Silvana Condemi & François Savatier
DER NEANDERTALER,
UNSER BRUDER
300.000 Jahre Geschichte des Menschen
Aus dem Französischen von
Anna Leube und Wolf Heinrich Leube
Illustrationen von Benoît Clarys
C.H.BECK
Die Entdeckung war eine Sensation – Romeo und Julia in der Steinzeit konnten durchaus verschiedenen Spezies angehören! Die Romanze, die Genetiker bereits 2010 angekündigt hatten, konnte von Paläoanthropologen anhand von Fossilienfunden 2015 bewiesen werden: Es war auf europäischem Boden zu einer Mischung der Kulturen und der Gene der verschiedenen Spezies gekommen, und zwar immerhin über einen Zeitraum von mehr als 5000 Jahren hinweg.
Aber wer ist der Neandertaler? Weniger ein Affe als vielmehr ein Rothaariger mit heller Haut? Weniger ein Aasfresser als ein genialer Jäger, der sprechen konnte und bereits seine Toten würdig bestattete? Ja, könnte es gar sein, dass er noch irgendwie unter uns ist? Vor dem Hintergrund des Vordringens ganz neuer Methoden verändert sich das Bild unserer Frühgeschichte sehr schnell, was mit erheblichen Überraschungen in der ganzen Breite einhergeht. In der vorliegenden faszinierenden Untersuchung entwerfen eine Paläoanthropologin und ein Wissenschaftsjournalist auf der Grundlage neuester Forschungen ein aktuelles Porträt unseres seltsamen Vorfahren und überprüfen die verschiedenen Hypothesen über sein angebliches Verschwinden. Dabei werfen sie auch die Frage nach unserem eigenen «Erfolg» in der Evolution auf – ein Erfolg, der sich angesichts dessen, was uns tagtäglich umgibt, zunehmend relativiert.
Silvana Condemi ist Paläoanthropologin und Forschungsdirektorin am Centre national de la recherche scientifique. Sie selbst forscht über die Neandertaler und unsere Sapiens-Vorfahren an der Universität von Aix-Marseille. Sie und François Savatier, der als Journalist für das Magazin «Pour la Science» tätig ist und einen Arbeitsschwerpunkt im Bereich der Prähistorie entwickelt hat, haben gemeinsam dieses Buch geschrieben, das in Frankreich mit dem GRAND PRIX DU LIVRE D’ARCHÉOLOGIE ausgezeichnet worden ist.
Einführung
1 | Neandertaler, Kind Europas und der Kälte
Eine Klarstellung vorab
Vorsintflutliche Geschöpfe
Drei Parameter, das ist alles
Der Neandertaler, Kind seiner geologischen Zeit und des Klimas
Ein interglaziales Paradies …
… gefolgt von einer frostigen Hölle
Ein Gebiet im Rhythmus der Vergletscherungen
2 | Der Neandertaler betritt die Bühne der Geschichte
Nach dem Heidelberger Schloss … sein Unterkiefer
Das fossile Inventar des Heidelbergers
Das Auftauchen des Neandertalers
Eine Wangengrube nach echter Neandertalerart
Neandertaler auf Reisen
3 | Ein stämmiger Athlet mit kräftigen Fäusten
Angeblich ein Affenmensch
Überholte Ansichten
Ein Sommer auf der Grabungsstelle
Was macht einen Neandertaler aus?
Hat der Neandertaler zu viel Kaugummi gekaut?
Klein, gedrungen, aber stark
Der Neandertaler – ein Athlet mit zu vielen Proteinen?
Alien-Hände
Helle Haut, helle Haare, helle Augen
4 | Neandertaler: Ein an die Kälte angepasster Körper?
Vom Seehund zur Giraffe über die Elefantenohren
Mensch x Robbe = Neandertaler
Eine Klimaanlage im Gesicht?
Wann hat der Neandertaler seinen Schutz vor der Kälte entwickelt?
5 | Der Neandertaler – Aasfresser, Jäger und Kannibale
Ein grässliches Gemetzel!
Ein Maurer am Nordpol
Die Lanze von Lehringen
Treten Sie der Präneandertaler-Jagdgesellschaft bei!
Prähistorische Olympiade
Zweifel ausgeschlossen
6 | Fleisch, Fleisch, noch mal Fleisch und … Datteln
Stierkampf nach Art der Neandertaler
Die Verletzungen der Neandertaler
Die gleichen Verletzungen wie bei professionellen Rodeoreitern
Laden Sie nie einen Neandertaler ins Restaurant ein!
Erschwerende Faktoren
Extreme Fleischfresser
Herbst-Winter-Kollektion
Schildkrötensuppe und gebratene Frösche
Der Löwenzahn der Steppe ist gar nicht einmal so schlecht
Pflanzen, Wurzeln und Blüten
Gewöhnliche oder ganz besondere Jäger und Sammler?
Festmahl dringend nötig!
7 | Der Neandertaler hätte eigentlich nicht überleben dürfen
Der Bärenclan? Dritter Hügel links
Der Trampelpfad der Neandertaler
Sexuelle Gastfreundschaft bei den Neandertalern?
Hallo, Medizinfrau, wie ging das noch mit der Bearbeitung des Feuersteins?
Mangel an Sitzfleisch
Auf der Suche nach dem Gral der Neandertaler
8 | Ein komplexes kulturelles Leben
Homo allalus?
In der Neandertalerschule
Ein Neandertaler als Magier und Archäologe?
Der Schmuck der Neandertaler
Wer hat das symbolische Denken erfunden?
Der Neandertaler – ein Maler?
Die Gräber und der Kannibalismus
9 | Die Ankunft des Störenfrieds Homo sapiens im Leben des Neandertalers
Homo sapiens, der große Konkurrent
Zusammenprall der Kulturen
Ungeschlachter und tumber Neandertaler versus «Super»-Sapiens
Krieg, immer wieder Krieg …
Virenalarm
Auf einmal droht Gefahr vom Himmel …
Die Frage nach der Intelligenz des Neandertalers
Tradition versus Innovation
Die Frau ist die Zukunft des Cro-Magnon-Menschen
Fleisch und immer wieder … Menschenfleisch
10 | Und wenn der Neandertaler immer noch in uns schlummern sollte?
Der Ring für die dicken Finger des Neandertalers
In uns allen steckt noch etwas vom Neandertaler
Eine flüchtige Liebe
Blutsbrüder?
Warum ist der Neandertaler nun eigentlich ausgestorben?
Warum der Homo sapiens erfolgreich war
Hat etwa ein Hund alles verändert?
Das Testament des Neandertalers
MIS-Tabelle
(Marine Isotopenstufen)
Bildnachweis
Schwarzweißabbildungen
Tafelteil
Anmerkungen
1 | Neandertaler, Kind Europas und der Kälte
2 | Der Neandertaler betritt die Bühne der Geschichte
3 | Ein stämmiger Athlet mit kräftigen Fäusten
4 | Neandertaler: Ein an die Kälte angepasster Körper?
5 | Der Neandertaler – Aasfresser, Jäger und Kannibale
6 | Fleisch, Fleisch, noch mal Fleisch und … Datteln
7 | Der Neandertaler hätte eigentlich nicht überleben dürfen
8 | Ein komplexes kulturelles Leben
9 | Die Ankunft des Störenfrieds Homo sapiens im Leben des Neandertalers
10 | Und wenn der Neandertaler immer noch in uns schlummer sollte?
Das Testament des Neandertalers
Register der Fundorte
Taf. I: Dieser Homo heidelbergensis wurde in der «Knochenhöhle» (Sima de los Huesos) von Atapuerca (Nordspanien) geborgen – einem Fundort, von dem 80 % der menschlichen Fossilien stammen, die 400.000 Jahre und älter sind. Den ganz besonderen Bedingungen dieser Fundstätte ist es zu verdanken, dass die Human-DNA über Hunderttausende von Jahren so gut konserviert wurde, dass sie sequenziert werden konnte.
Taf. II: Der Mensch von La Chapelle-aux-Saints (Corrèze) ist der erste jemals in Frankreich entdeckte Neandertaler. Das Fossil wird heute im Musée de l’Homme in Paris aufbewahrt.
Taf. III: Diese alte Photographie zeigt, wie sich der Schädel des Menschen von La Chapelle-aux-Saints seinem Entdecker, dem Kanoniker Jean Bouyssonie, im Jahr 1908 darbot. Mit Hilfe seiner Brüder Amédée und Paul, die beide ebenfalls an der Urgeschichte interessiert waren, legte er das Skelett des ersten Neandertalers Frankreichs frei.
Taf. IV: Diese Schnittspuren stammen von einem scharfen Werkzeug, mit dem ein Neandertaler vom Schulterblatt (oben) und vom Ellenbogen (unten) eines seiner Artgenossen Fleisch ablöste. Die Fossilien wurden an der Fundstätte Krapina in Kroatien entdeckt. Bis heute wissen wir nicht, ob der Kannibalismus der Neandertaler der Ernährung diente oder symbolischer Natur war.
Taf. V: Der Faustkeil – hier ein unvollständiges Exemplar aus Romanèche-Thorins (Saône-et-Loire) – ist ein in Form einer Träne behauener Stein. Er war ein Universalwerkzeug, eine Art ‹Schweizer Taschenmesser› der Altsteinzeit. Er wurde durch beidseitige Abschläge eines rohen Steinblocks erzeugt. Die Faustkeile der Neandertaler sind besonders formvollendet. Wegen seiner allseitigen Symmetrie gilt der Faustkeil als erstes archäologisches Zeugnis für den Sinn des Menschen für Ästhetik.
Taf. VI: Die Herstellung der steinernen Werkzeuge der Neandertaler war kompliziert und erforderte großes Geschick, wie die Prähistoriker bezeugen, die sich an dieser Technik versucht haben. Erstaunlicherweise wurden diese Verfahren, von den Prähistorikern «Moustérien-Industrie» genannt, 300.000 Jahre lang nicht verändert.
Zur Herstellung von Klingen und anderen Werkzeugen durch Abschläge benutzten die Neandertaler die Levallois-Technik, so genannt nach dem Fundort in der Nähe von Paris. Links ein nach dieser Methode hergestellter Schaber aus Solutré (Saône-et-Loire), der vermutlich zur Bearbeitung von Oberflächen wie beispielsweise Häuten verwendet wurde. Rechts ein Messer aus dem Moustérien aus Frettes (Haute-Saône).
Taf. VII: Auch in der Levante gab es Neandertaler. Oben ist das Neandertaler-Fossil Amud 1 von der Seite und von vorn abgebildet. Es stammt von einem etwa fünfundzwanzigjährigen Mann und wurde zusammen mit anderen Fossilien von Erwachsenen und Kindern zwischen 1961 und 1964 von einem israelisch-japanischen Team bei Grabungen im Nordwesten von Galiläa (Israel) geborgen. Der archaische Homo sapiens lebte bereits in der Levante, bevor die Neandertaler durch Amud zogen. Der untere Schädel, Qafzeh 9, stammt von einer Frau; entdeckt wurde er in der Höhle von Qafzeh in der Nähe von Nazareth und ist etwa 92.000 Jahre alt. Qafzeh 9 ist eines der ältesten Homo-sapiens-Fossilien, die außerhalb Afrikas gefunden wurden. Der gute Erhaltungszustand der beiden Fossilien eines Neandertalers und eines Homo sapiens erklärt sich aus dem Umstand, dass sie bestattet worden waren.
Taf. VIII: Das Fossil des Cro-Magnon-Menschen wurde 1868 beim Bau einer Straße entdeckt. Es handelt sich um einen Homo sapiens; heute weiß man, dass er vor etwa 28.000 Jahren starb und der sogenannten Gravettien-Kultur angehört hatte. Er ist demnach nicht einer der ersten anatomisch modernen Menschen in Europa, denn die frühesten Sapiens-Pioniere hatten bereits vor 43.000 Jahren europäischen Boden betreten.
Ein Sommertag im Jahr 2010. Es ist dreizehn Uhr. Im Café Madame warte ich auf Silvana. Ich kenne sie noch nicht. Als Redakteur bei Pour la Science habe ich für meine Zeitschrift über ihre Forschungsarbeit geschrieben. Gemeinsam mit zwei Kolleginnen entdeckte sie drei Untergruppen der Neandertaler, jede mit einer typischen Morphologie. Eine davon, die mediterrane, lebte an den Südrändern Europas.
Als Wissenschaftsjournalist genieße ich das seltene Privileg, Zugang zu Forschern zu haben, und nutze das aus, um mich mit ihrer Hilfe weiterzubilden. Wann immer möglich, versuche ich, mich mit ihnen zu treffen und sie zu befragen. Heute bin ich nun mit Silvana verabredet, und ich freue mich ganz besonders auf sie, denn die Paläoanthropologie, mein Thema bei Pour la Science, fasziniert mich schon seit meiner Kindheit.
Während ich auf Silvana warte, denke ich an diese herrlichen Berge im Département Var in der Provence, an deren Fuß ich das Glück hatte, aufzuwachsen. Dort gibt es jede Menge Höhlen, die zu den verschiedensten Zeiten bewohnt waren. In einer dieser Höhlen, tief versteckt in einem bewaldeten Tal, wurden in den 1970er Jahren Ausgrabungen vorgenommen, und als Kind schlich ich mich damals immer wieder heimlich dorthin. Drei Meter unter dem Abdeckgitter bestaunte ich neugierig in den tiefen Grabungsabschnitten die in den Wänden eingebackenen Tierknochen, Holzkohlereste und Werkzeuge aus Feuerstein.
Ich kannte mich in der Urgeschichte schon ganz gut aus und fragte mich, ob diese Steinwerkzeuge aus dem Moustérien, Aurignacien oder Gravettien stammten. Die Antwort war: aus allen drei Epochen, doch das erfuhr ich erst dreißig Jahre später, als ich endlich auf einen Artikel über die betreffende Höhle stieß. Ich war sprachlos: Ganz unten am Boden der Höhle, in den ältesten Schichten, befanden sich Werkzeuge aus dem Moustérien, Klingen und Schaber, die ein mediterraner Neandertaler vor 20.000 Jahren, lange vor der letzten Eiszeit, unter dem grandiosen Gewölbe aus rotem Fels mit Rauchspuren von Feuern gegenüber dem mir so vertrauten Tal geformt hatte.
Daran muss ich denken, während ich die Gäste mustere, die das Café Madame betreten. Ist sie vielleicht schon eingetroffen? Am Telefon hatte Silvana nur gesagt, sie habe die typischen Merkmale des Neandertalers: blaue Augen und eine eher kleine Statur. Sollte sie so gedrungen sein wie ein Neandertaler? Dank dieser Beschreibung werde ich sie bestimmt gleich erkennen!
Obwohl ich schon seit Jahren in meiner Redaktion für die Urgeschichte zuständig bin, bin ich an dem Tag, an dem ich Silvana begegnen werde, einigermaßen nervös. Die Fortschritte in den Kenntnissen über den Neandertaler, die innerhalb nur einer einzigen Generation erzielt wurden, haben eine Art wissenschaftliche Explosion bewirkt, die mich verunsichert. Ich habe tausend Fragen.
Während ich also die ‹Neandertalerinnen› taxiere, die das Café Madame betreten, kehre ich in Gedanken ans Ende des 20. Jahrhunderts zurück, um den Weg zu ermessen, den die Wissenschaft inzwischen zurückgelegt hat. Damals, vor gar nicht langer Zeit, glaubten die Paläontologen, das Wesentliche über die Entwicklungsgeschichte der Menschheit und damit auch über die Geschichte des Neandertalers, das heißt der Spezies Homo neanderthalensis, begriffen zu haben. Diese menschliche Spezies, unser Vorläufer in Europa, galt als von der Spezies Homo sapiens, also der unseren, ausgelöscht. Homo sapiens, dieser vor ca. 100.000 Jahren aus Afrika gekommene Eroberer, betrat europäischen Boden, etwa 40.000 Jahre bevor ich im Café Madame auf eine Paläoanthropologin mit angeblich neandertalerähnlichen Zügen warte.
Die Vorstellung, die Gene der Neandertaler erforschen zu können, galt bis vor kurzem noch als Science-Fiction. Die Kultur des prähistorischen Homo sapiens konnte natürlich nur überlegener, also komplexer und effizienter gewesen sein als die des Neandertalers. Wie anders sollte man sich auch das Offensichtliche erklären: Bei der Ankunft des modernen Menschen ist der Neandertaler plötzlich verschwunden.
Seit dieser mittlerweile überholten Sicht der Dinge kamen Schlag auf Schlag neue Informationen über den Neandertaler zutage. Seine Welt war komplex, das steht fest. Kann man jedoch wirklich das Leben einer Bevölkerung rekonstruieren, die uns praktisch nichts als ihre Nahrungsabfälle und gebrauchten Werkzeuge hinterlassen hat? Es fällt uns ja schon schwer, das Ägypten der Pharaonen zum Leben zu erwecken. Wie also kann man sich einbilden, diese prähistorische schriftlose Welt auferstehen zu lassen? Je mehr ich über diesen frühen Bewohner Europas erfahre, desto mehr habe ich das Gefühl, dass dessen Welt weit komplexer war als jene, die sich der kleine Junge damals vorstellte, als er unten in einer Grube Feuersteinabschläge aus dem Moustérien untersuchte. Und das irritiert mich: Ich dachte, ich würde den Neandertaler kennen, ich war ihm ja mitten in meinem Wald begegnet. Deshalb möchte ich mit Silvana darüber sprechen, die, das weiß ich, so gut wie alle bekannten Neandertalerfossilien gesehen hat: damit ich verstehe, warum die Bezeichnung «Neandertaler» – üblicherweise der Inbegriff eines ungeschlachten Rohlings – in mir diese Vorstellung gar nicht mehr erweckt.
Warum mich das vor allem irritiert? Es wurde mit der Zeit immer klarer, dass Neandertaler und Homo sapiens sich begegnet sein müssen und zweifellos miteinander verkehrt haben. Sämtliche Paläoanthropologen, so glaubte ich jedenfalls (ich war damals noch nicht ausreichend informiert), waren der Überzeugung, dass die beiden Spezies sich nicht miteinander vermischt hatten – so sollte es die Sequenzierung der mitochondrialen Neandertaler-DANN Ende der 1990er Jahre bewiesen haben. Aber wenn der Neandertaler und der Homo sapiens sich begegnet waren, wie konnte man dann daran zweifeln, dass Ersterer etwas zur genetischen Ausstattung des Zweiten beigetragen haben musste?
Zumindest dachte ich das, denn wie auch den meisten Biologen damals schien es mir unmöglich, dass eine so fragile und lange Struktur wie die Kern-DNA über Zehntausende von Jahren hinweg überdauert haben könnte. Tatsächlich ist die Mitochondrien-DNA mit ihren 16.569 Basenpaaren winzig klein; mit ihren 3,2 Milliarden Nukleotidpaaren ist die DNA in den menschlichen Zellkernen dagegen riesengroß. Wie hätte man sich vorstellen können, dass Jahrtausende nach dem Tod eines Organismus, und nachdem sein Körper den Ansturm von Millionen nekrophager Organismen und Boden-Organismen über sich hatte ergehen lassen, immer noch genügend Zellkern-DNA übrig sein sollte, um sie wiederherzustellen? Undenkbar, absolut undenkbar, und jetzt, im Jahr 2010, sitze ich im Café Madame und kann es nicht fassen …
Und doch geschah das Undenkbare: Im Juni 2010 veröffentlichten die Paläoanthropologen des Teams von Svante Pääbo vom Max-Planck-Institut in Leipzig 60 Prozent der nukleotiden Neandertaler-DNA! Verblüffenderweise hatten sie eine Methode entwickelt, mit der sie Mikrofragmente der Neandertaler-DNA aufspüren konnten, die im Knochen durch den Zerfall zurückgeblieben waren; diese Fragmente konnten sie auslesen und anschließend zusammensetzen. Darüber hinaus hatte dieses Wunder der Wissenschaft eine unerwartete Erkenntnis geliefert: Jeder Bewohner Eurasiens – insbesondere der Europäer – trägt ein bis vier Prozent Neandertalergene in sich. Auch die Neandertaler zählen zu unseren Ahnen!
Das heißt, die beiden verwandten Spezies sind sich tatsächlich begegnet. Über diese neue sensationelle Erkenntnis wollte ich reden, als ich im Café Madame eine Dame erwartete … Als ich aufblickte, sah ich eine dunkelhaarige Frau mit blauen Augen. Waren nicht die Neandertaler zumeist rothaarig oder blond? Silvana, haben Sie mich angeschwindelt?
Und dann fingen wir an, über all die falschen Vorstellungen zu sprechen, die man sich von den Neandertalern machen kann. Das dauerte so lange, dass wir unsere Gespräche im Café Madame, im Poulidor und auch noch anderswo immer weiter fortführten.
Ich wollte so viele Dinge ganz genau wissen, aber Silvana beantwortete nicht einfach meine Fragen. Sie wollte und konnte nur ihre Zweifel beschreiben, ihre, aber auch die ihrer Kollegen sowie die Zweifel, welche diese nicht hatten, aber ihrer Meinung nach hätten haben müssen, denn die Ergebnisse seien … zweifelhaft. Schließlich wurden mir die Bedeutung, die Details, die Formen und Facetten aller nur denkbaren Zweifel klar, die man in Bezug auf die Neandertaler hegen kann, auch wenn man noch so viel über sie weiß. Ich begriff: Keine Zweifel hinsichtlich der Neandertaler zu haben und immer noch zu glauben, sie seien nichts als brutale Burschen gewesen, hieße, sie völlig zu verkennen.
Paradoxerweise entstand, ausgehend von all diesen Zweifeln, vor meinem geistigen Auge ein immer genaueres und lebendigeres Bild des Neandertalers. Ich entdeckte ein fremdartiges Wesen, denn in vielen Punkten unterscheidet sich der Neandertaler tatsächlich von uns; zugleich entdeckte ich einen Menschen, der im Wesentlichen unseren Vorfahren so nah, so vergleichbar mit ihnen ist, dass er als ein menschlicher Bruder erscheint. Diesem Bruder, unserem Bruder, stehen wir viel näher, als wir wissen, und im Übrigen kannte dieses Familienmitglied unsere Vorfahren sehr gut und hatte zwangsläufig großen Einfluss auf sie.
Und so entwickelte sich aus unseren vielen Gesprächen über die Neandertalerforschung nach und nach eine Diskussion. Allmählich bekam ich eine Ahnung von der Bedeutung der einzelnen Informationen über die Neandertalerin und den Neandertaler, über die wir heute verfügen. Schritt für Schritt kamen wir auf selten behandelte Fragen und stellten fasziniert fest, dass wir auf manche von ihnen eine Antwort hatten. Wirklich sicher wussten wir natürlich nichts. Die Jahre gingen ins Land, und es gab immer wieder neue Entdeckungen; im Lauf der Zeit gingen wir die gesamte Neandertalerforschung durch, was uns zum Nachdenken darüber brachte, was das über uns selbst, den Homo sapiens, aussagt.
Kurzum: Bevor wir dieses Buch schrieben, haben wir es uns erzählt. Es ist ein Geflecht aus Zweifeln, doch wenn man es geduldig liest, erhält man ein dem Stand der Wissenschaft entsprechendes, zweifellos zuverlässiges Porträt unseres Bruders, des Neandertalers.
Abb. 1.1: In Europa wechselten Eiszeiten und Zwischeneiszeiten ab. In der oberen Zeichnung ist die Umgebung der Neandertalerhöhle von Goyet in Belgien während einer Kaltphase dargestellt, und zwar im Sommer, denn im Winter lag der Bereich unter tiefem Schnee; das untere Bild zeigt dieselbe Stelle zu Beginn einer Zwischeneiszeit, während der der Galeriewald streckenweise zurückkehrt.
«Die Zeit ist weise, sie offenbart alles.» Thales von Milet[1]
Sie hat rotes Haar und grüne Augen. Man nennt sie Rotbraut, seit sie in dem Alter ist, in dem sie einen Partner haben kann. Sie kauert fröstelnd vor einem Feuer, das das Innere des Unterschlupfs aus Zweigen und Fellen nicht wirklich erwärmt, und versucht sich abzulenken, indem sie dem Heulen des Schneesturms lauscht, als plötzlich von außen Schritte zu hören sind. Starr, nun nicht mehr vor Kälte, sondern vor Angst, greift sie lautlos nach ihrem Speer und hebt ganz sacht das Stück Fell, das die Öffnung verschließt. Durch das Schneegestöber erkennt sie einen … Höhlenbären. Was macht denn der hier?, fragt sie sich, denn jetzt, mitten im Winter, müsste er schlafen. Sie zieht ihre Schuhe an und will gerade hinausstürzen und zum Fluss hinunter fliehen, als der Bär sich auf einmal in einen blutverschmierten jungen Mann verwandelt, der lachend auf einem Fell herumtanzt.
Nordmann ist lebend zurückgekehrt. Er hat einen Bären erlegt, er ganz allein!
Die beiden jungen Neandertaler, die wir hier vorstellen, hätten während der Eiszeit leben können, die Europa vor 50.000 Jahren mit extremer Kälte überzog. Vielleicht hausten sie in dem Wald, der noch heute den Ort Vergisson unweit von Mâcon umgibt. Dort befinden sich Neandertalerfundstätten, die Silvana erforscht. In einer der zahlreichen Höhlen dieser Gegend überraschte Nordmann einen Höhlenbären im Winterschlaf und erlegte ihn, um an sein kostbares Fell zu kommen. Die beiden jungen Leute entstammten zwei benachbarten Clans und folgten möglicherweise einer Tradition der Neandertaler: Beim Eintritt in das Erwachsenenalter stand es den Jungen frei, zwischen den Clans zu wechseln und sich mit einem oder einer aus dem anderen Clan für eine Zeit lang zu paaren … vorausgesetzt, es gab benachbarte Clans. Nachkommen aus solchen Verbindungen mit gemischten Genen waren dem Clan hochwillkommen, denn sie steigerten seine Vitalität. Auch in Rudeln lebende Wildtiere wie der Wolf zeigen ein Reproduktionsverhalten, das den Genaustausch zwischen den Rudeln begünstigt. Funktionierte das bei den Neandertalern vielleicht genauso?
Allerdings war es nicht das Hauptproblem des Neandertalers, sich fortzupflanzen. Sein schlimmster Feind, gegen den er bei Tag und bei Nacht zu kämpfen hatte, war zweifellos die Kälte. Wenn wir die Überlebenstechniken der Neandertaler in der Kälte beobachten könnten, würden wir uns wundern und könnten bestimmt vieles von ihnen lernen. Doch ihr Geschick allein kann ihre Widerstandskraft gegen die Kälte nicht erklären: Auch ihr Körper war daran angepasst, Wärme zu speichern. Die Neandertaler ertrugen die Kälte eindeutig besser als unsere Vorfahren, die Ersten der Spezies H. sapiens, die aus Afrika kamen.
Woher wir das wissen? Als unsere Ahnen den ersten Neandertalern im Nahen Osten begegneten,[2] erforschten sie nicht etwa den Kontinent, der sich vor ihnen erstreckte, nämlich Europa, sondern wandten sich direkt nach Osten. Auf ihrem Weg Richtung Asien[3] gelangten sie nach Australien, bevor sie weiter nach Norden vordrangen, wobei sie für die 5000 Kilometer, die sie von Europa trennten, länger brauchten als für die 15.000 Kilometer Wüste, Wälder, Gebirge, Ebenen und Meere, die sie bis Australien zurücklegen mussten. Warum? Weil sie ‹tropische› Menschen waren.
Freilich gibt es noch heute Vertreter des H. sapiens, die unter polaren Bedingungen leben – zum Beispiel die Inuit –, aber das Überleben dieser Völker der Kälte war nur dank einer langen Anpassung ihrer Ahnen an das Klima in Nordasien möglich. Wie lernten die ersten Ankömmlinge, in der Kälte zu überleben? Gewiss durch trial and error, aber wahrscheinlich auch durch Nachahmung der Neandertaler.
Es ist anzunehmen, dass die ersten Clans des H. sapiens, die sich in Richtung Norden wagten, die Neugier der Neandertaler erregten. Ein Clan, der sich in der Weite einer unermesslichen Natur verliert, in der man sich nur mühevoll fortbewegen kann und nur selten anderen Menschengruppen begegnet, ist natürlich froh, auf eine andere Horde zu treffen, und auch wenn es sich um einen Clan des H. sapiens handelt, überwiegen doch die Neugier und das Interesse an Austausch – nicht zuletzt der Gene. Kein Wunder, dass der H. sapiens früher in Australien als in Europa ankam: Er musste sich erst langsam an die Kälte gewöhnen, aber vor allem auch an diejenigen, welche ihr bereits zu trotzen verstanden.
Denn der Neandertaler war ein Mensch der Kälte. Wenn der H. sapiens ihm im Nahen Osten begegnet sein konnte, dann nur deshalb, weil sich die Neandertaler vor ungefähr 120.000 Jahren[4] während einer gemäßigten Phase, in der Nahrung im Überfluss zur Verfügung stand, stark vermehrten und ihre europäische Wiege verließen. Sie erweiterten ihr Territorium bis nach Mesopotamien und Zentralasien. Davor lebten die Neandertalerpopulationen im Westen Eurasiens, auf der europäischen Halbinsel, wo sie entsprechend dem Rhythmus der Kalt- und Warmzeiten umherzogen.
Die Entwicklungsgeschichte der Neandertaler ist also eine lange und europäische: Ihre Spezies hat sich diversifiziert und während der letzten 400.000 Jahre des Pleistozäns gelebt, also der geologischen Phase, die vor 2,6 Millionen Jahren begann und vor 12.000 Jahren endete. Damals haben sich alle Lebensformen den Bedingungen ihres Habitats angepasst, die somit für die Selektion ausschlaggebend sind. Daher kann man die Biologie und die Lebensweise der Neandertaler und ihrer Vorfahren nicht verstehen, ohne die europäische Umwelt während mindestens der letzten Million Jahre in den Blick zu nehmen.
Das allmähliche Auftauchen der Neandertalerlinie und dessen, was sie auszeichnet, ist in der Tat ein spektakuläres Beispiel dafür, wie das Klima die Lebewesen prägt. Das europäische Klima am Ende des Pleistozäns war nicht stabil: Während der etwa 20.000 Generationen, um die es hier geht (zwanzig Jahre je Generation, womöglich weniger), also während 400.000 Jahren, lösten sich drei große Zyklen von Kalt- und Warmzeiten mit rapiden Klimaveränderungen ab, die sich auf den Lebensraum der Neandertaler auswirkten. Von dieser Klimageschichte kennen wir im kontinentalen Maßstab heute nur die groben Linien. Selbst wenn wir nach 160 Jahren Forschung diese fossile Menschengruppe am besten kennen, gibt es nur wenige, unvollständige, zeitlich über das ganze späte Pleistozän verteilte und über den gesamten europäischen Kontinent verstreute Neandertalerfossilien. Es lassen sich demnach keinerlei Schlüsse ziehen, wenn man sie nicht zeitlich korrekt einordnen kann. Das verweist uns auf das Kernproblem der Urgeschichte, nämlich die Datierung der Fossilien und der Ereignisse der Klimageschichte. Wie geht man dabei vor?
Um Ereignisse zu datieren, die die Klimageschichte unseres Planeten während der 400.000 Jahre der Entwicklung der Neandertaler bestimmten – das heißt während der Periode, in der man den Evolutions- und Adaptionsprozess nachvollziehen kann, der den Neandertaler hervorgebracht hat –, verwenden die Paläontologen heute die Isotopenchronologie. Diese Methode verwendet die marine Sauerstoff-Isotopenstufe, die man mit dem Kürzel MIS (Marine Isotopic Stage) bezeichnet. Mit Hilfe dieses Verfahrens konnte die Klimageschichte jeder Region des Planeten, angefangen bei Europa, zurückverfolgt werden.
Die Zeiten sind lange vorbei, als ein Professor und seine Studenten, ein Amateur oder ein Heimatforscher eine Fundstätte ausgegraben und allein nach der Stratigrafie – nach den Schichtfolgen des Bodens – und der ihr zugeordneten Fauna datiert haben. Heutzutage ähnelt eine urgeschichtliche Grabung einem Bienenstock, in dem sich alle möglichen Spezialisten betätigen. Diese entnehmen den Sedimenten Pollen, Kohlen, Artefakte, Fossilien usw., die sie selbst untersuchen oder in manchmal weit entfernten Laboratorien untersuchen lassen, die über die erforderlichen Präzisionsinstrumente verfügen. Dies betrifft insbesondere die Datierung und die Mikroorganismen, die über Klimageschehen Auskunft geben.
So weit zu gelangen war allerdings gar nicht so einfach, denn der Gedanke, auch das Klima könnte eine eigene Geschichte haben, blieb den Gelehrten bis ins 19. Jahrhundert fremd. Vergessen wir nicht, dass bis dahin die Zeitrechnung der Bibel galt, der zufolge unser Planet kaum älter als 4000 Jahre ist. Als die Wissenschaftler schließlich anerkannten, dass sich die Erde seit der Sintflut geändert hatte, entwickelten sie eine Skala zeitlich aufeinanderfolgender Perioden: die alpine Chronologie. Allgemeingültig bis um das Jahr 1970, findet sie bis heute noch so oft Verwendung, dass wir ihre Entstehung und danach ihre verspätete Ablösung durch die Isotopen-Chronologie kurz darstellen wollen.
Jacques Boucher de Perthes, der französische Vater der Urgeschichte, hat als Erster begriffen, dass die Erde eine geologische Geschichte hat. Als er, ein Zollinspektor, um 1828 mit der Erweiterung eines Lokalmuseums beschäftigt war, wurde er auf mächtige sedimentäre Ablagerungen im Tal der Somme aufmerksam. Darin stieß man auf merkwürdige Stücke aus Feuerstein in Form großer symmetrischer Tropfen. Boucher de Perthes besaß die Kühnheit, die Ansicht zu vertreten, diese Steine, die heute als Faustkeile bezeichnet werden, seien von «vorsintflutlichen Menschen» geformte Werkzeuge. Er verteidigte seine Auffassung beharrlich und behauptete sogar, diese Menschen hätten zur Zeit der großen ausgestorbenen Tiere wie des Mammuts gelebt. Kein Wunder, dass er sich mit einer so verwegenen Aussage – noch dazu als Amateur – den Zorn der Männer der Wissenschaft zuzog, von denen einige ihn sogar vor Gericht bringen wollten.
Andere hingegen unterstützten Boucher de Perthes, denn die Vorstellung von einem hohen Alter der Erde leuchtete ihnen mehr ein als das Gegenteil. Und tatsächlich hatte der deutsche Geologe Johann von Charpentier im Jahr 1818 die These aufgestellt, dass die Alpengletscher einst möglicherweise eine weit größere Ausdehnung gehabt hatten. Dieser Gedanke brachte zwei seiner Zeitgenossen auf eine Idee: den deutschen Botaniker Karl Friedrich Schimper und seinen Freund, den Schweizer Geologen Louis Agassiz. Gemeinsam erarbeiteten diese Wissenschaftler die allererste Theorie der Vergletscherung und formulierten die Hypothese, dass die Moränen und andere Ablagerungen von steinigem Schutt in den Alpentälern von verschiedenen Gletschern zu verschiedenen Zeiten geformt worden waren.
Auf dieser Grundlage erstellten um 1909 die deutschen Geologen Albrecht Penck und Eduard Brückner die alpine Chronologie. Sie unterschieden zwischen vier großen Zyklen der Vergletscherung in den Alpen, die sie nach den alpinen Donauzuflüssen Günz, Mindel, Riss und Würm benannten. Ihnen entsprachen drei Interglazialzeiten: Günz-Mindel, Mindel-Riss und Riss-Würm. Die Günz-Vergletscherung liegt zeitlich zwischen 600.000 und 540.000, die der Mindel zwischen 480.000 und 430.000, die der Riss zwischen 240.000 und 180.000 und die der Würm zwischen 120.000 und 10.000. Obwohl immer noch vielfach in Gebrauch, ist diese Chronologie ungenau, denn bei jeder Vergletscherung überlagern die Gletscher teilweise die in den Alpentälern hinterlassenen Spuren der vorherigen Kältephasen. Und kann man überhaupt ein chronologisches System, das auf Beobachtungen im Hochgebirge beruht, auf die Ebene von Rom anwenden, wo das Klima durch das nahe Meer gemildert wird? Erst in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts räumten die Paläohistoriker langsam ein, dass die alpine Chronologie weit entfernt von den Alpen nur bedingt aussagekräftig ist.
Einige Paläoanthropologen hatten indes das Problem schon längst erkannt. Um 1944 hatte der berühmte italienische Paläoanthropologe Sergio Sergi zum Beispiel versucht, den ersten vollständigen Schädel eines Neandertalers zu datieren: ein Fossil, das 1929 in Saccopastore bei Rom entdeckt wurde und das Silvana in allen Einzelheiten untersucht hat.[5] Sergi stellte fest, dass der Neandertaler von Saccopastore nach der alpinen Chronologie in einer kalten Klimaperiode hätte leben müssen, dass aber die Blütenpollen und die Fauna, die bei ihm gefunden wurden, eindeutig auf ein gemäßigtes Klima verweisen. Um diesen Widerspruch zu lösen, machte er auf die astronomische Klimatheorie von Milutin Milanković aufmerksam, die, weil sie 1941 und auf Deutsch veröffentlicht worden war, nicht die verdiente Anerkennung gefunden hatte.
Diesem hervorragenden Wissenschaftler, der zugleich Ingenieur, Mathematiker, Geophysiker, Astronom und Klimaforscher war, kam während seiner Haft in den Gefängnissen des Habsburgerreiches, wo häufig serbische Nationalisten eingesperrt waren, der Gedanke, dass die Vergletscherungen und der Gletscherrückgang jeweils von den zyklischen Schwankungen des Erdumlaufs verursacht werden. Drei Rhythmen bestimmen diese Schwankungen: eine lange und unbeständige Periode zwischen 413.000 und 100.000 Jahren und zwei kürzere, 40.000 und 21.000 Jahre vor heute. Weil sie den Abstand zwischen Sonne und Erde verändern, variieren diese Rhythmen die Stärke der Sonneneinstrahlung, so dass die Kenntnis dieser drei astronomischen Parameter – der Milanković-Parameter – ausreicht, um die Sonnenenergie zu berechnen, die auf die eine oder andere Region der Erde im Lauf der geologischen Zeitalter traf.
Somit wird in Zeiten schwacher Sonneneinstrahlung auf der Nordhalbkugel die Bildung von Eiskappen begünstigt (Inlandeis). Sind diese riesigen Gletscher erst einmal entstanden, speichern sie immer mehr Niederschläge. Aufgrund ihrer thermischen Trägheit entlassen sie das Wasser erst mehrere Tausend Jahre nachdem durch die Änderung der Parameter der Erdumlaufbahn wieder erhöhte Einstrahlung die Erde erreicht. Die Stärke der Sonneneinstrahlung wird auch dadurch beeinflusst, dass die Eiskappen, die sich auf einer Erdhalbkugel gebildet haben, den größten Teil der Sonnenstrahlen ins All reflektieren. Außerdem hat die thermische Trägheit zur Folge, dass es vieler Jahrhunderte bedarf, um eine kilometerdicke Eisschicht zum Abschmelzen zu bringen.
Die Komplexität der astronomischen Klimatheorie erklärt, warum sie erst Anfang der 1980er Jahre vorbehaltlos akzeptiert wurde, als dank der Arbeiten von Cesare Emiliani die Schwankungen der durchschnittlichen Erdtemperatur bestätigt wurden. Ende der 1940er Jahre emigrierte der italienische Geologe in die Vereinigten Staaten, um dort die Chemie der Isotopen zu erforschen, diese Versionen ein und desselben Atoms, die unterschiedliche Atommassen aufweisen. Dank der Sauerstoffisotope (O18 und O16) konnte er nachweisen, dass im Lauf der vergangenen 400.000 Jahre die Oberflächentemperatur des Karibischen Meeres entsprechend den Vorhersagen von Milutin Milanković schwankte.[6]
Und schließlich wurden die Zyklen der durchschnittlichen Erdtemperatur durch die Erforschung einer anderen bedeutenden Komponente der Klimamaschine nachgewiesen: der Meeresströmungen. So befördert der Golfstrom zum Beispiel Wärme aus dem Golf von Mexiko bis zur Westflanke Europas, was dazu führt, dass die Winter in Frankreich gemäßigt sind, in Kanada, das auf demselben Breitengrad auf der anderen Seite des Atlantiks liegt, dagegen frostig. Durch den Zufluss großer Mengen an Süßwasser im Zuge des Abschmelzens der nordamerikanischen Eisschilde kam es im Lauf der Zeit zu erheblichen Schwankungen in der Meereszirkulation. Diese Schmelzphasen, Heinrich-Ereignisse genannt, sind in den Meeressedimenten in Form charakteristischer Ablagerungen aus von Eisbergen verschleppten Materialien nachweisbar.
Heute hat sich die astronomische Klimatheorie durchgesetzt, ergänzt durch die Erforschung der Schwankungen der Temperatur und der Meeresströmungen in der Vergangenheit. Die sechzehn MIS-Ereignisse innerhalb der Zeitspanne, die uns hier interessiert, das heißt der letzten 700.000 Jahre, gestatten uns nun, sowohl die der Neandertalerlinie vorausgehenden Fossilien (älter als 400.000 Jahre) als auch die der Präneandertaler (ab 400.000) und der Neandertaler (von 200.000 bis 40.000) einer geologischen Periode und einem Klima zuzuordnen. Entsprechend können die physischen Merkmale dieser Menschen besser verstanden werden, indem wir sie mit dem Selektionsdruck ihrer jeweiligen Umwelt in Zusammenhang bringen. So können wir auch eher ermessen, inwieweit niedrige Temperaturen und deren Folgen für den Lebensraum die lange Geschichte der Neandertalerlinie geprägt haben.
Um die Umweltbedingungen zu rekonstruieren, die in Europa im Lauf der verschiedenen MIS-Isotopenstufen herrschten, analysieren die Prähistoriker genauestens den Boden der Standorte, die jeweils einer dieser Perioden zugeordnet werden: Sie sieben die Sedimente auf der Suche nach feinen Knochen, winzigen Zähnen (von kleinen Säugetieren, Fischen und Vögeln), nach Pollen und Sporen. Das Vorhandensein oder das Fehlen dieser Mikrofossilien, verbunden mit der Analyse der Makrofauna, liefert präzise Hinweise auf die klimatischen Bedingungen des Standorts und seiner Umgebung. Mithilfe einer Gesamtschau aller dieser Daten erfuhr man nach und nach, wie unser Kontinent in der Eiszeit aussah. Steigen wir in eine Zeitmaschine und machen einen Ausflug in das Europa des Neandertalers.
Das Klima in Europa veränderte sich während des Pleistozäns ständig und brachte in den Glazialen Tierwelten und Landschaften hervor, die sich von denen der Interglazialen deutlich unterschieden. In den Zwischeneiszeiten wurde das Klima wärmer und oft auch feuchter. Die Natur wurde üppiger, der Wald breitete sich wieder aus; der Meeresspiegel stieg an, die Küsten wurden überflutet.
Im Übrigen wurde auch die Wanderung der fernen Vorfahren der Neandertaler von Afrika nach Europa vor ungefähr 500.000 Jahren durch eine Zwischeneiszeit begünstigt. Nur wenige Vertreter des Homo heidelbergensis gelangten nach Europa und verbreiteten sich auf einem riesigen Territorium, in dem es nahezu keine menschlichen Konkurrenten gab. Unser Kontinent war damals – und das gilt für jedes Interglazial – durchaus vergleichbar mit dem Europa von heute, wenn wir uns die Autobahnen, den Beton und die Felder wegdenken und uns vorstellen, dass der Wald wieder alles bedeckt und Wölfe, neben einigen Großkatzen (wie Löwe, Panther und Luchs), Hyänen und Bären, das Terrain beherrschen.
Entlang der Flüsse hielten Auerochsen, Nashörner und Elefanten große Bereiche von Vegetation frei, in denen die Clans der Jäger den Großteil ihres Bedarfs an Wildbret deckten. Die Menschen teilten sich den Lebensraum mit dem Hirsch, dem Megaloceros (ein Riesenhirsch mit gigantischem Geweih), dem Reh, dem Damwild und dem Wildschwein. Der Bison, die Saiga-Antilope, das Wollhaarnashorn und das Rentier kamen im Mittelmeerraum nicht vor, sie hatten sich weiter nach Nordeuropa und nach Sibirien zurückgezogen.
Nutzbare pflanzliche und tierische Biomasse war reichlich vorhanden, befand sich jedoch vor allem in den dichten, gefährlichen und schwer zugänglichen Wäldern. Zwar nutzten die Menschen in den Warmphasen zweifellos mehr pflanzliche Ressourcen als in den kalten Perioden, doch sie sammelten Essbares vor allem auf Lichtungen und entlang der Flüsse. Meistens genügten das Sammeln und gelegentliche Jagd zum Überleben, und sie konnten sich vermehren, sich auf größere Gebiete ausbreiten und sogar einen Teil Asiens besiedeln.
In den Eiszeiten dagegen gingen die Bevölkerungszahlen aufgrund des rauen Klimas zurück: Die Gletscher des Nordens breiteten sich aus, und bewohnbares Gelände wurde knapper, wohingegen die Steppe, die Tundra, die Taiga und ganz allgemein offene Landschaften südlich der Eismassen vorherrschten. Gleichzeitig sank der Meeresspiegel. Nordfrankreich zum Beispiel sah wohl häufig aus wie die heutige kanadische Arktis. Für die Jäger wurden die Lebensbedingungen hart, jedoch keinesfalls unerträglich. Die Rückkehr der Kälte führte zu entscheidenden Umweltveränderungen. Gräser, Flechten und Moose gewannen an Boden gegenüber den bewaldeten Flächen; die Tundra-Steppe breitete sich über weite Gebiete aus und schuf eine für die Entstehung von Herden großer Pflanzenfresser und eine Zunahme der tierischen Biomasse günstige Situation.
Trotz der niedrigen Temperaturen wimmelte es in den Steppen um die Eismassen von Bisons, Pferden, Mammuts, Wollhaarnashörnern, Moschusochsen und Rentieren. Für die Jäger und Sammler waren diese Herden eine leicht zu jagende, reichlich vorhandene und in der offenen Landschaft unschwer auszumachende Ressource.
Mit dem Sinken des Meeresspiegels tauchten beträchtliche Teile der kontinentalen Randbereiche auf (die sich heute unter Wasser befinden). Waren sie weit genug von den Eisschilden entfernt, konnten sie sich bald in Tundren verwandeln, und das lockte die Herden und deren Fressfeinde an, darunter auch die Jägergruppen. Auf dem Höhepunkt der Vergletscherung waren die Nordhälfte Europas sowie die Pyrenäen und die Alpen von Eis bedeckt. Südlich der (nördlichen) Gletscher dehnten sich riesige Steppen aus, und um das Mittelmeer herum wuchsen wieder die Wälder.
Während der Eiszeiten bildete das heutige Vereinigte Königreich mit Frankreich zusammen lange Zeit eine Landmasse, so dass der Vorfahr der Neandertaler, der Homo heidelbergensis, und der Präneandertaler dorthin vordringen konnten. Vor über 200.000 Jahren, im mittleren Pleistozän, gab die natürliche Barriere der Hügel nach, die die Süßwassermassen aufgestaut hatte, die sich nach jeder Schmelze an der Stelle der Nordsee angesammelt hatten.[7