Bernhard Zimmermann
HOMERS ODYSSEE
Dichter, Helden und Geschichte
C.H.Beck
Mit der Figur des Odysseus hat Homer im 7. Jahrhundert v. Chr. eine vielschichtige Gestalt von überzeitlicher Modernität geschaffen: Abenteurer und Kriegsheld, treuer Ehemann und Frauenheld. Vielleicht hängt es gerade damit zusammen, dass jede Epoche den ihr entsprechenden Odysseus in der Odyssee für sich entdecken konnte – in jenem Epos, das gemeinsam mit seinem Zwilling, der Ilias, der europäischen Literaturgeschichte ein leuchtendes Morgenrot beschert hat. Doch ebenso respektgebietend wie sich die über 12.000 hexametrischen Verse der Odyssee darbieten, so zahlreich sind die Fragen, die sich mit dem Werk verbinden – und so rätselhaft ist schon allein die Gestalt seines Schöpfers. Bernhard Zimmermann legt mit diesem Buch eine wunderbar luzide, informative und unterhaltsam zu lesende kleine Einführung vor, in der er die Leserinnen und Leser mit Homer, seiner Kunst, mit den zentralen Themen und Motiven seiner Dichtung, mit den handelnden Personen und ihren Konflikten, aber auch mit der Rezeptionsgeschichte vertraut macht.
Bernhard Zimmermann lehrt als Professor für Klassische Philologie an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg (Brsg.). Im Verlag C.H.Beck sind von dem international renommierten Wissenschaftler ferner lieferbar: Einführung in das Studium der Latinistik (32013) und Einführung in das Studium der Gräzistik (2000) – beide Werke gemeinsam mit Peter Riemer und Michael Weißenberger; Handbuch der griechischen Literatur, Band 1 (2011), herausgegeben unter Mitarbeit von Anne Schlichtmann; Handbuch der griechischen Literatur, Band 2 (2014), herausgegeben gemeinsam mit Antonios Rengakos unter Mitarbeit von Martina Enzinger, Franziska Eickhoff, Benjamin Harter und Anne Schlichtmann; Seneca. Von der Gelassenheit (82019), herausgegeben und übersetzt; Epikur. Philosophie des Glücks, herausgegeben und übersetzt (92019).
Vorwort
1. Einleitung – Der göttliche Homer
2. Homerische Fragen
Auf der Suche nach einem verborgenen Dichter
Sprache und Metrum
Textarchäologie – Homerphilologie
3. Die Odyssee – Geschichten von Odysseus
Vor der Odyssee
Nach der Odyssee
Die Odyssee
Buch 1
Buch 2
Buch 3
Buch 4
Buch 5
Buch 6
Buch 7
Buch 8
Buch 9
Buch 10
Buch 11
Buch 12
Buch 13
Buch 14
Buch 15
Buch 16
Buch 17
Buch 18
Buch 19
Buch 20
Buch 21
Buch 22
Buch 23
Buch 24
4. Struktur, narrative Technik, Motive und Poetik
Struktur
Narrative Technik
Motive
Ein Leben voller Gefahren
Handel, ökonomisches Denken
Gastfreundschaft
Zorn
Beschreibungen
Gefährten
Gewandtheit
Poetik
5. Die Personen des Epos
Odysseus
Penelope
Telemach
Die anderen Personen
Eltern und Kinder
Mann und Frau
Götter
6. Rezeption – Themen, Strukturen und Personen der Odyssee auf dem Weg durch die Jahrhunderte
Literaturhinweise
Bildnachweis
Register
Antonios Rengakos
in Freundschaft gewidmet
Homer ist zweifelsohne der Autor der griechischen Antike, der weit über die engen Fachgrenzen hinaus regelmäßig Aufmerksamkeit auf sich zieht, durch große Ausstellungen, die dem Dichter, seinem Werk und seiner Zeit gewidmet sind, und durch Debatten über den Dichter oder die Historizität des in der Ilias dargestellten großen Krieges, die nicht nur in Fachdiskussionen, sondern auch in den Feuilletons der regionalen wie überregionalen Zeitungen ebenso wie in Rundfunk und Fernsehen ihren Widerhall finden. Zwar wurde in der philologischen Forschung und der historischen Diskussion der Ilias mehr Aufmerksamkeit zuteil als der Odyssee. Für Literatur und Kunst von der Antike bis in die Gegenwart war es jedoch zweifelsohne die Odyssee, die als eine anregende Herausforderung nicht nur literarische Techniken, sondern auch Themen und Motive für die folgenden Generationen von Dichtern und Künstlern vorgab und prägte.
Dieses Bändchen will den aufregenden, am Beginn der europäischen Literatur stehenden Text nicht nur in seiner Vielschichtigkeit und Faszination nahebringen, sondern auch die Geschichte der Forschung, die sich seit der Antike mit Homer befasste, wenigstens streifen, die literarischen Techniken und die Erzählkunst Homers beleuchten und einen wenn auch knappen Ausblick auf die Rezeption der Odyssee wagen. In Klammer gesetzte Stellenangaben verweisen auf die Odyssee (9, 212 = Odyssee, Buch 9, Vers 212). Bei Verweisen auf andere Werke wird der Werktitel jeweils angegeben.
Die Übersetzungen aus Homer und anderen Autoren stammen vom Verfasser, der wie immer in der langen Zusammenarbeit mit dem Verlag C.H.Beck Dr. Stefan von der Lahr, dem zuständigen Lektor und Freund seit Konstanzer Studientagen, für die ständige Hilfsbereitschaft bei Fragen jeder Art zu danken hat. Dank schuldet der Verfasser wie bei vielen anderen Publikationen Anne Schlichtmann für die kritische Durchsicht des Manuskripts. Gewidmet ist das Bändchen meinem Freund Antonios Rengakos, mit dem ich in den letzten Jahrzehnten verschiedene Buchprojekte auf den Weg bringen durfte und dem ich für manche hilfreiche Auskunft zu homerischen Fragen danken möchte.
Staufen, im Oktober 2019 |
Bernhard Zimmermann |
Der göttliche Homer
Ein späthellenistisches Relief des Archelaos von Priene (ca. 150–140 v. Chr.), das in drei lang gestreckte, rechteckige Felder unterteilt und in der Form eines Berges gestaltet ist, stellt die Apotheose Homers dar. Die Identifizierung der das Relief bevölkernden Personen wird durch die Beschriftung des Sockels einfach gemacht. Im unteren Teil, als Heiligtum mit einem Altar in der Mitte gestaltet, sitzt auf einem Thron Homer, ein Zepter in der einen Hand, in der anderen eine Buchrolle haltend. Zu seinen Füßen kauern seine Töchter Ilias und Odyssee. Auf dem Schemel, auf Homers Füßen ruhend, sind – als Hinweis auf den Homer zugeschriebenen Froschmäusekrieg (Batrachomyomachia) – ein Frosch und eine Maus zu erkennen. Hinter dem thronenden Homer stehen die bekränzte Oikuméne, die bewohnte Welt, und der geflügelte Chrónos, die schnell vorbeifliegende Zeit, zwei Buchrollen, Ilias und Odyssee, in den Händen haltend. Die beiden Personifikationen bringen zum Ausdruck, dass Homers Werken weder räumliche noch zeitliche Grenzen gesetzt sind. Als junger Opferdiener waltet Mýthos. Neben dem Altar stehend, streut Historíe, die Geschichte, Weihrauch in die Flammen. Mythos und Geschichte sind nicht nur die Quellen der homerischen Dichtung, sondern erhalten in ihr ihre die folgenden Dichtergenerationen prägenden Ausbildungen. Es folgen Dichtung (Poíesis), Fackeln zum Entzünden des Opferfeuers in den Händen, Tragödie, deren Dichter sich auf Homer berufen, und Komödie, die auch nicht ohne Homers Werke – und sei es in parodierender Weise – leben kann. Am rechten Rand schließlich stehen in einer Gruppe ein kleines Mädchen, die Natur (Phýsis), die Homer als ihr größter Sohn, wie ein anonymer Epigrammatiker schreibt (Anthologia Palatina 16, 302), meisterhaft in seinen Epen verewigte, die Tugend (Areté), das Gedächtnis (Mnéme), die Treue oder Zuverlässigkeit (Pístis) und die Weisheit (Sophía). Homers Werke, deren Geltung als enzyklopädischer Speicher des Wissens unumstritten ist, entreißen nicht nur die Taten der Vergangenheit dem Vergessen, sondern führen auch die menschliche Natur zur Tugend und Weisheit. Im Mittelteil des Reliefs, in dem man mit guten Gründen den Parnass, den Musenberg bei Delphi, vermutet, ist Apollon zu sehen, umgeben von den neun Musen und deren Mutter, der Erinnerung (Mnemosýne). Auf der Höhe des Berges sitzt Zeus, wie Homer ein Zepter in der Hand, den Adler zu seinen Füßen. Johann Wolfgang von Goethe beschreibt das im 17. Jahrhundert in der Nähe von Rom gefundene Kunstwerk als eine Art von Miniaturdrama (Homers Apotheose, bei Grumach 1949, Bd. 2, S. 574f.). «Mnemosyne hat eben von ihm die Erlaubnis zur Vergötterung ihres Lieblings erhalten, er, mit rückwärts über die Schulter ihr zugewandtem Gesicht, scheint mit göttlicher Gleichgültigkeit den Antrag bejaht zu haben; die Mutter alles Dichtens aber, im Begriff sich zu entfernen, schaut ihn mit auf die Hüfte gestütztem rechten Arm gleichfalls über die Schulter an, als wenn sie ihm nicht besonders danke für das, was sich von selbst verstehe. Eine jüngere Muse, kindlich munter hinabspringend, verkündet’s freudig ihren sieben Schwestern, welche, auf den beiden mittleren Planen sitzend und stehend, mit dem, was oben vorging, beschäftigt scheinen.»
Abb. 1: Ehrenrelief mit der Darstellung der Apotheose Homers.
London, The British Museum, Inv. 2191
Die Göttlichkeit Homers, die das Relief in dem deutlichen ikonographischen Bezug zwischen dem Dichter und Zeus nahelegt, ist eine Konstante im Denken der Griechen. Homer ist der Dichter par excellence – in der Antike reichte es, vom dem Dichter zu sprechen, ohne Homers Namen zu nennen. Seit dem 6. Jahrhundert v. Chr. setzen sich die nachfolgenden Generationen von Schriftstellern aller literarischen Gattungen mit dem Klassiker auseinander. Sie reiben sich an ihm, hinterfragen und kritisieren ihn oder ahmen ihn bewundernd nach, so dass eine umfassende Wirkungsgeschichte Homers gleichbedeutend mit einer Geschichte der griechischen Literatur und Kultur ist. Den Vorbildcharakter Homers betont der anonyme, Pseudo-Longin genannte Autor der Schrift Über das Erhabene (1. Jh. n. Chr.). Für jeden Dichter müsse Homer das ständige literarische Gewissen darstellen (14, 1f.). Immer müsse man sich fragen: «Wie hätte Homer, wäre er anwesend, meine Worte aufgenommen?» Doch nicht nur Stilvorbild und unerreichbares literarisches Modell ist der «göttliche Homer», wie ihn der Komödiendichter Aristophanes in den Fröschen (Vers 1034) nennt, sondern auch Lehrer der Griechen, der ihnen zusammen mit Hesiod die Götter gab (Herodot 2, 53). Er wird als Quelle jeglichen Wissens angesehen – eine Auffassung, die bereits im 4. Jahrhundert v. Chr. in Xenophons Symposion (4, 6) deutlich zum Ausdruck kommt. Für alles, was uns Menschen betreffe, finde man in Ilias und Odyssee die geeigneten Handlungsmuster. Nicht vergessen werden darf, dass Ilias und Odyssee seit dem 6. Jahrhundert v. Chr. das philosophische Denken herausforderten und sich die Philologie als wissenschaftliche Disziplin in der Arbeit am Text der homerischen Epen herausbildete. Dies sollte sich auch in der Neuzeit nicht ändern. Seit Friedrich August Wolfs Prolegomena ad Homerum (1795) beeinflussten Homer und seine Werke nicht nur philologische und literaturwissenschaftliche, sondern in gleicher Weise kultur- und religionswissenschaftliche Diskussionen, die weit über die engen Grenzen der Altertumswissenschaft ihre Wirkung entfalten.
Trotz der Allgegenwärtigkeit Homers in der griechischen Kultur seit dem 6. Jahrhundert v. Chr. gab es schon in der Antike kaum zuverlässige Informationen über das Leben des Dichters. Genauso wenig wie über seinen Geburtsort bestand über seine Lebenszeit Einigkeit. Sieben Städte (Kolophon, Ithaka, Smyrna, Athen, Chios, Pylos und Argos) erhoben den Anspruch, Heimat Homers zu sein. Gegen die wohl älteste Tradition, die ihn zum Augenzeugen des trojanischen Kriegs macht, wandte sich der Historiker Herodot (2, 53), der Homers Leben 400 Jahre vor seiner Lebenszeit, also ins 9. Jahrhundert, setzte.
Zwar sind über Homers Leben aus der Antike und byzantinischer Zeit neun Biographien, teilweise umfangreichere Texte, teils kürzere Einträge in Lexika, überliefert. Die früheste ist der als Certamen bekannte Wettkampf von Homer und Hesiod, dessen Zuweisung durch Friedrich Nietzsche 1870 an den zu Beginn des 4. Jahrhunderts v. Chr. tätigen Sophisten Alkidamas inzwischen durch einen Papyrusfund bestätigt wurde. Allerdings sind diese Viten, wie das bei antiken Dichter-Biographien in der Regel der Fall ist, nicht historisch, sondern eher anekdotisch zu nennen. Aber obwohl die Berichte mit Ausnahme des Certamen aus der Spätantike und byzantinischen Zeit stammen, scheinen sie altes Material zu enthalten. Während über den Geburtsort Unklarheit herrscht, stimmen sie darin überein, dass Homer auf der vor der kleinasiatischen Küste liegenden Insel Chios wirkte und auf der südlich von Naxos gelegenen Kykladeninsel Ios starb. Homer soll ursprünglich ‹Melesigénēs› geheißen und erst später den ‹Künstlernamen› Homer angenommen haben. Melisegénēs – die Bedeutung ist ‹Der sich um seine Familie Kümmernde› – wird in falscher Etymologie als ‹Der am Fluss Meles Geborene› erklärt und mit dem kleinasiatischen, am Fluss Meles gelegenen Smyrna als Geburtsort in Beziehung gebracht. Ebenfalls wird der Name ‹Hómēros› etymologisch gedeutet: entweder soll er den Namen angenommen haben, da er irgendwann Geisel oder Bürge war – hómēros bedeutet ‹Geisel› und ‹Bürge› –, oder er sei, nachdem er erblindet sei, so genannt worden, da in manchen östlichen Gebieten Griechenlands Blinde hómēroi hießen, was eine freie Erfindung ist. Offensichtlich ist die Blindheit von Demodokos, dem angesehenen Sänger der Phäaken, im 8. Buch der Odyssee auf Homer selbst übertragen worden.
Die biographischen Informationen der Viten gehen wohl auf die Homeriden zurück, eine Sängergilde, die seit dem 6. Jahrhundert ihren Sitz auf Chios hatte und die Homer zugeschriebenen Werke verwaltete und sich im Konkurrenzkampf mit anderen Sängergruppen direkt auf den ‹göttlichen› Homer zurückführte. In dem aus der Mitte des 6. Jahrhunderts stammenden, Homer zugeschriebenen Apollon-Hymnos spricht der Chor, ohne Namensnennung, vom «blinden Mann, der auf Chios wohnt» (Verse 172f.). Der Chorlyriker und Elegiker Simonides von Keos (557–468) preist den «Mann von Chios» für den schönen Vers über die Vergänglichkeit der Menschen (Fr. 19, 2 West: «Wie der Blätter Geschlecht, ist auch das der Menschen»), der aus dem 6. Buch der Ilias (Vers 146) stammt. Für Simonides ist demnach der «Mann aus Chios» identisch mit dem Verfasser der Ilias. Zur Tätigkeit der Homeriden passen die Erzählungen, dass andere, heute nur noch in wenigen Fragmenten und antiken Inhaltsangaben erhaltene epische Dichtungen, die unter dem Titel «Epischer Kyklos» zusammengefasst werden und die Ereignisse rund um Ilias und Odyssee zum Inhalt hatten, in irgendeiner Weise mit Homer in Bezug gebracht wurden. So soll er die Kyprien, die die Vorgeschichte des trojanischen Kriegs behandelten, einem gewissen Stasinos überlassen haben, und die Kleine Ilias, in denen der Streit um die Waffen des toten Achill und Odysseus’ List des hölzernen Pferds, die zur Einnahme Trojas führte, erzählt wurden, sei ihm von einem Thestorides gestohlen worden.
Weiter als die vergeblichen Versuche, in den antiken Biographien einen historischen Kern zu finden, hilft, in Texten des 7. und 6. Jahrhunderts nach Spuren der homerischen Epen, nach Zitaten aus und Hinweisen oder Anspielungen auf Ilias und Odyssee zu suchen, um auf diesem Weg zeitliche Fixpunkte zu erhalten, vor denen die beiden Epen entstanden sein müssen. Kallinos von Ephesos, Verfasser einer Elegie in der Mitte des 7. Jahrhunderts, in dem zum Kampf gegen die Kimmerier aufgefordert wird, soll nach einem allerdings unsicheren Zeugnis Homer als Verfasser einer Thebaïs, eines thebanischen Epos, bezeichnet haben. Ebenfalls unsicher sind Anspielungen bei Archilochos von Paros (ca. 680–630) und bei Alkman, der in der Mitte des 7. Jahrhunderts in Sparta wirkte, auf die Odyssee (Archilochos, Fr. 131 West ~ Odyssee 18, 136f.; Alkman Fr. 80 Page ~ Odyssee 12, 47). Der Lyriker Alkaios (Ende 6. Jh.) lässt in einem Gedicht (Fr. 44 Voigt) den Groll Achills und seinen Hilferuf an seine Mutter Thetis anklingen (Ilias 1, 1 und 352–357). Der Chorlyriker Stesichoros (ca. 630–555) aus dem sizilischen Himera schildert, wie Odysseus’ Sohn Telemachos sich von Menelaos und Helena in Sparta in einer dem 15. Buch der Odyssee (113–119, 160–178) vergleichbaren Weise verabschiedet (Fr. 209 Davies). Die Philosophen Heraklit von Ephesos (545–480) und Xenophanes von Kolophon (ca. 570–500) setzen sich kritisch mit der Vorherrschaft auseinander, die Homer im Leben der Griechen einnimmt. Heraklit (22 B 42 DK) fordert dazu auf, Homer (und Archilochos) aus allen Dichterwettkämpfen zu verbannen, da er offensichtlich nicht die Weisheit besessen habe, die ihm allgemein zugeschrieben wird. Er belegt diese Auffassung mit dem auch im Certamen erzählten ‹Läuserätsel› (22 B 56 DK). Jungen, die an sich Läuse suchten, stellten Homer das Rätsel, das der weise Dichter zu lösen nicht imstande war: «Alles, was wir sahen und erwischten, das lassen wir da; was wir aber weder sahen noch erwischten, das tragen wir noch mit uns herum.» Xenophanes betont, dass alle von Anfang an bei Homer gelernt hätten (21 B 10 DK), und greift das anthropomorphe Götterbild Homers (und Hesiods) heftig an, da die beiden Dichter, die den Griechen ihre Götter gaben (so Herodot 2, 52), diesen all das zugeschrieben hätten, was bei den Menschen als schändlich gelte: Diebstahl, Ehebruch und Betrug (21 B 11). Ein interessanter Beleg, der etwa in das Jahr 600 führt, findet sich bei Herodot (5, 67), der von einer kulturpolitischen Maßnahme des Tyrannen Kleisthenes von Sikyon berichtet. Dieser habe, als er mit Argos im Krieg lag, die Wettkämpfe der Rhapsoden, die ‹homerische Epen› rezitiert hätten, verboten, da in ihnen Argos und die Argiver gepriesen würden.
Diese Zeugnisse legen die Annahme nahe, dass es im ausgehenden 7. Jahrhundert bereits einen relativ ‹festen› Text der homerischen Epen gab, an dem allerdings die Rhapsoden gewisse Eingriffe – je nachdem, an welchen Ort, bei welchem Anlass und vor welchem Publikum sie auftraten – vornehmen konnten. Zur ‹Stabilität› des Textes mögen die Homeriden, die über den literarischen Schatz, der sich in ihrem Besitz befand, sorgfältig wachten, aber auch die als Wettkampf organisierten Homer-Rezitationen wie in Sikyon oder seit dem Ende des 6. Jahrhunderts in Athen beigetragen haben. Dort soll der Tyrann Hipparchos, der Sohn des Peisistratos, veranlasst haben, dass bei den Panathenäen, dem großen Fest, das die Stadt Athen für ihre Schutzgöttin Athena ausrichtete, Ilias und Odyssee in voller Länge (Pseudo-Platon, Hipparchos 228B; Lykurg, Gegen Leokrates 102), und nicht nur ausschnittsweise, wie dies zuvor wahrscheinlich der Fall war, vorgetragen werden mussten. Dieser Brauch dürfte dazu geführt haben, die umfangreichen Epen – die Ilias umfasst 15.893 Verse, die Odyssee 12.109 – in Rezitationseinheiten zu untergliedern, aus denen frühestens nach der Alphabetsreform im Jahre 403 durch einen gewissen Eukleides, seit der das griechische Alphabet 24 Buchstaben umfasste, spätestens aber seit der hellenistischen Homer-Philologie 24 Bücher entstanden, die zwischen 350 bis 900 Verse umfassen.
Homer war bereits Mitte des 7. Jahrhunderts ein kanonischer Dichter, auf den sich andere Autoren selbst in Anspielungen beziehen konnten und der aufgrund der Dominanz, die er nicht nur in der Literatur, sondern überhaupt im Leben der Griechen von der kleinasiatischen Küste bis nach Sizilien als Autorität einnahm, zur Kritik herausforderte. Für die mythische Überhöhung Homers und die Legendenbildung um seine Person waren zweifelsohne im Konkurrenzkampf der Sängergilden die Homeriden in gleicher Weise verantwortlich wie für die Zuschreibung anderer Epen und Hymnen an Homer, die damit mit dem Gütesiegel höchster literarischer Qualität versehen wurden, ohne dass sich die Frage der ‹Echtheit› stellte, die erst aufkam, nachdem die homerischen Epen ihren ursprünglichen ‹Sitz im Leben› bei Rezitationen anlässlich von Festen verloren und zum Gegenstand philologischer Forschung wurden.
Die Bekanntheit von Ilias und Odyssee im späten 7. Jahrhundert stützt die Datierung der beiden Epen in die erste Hälfte dieses Jahrhunderts. Nachdem lange Übereinstimmung darüber herrschte, die Entstehung von Ilias und Odyssee in die Mitte des 8. Jahrhunderts zu legen, haben neuere Arbeiten diese Frühdatierung ins Wanken gebracht. So ist, um nur weniges zu nennen, die Erwähnung des Viergespanns, das Neleus zu einem Wagenrennen nach Elis schickte (Ilias 11, 698–702), als Anspielung auf diese, 680 v. Chr. bei den Olympischen Spielen eingeführte Disziplin zu verstehen. Die Erzählung, dass Poseidon und Apollon durch Umleitung der Flüsse das Kriegslager der Griechen zerstörten (Ilias 12, 17–33), kann als Anspielung auf die Zerstörung Babylons durch den Assyrerkönig Sennacherib im Jahre 683 durch dieselbe Kriegslist, eine absichtliche Überflutung, verstanden werden. Dazu kommt, dass die in der Ilias vorausgesetzte Kampftechnik ebenfalls auf die erste Hälfte des 7. Jahrhunderts verweist. Ein wichtiger Fixpunkt für die Datierung von Ilias und Odyssee ist das Jahr 663. Der unglaubliche Reichtum der ägyptischen Stadt Theben, von dem Achill spricht (Ilias 9, 381f.), wurde den Griechen durch die Eroberung der Stadt durch Assurbanipal im Jahr 663 bewusst. Dies bedeutet, dass die Ilias um 663 entstanden sein dürfte und die Odyssee, in der die Verse in fast identischer Form erscheinen (4, 126f.), einige Zeit danach. Dem scheint zu widersprechen, dass in der archaischen Vasenmalerei die Blendung des Kyklopen Polyphem, von der Odysseus am Hof der Phäaken erzählt (9, 375–400), schon nach 675 v. Chr. zu finden ist. Man kann diese Darstellungen jedoch als einen Reflex der mündlichen Tradition eines beliebten Märchenmotivs verstehen, das nach 663 vom Dichter der Odyssee in sein Werk aufgenommen wurde. Auf eine Entstehung in der Mitte des 7. Jahrhunderts verweisen auch die zahlreichen Bezüge auf die beginnende griechische Kolonisation im Mittelmeerraum, auf Handelskontakte mit dem Vorderen Orient, vor allem mit Phönizien, Ägypten und Nordafrika, auf die damit verbundenen Gefahren wie Seestürme und Piraterie sowie auf ein eng geflochtenes Netz an ‹Gastfreunden› (philóxenoi), bei denen man auf den Reisen Quartier nehmen kann und die einem mit dem Lebensnotwendigen aushelfen und in Gefahren beistehen.
Abb. 2: Fragment eines argivischen Kraters, um 670 v. Chr.
Archäologisches Museum Argos
Als weiteres Argument für die Spätdatierung lässt sich der Gebrauch der Schrift anführen. Die Griechen übernahmen um 800 im Zusammenhang mit Handelsbeziehungen im östlichen Mittelmeerraum das phönizische Alphabet. Dieses eignete sich anders als das in mykenischer Zeit bis ca. 1200 verwendete Linear B, das, wie man seit der Entschlüsselung der Schrift durch Michael Ventris und John Chadwick im Jahr 1952 weiß, zur administrativen Buchhaltung eingesetzt wurde, zur Wiedergabe des gesprochenen Griechisch. Die Verwendung des Alphabets um 770 ist neuerdings durch einen Inschriftenfund aus Gabii in Latium (Italien) gesichert. In der neuen Schriftkultur verschwand der Gebrauch der in mykenischer Zeit üblichen Tontäfelchen; stattdessen verwendete man Holz- und Wachstafeln (pínakes) für kürzere Aufzeichnungen, Leder (diphthéra) und vor allem Papyrusrollen (bíblos, biblíon) für umfangreichere Texte. Die Vermutung liegt nahe, dass die neue Schrift nach ihrer Einführung zunächst zu praktischen Zwecken verwendet wurde: für Rechnungen, inschriftliche Widmungen oder Aufschriften auf Stein oder Vasen.
Eine herausragende Stellung kam in der Frühdatierung dem sogenannten Nestorbecher zu, einem Trinkgefäß, das 1954 im Grab eines zwölf- bis vierzehnjährigen Jungen auf Ischia (griechisch Pithekoussai) gefunden wurde und zwischen 735 bis 720 zu datieren ist. Nach dem Brennvorgang wurde auf dem Gefäß eine Aufschrift eingeritzt, deren erste Zeile leider nicht vollständig erhalten ist und eine kontroverse Diskussion auslöste. In Zeile 2 und 3, abgefasst in dem für das Epos typischen daktylischen Hexameter, ist zu lesen: «Wer aber aus diesem Becher trinkt, den wird sofort/Verlangen nach der schönbekränzten Aphrodite erfassen.» In der ersten Zeile kann entweder eine erste oder dritte Person Singular ergänzt werden. Je nach Ergänzung ergibt sich «Ich war Nestors Becher, aus dem gut zu trinken war» oder «Nestor hatte einen Becher, aus dem gut zu trinken war». Im zweiten Fall erhält man einen jambischen Trimeter – ein Versmaß, das in Dichtungen, die beim Symposion, dem ‹Trinkgelage› von Adligen, seinen Platz hatte. Von Vertretern der Frühdatierung wurde die Inschrift als ein Hinweis auf die Beschreibung von Nestors kunstvoll verziertem Becher in der Ilias (11, 632–635) und somit für die Bekanntheit der Ilias im Westen der griechischsprachigen Welt vor 735 angenommen. Wahrscheinlicher ist allerdings, dass die Inschrift auf ein traditionelles Sagenmotiv anspielt, dessen Spuren sich in einem spätantiken Inhaltsreferat der Homer zugeschriebenen KyprienIlias