Kyle Harper
FATUM
Das Klima und der Untergang
des Römischen Reiches
Aus dem Englischen von
Anna Leube und Wolf Heinrich Leube
C.H.Beck
Das Schicksal des Imperium Romanum wurde nicht von Kaisern, Legionären und Barbaren entschieden. Mindestens ebenso bedeutend waren Vulkanausbrüche, Sonnenzyklen, die Instabilität des Klimas und menschenmordende Viren und Bakterien. Kyle Harper führt seine Leserinnen und Leser vom Höhepunkt des 2. Jahrhunderts n. Chr., als das römische Weltreich eine schier unüberwindliche Macht zu sein schien, in die Niederungen des 7. Jahrhunderts, als das Imperium ausgemergelt war, politisch fragmentiert und materiell ausgelaugt. Er beschreibt, wie die Römer lange tapfer standzuhalten suchten, als Umweltveränderungen das ganze Reich niederdrückten – bis schließlich die Folgen der «kleinen Eiszeit» und das wiederholte Auftreten der Pest die Widerstandskraft der einstigen Weltmacht aufgezehrt hatten.
FATUM bietet eine intellektuell ebenso scharfe Analyse wie menschlich anrührende Darstellung der Beziehungen zwischen Mensch und Umwelt. Es ist die Geschichte einer der größten Zivilisationen, die unsere Welt je gesehen hat, in der Zeit ihrer schwersten Herausforderung. Sie muss schließlich vor der zermalmenden Kraft der Naturgewalten in Gestalt von Klimawandel und Seuchen kapitulieren. Das Beispiel Roms erscheint wie eine Mahnung aus großer zeitlicher Distanz, dass Klimawandel und die Evolution von Krankheitserregern die Welt geformt haben, in der wir leben. Wer die Schrift an der Wand zu lesen versteht, weiß, dass das, was hier profund und überraschend beschrieben wird, sich wiederholen kann.
Kyle Harper ist Professor für Altertumswissenschaften, Senior Vice President und Provost der University of Oklahoma. Die Sozial- und Wirtschaftsgeschichte in der Zeit der Spätantike bis zum Frühmittelalter bilden ebenso wie die Umwelt- und Bevölkerungsgeschichte Schwerpunkte seiner Forschungen.
ZEITTAFEL
PROLOG: DER TRIUMPH DER NATUR
1: UMWELT UND IMPERIUM
DER ZUSTAND DES RÖMISCHEN REICHS
UNSER LAUNISCHER PLANET
EINE GESCHICHTE DER MENSCHEN
2: DAS GLÜCKLICHSTE ZEITALTER
DER BERÜHMTE ARZT UND DIE BERÜHMTE STADT
DIE AUSMASSE DES IMPERIUMS
DER WOHLSTAND DER VÖLKER
DAS RÖMISCHE KLIMAOPTIMUM
RESILIENZ: BELASTUNG UND BESTÄNDIGKEIT IM RÖMISCHEN REICH
DAS NEUE ZEITALTER
3: APOLLOS RACHE
ARISTIDES UND DAS IMPERIUM: REICH, ABER KRANK
HIN ZU EINER KRANKHEITSÖKOLOGIE DES RÖMISCHEN REICHS
KRANKHEIT, GESUNDHEIT UND STERBLICHKEIT IM IMPERIUM
DIE RÖMER UND GLOBALE NETZWERKE
DIE GROSSE SEUCHE
RESILIENZ UND DAS NEUE GLEICHGEWICHT
4: DAS GREISENALTER DER WELT
TAUSEND JAHRE IMPERIUM
DIE LANGE EPOCHE DER ANTONINEN: DAS IMPERIUM UNTER DEN SEVERERN
DAS GREISENALTER DER WELT: KLIMAWANDEL IM DRITTEN JAHRHUNDERT
DIE CYPRIANISCHE PEST: DIE VERGESSENE PANDEMIE
DIE BLUTGETRÄNKTE FLUT
RESTAURATION UND REVOLUTION
DER WEG ZUM WIEDERAUFSCHWUNG
5: FORTUNAS SCHNELLES RAD
DIE AUSDEHNUNG DES IMPERIUMS
DAS NEUE GLEICHGEWICHT DES IMPERIUMS
DIE ROLLE DER UMWELT
DIE ÜBERGEORDNETE STRUKTUR
DIE NEUE GEOPOLITIK: DER MITTELMEERRAUM VERSUS ZENTRALASIEN
OST UND WEST: UNTERSCHIEDLICHE SCHICKSALE
6: DIE WEINPRESSE DES ZORNS
EINE ZEREMONIE IM HERZEN DES IMPERIUMS
RECONQUISTA UND RENAISSANCE
WIE EIN KILLER ENTSTEHT:
EINE NATURGESCHICHTE VON YERSINIA PESTIS
DER GLOBALE KONTEXT: DIE WELT VON KOSMAS
AM RANDE DER AUSLÖSCHUNG DER MENSCHLICHEN SPEZIES
ZWEI JAHRHUNDERTE TOD UND VERDERBEN:
DIE BEHARRLICHKEIT DER PEST
DEM ENDE DER WELT ENTGEGEN
7: DAS JÜNGSTE GERICHT
DIE WELT GREGORS DES GROSSEN
DIE EISZEIT NAHT
LETZTE ENTWICKLUNGSLINIEN: ZERFALLSZONEN, KRAFTZONEN
DAS SCHEITERN DES IMPERIUMS
DIE LETZTE STUNDE: MOHAMMEDS WELT
EPILOG: TRIUMPH DER MENSCHHEIT?
DANKSAGUNG
ANHANG
ANHANG A: OBERSCHENKELKNOCHENLÄNGEN Daten historischer Bevölkerungsgruppen in Italien
ANHANG B: AUSBRÜCHE WÄHREND DER ERSTEN PANDEMIE (558–749 nach Chr.)
1
2 MÖGLICHE AUSWEITUNG VON NR. 1
3
4 MÖGLICHE AUSWEITUNG VON NR. 3
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10 MÖGLICHERWEISE IM ZUSAMMENHANG MIT NR. 9
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13 MÖGLICHERWEISE IM ZUSAMMENHANG STEHEND MIT NR. 12
14 MÖGLICHERWEISE IM ZUSAMMENHANG STEHEND MIT NR. 12 UND NR. 13
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27 MÖGLICHERWEISE IN ZUSAMMENHANG MIT NR. 26
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ANMERKUNGEN
PROLOG: DER TRIUMPH DER NATUR
1: UMWELT UND IMPERIUM
2: DAS GLÜCKLICHSTE ZEITALTER
3: APOLLOS RACHE
4: DAS GREISENALTER DER WELT
5: FORTUNAS SCHNELLES RAD
6: DIE WEINPRESSE DES ZORNS
7: DAS JÜNGSTE GERICHT
EPILOG:TRIUMPH DER MENSCHHEIT?
BIBLIOGRAPHIE
QUELLEN
Quellen: Inschriften
Quellen: Gesetzestexte
Quellen: Papyri
FORSCHUNGSLITERATUR
BILDNACHWEIS
REGISTER
Für Sylvie, August und Blaise
In meinem Anfang ist mein Ende. Nacheinander
Erheben Häuser sich, zerfallen, werden angebaut,
Abgetragen, zerstört, erneuert oder an ihrer Stelle
Ist ein freies Feld, eine Fabrik, eine Autobahn.
Alte Steine werden Neubau, altes Holz neue Feuer,
Einstige Feuer Asche und Asche wird Erde,
Die schon besteht aus Fleisch, Fell, Fäkalien,
Gebein von Mensch und Tier, Stroh und Laub.
T. S. Eliot, «East Coker» in: Vier Quartette,
Übersetzung: Nora Wydenbruck,
Amandus-Verlag, ca. 1953
KARTE 1 Das Römische Reich mit seinen größten Städten im vierten Jahrhundert
KARTE 2 Ökologische Zonen des Römischen Reichs
KARTE 3 Die Welt Galens: Provinzen, die Galen mit Sicherheit bereiste
KARTE 4 Globale Klimata und das Römische Reich
KARTE 5 Temperaturmessungen in Höhlen und das römische Klimaoptimum
KARTE 6 Spuren römischer imperialer Herrschaft
KARTE 7 Verbreitungsgebiet der Nacktsohlen-Rennmaus
KARTE 8 Die Römer am Roten Meer
KARTE 9 Die Römer und der Indische Ozean
KARTE 10 Mögliche Hinweise auf die Antoninische Pest
KARTE 11 Hydrologie des Nils und Klimamechanismen
KARTE 12 Hinweise auf die Cyprianische Pest
KARTE 13 Die beiden Provinzen, aus denen die meisten spätrömischen Kaiser stammten
KARTE 14 Der Blick eines Kaufmanns auf das Römische Reich: Die Expositio
KARTE 15 Die imperiale Maschinerie der Armeelogistik
KARTE 16 Die eurasische Steppe
KARTE 17 Rattenatlas des Römischen Reichs
KARTE 18 Der Weg von Yersinia pestis: von China nach Pelusium
KARTE 19 Der Weg von Yersinia pestis: von Pelusium zur Pandemie
KARTE 20 Die Geographie des Massensterbens
KARTE 21 Die Ökologie der Pest im Nahen Osten
KARTE 22 Ausbreitung der Pest im Osten, 550–620 n. Chr.
KARTE 23 Ausbreitung der Pest im Osten, 620–750 n. Chr.
KARTE 24 Der Nahe Osten in der Spätantike
KARTE 25 Die Welt des frühen Islam
KARTE 26 Der Mittelmeerraum im Frühmittelalter
PROLOG
Irgendwann Anfang des Jahres 400 n. Chr. kamen der Kaiser und sein Konsul in Rom an. Niemand konnte sich mehr an eine Zeit erinnern, in der die Kaiser in der alten Hauptstadt residiert hatten. Über ein Jahrhundert lang hatten die Herrscher des Imperiums in Städten gelebt, die näher an der nördlichen Grenze lagen, wo die Legionen das verteidigten, was die Römer für die Trennlinie zwischen Zivilisation und Barbarentum hielten.
Mittlerweile galt ein offizieller kaiserlicher Besuch in der Hauptstadt als Anlass für ein Riesenspektakel, denn selbst ohne die Kaiser waren Rom und seine Bevölkerung immer noch mächtige Symbole des Imperiums. Etwa 700.000 Römer nannten die Stadt ihr Zuhause. Sie genossen all die Annehmlichkeiten, die eine antike, einem Kaiser angemessene Stadt bot. Stolz erklärte ein Verzeichnis aus dem vierten Jahrhundert, Rom verfüge über 28 Bibliotheken, 19 Aquädukte, 2 Zirkusarenen, 37 Tore, 423 Stadtviertel, 46.602 insulae (Wohnblöcke mit Mietshäusern), 1790 domus (repräsentative Stadthäuser), 290 Kornspeicher, 856 Bäder, 1352 Zisternen, 254 Bäckereien, 46 Bordelle und 144 öffentliche Latrinen. Rom war in jeder Hinsicht ein ganz außergewöhnlicher Ort.[1]
Der Auftritt eines Kaisers in der Stadt setzte eine Reihe sorgfältig inszenierter öffentlicher Rituale in Gang, die dazu dienten, die Vorrangstellung Roms im Reich und zugleich die Überlegenheit des Imperiums über alle übrigen Herrschaftsbereiche in der Welt zu demonstrieren. Die Römer, die sich als stolze Hüter der imperialen Tradition fühlten, legten größten Wert auf diese Art Zeremonie. Sie erinnerten sich gerne daran, dass Rom eine Stadt war, «der sich keine vergleicht, so weit um Erden die Luft kreist, da kein Auge den Raum, kein Menschengedanke die Schönheit und ihr Lob kein Mund je fasst».[2]
Eine lange kaiserliche Prozession wand sich durch die Straßen bis zum Forum. Dies war der Ort, an dem Cato und Gracchus, Cicero und Caesar ihre politischen Erfolge gefeiert hatten. Die Geister der Geschichte waren willkommene Gefährten an diesem Tag, an dem die Menge sich versammelt hatte, um einer Lobrede auf den Konsul Stilicho zu lauschen. Stilicho war eine eindrucksvolle Gestalt, ein Generalissimus auf dem Zenit seiner Macht. Seine imposante Präsenz war eine Bestätigung dafür, dass Frieden und Ordnung wieder im Reich eingekehrt waren. Die Vorstellung war vertrauenerweckend. Im Jahr 378 n. Chr., kaum eine Generation zuvor, hatten die römischen Legionen bei Adrianopel die schlimmste Niederlage ihrer stolzen Geschichte erlitten. Seither schien die Welt in ihren Grundfesten erschüttert. Goten drangen massenhaft in das Reich ein und bildeten eine unübersichtliche Mischung aus Verbündeten und Feinden. Der Tod von Kaiser Theodosius I. im Jahr 395 machte deutlich, dass sich die östliche und die westliche Reichshälfte auseinanderentwickelt hatten, so unmerklich und unaufhaltsam wie die Kontinentalverschiebung. Innere Zwietracht hatte die afrikanischen Provinzen zu einem gefährlichen Territorium gemacht und die Nahrungsmittelversorgung gefährdet. Doch vorerst hatte der Konsul die Wogen geglättet. Er hatte «das Gleichgewicht der Welt» wiederhergestellt.[3]
Der Dichter, der zu Ehren des Konsuls sprach, hieß Claudian. Gebürtiger Ägypter griechischer Muttersprache, war Claudian einer der letzten bedeutenden Vertreter der klassischen lateinischen Dichtung. Seine Worte zeugen von der tiefen Ehrfurcht, welche die Kapitale dem Besucher einflößte. Rom war die Stadt, die «kleinem Bezirk entstammt, gen Norden und Süden allmählich alles umfasst und die Macht nach niederem Aufgang weit versandt hat, wie Sonne das Licht». Rom war «Mutter des Kriegs und des Rechts», hatte «tausend Schlachten geschlagen» und «ihre Herrschaft über die Erde» ausgedehnt. «Sie allein hat sich die bewältigten Feinde vereinigt, sie als Mutter das Menschengeschlecht mit einer Benennung liebreich, nicht als Herrin, umfasst, sie alle Besiegten ‹Bürger› genannt.»[4]
Und das war keine dichterische Phantasie. Zur Zeit Claudians gab es stolze Römer von Syrien bis Spanien, von den sandigen Wüsten Oberägyptens bis zu den frostigen Grenzen Nordenglands. Nur wenige Reiche in der Geschichte erreichten sowohl die geographische Ausdehnung als auch die Integrationskraft des römischen Commonwealth. Keines verband Größe und Einheit wie das römische, keines hatte so lange Bestand. Kein anderes Reich konnte auf so viele Jahrhunderte ununterbrochener Größe zurückblicken, die überall zutage trat, wenn man sich auf dem Forum umschaute.
Beinahe tausend Jahre lang hatten die Römer die Jahre mit den Namen ihrer Konsuln bezeichnet. Daher war auch Stilichos Name «in die Annalen des Himmels eingeschrieben». Es wurde vom Konsul erwartet, dass er aus Dankbarkeit für diese unsterbliche Ehrung das Volk in traditionell römischer Weise mit aufwendigen und blutigen Spielen unterhielt.
Dank der Rede Claudians wissen wir, dass dem Volk eine exotische Tierschau geboten wurde, die eines Imperiums mit globalem Anspruch würdig war. Eber und Bären waren aus Nordeuropa herbeigebracht worden. Aus Afrika kamen Löwen und Leoparden. Aus Indien stammten Stoßzähne von Elefanten, nicht jedoch die Tiere selbst. Claudian malte sich aus, wie die Boote mit ihrer wilden Fracht über Meer und Flüsse fuhren. (Und er nennt ein überraschendes, aber wunderbares Detail: Die Seeleute waren entsetzt bei der Aussicht, mit einem afrikanischen Löwen auf demselben Schiff zu segeln.) Und als die Stunde schlug, wurden die «Prachtstücke des Walds» und «die Wunder des Südens» sportlich massakriert. Das Vergießen des Blutes der wildesten Tiere der Natur in der Arena brachte die Herrschaft Roms über die Erde und alle ihre Geschöpfe augenfällig zum Ausdruck. Diese blutrünstigen Spektakel stärkten das Band der Zugehörigkeit zwischen den zeitgenössischen Bewohnern Roms und den zahllosen Generationen, die das Imperium aufgebaut und bewahrt hatten.[5]
KARTE 1 Das Römische Reich mit seinen größten Städten im vierten Jahrhundert
Claudians Rede gefiel den Zuhörern. Der Senat sprach sich dafür aus, ihn mit einer Statue zu ehren. Doch die selbstbewussten Behauptungen seiner Rede wurden bald darauf Lügen gestraft; zunächst kam es zu einer erbarmungslosen Belagerung durch die Goten, dann ereignete sich das Undenkbare: Am 24. August 410 wurde die Ewige Stadt zum ersten Mal seit achthundert Jahren von einer Armee geplündert. Es war der dramatischste Moment in einer langen Reihe von Ereignissen, die zum Untergang des Römischen Reichs führten. «Mit einer Stadt ging die ganze Welt zugrunde.»[6]
Wie hatte das geschehen können? Eine Antwort auf diese Frage hängt in hohem Maße davon ab, was wir in den Blick nehmen. Im engeren Rahmen spielt die Entscheidung von Menschen eine bedeutende Rolle. Über die strategischen Entscheidungen der Römer in den Jahren, die in das Verhängnis führten, haben Hobbystrategen endlos gerätselt. In einem größeren Rahmen können wir in der imperialen Maschinerie strukturelle Schwächen ausmachen; verheerende Bürgerkriege und ungeheurer Druck auf den Finanzapparat hatten fatale Auswirkungen. Weiten wir den Fokus noch ein wenig, so sehen wir im Aufstieg und Fall von Rom das unvermeidliche Schicksal aller Reiche. In diesem Sinne fällte Edward Gibbon, der große englische Historiker des Untergangs von Rom, letztlich sein Urteil.
Abb. P.1 In Käfigen eingesperrte Löwen auf einem Schiff, römisches Relief, drittes Jahrhundert
Seine berühmten Worte lauten: «Aber das Sinken Roms war die natürliche und unvermeidliche Wirkung übermäßiger Größe. Das Glück brachte den Keim des Verfalles zur Reife, die Ursachen der Zerstörung vervielfältigten sich mit der Ausdehnung der Eroberungen, und sobald Zeit oder Zufall die künstlichen Stützen entfernt hatten, gab der riesenhafte Bau dem Drucke seines eigenen Gewichtes nach.» Der Untergang Roms war nur ein Beispiel für die Vergänglichkeit aller menschlichen Werke. Sic transit gloria mundi.[7]
Alle diese Antworten mögen gleichzeitig richtig sein. Das auf diesen Seiten vorgetragene Argument jedoch ist das folgende: Um den langen Zeitraum zu erfassen, den wir als Untergang des Römischen Reichs bezeichnen, müssen wir einen genaueren Blick auf die gewaltige Selbsttäuschung inmitten der triumphalen Zeremonien des Imperiums werfen – den trügerischen Glauben, der sich im blutigen Ritual der inszenierten Schaukämpfe gegen Tiere ausdrückte, dass nämlich die Römer die Kräfte der wilden Natur gebändigt hätten. Während die Römer selbst den Untergang ihres Reichs nicht verstehen und ihn sich kaum vorstellen konnten – weder im kleinen noch im globalen Maßstab –, bedeutete er letztlich den Sieg der Natur über menschliche Ambitionen. Akteure in diesem Drama waren Kaiser, Barbaren, Senatoren und Feldherren, Soldaten und Sklaven. Doch Roms Schicksal wurde ebenso bestimmt durch Bakterien und Viren, Vulkanausbrüche und Sonnenzyklen. Erst in den letzten Jahren haben wir die wissenschaftlichen Werkzeuge an die Hand bekommen, die uns erlauben, einen freilich oft nur flüchtigen Blick auf dieses große Drama der Umweltveränderung zu werfen, in dem die Römer ahnungslose Mitspieler waren.
Das große Nationalepos über die Anfänge Roms, die Aeneis, nennt sich bekanntlich Gesang «von Waffen und einem Mann». Die Geschichte von Roms Ende ist ebenfalls eine Geschichte von Menschen. Es gab dramatische Augenblicke, in denen menschliches Handeln über Sieg oder Niederlage entschied. Es gab aber auch umfassende materielle Bedingungen – Agrarproduktion und Steuerwesen, demographische Probleme und soziale Entwicklungen –, die für den Spielraum und den Erfolg der Macht Roms ausschlaggebend waren. Doch schon in den allerersten Versen der Aeneis hat der Held gegen tückische Winde während eines heftigen Sturms auf See zu kämpfen, er ist Spielball der elementaren Naturgewalten. In den vergangenen Jahren haben wir gelernt, diese elementaren Kräfte der Natur, die das römische Imperium immer wieder erschütterten, wie nie zuvor sichtbar zu machen. Die Römer hatten ein riesiges Mittelmeerreich in einem besonderen Zeitabschnitt der Klimageschichte geschaffen, der als Holozän bekannt ist und am Ende eines gewaltigen natürlichen Klimawandels lag. Sie hatten ein vernetztes urbanisiertes Reich errichtet, das bis an die Randzonen der Tropen reichte, mit Ausläufern in die ganze bekannte Welt. In einer unfreiwilligen Komplizenschaft mit der Natur schufen sie eine Umwelt von Krankheiten, welche die latenten Kräfte einer pathogenen Entwicklung entfesselte. Bald wurden die Römer von den unheilvollen Auswirkungen von – wie wir heute sagen würden – aufkommenden Infektionskrankheiten heimgesucht. Das Ende des Römischen Reichs ist demnach ein Vorgang, in dem Mensch und Umwelt untrennbar miteinander verbunden sind. Mehr noch, es ist ein Kapitel in der immer noch andauernden Geschichte unseres Verhältnisses zur Umwelt. Das Schicksal Roms kann uns daran erinnern, dass die Natur raffiniert und unberechenbar ist. Die ungeheure Macht der Evolution vermag die Welt in einem einzigen Augenblick zu verändern. Überraschung und Paradox lauern hinter dem Fortschritt.
In diesem Buch soll dargestellt werden, wie die Angehörigen einer der bedeutendsten Zivilisationen der Geschichte erfahren mussten, dass sie die Natur längst nicht so beherrschten, wie sie gedacht hatten.
1
Der Aufstieg Roms ist eigentlich eine erstaunliche Geschichte, vor allem wenn man bedenkt, dass die Römer erst relativ spät in die machtpolitischen Verhältnisse im Mittelmeerraum eingriffen. Üblicherweise wird die Geschichte Roms in der Antike in drei Epochen eingeteilt: Monarchie, Republik, Kaiserreich. Die Jahrhunderte der Monarchie liegen im Dunkel der Geschichte, nur legendenhafte Ursprungsmythen erinnern daran, überliefert von Autoren, die später davon berichteten. Immerhin fanden Archäologen in der Umgebung von Rom Spuren menschlicher Besiedelung, die bis auf die Bronzezeit im zweiten vorchristlichen Jahrtausend zurückgehen. Die Römer selbst legten die Gründung ihrer Stadt und die Herrschaft ihres ersten Königs Romulus in die Mitte des achten Jahrhunderts v. Chr. Tatsächlich hatte sich unweit der Stelle, an der Claudian auf dem Forum stand, unter dem ganzen Backstein und Marmor einstmals nichts als eine bescheidene Ansammlung hölzerner Hütten befunden. Diesem Dörfchen hätte damals niemand eine große Zukunft prophezeit.[1]
Jahrhundertelang stand Rom im Schatten seiner etruskischen Nachbarn. Die Etrusker ihrerseits wurden von den politischen Unternehmungen, die sich im Osten und im Süden abspielten, überholt. In der Frühzeit der Antike gehörte der Mittelmeerraum Griechen und Phöniziern. Als Rom noch ein Dorf von Viehdieben war, verfassten die Griechen Epen und lyrische Dichtung, experimentierten mit der Demokratie, erfanden das Drama, die Philosophie und die Geschichtsschreibung, wie wir sie kennen. An Rom näher gelegenen Küsten errichteten die Karthager ein bedeutendes Reich, noch bevor die Römer überhaupt wussten, wie man ein Segel setzt. Fünfundzwanzig Kilometer landeinwärts, an den sumpfigen Ufern des Tiber gelegen, war Rom ein unbedeutendes Kaff, ein Zaungast bei der kreativen Entfaltung der frühen klassischen Welt.[2]
Um das Jahr 509 v. Chr. vertrieben die Römer ihre Könige und führten die Republik ein. Damit begann ihr Auftritt auf der Bühne der Geschichte. Seit der Zeit, von der wir Kenntnis haben, waren die politischen und religiösen Institutionen Roms eine Mischung aus selbst entwickelten und übernommenen Elementen. Die Römer borgten sich ungeniert, was ihnen für ihre Zwecke geeignet erschien. Sogar die erste Kodifizierung römischen Rechts, das Zwölftafelgesetz, hatte man von Athen übernommen, wie man stolz zugab. Die römische Republik war eines der vielen auf Bürgerrecht basierenden politischen Experimente im Mittelmeerraum. Allerdings setzten die Römer eigene Akzente mit der Idee einer quasi-egalitären Politik: besondere religiöse Pietas, radikale Ideologien von bürgerlicher Aufopferung, fanatischer Militarismus, gesetzliche und kulturelle Mechanismen zur Eingliederung ehemaliger Feinde als Bundesgenossen und Bürger Roms. Und auch wenn die Römer nach und nach zu der Überzeugung kamen, von den Göttern sei ihnen ein imperium sine fine, ein Reich ohne Grenzen, verheißen, entwickelte sich Roms Schicksal keineswegs zwangsläufig, von einer ins Auge springenden geographischen oder geheimen technischen Überlegenheit konnte keine Rede sein. Ein einziges Mal in der Geschichte wurde die Stadt Zentrum eines großen Imperiums.
Der Aufstieg Roms fiel in eine Periode geopolitischer Wirren im mediterranen Großraum im letzten vorchristlichen Jahrhundert. Republikanische Institutionen und militärische Tüchtigkeit ermöglichten es den Römern, in einem günstigen Moment der Geschichte beispiellose staatliche Gewalt zu konzentrieren. Die Legionen vernichteten einen von Roms Rivalen nach dem anderen. Die Errichtung des Imperiums war ein blutiges Geschäft. Die Kriegsmaschine lief wie geschmiert. Mit roher Gewalt wurden Soldaten im gesamten Mittelmeerraum in rechtwinklig angelegten Kolonien angesiedelt. Im letzten Jahrhundert dieser Zeit der hemmungslosen Eroberung beherrschten Shakespearesche Charaktere die Bühne der Geschichte. Nicht von ungefähr konzentriert sich das historische Bewusstsein abendländischer Forscher so unverhältnismäßig auf diese letzten Generationen der Republik. Die Errichtung des römischen Imperiums war etwas zuvor noch nie Dagewesenes. Plötzlich strebten Wohlstand und Entwicklung auf hohem Niveau nach Modernisierung und übertrafen alles, was die Spezies Mensch bis dahin gekannt hatte. Die verschieden interpretierbare republikanische Verfassung regte tiefschürfende Betrachtungen an über die Begriffe Freiheit, Tugend, Gemeinschaft. Der Gewinn an imperialer Macht befeuerte beständig Debatten über ihren Gebrauch. Römisches Recht half, Normen für das Regieren aufzustellen, an die sich selbst die Herren des Reichs halten sollten. Aber der Zuwachs an reiner Macht schürte auch die verheerende zivile Gewalt, die in ein Zeitalter der Autokratie führte. In den treffenden Worten von Mary Beard: «Das Imperium schuf die Imperatoren, nicht umgekehrt.»[3]
Als Augustus (reg. 27 v. Chr.–14 n. Chr.) die letzten bedeutenden Randgebiete unter seine Herrschaft gebracht hatte, war es keine Übertreibung, das Mittelmeer als mare nostrum – „unser Meer“ – zu bezeichnen. Um die Leistung Roms ganz zu ermessen und die Mechanik des frühen Imperialismus zu verstehen, müssen wir ein paar grundlegende Fakten über den Alltag in einer antiken Gesellschaft kennen. Das Leben verlief langsam, organisch, war stets gefährdet und von Zwängen bestimmt. Die Zeit verging im eintönigen Rhythmus von Schritten und Hufen. Die eigentlichen Arterien des Reichs waren die Wasserwege, doch in der kalten und stürmischen Jahreszeit waren diese nicht befahrbar, und so wurde jede Stadt zu einer Insel. Energie war immer bedrohlich knapp. Zur Verfügung standen menschliche und tierische Muskelkraft, Brennholz und Reisig zum Heizen und Kochen. Das Leben spielte sich überwiegend auf dem Land ab, acht von zehn Menschen lebten außerhalb der Städte. Selbst die Städte hatten einen weit ländlicheren Charakter, als wir uns vielleicht vorstellen, sie waren erfüllt vom Blöken und dem Geschrei – und den strengen Gerüchen – der vierbeinigen Mitbewohner. Das Überleben hing von ausreichendem Regen in einer prekären Umwelt ab. Für die überwiegende Mehrheit war Getreide die Hauptnahrung. «Unser täglich Brot gib uns heute», war eine aufrichtige Bitte. Überall lauerte der Tod. In einer Welt, in der Infektionskrankheiten in allen Bevölkerungsteilen wüteten, betrug die durchschnittliche Lebenserwartung ab Geburt etwa 20 bis 25 Jahre. All diese Beschränkungen waren so real wie die Schwerkraft und bestimmten die Gesetze der Bewegung in der Welt, wie die Römer sie kannten.[4]
Angesichts dieser Beschränkungen war die räumliche Ausdehnung des Römischen Reichs umso bemerkenswerter. Ohne Telekommunikation und motorisierten Transport errichteten die Römer ein Reich und verbanden höchst unterschiedliche Teile des Globus miteinander. Im Norden erstreckte sich das Reich bis über den 56. Breitengrad, im Süden bis unterhalb 24° N. «Von allen angrenzenden Reichen der vormodernen Geschichte erreichten oder übertrafen nur das Reich der Mongolen, der Inkas und des russischen Zaren die Nord-Süd-Ausdehnung des römischen Herrschaftsgebietes.» Nur wenige Reiche umfassten Teile der Erde, die von den oberen mittleren Breitengraden bis in die Randgebiete der Tropen reichten, und keines hatte so lange Bestand.[5]
Norden und Westen des Reichs waren beeinflusst vom atlantischen Klima. Sein ökologisches Zentrum war der Mittelmeerraum. Das störungsanfällige, launische mediterrane Klima – trockene Sommer und feuchte Winter bei einer relativ gemäßigten Grundtemperatur – ist ein ganz eigener Klimatyp. Die Dynamik eines riesigen Binnenmeeres in Verbindung mit dem höchst unterschiedlichen Relief seiner Inlandsgebiete bewirkt extreme Vielfalt auf kleinstem Raum. In den südlichen und östlichen Gebieten des Reichs setzte sich der Hochdruck der subtropischen Atmosphäre durch und verwandelte das Land mit der Zeit in eine Wüste. Und in Ägypten, der Kornkammer des Reichs, herrschte wieder ein vollkommen anderes Klima, dank der lebensspendenden Nilfluten, deren Wasser von den Monsunregen im Hochland Äthiopiens gespeist wurden. Über all dies herrschten die Römer.[6]
KARTE 2 Ökologische Zonen des Römischen Reichs
Die Römer konnten ihre Herrschaft über derart ausgedehnte Gebiete nicht allein mit Gewalt durchsetzen. Um sie aufrechtzuerhalten, musste Zwang mit Bedacht eingesetzt werden, und man musste mit Grenzbewohnern und Anrainern des Reichs ständig verhandeln. Im Laufe der langen Dauer des Imperiums schwankte die innere Logik imperialer Macht vielfach zwischen vorsichtig ausgeübtem Zwang und geschickter Verhandlung.
Augustus ordnete das Reich, das wir als das Imperium der hohen Kaiserzeit betrachten. Er war ein politisches Genie, dem ein sehr langes Leben vergönnt war und das dem Todeskampf der republikanischen Verfassung vorstand. Während seiner Herrschaft kam es immer seltener zu Eroberungsfeldzügen, die in der Spätzeit der Republik vom Kampf der Eliten um die Macht befeuert worden waren. Seine Regierungszeit wurde als eine Episode des Friedens gepriesen. Die Tore des Janustempels, die in Kriegszeiten offen standen, waren in sieben Jahrhunderten nur zweimal geschlossen worden. Augustus inszenierte ihre Schließung dreimal. Er schaffte die ständig unter Waffen stehenden Bürgerlegionen ab und ersetzte sie durch Berufsarmeen. In der späten Republik war willkürliche Ausplünderung immer noch die Regel, doch langsam aber sicher begannen sich in den eroberten Gebieten Normen in Regierung und Justiz durchzusetzen. Statt das Volk auszubeuten, wurden jetzt Steuern erhoben. Flackerte Widerstand auf, wurde er, wie in Judäa und Britannien, mit rabiater Gewalt erstickt. Erst vereinzelt, dann aber immer häufiger und schneller wurde in den Provinzen das Bürgerrecht verliehen.
Der große und entscheidende Deal, der das imperiale Regime in den ersten beiden Jahrhunderten kennzeichnete, war die stillschweigende Übereinkunft zwischen dem Imperium und den «Städten». Die Römer herrschten mittels der Städte und deren vornehmer Familien. Sie drängten die städtischen Aristokratien der Mittelmeerwelt in ihr imperiales Projekt. Indem sie die Besteuerung in die Hand der lokalen Oberschicht legten und großzügig das römische Bürgerrecht verliehen, banden die Römer die Eliten dreier Kontinente in die herrschende Klasse ein und konnten so mit nur wenigen hundert hochrangigen römischen Beamten über ein riesiges Reich gebieten. Im Rückblick ist es überraschend, wie schnell das Imperium auf die reine Ausbeutung verzichtete und zu einer Art Commonwealth wurde.[7]
Die Stabilität des Imperiums hing von diesem großen Deal ab. Er war ein Schachzug, und er funktionierte. Während der Pax romana, als Ausrauben durch Regieren ersetzt wurde, erlebte das Reich mit seinen vielen Menschen eine Blüte. Es begann mit einer Zunahme der Bevölkerung. Niemals zuvor hatte es so viele Menschen gegeben. Städte wuchsen über ihre alten Grenzen hinaus. Die Besiedelung der Landschaft wurde dichter. Wälder wurden gerodet, Ackerland gewonnen, Bauernhöfe auch in Hanglagen gebaut. Alles Organische schien in der Sonne des Römischen Reichs zu gedeihen. Irgendwann im ersten Jahrhundert dieser Ära wuchs die Bevölkerung Roms als erster Stadt der Welt wahrscheinlich auf über eine Million an und war damit die einzige Millionenstadt im Westen, bis London um das Jahr 1800 diese Größe erreichte. Mitte des zweiten Jahrhunderts lebten insgesamt etwa fünfundsiebzig Millionen Menschen unter römischer Herrschaft, ein Viertel der gesamten Weltbevölkerung.[8]
In einer sich nur langsam bewegenden Gesellschaft kann ein derartiges Wachstum – in diesem Umfang und in diesem Zeitraum – leicht den Untergang bedeuten. Land ist der wichtigste Produktionsfaktor, und Land ist einfach begrenzt. Mit dem Anstieg der Bevölkerungszahlen mussten die Menschen immer mehr in Randgebiete ausweichen und der Umwelt unter immer härteren Bedingungen Energie abgewinnen. Thomas Malthus hat diesen immanenten und paradoxen Zusammenhang zwischen menschlichen Gesellschaften und ihrer Versorgung mit Nahrungsmitteln wohlverstanden: «Die Kraft zur Bevölkerungsvermehrung ist umso vieles stärker als die der Erde innewohnende Kraft, Unterhaltsmittel für den Menschen zu erzeugen, dass ein frühzeitiger Tod in der einen oder anderen Gestalt das Menschengeschlecht heimsuchen muss. Die Laster der Menschheit sind eifrige und fähige Handlanger der Entvölkerung. Sie stellen die Vorhut im großen Heer der Zerstörung dar; oftmals vollenden sie selbst das entsetzliche Werk. Sollten sie aber versagen in diesem Vernichtungskrieg, dann dringen Krankheitsperioden, Seuchen und Pest in schrecklichem Aufgebot vor und raffen Tausende und Abertausende hinweg. Sollte der Erfolg immer noch nicht vollständig sein, gehen gewaltige, unvermeidbare Hungersnöte als Nachhut um und bringen mit einem mächtigen Schlag die Bevölkerungszahl und die Nahrungsmenge der Welt auf den gleichen Stand.»[9]
Dennoch wurden die Römer nicht Opfer einer massiven Hungersnot, und darin muss die verborgene Logik des Erfolgs des Reiches gesehen werden. Anstatt in tieferem Elend zu versinken, erreichten die Römer trotz einer überstürzten demographischen Entwicklung ein wirtschaftliches Pro-Kopf-Wachstum. Es gelang ihnen, der unerbittlichen Logik des Malthus’schen Gesetzes zu trotzen oder sie zumindest zu verzögern.
In heutiger Zeit sind wir an ein jährliches Wachstum von zwei bis drei Prozent gewöhnt, an das wir unsere Hoffnungen und Pensionspläne knüpfen. Das war in der Antike ganz anders. Vorindustrielle Ökonomien waren ihrem Wesen nach ständig von Ressourcenknappheit bedroht und hatten nur beschränkt die Möglichkeit, Energie effizienter und nachhaltiger zu gewinnen und umzuwandeln. Doch die Vormoderne war weder ein langsamer und stetiger Anstieg in Richtung Moderne, noch trat der sprichwörtliche Hockeyschläger-Effekt ein – die Annahme, es habe eine ewig gleiche, öde Subsistenzwirtschaft geherrscht bis zum spektakulären Durchbruch in der Nutzung von Energie zur Zeit der industriellen Revolution. Vormoderne Gesellschaften waren vielmehr geprägt von Expansionsschüben und anschließender rückläufiger Entwicklung. Jack Goldstone schlug den Begriff «Effloreszenz» für solche Phasen der Expansion vor, wenn die Hintergrundbedingungen eine glückliche Zeitspanne lang zu echtem Wachstum führen. Dieses kann extensiv sein, wenn die Bevölkerung wächst und mehr Ressourcen produktiv genutzt werden können. Aber wie Malthus beschrieben hat, ist diese Art Wachstum letztlich nicht nachhaltig. Vielversprechender ist intensives Wachstum, wenn Handel und Technologie dazu verwendet werden, Energie aus der Umwelt effizienter zu gewinnen.[10]
Das römische Imperium bereitete den Weg für eine Effloreszenz historischen Ausmaßes. Bereits gegen Ende der Republik machte Italien frühe Schritte in Richtung sozialer Entwicklung. Ein Stück weit war die Prosperität Italiens vielleicht nur Ergebnis von Einnahmen und politischen Renditen aus den eroberten Gebieten. Aber neben diesem aus den Provinzen stammenden Wohlstand gab es echtes Wachstum, das nicht nur andauerte, nachdem die militärische Expansion an ihre äußeren Grenzen gestoßen war, sondern sich nun auch in den eroberten Provinzen ausbreitete. Die Römer beließen es nicht bei der bloßen Herrschaft über das Territorium und dem Transfer eines Teils des Überschusses von der Peripherie ins Zentrum. Die Eingliederung ins Imperium wirkte als Katalysator. Langsam, aber stetig verwandelte die römische Herrschaft das Gesicht der unterworfenen Gesellschaften. Handel, Märkte, Technologie, Urbanisierung: Das Imperium und seine zahlreichen Bewohner nahmen die Hebel der Entwicklung in die Hand. Über anderthalb Jahrhunderte lang erlebte das Imperium in großem geographischem Ausmaß sowohl intensives als auch extensives Wachstum. Es widerlegte damit nicht nur Malthus’ Berechnungen, sondern gewann zudem politisches Kapital.[11]
Dieser Wohlstand war sowohl Voraussetzung als auch Folge der Ausdehnung des Reichs. Es war ein goldenes Zeitalter. Die Stabilität des Imperiums ermöglichte demographisches und wirtschaftliches Wachstum; auf Menschen und Wohlstand wiederum beruhte die Kraft des mächtigen Imperiums. Soldaten gab es zuhauf. Die Steuersätze waren niedrig, trotzdem sprudelten die Einnahmen reichlich. Die Kaiser zeigten sich großzügig. Der große Deal mit den städtischen Eliten zahlte sich für beide Seiten aus. Der Wohlstand schien für alle und überall auszureichen. Die römischen Armeen waren Feinden an allen Fronten taktisch, strategisch und logistisch überlegen. Die Römer hatten eine Art günstiges Gleichgewicht geschaffen, das vielleicht fragiler war, als sie ahnten. Gibbons berühmtes Werk Verfall und Untergang des römischen Imperiums beginnt mit den glücklichen Tagen des zweiten nachchristlichen Jahrhunderts. Sein berühmtes Urteil lautete: «Wenn jemand aufgefordert werden sollte, die Periode in der Weltgeschichte anzugeben, während welcher die Lage des Menschengeschlechtes die beste und glücklichste war, so würde er ohne Zögern diejenige nennen, welche zwischen dem Tode des Domitian [96 n. Chr.] und der Thronbesteigung des Commodus [180 n. Chr.] verfloss.»[12]
Die Römer hatten die äußerste Grenze dessen erreicht, was unter den organischen Bedingungen einer vormodernen Gesellschaft möglich war. Es ist kein Wunder, dass der Fall eines solchen Kolosses, von Gibbon als «diese grässliche Revolution» bezeichnet, Thema fortdauernder Faszination ist.
Um 650 n. Chr. war das Römische Reich nur noch der schwache Abglanz dessen, was es einst gewesen war, ein byzantinischer Rumpfstaat mit Konstantinopel, Anatolien und ein paar verstreuten Inseln im Mittelmeer. Westeuropa war in zerstrittene germanische Königreiche zerfallen. Armeen arabischer Glaubenskrieger hatten binnen kurzem das halbe einstige Imperium an sich gerissen. Die Bevölkerung des Mittelmeerraums, die einst fünfundsiebzig Millionen betragen hatte, war ungefähr auf die Hälfte geschrumpft. Rom selbst hatte noch etwa 20.000 Einwohner, die deswegen nicht etwa reicher waren. Im siebten Jahrhundert bestand nur noch eine einzige Route, die den Westen über das Meer mit dem Osten verband. Das Währungssystem war so fragmentiert wie das politische Mosaik des frühen Mittelalters. Es existierten nur noch die primitivsten Finanzinstitutionen. Überall herrschte apokalyptische Angst, in der Christenheit wie auch im aufkommenden Islam. Das Ende der Welt schien nahe.
Dieses Zeitalter wurde gemeinhin als «dunkel» bezeichnet, doch lassen wir dieses Etikett am besten beiseite. Es riecht hoffnungslos nach Vorurteilen aus der Zeit der Renaissance und der Aufklärung und unterschätzt gänzlich die eindrucksvolle kulturelle Vitalität und das fortdauernde geistige Erbe der ganzen Epoche, die mittlerweile als «Spätantike» bezeichnet wird. Allerdings sollte man auch nicht den Zerfall des Reichs beschönigen, den ökonomischen Kollaps und den technologischen Rückschritt. Dies sind harte Fakten, so objektiv wie eine Stromrechnung, die erklärt und mit vergleichbaren Einheiten gemessen werden müssen. Beim Untergang des Römischen Reichs kehrte sich der Prozess der Effloreszenz um in Richtung geringerer Energieeffizienz und geringeren Austauschs. Was wir vor uns haben, ist eine Periode von kolossalem Staatsversagen und Stagnation. In Ian Morris’ kühnem Versuch, einen allgemeingültigen Rahmen für soziale Entwicklung zu entwerfen, erscheint der Untergang des Römischen Reichs als der größte einzelne Rückfall in der ganzen Menschheitsgeschichte.[13]
An Erklärungen für den Untergang Roms hat es nie gemangelt – es gibt geradezu einen Stau widerstreitender Theorien. Ein deutscher Althistoriker listete 210 Hypothesen auf. Manche halten der Prüfung besser stand als andere; die beiden, die als Anwärter auf die Meisterschaft in einer breit angelegten Erklärung den Spitzenplatz einnehmen, betonen die der Mechanik des imperialen Systems inhärente mangelnde Nachhaltigkeit und den zunehmenden Druck von außen an den Reichsgrenzen. Augustus, der erste Kaiser, schuf den konstitutionellen Rahmen der Monarchie. Nachfolgeregelungen blieben absichtlich unbestimmt, und die Wechselfälle des Schicksals spielten eine gefährlich große Rolle. Im Lauf der Zeit führte der Kampf um Macht und Legitimität zu selbstzerstörerischen Kriegen um das Kommando über die Armeen. Zugleich verdrängte das stetig anwachsende professionelle Korps imperialer Beamten die Netzwerke lokaler Eliten aus der Verwaltung des Reiches und trug zu einer Bürokratisierung und Schwächung des Staates bei. Der zunehmende fiskalische Druck überhitzte das System.[14]
Mittlerweile erstreckte sich das Imperium bis nach Nordbritannien, bis zu Rhein, Donau, Euphrat und den Ausläufern der Sahara. Jenseits der Grenzen träumten neidische und hungrige Völker von einem eigenen Schicksal. Die Zeit war ihr Verbündeter; im Verlauf des Prozesses, den wir heute sekundäre Staatsbildung nennen, wurden die Gegner Roms im Laufe der Jahrhunderte komplexer organisiert und furchteinflößender. Diese Bedrohungen zehrten unaufhaltsam an den Ressourcen der Grenzgebiete ebenso wie an denen des Kernlandes. Zusammen mit dynastischem Zwist erwiesen sie sich als fatal für die Geschicke des Imperiums.
Diese altvertrauten Theorien haben viel für sich und bleiben Bestandteil der im vorliegenden Buch dargestellten Geschichte. Doch in jüngerer Zeit haben es Forscher, die sich mit der Vergangenheit befassen, zunehmend mit dem zu tun, was man natürliche Archive nennen könnte. Diese kommen in vielen unterschiedlichen Formen vor: Eisbohrkerne, Felszeichnungen, Versinterungen in Höhlen, Ablagerungen in Seen und Meeressedimente geben Aufschluss über Klimaveränderungen in der Sprache der Geochemie. Jahresringe und Gletscher sind Protokolle der Geschichte der Umwelt. Diese konkreten Zeugnisse bewahren die kodierten Aufzeichnungen der Erdgeschichte. Auch die biologische und die Evolutionsgeschichte haben eine Spur gelegt, der wir folgen können. Menschliche Knochen, ihre Größe, ihre Form und ihre Verletzungen verraten viel über Gesundheit und Krankheit. Die Isotopenchemie von Knochen und Zähnen kann uns Geschichten über Ernährung, Migration und biologische Biographien der schweigenden Mehrheit erzählen. Und das umfangreichste Archiv von allen sind vielleicht die langen Nukleinsäurestränge, die wir Gene nennen. Genomnachweise können sowohl auf die Geschichte unserer eigenen Spezies als auch auf die unserer Verbündeten und Gegner, mit denen wir den Planeten geteilt haben, ein Licht werfen. Die lebende DNA ist ein organisches Archiv der Evolution. Und dass wir alte DNA aus archäologischen Funden extrahieren und sequenzieren können, ermöglicht uns, den Stammbaum des Lebens bis tief in die Vergangenheit zu rekonstruieren. Mitunter konnten wir dadurch einige der mikrobiologischen Massenmörder der Geschichte mit forensischen Mitteln auf so dramatische und definitive Weise identifizieren wie bei einer Beweisführung im Gerichtssaal. Die Technologie revolutioniert unser Wissen über die Evolution von Mikroben und Menschen.[15]
Die meisten Erzählungen über den Untergang Roms gehen von der stillschweigenden Vermutung aus, dass die Umwelt ein unveränderlicher Hintergrund dieser Geschichte gewesen sei. Als Nebenprodukt unseres Bestrebens, die Geschichte der Erdsysteme zu verstehen, wissen wir heute dank der atemberaubenden Fortschritte, die wir beim Erfassen von Daten zum Paläoklima und zur Genomgeschichte gemacht haben, dass diese Annahme falsch ist. Sie ist auch nicht einfach falsch, sondern vielmehr haarsträubend falsch. Die Erde war und ist eine schwankende Plattform menschlichen Tuns, so instabil wie ein Schiffsdeck in einem Sturm. Ihre physikalischen und biologischen Systeme sind ein sich ständig wandelnder Schauplatz und haben, wie John Brooke es nennt, für eine «stürmische Reise» gesorgt, seit es uns Menschen gibt.[16]
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