in einem ausgetrockneten Flussbett, aber auf dem Weg zurück zu seinem Palast wurde er von Reitern angegriffen, die ihm ein Messer ins Herz stießen.»
«Ins Herz?»
«Ist das eine wahre Geschichte?»
Ein Junge sagt: «Pssst.»
«Die Diebe stahlen seine Ringe, sein Pferd, alles. Aber weil er den kleinen blauen Stein fest in der Hand hielt, fanden sie ihn nicht. Und der sterbende Prinz schaffte es, bis nach Hause zu kriechen. Dort verlor er das Bewusstsein und regte sich zehn Tage nicht. Am zehnten Tag dann richtete er sich zum Erstaunen seiner Pflegerinnen auf, öffnete die Hand, und da war der Stein.
Die Ärzte des Sultans sagten, es sei ein Wunder, dass der Prinz eine so schlimme Verwundung überlebt habe, und die Pflegerinnen meinten, der Stein müsse heilende Kräfte haben. Die Juweliere des Sultans sagten etwas anderes, nämlich, dass der Stein der größte Rohdiamant sei, den je ein Mensch gesehen habe. Ihr begabtester Edelsteinschleifer verbrachte achtzig Tage damit, ihn zu schleifen, und als er fertig war, leuchtete der Diamant blau wie das tropische Meer, doch in seinem Kern trug er etwas Rotes, wie eine Flamme in einem Tropfen Wasser. Der Sultan ließ den Diamanten für den Prinzen in eine Krone fassen, und man sagte, wenn der junge Prinz auf seinem Thron sitze und die Sonne auf ihn falle, blende der Stein seine Besucher so sehr, dass sie nicht mehr zwischen seiner Gestalt und dem Licht selbst zu unterscheiden wüssten.»
«Sind Sie sicher, dass das wahr ist?», fragt ein Mädchen.
«Pssst», sagt der Junge.
«Der Stein wurde als das Meer der Flammen bekannt. Einige glaubten, der Prinz sei ein Gott, und solange er den Stein besitze, könne er nicht getötet werden. Doch dann geschah etwas Merkwürdiges: Je länger der Prinz seine Krone trug, desto mehr schwand sein Glück. Nach einem Monat verlor er zwei Brüder, der eine ertrank, der andere wurde von einer Schlange gebissen. Nach sechs Monaten starb sein Vater an einer Krankheit, und um alles noch schlimmer zu machen, berichteten die Kundschafter des Sultans, im Osten sammele sich eine riesige Armee.
Der Prinz rief die Berater seines Vaters zusammen. Alle sagten, er solle sich auf einen Krieg vorbereiten, alle bis auf einen, einen Priester, der sagte, die Göttin der Erde sei ihm im Traum erschienen und habe ihm erklärt, sie habe das Meer der Flammen ihrem Geliebten, dem Gott des Meeres, zum Geschenk machen und ihm mit dem Fluss schicken wollen. Aber der Fluss trocknete aus, der Prinz nahm den Stein, und die Göttin geriet in Wut. Sie verfluchte den Stein und den, der ihn für sich behielt.»
Alle Kinder beugten sich vor, Marie-Laure genau wie die anderen.
«Der Fluch besagte Folgendes: Wer immer den Stein besitze, solle ewig leben, aber die, die er liebe, solle als Preis dafür das Unglück in einer nicht enden wollenden Folge treffen.»
«Er soll ewig leben?»
«Erst, wenn er den Diamanten ins Meer werfe und ihn damit seinem rechtmäßigen Empfänger übergebe, werde die Göttin den Fluch aufheben. Drei Tage und drei Nächte lang überlegte der Prinz, der jetzt der Sultan war, und beschloss am Ende, den Stein zu behalten. Er hatte ihm das Leben gerettet, und der Prinz glaubte, so sei er unangreifbar. Dem Priester ließ er die Zunge aus dem Mund schneiden.»
«Autsch», sagte der kleinste Junge.
«Was für ein Fehler», sagte das größte Mädchen.
«Die Invasoren kamen», fuhr der Aufseher fort, «zerstörten den Palast und töteten jeden, den sie fanden. Der Prinz wurde nicht wieder gesehen, und zweihundert Jahre lang hörte niemand mehr etwas vom Meer der Flammen. Einige sagten, der Diamant sei in viele kleinere Steine zerteilt worden, andere meinten, der Prinz trage ihn noch immer, und dass er in Japan oder Persien sei, ein einfacher Bauer, der nicht älter zu werden scheine.
So fiel das Meer der Flammen aus der Geschichte. Bis eines Tages, vor nicht allzu langer Zeit, einem französischen Diamantenhändler auf einer Reise zu den Golconda-Minen in Indien ein mächtiger, tropfenförmig geschliffener Diamant gezeigt wurde. Einhundertdreiunddreißig Karat. Von fast vollkommener Klarheit. Groß wie ein Taubenei, schrieb er, so blau wie das Meer, und mit einem roten Flackern im Herzen. Er fertigte einen Abguss von dem Stein an und schickte ihn an einen juwelenverrückten Herzog in Lothringen, mit einer Warnung, was die Gerüchte um einen Fluch anging. Aber der Herzog wollte den Diamanten unbedingt besitzen. Also brachte der Händler ihn nach Europa, und der Herzog ließ ihn in den Griff eines Gehstocks einfassen und nahm ihn überall hin mit.
«Uuh.»
«Innerhalb eines Monats zog sich die Herzogin eine Halskrankheit zu. Zwei ihrer liebsten Bediensteten fielen vom Dach und brachen sich das Genick. Dann kam der einzige Sohn des Herzogs bei einem Reitunfall um. Obwohl alle sagten, der Herzog selbst sehe besser aus denn je, fürchtete er sich, aus dem Haus zu gehen oder Besucher zu empfangen, und war am Ende überzeugt, sein Diamant sei tatsächlich das verwünschte Meer der Flammen. Er bat den König, ihn in seinem Museum zu verschließen, und zwar tief in einer eigens gebauten Kammer, die zweihundert Jahre lang nicht geöffnet werden dürfe.»
«Und?»
«Seitdem sind einhundertsechsundneunzig Jahre vergangen.»
Die Kinder bleiben einen Moment lang stumm. Einige zählen mit den Fingern, dann heben alle gleichzeitig die Hand. «Dürfen wir ihn sehen?»
«Nein.»
«Nicht mal die erste Tür öffnen?»
«Nein.»
«Haben Sie ihn gesehen?»
«Nein.»
«Woher wissen Sie dann, dass er wirklich da drinnen ist?»
«Ihr müsst die Geschichte glauben.»
«Wie viel ist er wert, Monsieur? Könnte man damit den Eiffelturm kaufen?»
«Höchstwahrscheinlich könnte man mit einem so großen und seltenen Diamanten fünf Eiffeltürme kaufen.»
Sie schnappen nach Luft.
«Sind all die Türen dazu da, dass ihn kein Dieb stehlen kann?»
«Vielleicht», sagt der Führer und zwinkert ihnen zu, «sollen sie auch verhindern, dass der Fluch herauskommen kann.»
Die Kinder verstummen. Zwei, drei weichen einen Schritt zurück.
Marie-Laure nimmt die Brille ab, und die Welt verliert ihre Form. «Warum», sagt sie, «nimmt nicht jemand den Diamanten und wirft ihn ins Meer?»
Der Führer sieht sie an. Die anderen Kinder sehen sie ebenfalls an. «Wann», fragt einer der älteren Jungen, «hast du das letzte Mal jemanden fünf Eiffeltürme ins Meer werfen sehen?»
Lachen. Marie-Laure runzelt die Stirn. Es ist eine einfache Eisentür mit einem Schlüsselloch aus Messing.
Die Führung ist vorbei, die Kinder zerstreuen sich, und Marie-Laure trifft ihren Vater in der großen Ausstellungshalle. Er rückt ihr die Brille zurecht und zupft ihr ein Blatt aus den Haaren. «War es schön, ma chérie?»
Ein kleiner brauner Haussperling fliegt von einem der Deckenbalken herab und landet vor ihr auf den Fliesen. Marie-Laure streckt ihre geöffnete Hand aus. Der Sperling neigt den Kopf und überlegt. Dann flattert er davon.
Einen Monat später ist sie blind.
Werner Hausner wächst fünfhundert Kilometer nordöstlich von Paris auf dem Gelände der Zeche Zollverein auf, einem viertausend Morgen großen Kohlebergbaukomplex außerhalb von Essen. Die Gegend lebt von Stahl und Kohle, die Erde ist voller Löcher. Schornsteine rauchen, Lokomotiven pendeln auf erhöhten Trassen, und auf Abraumhalden stehen kahle Bäume wie skelettierte Hände, die sich aus der Unterwelt herausrecken.
Werner und seine jüngere Schwester Jutta leben im «Kinderhaus», einem zweistöckigen verklinkerten Waisenhaus in der Viktoriastraße, dessen Räume vom Husten kranker Kinder und dem Schreien Neugeborener widerhallen. In ramponierten Truhen schlummern die letzten Besitztümer verstorbener Eltern, ausgebesserte Kleider, angelaufene Familienbestecke, verblichene Ambrotypien von Vätern, die von den Schächten verschluckt wurden.
Werners früheste Jahre sind die magersten. Draußen vor den Toren der Zeche streiten sich Männer um Arbeit, Hühnereier kosten zwei Millionen Reichsmark pro Stück, und das rheumatische Fieber streicht wie ein Wolf ums Kinderhaus. Es gibt weder Butter noch Fleisch, und auch Obst nur mehr in der Erinnerung. Während der schlimmsten Monate hat die Leiterin des Waisenhauses an manchen Abenden nichts als Kekse aus Senfpuder und Wasser für ihre zwölf Schutzbefohlenen.
Aber der siebenjährige Werner scheint zu schweben. Er ist zu klein für sein Alter, seine Ohren stehen ab, und seine Stimme ist hoch und lieb. Das Weiß seines Haars lässt die Leute auf der Straße innehalten. Schnee, Milch und Kreide. Eine Farbe ohne jede Farbe. Jeden Morgen schnürt er sich die Schuhe, stopft sich gegen die Kälte Zeitungen in den Mantel und macht sich daran, die Welt zu befragen. Er fängt Schneeflocken, Kröten, weckt Frösche aus dem Winterschlaf und schwatzt Bäckern, die nichts zu verkaufen haben, Brot ab. Regelmäßig taucht er mit frischer Milch für die Babys in der Küche auf. Und er bastelt Dinge: Papierschachteln, einfache Doppeldecker und Spielzeugboote mit funktionierenden Rudern.
Alle paar Tage verblüfft er die Leiterin mit einer unbeantwortbaren Frage: «Warum kriegen wir Schluckauf, Frau Elena?»
«Wenn der Mond so groß ist, Frau Elena, warum sieht er dann so klein aus?»
«Frau Elena, weiß eine Biene, dass sie sterben wird, wenn sie jemanden sticht?»
Frau Elena ist eine protestantische Nonne aus dem Elsass und mag die Kinder mehr als das Beaufsichtigen. Sie singt mit greller Falsettstimme französische Volkslieder, hat eine Schwäche für Sherry und schläft oft im Stehen ein. Manchmal lässt sie die Kinder abends länger aufbleiben und erzählt ihnen auf Französisch Geschichten aus ihrer Kindheit in einem an die Berge geschmiegten Haus, das Dach meterhoch mit Schnee bedeckt, mit einem städtischen Ausrufer, in der Kälte dampfenden Bachläufen und reifbedeckten Weinreben. Geschichten aus einer weihnachtlichen Bilderbuchwelt.
«Können taube Menschen ihr Herz schlagen hören, Frau Elena?»
«Warum klebt Kleber nicht in der Tube fest, Frau Elena?»
Sie lacht, fährt Werner durchs Haar und flüstert: «Sie werden sagen, dass du zu klein bist, Werner, dass dir die Herkunft fehlt und du keine großen Träume hegen sollst. Aber ich glaube an dich. Ich glaube, du wirst einmal etwas Großes tun.» Dann schickt sie ihn in das kleine Bett, das er oben auf dem Dachboden für sich reklamiert hat, direkt unter dem Fenster.
Manchmal zeichnen er und Jutta. Seine Schwester kommt zu Werners Bett geschlichen, und sie liegen nebeneinander auf dem Bauch und reichen den Bleistift hin und her. Jutta ist zwei Jahre jünger, aber die Talentiertere. Am liebsten zeichnet sie Paris, eine Stadt, die sie von einer einzigen Fotografie kennt. Das Foto ist hinten auf einem der Liebesromane von Frau Elena: mit Mansardendächern, vernebelten großen Häusern und der Eisenkonstruktion eines fernen Turmes. Sie zeichnet sich verdrehende weiße Wohnblöcke, komplizierte Brücken und Menschen links und rechts des Ufers.
An anderen Tagen zieht Werner seine Schwester in einem selbst gebauten Bollerwagen über das Zechengelände. Sie rattern über lange Kieswege an Hütten, brennenden Tonnen und entlassenen Kumpeln vorbei, die reglos wie Statuen dahocken. Regelmäßig verlieren sie eines der Räder, und Werner kniet sich geduldig hin und befestigt es wieder an der Achse. Um sie herum strebt die zweite Schicht in die Gebäude, während die Arbeiter der ersten Schicht gebückt, müde und mit blauen Nasen nach Hause trotten, die Gesichter unter den Helmen wie geschwärzte Totenschädel. «Hallo», piepst Werner, «guten Tag», doch die Bergleute ziehen für gewöhnlich wortlos an ihm vorbei, vielleicht sehen sie ihn nicht einmal. Sie halten den Blick auf den Schmutz des Weges gerichtet, und der wirtschaftliche Zusammenbruch Deutschlands schwebt über ihnen wie die strenge Geometrie der Fördertürme.
Werner und Jutta durchsuchen schimmernde Haufen schwarzen Staubs und klettern auf die Gerippe verrostender Maschinen. Sie reißen Beeren aus Brombeergestrüpp und pflücken Löwenzahn. Manchmal finden sie Kartoffelschalen oder Möhrengrün in Mülleimern, dann wieder sammeln sie Papier, auf dem sich malen lässt, und alte Zahnpastatuben, deren Reste zu Kalk getrocknet werden können. Hin und wieder zieht Werner seine Schwester zu Schacht 9, der größten der Schachtanlagen, in Lärm gehüllt, leuchtend wie die Zündflamme mitten in einem Gasofen. Ein fünf Stockwerke hoher Förderturm erhebt sich über dem Schacht, Trossen schwingen, Hämmer schlagen, Männer rufen, und zu allen Seiten hin erstrecken sich Bauten und Geschäftigkeit. Sie sehen die Loren aus der Erde fahren, und aus dem Schuppen kommen die Kumpel mit ihren Henkelmännern und streben Richtung Aufzug wie Insekten, die in eine Lichtfalle gehen.
«Da unten», flüstert Werner seiner Schwester zu. «Da unten ist Vater gestorben.»
Und wenn es dunkel wird, zieht Werner die kleine Jutta wortlos zwischen den eng beieinanderstehenden Wohnhäusern der Zeche hindurch. Zwei Kinder mit schneeweißem Haar bewegen sich durch eine Rußlandschaft und tragen ihre armseligen Schätze in die Viktoriastraße 3, wo Frau Elena in den Kohleofen starrt und mit müder Stimme ein französisches Wiegenlied singt, während ihr ein kleines Kind an der Schürze zieht und ein anderes in ihren Armen heult.
Angeborener grauer Star. Beidseitig. Unheilbar. «Kannst du das sehen?», fragen die Ärzte. «Kannst du das sehen?» Marie-Laure wird für den Rest ihres Lebens blind sein. Orte, die ihr einst vertraut waren – die Vierzimmerwohnung, in der sie mit ihrem Vater lebt, der kleine baumgesäumte Platz am Ende ihrer Straße –, sind zu Labyrinthen voller Gefahren geworden. Schubladen sind nie da, wo sie sein sollten. Die Toilette ist ein Abgrund. Ein Glas Wasser steht zu nahe oder zu weit weg, und ihre Finger sind zu groß, immer zu groß.
Was ist Blindheit? Wo eine Mauer sein sollte, greifen ihre Hände ins Leere. Wo nichts sein sollte, läuft sie gegen einen Tisch. Autos brummen durch die Straßen, Blätter flüstern am Himmel, Blut rauscht durchs Innenohr. Auf der Treppe, in der Küche, selbst neben ihrem Bett reden Erwachsenenstimmen von Verzweiflung.
«Das arme Kind.»
«Der arme Monsieur LeBlanc.»
«Er hat’s nie leicht gehabt, weißt du. Im Krieg ist sein Vater gestorben, seine Frau im Kindbett. Und jetzt das?»
«Als läge ein Fluch auf ihnen.»
«Sieh sie an. Sieh ihn an.»
«Er sollte sie weggeben.»
Es sind Monate der Verletzungen und des Elends. Zimmer neigen sich wie Segelboote zur Seite, halb geöffnete Türen schlagen Marie-Laure ins Gesicht. Ihre einzige Zuflucht ist ihr Bett, den Saum der Decke am Kinn, während ihr Vater auf dem Stuhl neben ihr noch eine Zigarette raucht und eines seiner winzigen Modelle schnitzt. Der kleine Hammer macht tock, tock, tock, und das Sandpapier lässt ein rhythmisches, beruhigendes Reiben hören.
Die Verzweiflung dauert nicht an. Marie-Laure ist zu jung und ihr Vater zu geduldig. Es gibt keine Flüche, versichert er ihr. Man kann Glück haben oder auch Pech, eine leichte Neigung der Tage zu Erfolg oder Scheitern erleben: Flüche gibt es nicht.
An sechs Tagen der Woche weckt er sie vor Sonnenaufgang, und sie hält die Arme in die Höhe, während er sie anzieht. Strümpfe, Kleid, Pullover. Wenn genug Zeit ist, lässt er sie versuchen, sich die Schuhe selbst zuzubinden. Anschließend trinken sie in der Küche gemeinsam eine Tasse Kaffee, heiß, stark und mit so viel Zucker, wie sie möchte.
Um zwanzig vor sieben holt sie ihren weißen Stock aus der Ecke, schiebt einen Finger hinter den Gürtel ihres Vaters und folgt ihm drei Stockwerke nach unten und sechs Straßen weiter ins Museum.
Um Punkt sieben schließt er den Eingang Nr. 2 auf. Drinnen riecht es vertraut nach den Farbbändern von Schreibmaschinen, nach gewachsten Böden und Felsenstaub. Auch ihre Schritte durch die große Ausstellungshalle klingen vertraut. Ihr Vater begrüßt einen Nachtwächter, einen Aufseher, und sie erhalten jeweils die gleichen zwei Worte zur Antwort: «Bonjour, bonjour.»
Zweimal nach links, einmal nach rechts. Das Schlüsselbund ihres Vaters klimpert, ein Schloss öffnet sich, ein Tor schwingt auf.
In der Schlüsselausgabe, die gleichzeitig die Werkstatt ihres Vaters ist, stehen sechs Schränke mit Glastüren, in denen Tausende eiserne Schlüssel hängen. Es gibt Rohlinge und Generalschlüssel, Tonnenschlüssel und Schlüssel mit alten, viktorianischen Räuten, Aufzugschlüssel und Schrankschlüssel. Schlüssel so lang wie Marie-Laures Unterarm und andere, kürzer als ihr Daumen.
Marie-Laures Vater ist für sämtliche Schlösser des Muséum national d’Histoire naturelle verantwortlich. Er schätzt, dass es im gesamten Museumskomplex, den Werkstätten, Magazinen, vier öffentlichen Museen, der Menagerie, den Gewächshäusern und dem Jardin des Plantes mit seinen Heilkräutern, Schmuckpflanzen, Toren und Pavillons etwa zwölftausend Schlösser gibt. Niemand sonst hat den Überblick, um ihm widersprechen zu können.
Den ganzen Morgen steht er am Eingang der Schlüsselausgabe und händigt den Angestellten ihre Schlüssel aus. Erst kommen die Tierpfleger, dann die Verwaltungsangestellten, die gegen acht Uhr hereineilen. Ihnen folgen die Techniker, Bibliothekare und wissenschaftlichen Assistenten, die Wissenschaftler selbst trudeln zuletzt ein. Alles ist nummeriert und mit Farben gekennzeichnet. Jeder Angestellte, vom Aufseher bis zum Direktor, muss seine Schlüssel immer bei sich haben. Niemand darf sie mit aus dem Museum nehmen, noch dürfen sie auf einem Schreibtisch liegen bleiben. Schließlich besitzt das Museum unschätzbar wertvolle Jade aus dem dreizehnten Jahrhundert, Cavansit aus Indien und Rhodochrosit aus Colorado, und hinter einem von Marie-Laures Vater gefertigten Schloss steht eine florentinische, aus Lapislazuli geformte Apothekenschüssel, die jedes Jahr Experten aus Tausenden Kilometern Entfernung anlockt.
Ihr Vater stellt sie auf die Probe. Ist das hier ein Schlüssel für einen Tresorraum oder ein Vorhängeschloss, Marie? Für einen Schrank oder ein Bolzenschloss? Er fragt sie nach den Plätzen bestimmter Schlüssel, nach den Inhalten der Schränke. Ständig legt er ihr etwas Unerwartetes in die Hände: eine Glühbirne, einen versteinerten Fisch, eine Flamingofeder.
Jeden Morgen, auch sonntags, setzt er sie für eine Stunde hinter ihr Lehrbuch für Blindenschrift. Das A ist ein Punkt in der oberen Ecke, das B sind zwei Punkte übereinander. Jean. Geht. Zum. Bäcker. Jean. Geht. Zum. Käseladen.
Nachmittags nimmt er sie auf seinen Rundgang mit. Er ölt Riegel, repariert Schränke, poliert Wappen und führt sie durch einen Korridor und einen Ausstellungsraum nach dem anderen. Enge Durchgänge öffnen sich in riesige Bibliotheken, durch Glastüren gelangen sie in Gewächshäuser, in denen es intensiv nach Humus, nassen Zeitungen und Lobelien riecht. Es gibt Schreinerwerkstätten, Präparatorenstudios, endlose Regalmeter und Artenschubladen, ganze Museen innerhalb des Museums.
Manchmal lässt er Marie-Laure nachmittags bei Dr. Geffard, einem alternden Weichtierspezialisten, dessen Bart nach nasser Wolle riecht. Dr. Geffard legt dann seine Arbeit zur Seite, ganz gleich, was es ist, öffnet eine Flasche Malbec und erzählt Marie-Laure mit seiner flüsternden Stimme von den Riffen, die er als junger Mann besucht hat, vor den Seychellen, vor Belize und Sansibar. Er nennt seine Besucherin Laurette und isst jeden Tag um drei eine gebratene Ente. Sein Kopf beherbergt eine scheinbar unendliche Anzahl zweigliedriger lateinischer Namen.
An der hinteren Wand in Dr. Geffards Laboratorium stehen Schränke mit mehr Schubladen, als Marie-Laure zählen kann, und er lässt sie eine nach der anderen öffnen und die Schalentiere daraus in die Hände nehmen: Wellhornschnecken, Olivenschnecken, Volutas