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BRIGITTE MAZOHL UND ROLF STEININGER

Geschichte Südtirols

C.H.Beck


Zum Buch

Seit 15.000 Jahren leben Menschen in der Gebirgslandschaft, die wir Südtirol nennen. Von 59 v. Chr. bis zur Völkerwanderungszeit gehörte diese Transitregion zum Imperium Romanum, ab dem 6. Jahrhundert wurde sie von Bajuwaren besiedelt. 1363 fiel die Grafschaft Tirol an die Habsburger – für über ein halbes Jahrtausend.

1919 wurde der Süden Tirols vom nördlichen und östlichen Landesteil abgetrennt: Das damit entstandene Südtirolproblem – Italianisierung durch die Faschisten, Hitler-Mussolini-Abkommen, Option und Umsiedlung, dann nach dem Gruber-DeGasperi-Abkommen 1946 lediglich eine Scheinautonomie – wurde erst in den 1990er Jahren gelöst. Diese Autonomie hat für viele Modellcharakter.

Über die Autoren

Brigitte Mazohl war von 1993 bis 2015 Professorin für österreichische Geschichte an der Universität Innsbruck. In den Jahren 2013 bis 2017 stand sie der philosophisch-historischen Klasse der Österreichischen Akademie der Wissenschaften als Präsidentin vor.

Rolf Steininger lehrte als Professor für Zeitgeschichte an zahlreichen Universitäten, unter anderem in Queensland, Bozen, Tel Aviv und New Orleans. Von 1984 bis 2010 war er Leiter des von ihm gegründeten Instituts für Zeitgeschichte an der Universität Innsbruck. Mehr zu Rolf Steiniger unter www.rolfsteininger.at.

Inhalt

Einleitung

1. KAPITEL: Grenzenloser Alpenraum

Der «Mann im Eis»

Kupfer- und Bronzezeit

Laugen-Melaun-Kultur und Fritzens-Sanzeno-Gruppe

2. KAPITEL: An der Peripherie des Imperium Romanum

Feldzüge der Römer

Römische Einflüsse auf die Alpenregion

Das Ende des weströmischen Imperiums

3. KAPITEL: Unter wechselnden Herrschaften:
Wem «gehört» der südliche Alpenraum?

Der Ostgotenkönig Theoderich

Fränkische und oströmische Herrschaft

Langobarden und Bajuwaren

Karl der Große

Romanische Bevölkerung und germanische Führungsschicht

4. KAPITEL: Zwischen Kaisern und Päpsten:
Die Bischöfe als weltliche Herrschaftsträger

Die Herrschaft der Karolinger

Die Bedeutung des Regnum Italicum

Die Zeit der Ottonen

Salische Herrschaft

Der Investiturstreit

Das Leben der einfachen Leute

5. KAPITEL: Eines Fürsten Traum:
Die Landwerdung Tirols

Die geistlichen Herrschaften

Das Machtstreben der weltlichen Fürsten

Deutscher Thronstreit

Unter der Herrschaft Friedrichs II.

Albert von Tirol und der Aufstieg seiner Nachkommen

Meinhard II., der Begründer Tirols

Landwirtschaft und Städtebildung

Gesellschaftliche und kulturelle Entwicklungen

6. KAPITEL: Unter Habsburgs Szepter:
Tirol wird «österreichisch»

Meinhards Nachfolger

Die Doppelwahl 1314

Das Ende der böhmisch-luxemburgischen Herrschaft in Tirol

Der Große Tiroler Freiheitsbrief

König und Gegenkönig

Herrschaftswechsel in Tirol

Erste Landesordnungen

Wirtschaftliche und soziale Entwicklungen und die Auswirkungen der Pest

7. KAPITEL: Zwischen Fürstbischöfen und Ständen:
Die Festigung der landesfürstlichen Macht

Friedrich IV. mit der leeren Tasche

Landesfürst und Kirchenfürsten

Sigmund, «der Münzreiche»

Wirtschaftlicher Aufschwung

8. KAPITEL: An der Schwelle zur Neuzeit:
Im Zentrum und am Rand der «großen Politik»

Maximilian I.

Ferdinand I. und die Bauernaufstände

Die Einführung der Post und das Aufblühen der Kultur

9. KAPITEL: Heiliges Land? Die Zeit der Gegenreformation

Das Erstarken der landesfürstlichen Position unter Ferdinand II.

Die Statthalterschaft Maximilians III.

Leopold V. und Claudia de’ Medici

Bevölkerungswachstum, Versorgungsengpässe und der Ausbau des Schulwesens

10. KAPITEL: Am südlichen Rand der Monarchia Austriaca

Die Eingliederung der tirolischen Linie in das habsburgische Gesamthaus

Tirol zwischen den Fronten

Die Zentralisierung nimmt zu

Städtewachstum und wirtschaftliche Stagnation

11. KAPITEL: Reform und Widerstand

Der Österreichische Erbfolgekrieg

Administrative Reformen Maria-Theresias

Die Kirchenreform Josephs II.

Rückkehr zur alten Ordnung unter Leopold II.

Die Koalitionskriege

Andreas Hofer und der Tiroler Volksaufstand

Wirtschaftliche Armut, kultureller Reichtum

12. KAPITEL: «Deutsche» und «italienische» Nation als verfeindete Nachbarn

Die Leitidee vom ethnisch homogenen Nationalstaat

Vormärz in Tirol

Spaltung, nationale Zwietracht und religiöse Spannungen

Februarpatent und Protestantenpatent

Die «Fatti di Innsbruck» im Jahr 1904 und innenpolitische Veränderungen in Tirol

Beginn des Fremdenverkehrs und Bildungsexpansion

13. KAPITEL: Der Erste Weltkrieg und die Teilung Tirols

Kriegseintritt Italiens

Die Kämpfe am Isonzo 1915 bis 1917

Die Stimmung in Tirol

Kriegsende und Besetzung Südtirols

Militärregierung in Südtirol

Die Teilung des Landes verhindern

Das Diktat von Saint Germain

14. KAPITEL: Faschismus und Nationalsozialismus

Entnationalisierung, Italianisierung, Majorisierung

Der «Anschluss» Österreichs

Die Option

Die Umsiedlung

Die «Operationszone Alpenvorland»

15. KAPITEL: Der schwierige Weg zur Autonomie

Keine Rückgabe Südtirols

Von der Pustertal-Lösung zum Gruber-De Gasperi-Abkommen

Von «Los von Trient!» zur UNO

Attentate, 19er-Kommission und das Nein der Tiroler

Das Paket

Gegenwart und Ausblick

Bibliographie

(Auswahl)

Personenregister

Karten

Einleitung

Südtirol, so wie wir es heute kennen, gibt es erst seit dem Vertrag von Saint Germain-en-Laye vom 10. September 1919. Das war der Tag, an dem die österreichische Delegation nach der Niederlage des Ersten Weltkriegs den von den Siegermächten ausgearbeiteten Friedensvertrag unterzeichnete. Die Entstehung der heutigen italienischen Provinz Südtirol-Alto Adige (inzwischen verbreitet sich im Italienischen auch die Bezeichnung «Sudtirolo») im Rahmen der Region Trentino-Alto Adige konnte daher im Jahr 2019 ihr hundertjähriges Jubiläum «feiern», ein Ausdruck, der die Stimmung der deutschsprachigen Bevölkerung im Land aber wohl bis heute nicht zutreffend wiedergibt.

Die Bezeichnung «Südtirol» gab es freilich schon länger; dieser Begriff hat sich im Laufe des 19. Jahrhunderts eingebürgert, um die südlichen, d.h. die italienischsprachigen Teile des Kronlandes Tirol zu benennen. Er wurde synonym für «Welschtirol» oder, wie der Name von italienischer Seite lautete, für das Trentino verwendet. In den Jahrhunderten zuvor gab es weder den Begriff «Südtirol» noch eine geopolitische Einheit, die damit gemeint sein konnte, was freilich nicht heißt, dass es die Gebiete an Etsch, Eisack und Rienz nicht schon seit Urzeiten gegeben hat.

Diese kurze begriffsgeschichtliche Klärung muss einer «Geschichte Südtirols» vorausgeschickt werden. Denn zunächst muss klargestellt sein, dass es sich dabei im Großen und Ganzen – bis 1919 – lediglich um jenen Raum handelt, der heute Südtirol genannt wird. Dieser Raum aber ist über viele Jahrhunderte hinweg nicht zu trennen von jener größeren Einheit, die sich seit dem hohen Mittelalter, also im 12. und 13. Jahrhundert, zu einem Land, zur Grafschaft Tirol, herausgebildet hatte. Das Land Tirol, das ursprünglich eine eigenständige politische Einheit darstellte, wurde im Jahr 1363 erstmals mit dem Hause Habsburg und auf diese Weise mit dem künftigen Schicksal des Hauses und Staates Österreich verbunden. Die Geschichte Südtirols war somit vom Hochmittelalter bis zum Ersten Weltkrieg immer auch mit der Geschichte Tirols und Österreichs eng verwoben.

In den Jahrhunderten zuvor war auch von Tirol noch keine Rede gewesen; dieser Name tauchte erst im Hochmittelalter, im 12. und 13. Jahrhundert, in Verbindung mit den Grafen von Tirol auf, die als Vögte der Bischöfe von Trient und Brixen allmählich die Macht im Lande an sich rissen. Ihr Kernland, dem bald auch der Name des Grafengeschlechts als «dominium Tyrolis» übertragen wurde, war der Raum rund um Meran, das Etschtal, das Burggrafenamt und der Vinschgau.

Diesen Entwicklungen waren im 11. Jahrhundert jene wichtigen politischen Entscheidungen vorausgegangen, die in unserem Raum erstmals den Grundstein für die spätere Landwerdung legten: Damals übertrugen nämlich mächtige Kaiser des Heiligen Römischen Reichs die Grafschaftsrechte an ihre Gefolgsleute, die Bischöfe von Trient und Brixen, wodurch der Bischof von Trient die weltliche Gewalt über Trient, Bozen und den Vinschgau, der Bischof von Brixen die Herrschaft über das Eisack- und Inntal sowie über das Pustertal erhielt. Mit der Übertragung dieser weltlichen Machtbefugnisse wurden die Bischöfe zu wichtigen politischen Akteuren, denen später auch Sitz und Stimme an den Reichstagen zukam. Da die militärische Verteidigung ihrer Gebiete nicht von den Fürstbischöfen selbst übernommen werden konnte, übertrugen sie diese Aufgabe an ihre Vögte. Damit wurde der Grundstein für die länger andauernden Konflikte zwischen den geistlichen Oberhirten und ihren weltlichen «Verwaltern» gelegt.

Wenn wir noch weiter zurückblicken, so sehen wir im Frühmittelalter den politisch noch kaum strukturierten Raum als Austragungsort von Konflikten und Begegnungen zwischen der hier seit der Römerzeit romanisierten Bevölkerung, eingewanderten Bajuwaren, Langobarden, Alemannen und im Osten auch Slawen; bis er sich im 8. Jahrhundert als Teil des Herzogtums Bayern und – wenig später – des Fränkischen Reichs wiederfand, der Vorgängerinstitution des Heiligen Römischen Reichs, dessen Kaiser die Bischöfe hierzulande, wie erwähnt, mit den Grafschaftsrechten ausgestattet hatten.

Die Zeit der römischen Besiedlung reicht in unserem Raum von der vorchristlichen Zeit bis etwa in die Zeit um 600 n. Chr., nachdem Drusus mit seinem berühmten Feldzug im Jahr 15. v. Chr. den Alpenraum erobert hatte. Wo genau die «Grenze» zwischen dem Imperium Romanum und den zuvor hier siedelnden Ethnien verlaufen sein könnte, ist in der Forschung bis heute umstritten. Die Frage hat im 19. Jahrhundert, als es darum ging, nachzuweisen, dass «Südtirol» immer schon «deutsch» bzw. «italienisch» gewesen sei, viel Gelehrtenstreit hervorgebracht. Einer befriedigenden Antwort auf diese aus wissenschaftlicher Sicht ohnehin problematische Frage steht schon allein die heutige moderne Vorstellung einer Grenz-«Linie» im Wege. Dazu waren die Gebiete, die in der damals üblichen Praxis allenfalls durch Grenzsteine markiert wurden, zu sehr ineinandergreifend. Tatsache bleibt auf Grund der wenigen schriftlichen Zeugnisse und vor allem der archäologischen Funde, dass der römische Einfluss bis in den Raum der Breonen, d.h. in das heutige Inn- und Wipptal reichte. Das Imperium selbst endete allerdings bereits nördlich von Trient und «grenzte» dort an die römischen Provinzen Noricum im Osten und Rätien im Westen, die nicht unmittelbar zum Imperium gehörten.

Für die Jahrtausende vor der Römerzeit geben lediglich archäologische Funde Aufschluss über eine in der Jungsteinzeit allmählich sesshaft werdende Bevölkerung. Neue Einsichten und neue Impulse erhielt die Wissenschaft durch den im Jahr 1991 erfolgten Fund des «Mannes im Eis», weshalb auch die breite Öffentlichkeit heute sehr viel besser über die Lebensbedingungen des 3. Jahrtausends v. Chr. informiert ist. Am Beispiel des heute liebevoll, aber nicht wirklich präzise, «Ötzi» genannten «Mannes im Eis» zeigt sich einmal mehr die Problematik eines mutmaßlichen Grenzraumes: Es folgte ein jahrelanges Tauziehen um die politische Zuordnung der Gletschermumie, also um die Frage, ob er Österreich oder Italien überlassen werden solle. Die Zugehörigkeit konnte lange nicht geklärt werden. Der Grenzraum zu «Ötzis» Zeiten und darüber hinaus umfasste allerdings lediglich das Hochgebirge zwischen Ötz- und Schnalstal. Dieses aber war mehr Brücke als Barriere.

Abschließend ist es uns ein Bedürfnis, verschiedenen Personen unseren herzlichsten Dank auszusprechen. Zunächst ist Herrn Stefan von der Lahr dafür zu danken, dass er mit der Idee eines solchen Bandes an uns herangetreten ist. Ihm und Frau Teresa Löwe danken wir sehr für das gründliche Lektorat. Weiters danken wir allen Autoren, welche die vier Bände des Handbuchs zur «Geschichte des Landes Tirol» verfasst haben, nämlich Josef Fontana, Peter Haider, Walter Leitner, Georg Mühlberger, Rudolf Palme, Othmar Parteli und Josef Riedmann, für ihre beeindruckende Pionierarbeit, mit der sie einen Grundstock für unsere Kenntnisse von der Geschichte Tirols und Südtirols gelegt haben. Ganz besonders habe ich, Brigitte Mazohl, Günter Kaufmann und Josef Riedmann für die kritische Lektüre der von mir geschriebenen Texte zu danken, Günter Kaufmann für die Zeit der Ur- und Frühgeschichte sowie des Imperium Romanum, Josef Riedmann zunächst für das Früh- und Hochmittelalter, in der letzten Phase dann für alle Kapitel. Heinz Noflatscher verdanke ich nützliche Hinweise für die Frühe Neuzeit. Ein besonderer Dank gilt last but not least Alexander Piff für die Erstellung des Registers und seine hilfreiche Unterstützung bei der Beschaffung von Literatur und Kartenmaterial sowie für die gründliche Lektüre der ersten zwölf Kapitel dieses Buches. Dem Beck-Verlag ist für die Aufnahme in Beck Paperback zu danken.

Brigitte Mazohl und Rolf Steininger

Oktober 2019

1. KAPITEL

Grenzenloser Alpenraum

Die frühesten von Menschen hinterlassenen Spuren im heutigen Südtirol reichen in die späte Altsteinzeit (Spätpaläolithikum) zurück, als der Zentralalpenraum nach dem Rückzug der würmzeitlichen Gletscher (16.000–​13.000 v. Chr.) allmählich für Menschen zugänglich wurde und Besiedlung erlaubte. Aus den südlichen und nördlichen Voralpenregionen drangen Jäger und Sammler in die höher gelegenen Alpentäler vor und hinterließen dort (spärliche) Zeugnisse ihrer Überlebenskunst: Steinwerkzeuge, zumeist aus Silex (Feuerstein) und Bergkristall gefertigt, sowie Siedlungsreste unter Felsdächern und Felsüberhängen, die ihnen als Zuflucht und Rastplätze dienten.

Aus der mittleren Steinzeit (Mesolithikum), d.h. aus den Jahrtausenden zwischen etwa 9000 und 5500 v. Chr. finden sich – wiederum unter schützenden Felsüberhängen – vermehrt Spuren von Jägerrastplätzen. Doch entstanden damals in Tälern auch bereits Niederlassungen, die länger von Menschen bewohnt wurden, wofür sich offenbar der Raum um Trient besonders anbot.

Obwohl auf Grund der spärlichen Zeugnisse dieser frühesten Zeit wenig Genaues über die Lebensformen der damaligen Menschen ausgesagt werden kann, lässt sich aus den Überresten ihrer Gerätschaften (ergänzende Materialien wie Holz oder Knochen haben sich naturgemäß nicht erhalten) auf die Bearbeitung ihrer erlegten Beute, vermutlich vor allem Gämsen und Steinböcke, schließen. Auch lassen sich – dem topografischen Verlauf der Fundorte entsprechend – die Routen erkennen, auf denen die jagenden und sammelnden Wanderer unterwegs waren und wo sie während der Wintermonate, wenn das Hochgebirge unzugänglich war, ihre Niederlassungen anlegten.

Erst an der Schwelle von der Mittelsteinzeit zur Jungsteinzeit (Neolithikum) vollzog sich auch im Alpenraum der allmähliche Übergang von den Jäger- und Sammlergesellschaften zur produzierenden bäuerlichen Wirtschaftsform und damit zu Sesshaftigkeit. Seit der zweiten Hälfte des 6. Jahrtausends v. Chr. lassen sich dank Überresten aus geschliffenem und poliertem Stein und von Tonscherben Spuren bäuerlicher Siedlungskulturen nachweisen: Die ersten Zeugnisse frühneolithischer Keramik im heutigen Südtirol wurden Ende der 1970er Jahre unterhalb der Kirche von Völser Aicha aufgefunden. Ob diese «neolithische Revolution» in Südtirol durch Einwanderung oder Kulturübertragung ausgelöst wurde, ist nicht geklärt. Die neuen Wirtschaftsformen verbreiteten sich jedenfalls langsam, aber stetig und brachten vollkommen veränderte Lebensweisen mit sich.

So verweisen Knochenfunde erstmals auf die Haltung von Nutztieren. Damit genügten Felsüberhänge, Höhlen und Zelte als temporäre Wohnstätten nicht mehr, denn das Vieh musste in Ställen untergebracht, Waldgebiete für Felder gerodet und bewirtschaftet werden. Angebaut wurde neben Weizen auch Gerste, darauf lassen verkohlte Samenkörner schließen. Die Jagd auf Hirsche und Rehe verlor demgegenüber an Bedeutung und diente nun wohl hauptsächlich dazu, Rohmaterial (Horn) zur Geräteherstellung zu gewinnen. Steinwerkzeuge wurden in verfeinerter Weise bearbeitet, Pfeilspitzen weisen sogar schon einen annährend dreieckigen Grundriss auf. Keramikfunde wiederum belegen einen vorherrschenden oberitalienischen Kultureinfluss.

Der «Mann im Eis»

Dieses bis dahin nur in Spezialistenkreisen verbreitete Wissen erfuhr in den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts durch einen Zufallsfund einen unerwarteten Zuwachs – und das Thema «Steinzeit» eine kaum vorstellbare Popularisierung. Damit einher ging ein enormer, in bestimmten Bereichen sogar grundlegender Fortschritt der wissenschaftlichen Prähistorie: Am 19. September 1991 war die später als «Mann im Eis» bezeichnete Gletschermumie aus der Kupfersteinzeit (4. Jahrtausend v. Chr.) von einem deutschen Ehepaar in den Ötztaler Alpen entdeckt und von Archäologen rasch als urgeschichtlicher Sensationsfund klassifiziert worden. Nie zuvor stand aus dieser frühen Zeit derart gut erhaltenes «Fundmaterial» zur Verfügung; präsentierte sich doch der «Mann im Eis», der zwischen 3350 und 3100 v. Chr. gelebt hatte, nicht einfach als Skelett, sondern war körperlich intakt im Gletschereis mumifiziert worden. Sogar seine Kleidung und die von ihm mitgeführten Werkzeuge hatten sich über die Jahrtausende hinweg außergewöhnlich gut erhalten. Selbst sein Mageninhalt und der Abnutzungsgrad seiner Zähne konnten später noch medizinisch analysiert werden.

Die Rekonstruktion von Bekleidung und Ausrüstung dieses «einzigartigen» Fundes (Konrad Spindler) vermittelte erstmals ein sehr genaues Bild eines vorgeschichtlichen Menschen und seiner Umwelt. Gras (für die Überbekleidung), Schafs- und Ziegenfell (für das knielange Obergewand und die Beinkleider), Kalbsleder (für den Gürtel), Schafsleder (für den Lendenschurz) dienten als Grundmaterialien seiner Ausstattung, tierische Sehnenfasern und Gräser als Nähfäden. Von besonderem Interesse waren auch die Schuhe, die übrigens weltweit als ältester Fund von Schuhen überhaupt gelten: Ihre Untersohle bestand aus dem Fellstück eines Braunbären, das Oberleder aus Hirschfell, ein aus Lindenbast geflochtenes Netz umschloss das zum Schutz gegen die Kälte in die Schuhe gestopfte Heu. Die Mütze der Gletschermumie war ebenfalls aus Bärenfell gefertigt und wurde am Kopf mit Lederbändern fixiert.

Auch die Werkzeuge und Waffen, die der «Mann im Eis» mit sich trug, vermittelten im Gegensatz zu früheren, meist nur rudimentären Fundüberresten ein sehr kohärentes und anschauliches Bild von der Lebenswelt eines prähistorischen Menschen. Vor allem das vollständig erhaltene Kupferbeil mit Holm aus Eibenholz ermöglichte die genaue zeitliche Datierung in die Kupfersteinzeit, als neben die bis dahin üblichen Steinwerkzeuge (und -waffen) regelmäßig auch Metallobjekte traten (daher die Epochenbezeichnung: Chalkolithikum). Das Kupferbeil diente wohl vorwiegend zum Fällen von Bäumen, war jedoch auf Grund seiner Seltenheit sicher auch ein Distinktionsmerkmal für den hohen sozialen Rang seines Trägers. Der Dolch aus Silex mit einem Griff aus Eschenholz diente vor allem zur Herstellung des Bogens, während der überaus seltene Retuscheur aus Lindenholz seinerseits für die Bearbeitung von Silexgeräten gebraucht wurde. Über diese Gerätschaften hinaus fand man im Umfeld der Gletschermumie einen Bogenstab aus Eibenholz, einen Köcher aus Rehfell, darin zwei schussbereite Pfeile (und zwölf Rohschäfte), zudem Gefäße aus Birkenrinde, in denen u.a. Glut zum Feuermachen transportiert wurde. Auch eine Rückentrage, aus Haselstock und Lärchenholz gefertigt, konnte rekonstruiert werden. Nahrungsreste verwiesen darauf, dass sich «Ötzi», wie er von dem Wiener Journalisten Karl Wendl erstmals genannt wurde, mit Reiseproviant aus geräuchertem oder getrocknetem Steinbockfleisch für seine hochalpine Wanderung ausgestattet hatte.

Die Holz- und Pollenanalysen des Fundes verweisen darauf, dass die Heimat des Gletschermannes wohl im Vinschgau lag und er von dort zu seinem letzten Gang über das Hochgebirge ins Ötztal aufgebrochen war.

Bald nach dem wissenschaftlichen Sensationsfund erregte freilich die Frage die Gemüter, ob der Fundort auf italienischem oder österreichischem Staatsgebiet zu verorten sei. Die im Friedensvertrag von Saint Germain im Jahr 1919 festgelegte Grenze verlief zwar entlang der Wasserscheide zwischen dem Inntal im Norden und dem Etschtal im Süden. Diese konnte aber auf Grund der Gletscherüberdeckung zunächst nicht klar definiert werden und erst genaue Vermessungen durch Expertenteams aus beiden betroffenen Staaten führten zum heute anerkannten Befund, dass die Mumie knapp hundert Meter jenseits der offiziellen Grenze auf dem Gebiet Südtirols gefunden wurde. Die ursprüngliche Zuordnung des «Mannes im Eis» zum Hauslabjoch wurde damals zugunsten des nun präziser bestimmten Tisenjochs korrigiert. Seine museale Heimstätte fand «Ötzi» daher auch in einem eigens dafür neu errichteten Archäologischen Museum in Bozen.

«Ötzi» stand und steht in seiner Einzigartigkeit im Zentrum der Zusammenarbeit von Humangenetikern, Anatomen, Anthropologen und Archäologen. Aus diesem interdisziplinären Forschungsverbund sind eine Fülle von Publikationen hervorgegangen, die das bis dahin gültige Bild der Kupferzeit im Alpenraum (3500/3300–​2200 v. Chr.) beträchtlich erweitert und differenziert und für das vorgeschichtliche Leben im heutigen Südtirol eine unerwartet hohe Stufe der Kulturentwicklung ergeben haben.

So lassen der Darminhalt und die aufgefundenen Getreidekörner, Spelzenreste und ein Ährenstängelstück erkennen, dass der «Mann im Eis» mit Sicherheit einer Gesellschaft angehörte, die bereits Getreide anbaute. Die Forschung geht seither davon aus, dass es in den Tallandschaften der Alpentäler, so auch im Vinschgau, seit der Jungsteinzeit eine hochentwickelte Ackerbaukultur gab. Die Analyse des tierischen Materials ergab, dass Bär, Reh, Steinbock, Hirsch und Vögel gejagt wurden, während die Verwendung von Ziegenfell und Kalbsleder zudem auf eine bereits entwickelte Viehzucht schließen ließ.

Kupfer- und Bronzezeit

Die Siedlungsdichte im Raum des heutigen Südtirol nahm – gemäß den einschlägigen archäologischen Funden – in der Kupferzeit zu. Neben Ackerbau und Viehzucht, Jagd und Fischfang wurde für die wachsende Bevölkerung die Verhüttung von Kupfererzen immer wichtiger. Hügelkuppen waren bevorzugte Siedlungsplätze; Grabfunde lassen auf einen entwickelten Totenkult und religiöse Riten schließen; wir wissen von der Verehrung von Naturheiligtümern und Erdgottheiten und dem Aufkommen von Tier- und Brandopfern. Keramikfunde aus dieser Zeit sind auf dem Gebiet des heutigen Südtirol indes nur selten anzutreffen.

Ein noch stärkeres Bevölkerungswachstum vollzog sich in der Bronzezeit (2200–​1000 v. Chr.). Die wirtschaftlichen Verbindungen verdichteten sich, ein intensiver Handel mit den Rohstoffen Kupfer und Zinn entstand. Die Herstellung des neuen Metalls förderte die Spezialisierung von Berufsgruppen, die der Gewinnung, Aufbereitung und Verhüttung von Erzen, aber auch der Weiterverarbeitung der Metalle nachgingen.

Neben den Haupttälern wurden damals auch die Seitentäler besiedelt und es kam zu einer bis dahin nicht gekannten Siedlungskontinuität, aus der sich im Verlauf der Bronzezeit «Stammesterritorien» (Günther Kaufmann) entwickelten. An die Stelle kleinerer Hügelsiedlungen traten größere Hang- und Talsiedlungen. Damit verbunden waren erhebliche Eingriffe in die Natur: Wälder wurden abgeholzt, Flüsse reguliert, größere Ackerflächen mit Pflug und Sichel bearbeitet. Auch die Bestattungsart änderte sich: Vereinzelte Urnengräber (u.a. in Welsberg und Sigmundskron) verweisen auf den Übergang von der Körper- zur Brandbestattung. Parallel zur Bestattungsart vollzog sich ein Wandel des religiösen Weltbildes: Ältere, irdischen Gottheiten geweihte und an der Unterwelt orientierte Kultstätten verloren an Bedeutung, während Bergspitzen und freistehende Kuppen mit ihrem Bezug nach «oben» (zum Himmel) als Kultplätze immer wichtiger wurden.

Trotz der Handelsverbindungen zwischen dem Süden und Norden des späteren Landes Tirol bleiben auch in der Bronzezeit die jeweils prägenden Kultureinflüsse aus den nördlichen bzw. südlichen Voralpen-Ebenen unterscheidbar. So ist die Kultur der Urnengräberfelder, beeinflusst vom süddeutsch-bayerischen Bestattungsritus, nördlich des Alpenhauptkamms häufiger anzutreffen als im Süden, während sich hier – im Raum des heutigen Trentino-Südtirol – die Protolaugen- und später die Laugen-Melaun-Kultur entwickelte, die den Norden kaum erreichte.

Laugen-Melaun-Kultur und Fritzens-Sanzeno-Gruppe

Ab etwa 1250/1200 v. Chr. lässt sich südlich des Alpenhauptkamms diese auch vom Gardaseeraum her beeinflusste Kultur erschließen, die nach den zwei wichtigsten Fundorten bei Brixen Laugen-Melaun-Kultur genannt wird. Sie zeichnet sich durch eine reichhaltige Keramik von besonderer Qualität aus, darunter auch kunstvoll verzierte Krüge, von denen sich nur wenige Exemplare auch im Norden Tirols finden, während Spuren dieser Kultur im Westen bis nach Graubünden sowie im Osten bis nach Osttirol und Kärnten nachweisbar sind. Worauf diese Kulturentwicklung zurückzuführen ist, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen: Die Wissenschaft geht von größeren Bevölkerungsbewegungen aus, die möglicherweise zu Einwanderungen aus dem Süden geführt haben; diese Bevölkerungsgruppen brachten wohl neue kulturelle Impulse mit.

So können die letzten Jahrhunderte des 2. Jahrtausends als kulturelle Blütezeit des vorgeschichtlichen Südtirol gelten, die vor allem der intensiven Ausbeutung der Kupfervorkommen und der Kontrolle von wichtigen Handelswegen zu danken war.

Der Übergang zur letzten urgeschichtlichen Periode, der Eisenzeit (1000 v. Chr. bis zur Zeitenwende), vollzog sich im südlichen Alpenraum ohne große Brüche und Veränderungen. Die Laugen-Melaun-Kultur entwickelte sich kontinuierlich weiter und erst allmählich, ab etwa 800 v. Chr., setzte sich das Eisen als neuer Werkstoff durch.

Zu einer bemerkenswerten kulturellen Einheit im Tiroler Raum kam es im späten 6. Jahrhundert v. Chr., in der mittleren Eisenzeit. Unter etruskischem Einfluss bildete sich eine neue Kulturgruppe heraus, die, nach den bedeutendsten Fundorten (Fritzens in Nordtirol und Sanzeno im Trentino) Fritzens-Sanzeno-Gruppe genannt wird. Zum ersten Mal lässt sich damit auch eine den Alpenhauptbogen überspannende Bevölkerungsgruppe fassen, die in den schriftlichen Quellen der Römerzeit als Raeti bezeichnet werden. Von ihrer eindrucksvollen Kultur zeugen die Fundstücke des im Jahr 2003 errichteten Museo Retico im trentinischen Sanzeno und das Räter-Museum im nordtirolischen Birgitz, in dessen Umgebung intensive archäologische Ausgrabungen stattfinden. Charakteristisch für diese Kultur sind die hochspezialisierten Keramikformen, die Bauweise von Häusern sowie erstmals auch der Nachweis von Schriftzeugnissen auf Bronze-, Keramik- und Knochenobjekten. Eines der bekanntesten Beispiele aus dem Südtiroler Raum ist eine rätische Weiheinschrift auf einem in Siebeneich bei Bozen gefundenen Schöpflöffel. Die im sogenannten Alphabet von Bozen verfassten Inschriften gehören einer nicht-indogermanischen, dem Etruskischen verwandten Sprache an.

Die Siedlungen dieser Kulturstufe befinden sich nach wie vor auf Hügelkuppen oder Hangterrassen, werden seit der mittleren Eisenzeit jedoch immer weiter ausgebaut. Es gab Einzelhöfe und kleine Weiler; die Hausform, casa retica genannt, bestand aus einem zweigeschossigen Holz-Bau, der je nach Gelände in Schotter oder Fels eingetieft wurde, an den Türen finden sich bereits Schubriegelschlösser.

Ob diese gesamttirolische Kultur auch eine «politische» Einheit darstellte, lässt sich trotz der zahlreichen Funde hingegen kaum sagen. Die Römer berichten von unterschiedlichen gentes (in der älteren Historiografie mit «Stämmen» übersetzt) innerhalb der Räter, die freilich in kultureller und sprachlicher Hinsicht kaum unterscheidbar waren. Trotz nachweisbarer intensiver Beziehungen zu der sie umgebenden keltischen Welt (Hallstatt-Kultur, Latènekultur) kann die Fritzens-Sanzeno-Kultur jedenfalls als eigenständig und autark gelten. Erst der Alpenfeldzug der Römer im Jahr 15 v. Chr. sollte dem ein Ende bereiten.

2. KAPITEL

An der Peripherie des Imperium Romanum

Die ersten nachweisbaren «politischen» Kontakte zwischen dem römischen Imperium und den Bewohnern des südlichen Alpenraums haben sich – nach heutigem Forschungsstand – im 2. Jahrhundert v. Chr. ergeben. Der römische Geschichtsschreiber Titus Livius berichtet von einem Gast- und Freundschaftsabkommen (hospitium publicum) zwischen dem römischen Senat und dem norisch-keltischen Königreich aus dem Jahr 170 v. Chr., zu dem das heutige Osttirol und vermutlich auch das Pustertal und das Drautal gehörten.

Auch für die weiter östlich siedelnden Tridentini im Trentiner Raum sind für diese Zeit auf Grund zahlreicher Münzfunde wirtschaftliche Kontakte mit den Römern nachgewiesen. Römische Denare aus der Zeit der Republik fanden sich u.a. in einer prähistorischen Siedlung auf dem Piperbühel bei Klobenstein, ein Indiz für die Nutzung römischer Handelswege durch das Etschtal und über den Ritten bei Bozen. Von der Existenz größerer stadtartiger und befestigter Siedlungen (oppida) berichtet ebenfalls die römische Überlieferung, der neben den archäologischen Funden die wichtigsten Kenntnisse über diese frühen Jahrhunderte zu danken sind: Neben einem oppidum am Dos Trento (Trient) und einem weiteren in Aguntum (bei Lienz in Osttirol) war den Römern in unserem Raum auch ein oppidum Saevatum (benannt nach der keltisch-norischen gens der Saevater) bei St. Lorenzen am Eingang des Pustertals bekannt.

Wie weit der Einfluss der Römischen Republik damals auch politisch schon reichte, lässt sich kaum mit Sicherheit sagen. Eine römische Militäraktion gegen die von Norden kommenden Kimbern und Teutonen im Jahr 113 v. Chr. hat die Forschung lange im Etschtal und an der Veroneser Klause verortet. Heute geht man hingegen davon aus, dass die von der römischen Historiografie überlieferten Abwehrmaßnahmen an den Tridentina iuga nicht den Südtiroler Raum betrafen, sondern im südlicheren Flachland entlang der Etsch stattfanden. Demnach dürften der Trientiner Raum, das Etschtal oder gar Gebiete des heutigen Südtirol wie das Eisacktal damals noch nicht unter römischer Herrschaft gestanden haben.

Für die neunziger Jahre hören wir dann von Militärmaßnahmen gegen Völker des südlichen Alpenhauptkamms, und die Räter sollen kurz darauf die römische Siedlung Comum zerstört haben (94 bzw. 92/90 v. Chr.). Oberitalien wurde im 1. Jahrhundert v. Chr. Schritt für Schritt ins römische Reich eingegliedert, bis alle Gebiete nördlich des Po in den fünfziger Jahren durch Julius Caesar das römische Bürgerrecht erhielten. Das Tridentini oppidum Raeticum erlangte dabei wohl den Status eines römischen Munizipiums, während die anderen alpinen Völkerschaften nördlich des römischen Einflussbereichs als peregrini (Fremde) betrachtet wurden, deren politische Unabhängigkeit Rom respektierte.

Feldzüge der Römer

Systematisch durch die Römer erschlossen und erobert wurden Gebiete des späteren Südtirol erst im Jahr 15 v. Chr. In Rom war zu dieser Zeit Caesars Adoptivsohn Gaius Octavian aus Jahrzehnten des Bürgerkriegs als Alleinherrscher hervorgegangen und unter dem Namen Augustus zum Kaiser (princeps) ausgerufen worden, was faktisch das Ende der Republik bedeutete. Durch Grenzraumsicherungen und Eroberungen wollte Augustus die Macht des Reiches nach außen hin ausbauen und zugleich sein persönliches Prestige im Inneren mehren. In diesem Zusammenhang sind auch die sogenannten Alpenfeldzüge zu sehen. Bereits 25 v. Chr. führte Augustus Krieg gegen die keltischen Salasser, um die wichtigen Pässe Großer bzw. Kleiner Sankt Bernhard und damit das westliche Alpengebiet unter römische Kontrolle zu bringen. Wenige Jahre später, 16 v. Chr., wurde im Osten das bis dahin noch weitgehend selbständige Königreich Norikum, mit dem es das erwähnte Freundschaftsabkommen gegeben hatte, dem Imperium Romanum angegliedert.

Für unseren Raum ist dann der Feldzug des Jahres 15 v. Chr. von entscheidender Bedeutung. Eine neue römische Legion, in der transpadanischen (norditalienischen) Militärprovinz stationiert, sollte vom Süden her gegen die Räter aus den tridentinischen Alpen vorrücken, deren gentes angeblich in gallisches und italisches Gebiet eingefallen waren. Den Oberbefehl hatte zunächst Augustus’ Stiefsohn Nero Claudius Drusus inne.

Drusus rückte mit seinen Truppen im Frühjahr des Jahres 15 v. Chr. über Trient etschaufwärts bis zur Salurner Klause und ins Siedlungsgebiet der Isarken vor, deren Widerstand niedergeschlagen wurde. Im Sommer kam es dann zu einem konzentrierten Angriff von mehreren Seiten. Augustus beauftragte seinen zweiten Stiefsohn Tiberius Claudius Nero, der bereits in Gallien stationiert war, mit der Westarmee gegen den Bodenseeraum und die dort siedelnden keltischen Vindeliker vorzustoßen. Drusus marschierte währenddessen mit seiner Armee weiter etschaufwärts gegen die Venosten, während Publius Silius Nerva im Westen nach der Eroberung des Tessins über den Julier- und Splügenpass ins Rheintal vorrückte und eine weitere Heeressäule durchs Engadin den Inn abwärts zog. Gleichzeitig drang – gemäß der römischen Überlieferung – im Zentrum ein Truppenteil unter Lucius Calpurnius Piso von dem nach Drusus benannten Brückenkopf am Eisack bei Bozen (pons Drusi) nach Norden über den Brenner gegen die Breunen vor. Für den 1. August wird von einer für die Römer erfolgreichen Entscheidungsschlacht durch Drusus und Tiberius gegen die Vindeliker, eine der am weitesten entwickelten keltischen gentes, berichtet. Es ist davon auszugehen, dass die Römer bei all diesen Eroberungszügen auf den dank älterer Handelsverbindungen bereits vorhandenen und bekannten Wegen vorrücken konnten. Dass sie dabei vor allem Pässe und Höhenwege überquerten, lag daran, dass die Täler vielfach noch versumpft und unzugänglich waren wie beispielsweise die enge Eisacktalschlucht bei Bozen. Die Siedlungen der ansässigen Bevölkerung wurden im Zuge dieser militärischen Operationen geplündert, in Brand gesetzt und weitgehend zerstört, wovon archäologische Funde ein beredtes Zeugnis ablegen.

Als Folge der militärischen Eroberung durch die Römer wurde der zentrale Alpenraum nun in mehrere Verwaltungseinheiten aufgeteilt, wodurch die späteisenzeitliche «rätische» Fritzens-Sanzeno-Kulturgruppe endgültig zerfiel. Wo genau die Grenzen in der nach-augusteischen Zeit verliefen, darüber ist sich die Forschung bis heute nicht einig, wobei die unterschiedlichen Vereinnahmungen durch die in modernen nationalen Kategorien denkende Wissenschaft des 19. Jahrhunderts, die den Raum wahlweise als «römisch» oder als «germanisch» gedeutet wissen wollte, zu dieser Unklarheit sogar selbst beigetragen hat.

Weite Teile des heutigen Südtirol (das Etschtal bis Meran, das Sarntal und das südliche Eisacktal) wurden jedenfalls gemeinsam mit den nordöstlichen Gebieten Norditaliens als Regio X (Venetia et Histria) direkt dem römischen Reich eingegliedert; Trient war, wie bereits erwähnt, schon einige Jahrzehnte zuvor zum römischen Munizipium (mit Stadtrecht) erhoben worden. Wahrscheinlich ist außerdem, dass der Vinschgau und das obere Eisacktal mit dem Inntal zum Militärdistrikt Raetia et Vindelicia kamen. Daran schloss sich weiter östlich, wobei die Grenze etwa bei Kufstein verlief, Noricum an, das vormalige norisch-keltische Königreich, zu dem das Pustertal und das Drautal gehörten. Sowohl Raetia als auch Noricum wurden schließlich unter Claudius (41–​54 n. Chr.) zu römischen Provinzen umgewandelt.

Diese Dreiteilung, die erstmals nord-südliche, aber auch west-östliche Grenzbereiche in unserem Raum schuf, bewirkte in der Folge unterschiedliche kulturelle Entwicklungen innerhalb der betroffenen Bevölkerung. Die Romanisierung, d.h. die Übernahme römischen Lebensstils, vollzog sich in den direkt dem Imperium Romanum zugehörenden Gebieten rascher als an den Rändern der unterworfenen Provinzen (Raetia und Noricum), wo die Bevölkerung noch sehr viel länger an ihren Traditionen festhielt, was sich besonders an der Kleidung nachweisen lässt (römische Toga versus mit Fibeln zusammengehaltenen Gewändern). Die Verleihung des römischen Bürgerrechts an das Munizipium von Trient, aber auch an einige Trient benachbarte südliche gentes durch Kaiser Claudius im Jahre 46 n. Chr. brachte für den südlichen Alpenraum eine günstigere Ausgangsposition mit sich, als dies für die Provinzen Rätien und Norikum der Fall war. Doch galten nunmehr im gesamten Alpenraum römisches Recht, römische Sprache und Schrift, römische Namensgebung und Zeitrechnung. Aus der sprachlichen Mischung von indigenen Dialekten und dem Lateinischen ging das Alpenromanische hervor, das im Ladinischen bis heute fortlebt.

Vorrangiges Ziel der römischen Verwaltung – und auch ihre bedeutendste Hinterlassenschaft – waren die Verbindungsstraßen, die die Römer zwischen den verschiedenen Militärstützpunkten errichteten. Die Via Claudia Augusta als wichtigste Nord-Südverbindung durchzog das Etschtal über den Reschen und führte über den Fernpass nach Augsburg. Die bereits in vorrömischer Zeit bestehende Route über den Ritten, den Brenner und Scharnitz wurde im 1. Jahrhundert ebenfalls weiter ausgebaut, indem man eine Straße durch das Eisacktal anlegte, worauf Ausgrabungen bei Waidbruck schließen lassen. Und durch das (norische) Pustertal gab es eine Verbindung nach Aguntum, beim heutigen Lienz.

Die Eroberung der Alpenvölker bedeutete für die dort ansässige Bevölkerung zunächst vor allem, dass die waffenfähigen Männer zum Kriegsdienst in römischen Hilfstruppen eingezogen wurden – und dass man nun Steuern nach römischem Zensus zu zahlen hatte. Aus den wenigen archäologischen Funden und den überlieferten Ortsnamen lässt sich ansonsten schließen, dass die römische Eroberung keine einschneidenden Veränderungen des Territoriums – abgesehen von den neuen «Grenzverläufen» – hinterlassen hat: Bestehende eisenzeitliche Siedlungen wurden erweitert und ausgebaut, in bislang schon bewohnten Zonen wurden neue Siedlungen errichtet. Insgesamt dürfte es im Südtiroler Raum zahlreiche römische Garnisonen an leicht zugänglichen Hügeln und Hängen gegeben haben (u.a. im Bozner Raum und jenseits der Etsch im Meraner Becken). Vici (Vororte), u.a. bei Nals, Partschins und Stufels bei Brixen lokalisiert, und mansiones (Rastplätze) entlang der Verbindungsstraßen kennzeichnen das römische Verwaltungssystem; die landwirtschaftlichen Flächen wurden in der römischen Zeit intensiver bebaut, es entstand eine Vielzahl an Landgütern (praedia).

Von den kriegerischen Auseinandersetzungen der ersten beiden nachchristlichen Jahrhunderte war der südliche Alpenraum und damit auch die Region des heutigen Südtirol nur am Rande betroffen. Den im 3. Jahrhundert zunehmenden Vorstößen westgermanischer Völkerschaften, insbesondere der Alamannen und Juthungen, versuchte Rom durch militärische Reformen in den Grenzregionen zu begegnen. Kaiser Gallienus (260–​268 n. Chr.) verstärkte in beiden Provinzen die Legionsreiterei und ließ selbständige Kavallerieverbände im Hinterland stationieren, die Verwaltung der Provinzen wurde administrativ aufgewerteten Statthaltern aus dem Ritterstand übertragen.

Trotz dieser Sicherheitsmaßnahmen gelang es den Alamannen in den Jahren 268–​270 n. Chr. erstmals, auch in den südlichen Alpenraum vorzustoßen, erst am Südufer des Gardasees wurden sie durch römische Elitetruppen aufgehalten. Und auch die Jugurthen drangen im Sommer 270 n. Chr. in Rätien und Norikum ein. Münzfunde aus dieser Zeit zeigen, dass die damaligen Bewohner von Etsch- und Inntal ihr «Vermögen» offenbar vergruben, ohne es später wieder ausgraben zu können. Auch Brand- und Zerstörungsschichten in Innichen, bei St. Lorenzen, bei Brixen und in Trient zeugen von den damaligen Verwüstungen. Noch konnten sich die römischen Provinzen gegenüber den «Barbaren» zwar behaupten und die verschiedenen germanischen gentes über den Limes zurückwerfen, doch wiederkehrende innerrömische Krisen und anderweitige militärische Konflikte, die das Imperium auszutragen hatte, ermöglichten diesen immer wieder, über Rätien und Norikum hinaus auch nach Süden vorzustoßen.

Römische Einflüsse auf die Alpenregion

Wenn wir den Blick auf die wirtschaftliche Seite des jahrhundertelangen Kulturkontakts zwischen römischen Eroberern und einheimischer Bevölkerung werfen, so können wir dank der Funde römischer Keramik, von Amphoren und Lampen, die im heutigen Südtirol zu Tage kamen, auch die friedliche Nutzung dieser Region deutlich erkennen. Abgesehen von Trient und Aguntum gab es zwar keine größere Stadt in unserem Gebiet, wohl aber dichter besiedelte vici, u.a. in Mals, Nals, Bozen, Neumarkt, Cles, Partschins und Stufels. Durch Amphoren-Aufschriften ist beispielsweise der Handel mit grünen und weißen Oliven bezeugt, und auch aus schriftlichen Quellen ist ein gewisser Wohlstand in der romanisierten bzw. römischen Bürgerschicht erkennbar. Bürgerrechtsverleihungen und Veteranenansiedlungen ließen die Nachfrage nach Importgütern ansteigen, eine größere wirtschaftliche Krise trat erst im letzten Drittel des 3. Jahrhunderts n. Chr. ein, als sich infolge der zahlreichen Kriege der Steuerdruck verstärkte, die wirtschaftliche Produktion abnahm und der Rückgang des Silbergehalts eine massive Geldentwertung zur Folge hatte.

Auch für die Landwirtschaft brachte die römische Zeit deutliche Verbesserungen mit sich. Die Produktion aus Ackerbau und Viehzucht nahm durch den Ausbau von Ackerland stetig zu, zudem wurde bereits intensive Almwirtschaft betrieben, wie die zahlreichen römischen Ortsnamen erkennen lassen. Die Jagd spielte kaum noch eine Rolle, in der intensivierten Haustierhaltung kam dem Geflügel immer größere Bedeutung zu. Nicht nur das heutige Trentino, auch das Bozner Unter- und Oberland, der Vinschgau und das Meraner Becken wurden in der römischen Zeit intensiv landwirtschaftlich genutzt. Neben Weizen, Roggen, Gerste und Hirse bauten die Landwirte auch bereits Äpfel, Birnen, Kirschen und Gemüse, südlich des Brenners sogar Wildreben an – der von den Römern geschätzte «rätische» Wein sollte sich immer mehr zu einem bedeutenden Wirtschaftszweig entwickeln. Noch heute sind die Reste römischer Quadratfluren erkennbar, römische Gutshöfe lassen sich etwa in Marling, Eppan und Kaltern (Reitwiesen) lokalisieren.

Mit der Ansiedlung von römischen Beamten und Militärs fand nicht zuletzt der römische Kult Eingang im Raum des heutigen Südtirol: Den römischen Göttern wurden in den größeren Orten Tempel errichtet, was Inschriften und Torsi (u.a. der Kopf einer Venus-Statue in Mals) bezeugen. Zeitgleich waren aber auch Mysterienkulte verbreitet. Weiheinschriften lassen auf Mithrasgemeinden in Trient und Sanzeno, in Erl und in Mauls schließen, wo ein Kultbild mit der Darstellung eines Stieropfers die Existenz einer Mithrasgemeinde im 3. Jahrhundert belegt. Nach wie vor kam dem Totenkult große Bedeutung zu, vielfältige Grabbeigaben (Schmuck, Werkzeuge, Gefäße) bezeugen einen lebhaften Jenseitsglauben.

Regio XItalia,Pannonia