Guido Tonelli
GENESIS
Die Geschichte des Universums
in sieben Tagen
Aus dem Italienischen
von Enrico Heinemann
C.H.Beck
Keine Kultur kann existieren ohne eine Erzählung von den Ursprüngen. Der italienische Teilchenphysiker und Bestsellerautor Guido Tonelli erzählt in GENESIS die große Geschichte von der Entstehung unseres Universums, angefangen vom Big Bang und den allerersten Augenblicken danach bis zum Auftauchen des Menschen. Sein glänzend geschriebenes Buch war in Italien eines der erfolgreichsten Sachbücher des Jahres.
«Eine brillante wissenschaftliche Erzählung, die dank vieler Anekdoten, Beispiele und Geschichten komplizierte Dinge klar und einfach erklärt.» – Il Libraio
Guido Tonelli ist experimenteller Physiker am CERN in Genf und war in leitender Stellung 2012 an der Entdeckung des Higgs-Bosons beteiligt. Er hat in Italien bereits mehrere erfolgreiche populärwissenschaftliche Sachbücher veröffentlicht.
Prolog
Einführung: Die große Erzählung der Ursprünge
Gründungsmythen und Wissenschaft
Eine schwierige Sprache
Eine gefährliche Reise
Die zwei Wege der Wissenschaft
Lasst, die ihr eintretet, alle Vorurteile fahren!
Am Anfang war das Vakuum
Ein gigantisches, sich ausdehnendes Universum
Der Urknall
Ein Universum, das aus dem Vakuum entsteht
Vakuum oder null?
Vakuum und Chaos
Tag 1: Ein unaufhaltsamer Hauch bringt das erste Wunder hervor
Ein seltsames Urfeld
Eine nicht zu bremsende Expansion
Der Erfolg der Inflationstheorie
Auf der Suche nach dem rauchenden Colt
In der mythischen Ära der Großen Vereinheitlichung
Tag 2: Die sanfte Berührung eines Bosons ändert für immer alles
Der Zauber des Narziss
Die Schönheit der gebrochenen Symmetrie
Die Entdeckung des Higgs-Bosons
Wer hat die Symmetrie zwischen Materie und Antimaterie gebrochen?
Die grundlegendste der Symmetrien
Kurzer Exkurs über die Teilchenbeschleuniger der Zukunft
Tag 3: Die Geburt der Unsterblichen
Die vollkommenste der Flüssigkeiten
A Proton is Forever
Leicht, aber unverzichtbar
Die Schüchternsten und Freundlichsten gehen zuerst
Sie bilden das Herz der Sterne
Tag 4: Und endlich ward Licht
Eine Welt ohne Licht und bevölkert von dunklen Dingen
Die Stunde der Materie schlägt
Die Geheimbotschaften im Mauerversteck
Eine sehr detailreiche Erzählung
Tag 5: Der erste Stern beginnt zu strahlen
Dann traten wir hinaus und sahn die Sterne
Die epische Ära der Megasterne
Ein unglaubliches kosmisches Feuerwerk
Die Faszination der Schwarzen Sterne
Die Singularität der Schwarzen Löcher
Eine Fusion, die Gold wert ist
Tag 6: Und das Chaos verkleidete sich als Ordnung
Spira mirabilis
Galaxien, Galaxienhaufen und Kollisionen
Das Herz der Finsternis unserer Milchstraße
Schlafende Drachen soll man nicht wecken
Die feinen Pfeile des Orion
Tag 7: Ein Gewimmel komplexer Formen
Die Sonne und ihre wandelnden Begleiter
Gott sei Dank hat uns Theia verwüstet
Die Wiege der Komplexität
Exoplaneten
Was uns zu Menschen macht
Die Entstehung des Symbolischen
Am Anfang war das Thauma
Die Macht der Vorstellungskraft
Epilog: Das Pogrom zu Mariä Himmelfahrt
Danksagung
Dem kleinen Jacopo
«Dichtung hilft uns,
auf verzweifelte Weise.»
Anonymer Verfasser einer Inschrift auf der Mauer
einer Gasse im Zentrum Palermos,
Oktober 2018
«Alle Sorgen sind zu ertragen,
wenn man sie in eine Geschichte packen
oder eine Geschichte über sie erzählen kann.»
Isak Dinesen (zitiert nach Hannah Arendt)
«Die Verwurzelung ist wohl das wichtigste
und am meisten verkannte Bedürfnis
der menschlichen Seele.»
Simone Weil
Hallo, Professor? Darf ich Ihnen eine Frage stellen? Habe ich das richtig verstanden, dass es immer noch ein Vakuum ist? Das gesamte uns umgebende Universum, meine ich? Sogar mit Donald Trump und den Aktionären von Fiat Chrysler Automobiles, die mich ganz verrückt machen? Zu schön. Wunderbar. Ich wusste schon immer, dass ich hätte Physik studieren und diesen ganzen Unfug sein lassen sollen, mit dem ich mich seit vierzig Jahren befasse.»
Sergio Marchionne ruft mich aus den Vereinigten Staaten an, am Ende seiner üblichen hektischen Arbeitswoche: ein paar Tage in Maranello, dem Sitz von Ferrari, im Hubschrauber nach Turin, um nach Detroit zu fliegen, dort die Woche zu beenden und den Turnus von vorn zu beginnen. Wenig Abwechslung, keine Pausen und auch keine Zeit zur Entspannung.
Alles begann Ende Juli 2016, als ich eine Einladung erhielt, zu einem Interview das Ferrari-Werk zu besichtigen, für mich Gelegenheit, die Wunderwerke der Technik persönlich in Augenschein zu nehmen. Ich kam mit jungen Monteuren und Ingenieuren ins Gespräch, die sich aufopfernd wie Handwerker der alten Schule um die neuen Modelle kümmern. Der Vormittag verging wie im Flug. Jetzt sitzen wir am Tisch des Restaurants, in dem Enzo Ferrari regelmäßig zu Mittag gegessen hat. Rings um uns herum Fotos des «Patriarchen» und Trophäen zahlreicher Siege. Während wir über Formel 1 und Elektro-Ferraris reden, kommt völlig überraschend ein Anruf: Sergio Marchionne fragt, ob ich in seinem Büro vorbeischauen könnte.
Ich fahre durch die Etagen in der Überzeugung nach oben, einen Höflichkeitsbesuch zu absolvieren, aber noch ehe ich mich setzen kann, kommt abrupt die am wenigsten erwartete Frage: «Glauben Sie eigentlich an Gott, Professor?»
Bei so einem Auftakt ist klar, dass es bei einem kurzen förmlichen Gruß nicht bleiben wird. Die nächste Stunde bringen wir mit einem Gespräch darüber zu, wie sich das Universum gebildet hat, diskutieren, was das Vakuum ist, und fragen uns, wie die Raumzeit entstand und wie sie enden wird. Marchionne zündet sich eine Zigarette nach der anderen an, während er zu allem Erklärungen verlangt. In seinen Augen lese ich echte Neugierde und Staunen. «Diese Dinge hätte ich als junger Mann studieren wollen. Bei mir hat es nie dazu gereicht, mich naturwissenschaftlichen Fragen zu stellen. Deswegen habe ich in Philosophie abgeschlossen. Und dann hat mich das Leben in eine andere Richtung gelenkt.» Er erzählt mir von seiner keineswegs einfachen Jugend in Kanada und den eher zufälligen Umständen, unter denen er zum Chef eines der bekanntesten Unternehmen der Welt aufstieg. Als mich die Sekretärin darauf aufmerksam macht, dass der Fahrer, der mich zum Flughafen bringen soll, allmählich nervös wird, weil ich meinen Rückflug verpassen könnte, müssen wir uns verabschieden. Zuvor hat mich Marchionne noch um eine Widmung für sein Exemplar meines Buchs La nascita imperfetta delle cose (Die unvollendete Geburt der Dinge) gebeten, und ich habe ihm angedroht, irgendwann nachzufragen, ob er es auch gelesen hat. Als er mich nach einigen Wochen zum ersten Mal anruft, wird mir klar, dass er drangeblieben ist.
Der entstandene Kontakt führt mich Monate später nach Modena, wo Ferrari das jährliche Treffen mit den Führungskräften seiner Partnerunternehmen veranstaltet. Beim Abendessen setzen wir unser Fragespiel fort, in das sich ab und zu auch andere Gäste einschalten. Den Abend über diskutierten wir über Schwarze Löcher, Stephen Hawking und Gravitationswellen. Kurz vor dem Dessert bittet Marchionne um Ruhe und fordert mich auf, das Wort zu ergreifen. Ich soll erzählen, wie das Universum entstanden und wie das Higgs-Boson entdeckt worden ist, und zwar ohne Rücksicht auf Verluste: «Zeigen Sie es ihnen, Professor. Ich möchte, dass diese Kerle begreifen, welches die wirklich wichtigen Dinge in der Welt sind.»
Am Ende des Abends, als er sich bei mir einhakt, sagt er mir: «In ein paar Jahren ziehe ich mich aus allem zurück und befasse mich wieder mit Physik. Sie müssen versprechen, mir eine kurze Liste mit Schriften über Quantenmechanik und Elementarteilchen zusammenzustellen, allgemeinverständlich, aber nicht zu grob vereinfachend, damit ich die Sache besser verstehe.»
Ich sage immer wieder, dass die großen Fragen, mit denen sich die Physik beschäftigt, in jedem von uns stecken, und dass die uranfängliche Neugierde noch immer in der Seele jedes Einzelnen brennt. Ich verspreche, ihm die Literaturliste zu schicken, kann aber eine gewisse Skepsis in meinem Blick nicht unterdrücken: «Glauben Sie mir, Professor, ich mache das.» In dem Moment konnte sich keiner von uns beiden vorstellen, wie schnell eine Krankheit – Marchionne starb am 25. Juli 2018 – solche Pläne durcheinanderbringen kann.
Einführung
Als vor rund 40.000 Jahren in einer zweiten Migrationswelle der Homo sapiens aus Afrika in Europa eintraf, bevölkerten die Neandertaler bereits weite Teile des Kontinents. In kleinen Klans organisiert, besiedelten sie Schluchten, in denen sich untrügliche Anzeichen für eine komplexe, auf Symbolen beruhende kollektive Vorstellungswelt finden: Felswände, bemalt mit Symbolen und Tierdarstellungen, menschliche Überreste in Embryonalstellung, Knochen und große, zu rituellen Kreisen arrangierte Stalaktiten. Zahllose Zeugnisse einer Zivilisation, die aller Wahrscheinlichkeit nach eine ausgereifte Sprache besaß, die wir niemals ergründen werden.
Folglich kann man sich eine Erzählung der Ursprünge der Welt vorstellen, die schon in diesen Höhlen widerhallte, mit Alten, die den ganz Jungen – mit der Kraft des Wortes und der Magie der Erinnerung – eine uralte Geschichte überlieferten. Es sollte Tausende Generationen dauern, ehe uns Hesiod mit der Theogonie ein schriftliches Zeugnis dieser Erzählung hinterließ und damit als Erster eine Verbindung zwischen Dichtung und Kosmologie knüpfte.
Diese Erzählung der Ursprünge setzt sich dank des wissenschaftlichen Wortes bis heute fort. Auch wenn Gleichungen nicht die beschwörende Kraft der dichterischen Sprache haben, wirken die Anschauungen der modernen Kosmologie – die eines aus Vakuumfluktuation oder der kosmischen Inflation hervorgegangenen Universums – auf uns immer noch atemberaubend.
Alles rührt von einer einfachen Frage her, der man sich nicht entziehen kann: «Woher kommt das alles?»
Diese Frage beschäftigt nach wie vor überall auf der Welt Menschen der verschiedensten Kulturkreise, sie eint Zivilisationen, zwischen denen Welten zu liegen scheinen. Ob Kinder oder Führungskräfte, Naturwissenschaftler oder Schamanen, Astronauten oder die letzten Vertreter der kleinen Gruppen von Jägern und Sammlern, die noch isoliert in einigen Gebieten Borneos oder am Amazonas leben: Sie alle stellen sich diese Frage.
Sie ist so ursprünglich, dass manch einer sich vorstellt, dass die Spezies, die uns vorangingen, sie uns geradezu in die Wiege gelegt hätten.
Für die Kuba im Kongo war der Schöpfer des Universums der große Mbombo, Herr über eine finstere Welt, der die Sonne, den Mond und die Sterne ausspie, um sich von einem schrecklichen Magengrimmen zu befreien. Laut den Fulbe in der Sahelzone verwandelte der Held Doondari einen gewaltigen Tropfen Milch in Erde, Wasser, Eisen und Feuer. Für die Pygmäen in den Wäldern Äquatorialafrikas ging alles aus einer riesigen Schildkröte hervor, die im Urmeer Eier ablegte.
Am Anfang von Schöpfungsmythen steht fast immer ein furchteinflößendes Unbestimmtes: das Chaos, die Finsternis, die uferlosen Weiten eines Meers, ein großer Nebel, eine wüste Erde. Bis ein überirdisches Wesen eingreift, um Form hineinzutragen und Ordnung zu stiften: Das große Reptil, das Urei, der Held oder der Schöpfer taucht auf, um Himmel und Erde, Sonne und Mond voneinander zu scheiden und Tieren und Menschen Leben zu spenden.
Ordnung zu schaffen ist ein notwendiger Übergang, weil so die Regeln bestimmt und die Grundlagen für Abläufe gelegt werden, die einem gemeinschaftlichen Leben den Takt vorgeben: die Zyklen von Tag und Nacht sowie der Wechsel der Jahreszeiten. Das uranfängliche Chaos beschwört die Urangst, den Schrecken herauf, entfesselten Naturkräften zum Opfer zu fallen, ob reißenden Bestien oder Erdbeben, Dürren oder Sintfluten. Aber wird die Natur so geprägt, dass sie den Regeln dessen gehorcht, der Ordnung in die Welt getragen hat, dann kann die zerbrechliche menschliche Gemeinschaft überleben und sich weiter fortpflanzen. Die natürliche spiegelt sich in der gesellschaftlichen Ordnung wider, in einer Menge aus Regeln und Tabus, die bestimmen, was erlaubt und was absolut verboten ist. Wenn die Gruppe, der Stamm oder das ganze Volk den Regeln dieses uranfänglichen Pakts folgt, schützt dieser Zaun aus Geboten die Gemeinschaft vor der Auflösung.
Aus dem Mythos gehen auch weitere Konstrukte hervor, aus denen sich Religion und Philosophie, Kunst und Wissenschaft entwickeln, Disziplinen, die ineinandergreifen und sich wechselseitig befruchten und das Erblühen tausendjähriger Kulturen ermöglichen. Diese Verflechtung beginnt sich mit dem Zeitpunkt aufzulösen, ab dem die wissenschaftlichen Disziplinen eine stürmische Entwicklung erfahren, die, verglichen mit der anderer spekulativer Ansätze, unverhältnismäßig rasant voranschreitet. Die schläfrige Gangart von Gesellschaften, die über Jahrhunderte unverändert blieben, beschleunigt sich abrupt durch Entdeckungen, die die Lebensart ganzer Völkerschaften umwälzt. Schlagartig wird alles anders und wandelt sich weiterhin in fürchterlichem Tempo.
Mit der Weiterentwicklung der Naturwissenschaften entsteht die Moderne. Die Gesellschaften werden dynamisch und stetigen Wandlungen unterzogen. Zwischen den sozialen Gruppen beginnt es zu brodeln. Die herrschenden Schichten machen tiefgreifende Veränderungen durch. Jahrhundertealte Gleichgewichte geraten binnen weniger Jahrzehnte, wenn nicht Jahre aus der Balance.
Aber am grundlegendsten verändert sich nicht die Art, wie wir kommunizieren oder Wohlstand produzieren, uns heilen lassen oder verreisen. Die radikalsten Veränderungen finden einmal mehr in unserer Betrachtung der Welt statt und darin, wie wir uns folglich selbst verorten. Die Erzählung der Ursprünge, die aus der modernen Wissenschaft hervorgeht, gewinnt sehr rasch eine Stichhaltigkeit und Vollständigkeit, gegen die nur schwer anzukommen ist. Keine andere Disziplin liefert überzeugendere Erklärungen, die anhand einer Fülle von Beobachtungen überprüfbar und mit diesen zur Deckung zu bringen sind.
Die geistige Landschaft, in der sich die Menschheit bewegt, ihre magischen und geheimnisvollen Züge, die sie Jahrtausende umgaben, geht in diesem Prozess zunehmend verloren. Doch zugleich entwickelt sich eine Weltsicht, die an Unglaublichkeit unser Vorstellungsvermögen noch übertrifft. Die Wissenschaft erzählt uns unsere Ursprünge in einer Geschichte, die deutlich fantastischer und gewaltiger als die der Mythen ist. Um diese Erzählung zu formen, haben die Forscher die entlegensten und winzigsten Bereiche des Realen erkundet, sich zur Erforschung der fernsten Welten aufgemacht und sich mit Zuständen von Materie befassen müssen, die so anders waren als die uns gewohnten, dass es einen geradezu schwindelt.
Daraus gehen die Paradigmenwechsel hervor, die eine Epoche bestimmen und auf unumkehrbare Weise unsere Maßstäbe verändern. Die unablässige rasante Abfolge der Entdeckungen gibt dieser Bewegung, die sich unter der Oberfläche vollzieht, ein Tempo vor wie der gewaltige Druck des glühenden Magmas, das die Erdkruste zerknautscht und sie mitunter unweigerlich aufreißt.
Die Erzählung, die die Wissenschaft vom Ursprung des Universums liefert, prägt schon jetzt unser Leben, verändert die Fundamente, auf denen wir neue Gesellschaftsverträge schließen, eröffnet unerhörte Szenarien von Chancen und Risiken und bestimmt die Zukunft künftiger Generationen mit.
Deswegen muss die Erzählung der Ursprünge, die uns die Wissenschaft heute vorlegt, allen so bekannt werden wie einst die Gründungsmythen der eigenen Polis, mit denen jeder im antiken Griechenland vertraut war. Dazu gilt es allerdings, ein großes Hindernis zu überwinden: Es ist die wissenschaftliche Sprache, in der die neue Weltsicht vorgetragen wird, die uns Schwierigkeiten bereitet.
Alles begann mit einer scheinbar nebensächlichen Episode, die sich vor etwas mehr als vierhundert Jahren ereignete, mit einem Gelehrten aus Pisa als Helden, der an der Universität Padua Geometrie und Mechanik unterrichtete. Als Galileo Galilei sich daranmacht, das seltsame Rohr eines holländischen Linsenschleifers so umzubauen, dass er mit ihm Himmelskörper beobachten kann, ahnt er nicht im Entferntesten, welchen Ärger er sich einhandeln wird. Und noch weniger sieht er den Aufruhr voraus, den seine Beobachtungen in aller Welt hervorrufen werden.
Was Galilei durch dieses System aus Linsen entdeckt, macht ihn sprachlos: Der Mond ist keineswegs der vollkommen runde Himmelskörper, den die maßgeblichen Schriften beschreiben. Anstatt aus unverwüstlicher Materie zu bestehen, zeigt er Berge, Krater mit zerklüfteten Rändern und Ebenen ähnlich denen auf der Erde. Die Sonne hat Flecken und dreht sich um die eigene Achse. Die Milchstraße ist eine gewaltige Zusammenballung aus Sternen. Die «Sternchen», die den Jupiter umgeben, umkreisen ihn als mondähnliche Trabanten.
Als er 1610 all dies in Sidereus Nuncius («Sternenbote») veröffentlicht, tritt er – wohl ohne sich dessen bewusst zu sein – eine Lawine los, die ein ganzes Glaubens- und Wertesystem, das seit über tausend Jahren vorherrschte und das niemand infrage zu stellen gewagt hätte, ins Wanken bringt.
Mit Galilei bricht die Neuzeit an: Der Mensch macht sich von jedweder Bevormundung frei und steht, nur mit dem eigenen Verstand gewappnet, einsam vor der Größe des Universums. Der Wissenschaftler sucht nicht mehr in Büchern nach der Wahrheit, kuscht nicht mehr vor dem Autoritätsprinzip, betet nicht mehr die altüberlieferten Formeln herunter, sondern unterzieht alles entschlossenster Kritik. Wissenschaft wird zur kreativen Suche nach «provisorischen Wahrheiten», die durch «vernünftige Erfahrung» und «zwingende Beweisführung» ermittelt werden.
Die Stärke der wissenschaftlichen Methode beruht darauf, Vermutungen mithilfe von Methoden zu überprüfen, mit denen sich unterschiedlichste Naturphänomene beobachten, messen und katalogisieren lassen. Die Ergebnisse von Experimenten – «vernünftige Erfahrungen», wie Galilei sie nennt – entscheiden darüber, ob eine Vermutung taugt oder aufgegeben werden muss. Bald erbringen seine Beobachtungen unwiderlegbare Nachweise, die Kopernikus’ und Keplers «wahnwitzige» Theorien bestätigen, und verändern wenig später das Weltbild so radikal, dass kein Stein auf dem anderen bleibt. Kunst, Ethik, Religion, Philosophie und Politik – schlicht alles wird erschüttert durch diese begriffliche Revolution, die den Menschen mit seinem Verstand ins Zentrum von allem rückt. Die Erschütterungen, die von dem neuen Ansatz in einem insgesamt überschaubaren Zeitraum ausgehen, sind so tiefgreifend wie wohl noch nie zuvor in der Geschichte.
Die galileische Wissenschaft ist deshalb so revolutionär, weil sie sich nicht anmaßt, die Wahrheit zu besitzen, sondern unablässig nach Widerlegungen der eigenen Vorhersagen sucht. Sie begeistert sich für den Gedanken, die bis dahin erworbenen Gewissheiten auf einen Satz zum Einsturz zu bringen. Sie korrigiert sich selbst auf der Grundlage experimenteller Überprüfung. Und um ihre immer komplexeren Vermutungen Härtetests zu unterziehen, hebt sie schließlich dazu an, die entlegensten Bereiche der Materie und des Universums zu ergründen.
Aus diesem geduldigen und reflektierten Ansatz gehen neue Anschauungen hervor, die auch schwer begreifbare und scheinbar nebensächliche Phänomene erfassen. Während so ein immer vollständigeres und wirklichkeitsgetreueres Weltbild entsteht, werden die ausgefallensten Naturphänomene bis ins Kleinste beherrscht und immer raffiniertere Technologien entwickelt.
Als Preis für die Verfolgung dieses Wegs kommen zunehmend komplexe Instrumente und eine Sprache zum Einsatz, die sich vom gesunden Menschenverstand immer weiter entfernt. Kaum tritt man ein Stück weit aus der Umgebung heraus, in der sich unser Alltagsleben abspielt, erweisen sich die Werkzeuge und der Begriffsapparat, die gewöhnlich unsere Herangehensweise steuern, als vollständig unzulänglich. Um die winzigen Dimensionen, in denen sich die Geheimnisse der Materie verbergen, oder die immensen kosmischen Räume zu erkunden, die vom Ursprung des Universums zeugen, benötigen wir weitaus spezielleres Gerät und jahrelange Vorbereitung.
Dies darf nicht überraschen. Auch die abenteuerlichsten Erkundungen der Erde erfordern gewaltige Anstrengungen und besondere Instrumente. Man denke an Extremregatten, Bergbesteigungen im Himalaya oder Expeditionen in Tiefseegräben. Warum sollte sich wissenschaftliche Forschung einfacher gestalten?
Wer die Physik also wirklich wertschätzen will, muss sich jahrelangen Anstrengungen unterziehen, Gruppentheorie und Differentialrechnung studieren, sich in die Relativitätstheorie und Quantenmechanik einarbeiten sowie Feldtheorie erlernen – alles schwierige Gebiete in einer Sprache und mit Begriffen, die selbst derjenige nur schwer meistert, der sie seit Jahren praktiziert. Aber die fachsprachliche Barriere, die die meisten daran hindert, ins Herz der modernen wissenschaftlichen Forschung vorzudringen, lässt sich leicht beiseiteräumen. Auch die gewöhnliche Sprache kann dazu dienen, Grundbegriffe zu erläutern und vor allem das neue Weltbild, das die Wissenschaft gegenwärtig erstellt, jedermann zugänglich zu machen.
Um den Ursprung unseres Universums zu verstehen, muss man sich allerdings auf eine hochriskante Reise einlassen. Gefährlich ist sie deshalb, weil sie unser Denken in so unbekannte Bereiche führt, dass sich unsere gewöhnlichen Kategorien als völlig untauglich erweisen. So werden wir gezwungen, das Unsagbare zu sagen, uns das Unvorstellbare vorzustellen und bis an die Grenzen der Verstandeskraft eines Homo sapiens sapiens vorzustoßen, der zwar höchst erfolgreich darin war, den Planeten zu erobern und zu besiedeln, sich aber ganz untauglich dabei zeigt, eingehend zu verstehen, was sich in so weiten Fernen abspielt. Wie den antiken Entdeckern bleibt uns nichts anderes übrig, als in Richtung Horizont loszusegeln und uns auf die Fährnisse und Ungewissheiten in einem unbekannten Ozean einzulassen.
Gleichwohl ist in der Naturwissenschaft auch die Rückkehr in den Heimathafen wichtig. In diesem Punkt ähnelt der moderne Forscher stark Odysseus, der überall, wo er sich aufhält, stets den Moment herbeisehnt, an dem er wieder Ithaka anlaufen wird. Nach Hause zurückzukehren heißt, anderen Seeleuten berichten zu können, welche Routen nicht weiterführen oder wo gefährliche Untiefen lauern, und das selbst dann, wenn die Fahrt an keine neuen Gestade geführt hat oder im Schiffbruch geendet ist.
Denn moderne Wissenschaft ist auch ein großes kollektives Abenteuer. Obwohl uns Theorien und Karten leiten, führt uns der Zufall häufig an völlig unbekannte Orte. Wir haben «Schiffe», die bis ins kleinste Detail gewartet werden, bei denen aber womöglich schon ein winziges Versäumnis genügt, um die Katastrophe heraufzubeschwören. Unsere Besatzung ist eine bunte und ungestüme Truppe aus Tausenden begeisterter Köpfe, moderne geduldige und neugierige Forscher, die so geschwind wie Odysseus neue Listen ersinnen, um jedes unvorhergesehene Hindernis zu überwinden.
Obwohl die Ziele unserer Forschungen geradezu philosophische Fragen berühren (Woraus besteht Materie? Wie entstand das Universum? Wie wird unsere Welt enden?), gehört die Arbeit der experimentellen Physiker zu den denkbar praktischsten Tätigkeiten.
Ein Teilchenphysiker, einer der zehntausend Forscher auf der Welt, die das Verhalten der winzigsten Materiefetzen untersuchen, sitzt nicht am Schreibtisch, um Berechnungen anzustellen, über Theorien zu brüten und neue Teilchen zu ersinnen. Ein modernes Gerät der Hochenergiephysik ragt so hoch wie ein fünfstöckiges Wohnhaus auf, wiegt so viel wie ein Kreuzfahrtschiff und ist mit zig Millionen Sensoren bestückt. Um diese Wunderwerke der Technik zu konstruieren und in Betrieb zu nehmen, sind Tausende von Personen und eine detailversessene Arbeit notwendig, die sich über Jahrzehnte hinziehen kann. Um neue, noch raffiniertere Instrumente zu bauen – um wendigere und schnellere «Schiffe» für unsere Fahrten vom Stapel zu lassen –, vergehen Jahre, in denen Prototypen entwickelt, mühselig getestet und dann in großem Maßstab hergestellt werden. Und auch wenn die so geduldig gewarteten Detektoren im Experiment installiert sind und monatelang reibungslos funktionieren, schwebt über allem immer die Furcht vor dem Desaster. Ein vernachlässigtes Detail, ein defekter Chip, ein brüchiger Leiter, ein schlampig zusammengeschweißtes Kühlrohr kann dem gesamten Gemeinschaftsunternehmen jederzeit irreparable Schäden zufügen. Ob das Experiment in einem glänzenden wissenschaftlichen Erfolg oder in der jämmerlichsten Niederlage endet, entscheidet sich häufig an einer dummen, unerheblichen Kleinigkeit.
Wie erlangt man experimentelle Erkenntnisse zur Entstehung der Raumzeit? Wie untersuchen Forscher die ersten Zuckungen des entstehenden Kosmos? Hier kommen die beiden Wege der Erkenntnisgewinnung ins Spiel, die unabhängig voneinander und auf ganz verschiedene Weise zu Ergebnissen führen.
Einerseits erforschen Teilchenphysiker das schier unendlich Kleine. Ihr Ausgangspunkt sind die ganz speziellen Merkmale der uns umgebenden Materie – aus der Felsen und Planeten, Blumen und Sterne, also alles, auch wir selbst bestehen –, Eigenschaften, die uns gewöhnlich erscheinen, aber in Wahrheit ganz besonders sind, mitsamt der Tatsache, dass es sich beim Universum um eine sehr alte und besonders kalte Struktur handelt. Die neuesten Daten verraten uns, dass «unser Haus» vor fast 14 Milliarden Jahren errichtet wurde und es eine wahrhaft eisige, ja geradezu unmöglich kalte Umgebung bildet. Auf dem isolierten Planeten Erde erscheint uns alles mild und behaglich, doch kaum verlässt man die schützende Hülle der Atmosphäre, stürzt die Thermometeranzeige ab. Misst man die Temperatur an einem beliebigen Punkt in der schier endlosen Leere zwischen den Sternen oder im intergalaktischen Raum, misst das Thermometer nur wenige Grade über dem absoluten Nullpunkt. Rund –270 Grad Celsius. Die Materie des gegenwärtigen – auseinandergezogenen, uralten und eiskalten – Universums verhält sich ganz anders als die des ganz jungen Kosmos, der ein glühend heißes Objekt von ungeheurer Dichte war.
Um zu verstehen, was in diesen allerersten Augenblicken des Daseins geschah, muss man sich etwas einfallen lassen und Möglichkeiten ersinnen, um winzige Teilchen heutiger Materie wieder auf die Extremtemperaturen zu erhitzen, die diese uranfänglichen Zustände kennzeichneten. Man muss gewissermaßen eine Zeitreise rückwärts zu unternehmen versuchen.
Und eben dies besorgen Teilchenbeschleuniger. Sie lassen Protonen oder Elektronen mit hoher Energie aufeinanderprallen und machen sich dabei Einsteins Relativitätstheorie zunutze: Energie ist gleich Masse mal Lichtgeschwindigkeit zum Quadrat. Je gewaltiger die Energie beim Aufprall, desto höher die erzeugte örtliche Temperatur und desto größer die Masse der Teilchen, die bei einem solchen Crash entstehen und sich untersuchen lassen. Um größte Energiemengen zu erreichen, braucht es gigantische Apparate wie den Großen Hadronen-Speicherring (LHC), den großen Teilchenbeschleuniger des CERN, der mit knapp 27 Kilometern Länge bei Genf unter der Erde verläuft.
Dabei erhitzen sich winzige Teile des Raums auf ähnlich hohe Temperaturen, wie sie im Uruniversum herrschten, und erwecken dabei ausgestorbene Teilchen neuerlich zum Leben: ultramassereiche Teilchen, die das glühend heiße Objekt der ersten Augenblicke bevölkerten und seit Urzeiten verschwunden sind. Dank der Teilchenbeschleuniger treten sie für einen Augenblick aus dem eisigen Sarkophag heraus, in dem sie gleichsam Winterschlaf hielten, und können eingehend untersucht werden. Auf die Art haben wir das Higgs-Boson entdeckt. Nach einem Schlaf, der 13,8 Milliarden Jahre währte, erweckten wir von ihm eine Handvoll Exemplare wieder zum Leben. Diese so intensiv gesuchten Bosonen zerfielen zwar sofort wieder in leichtere Teilchen, hinterließen in unseren Detektoren aber charakteristische Spuren. Von dem Zerfall häuften sich Bilder an, und sobald wir die Gewissheit hatten, dass sich das Signal vom Hintergrund unterschied und mögliche andere Fehlerquellen ausgeschlossen werden konnten, verkündeten wir der Welt unsere Entdeckung.
Das verschwindend Kleine zu erforschen, ausgestorbene Teilchen zu rekonstruieren und die exotischen Zustände der Materie zu untersuchen, die unser Uruniversum bestimmten: Darin besteht einer der beiden Wege, auf denen sich die frühesten Augenblicke im Leben der Raumzeit nachvollziehen lassen. Der andere Weg besteht darin, mit Superteleskopen, riesigen Instrumenten, die das schier unendlich Große ins Visier nehmen, Sterne, Galaxien und Galaxienhaufen zu erkunden und so zu versuchen, das Universum als Ganzes zu beobachten. Auch dabei dient die Einstein’sche Relativitätstheorie, der zufolge die Lichtgeschwindigkeit bei c, bei rund 300.000 Kilometern pro Sekunde, liegt: Sie ist ungeheuer, aber nicht unendlich hoch. Beobachtet man ein sehr weit entferntes Objekt, eine Galaxie, die Milliarden von Lichtjahren von uns entfernt ist, sehen wir es nicht so, wie es heute ist – wobei dieses Heute allerdings schwierig zu definieren ist –, sondern wie es vor Milliarden Jahren, also zu dem Zeitpunkt erschien, als es das Licht aussandte, das uns erst jetzt erreicht.
Mit den Superteleskopen, die einen Blick auf sehr große und weit entfernte Objekte ermöglichen, kann man «live» sämtliche wichtigen Entstehungsphasen des Universums beobachten und wertvolle Daten zur Geschichte unseres Kosmos sammeln. Verfolgt man die ersten zaghaften Signale, die Tausende neuer Sterne aussenden, die im Kern gewaltiger Gasnebel aufzuglühen beginnen, gewinnt man ein Verständnis, wie sich neue Sterne bilden. Man entdeckt, wie sich in der ringförmigen Scheibe, die einen neugeborenen Stern umgibt, Gas und Staub verdichten, ein sicheres Anzeichen für ein neu entstehendes protoplanetarisches System. Auf diese Art traten unsere Sonne und die sie umkreisenden Planeten ins Leben, und so etwas «live» miterleben zu dürfen, ist schlichtweg fantastisch.
Blickt man noch tiefer ins All hinein, wohnt man der Entstehung der ersten Galaxien bei, der turbulenten Objekte, von denen manche riesige Mengen an Strahlung in allen Wellenlängen aussenden, ein untrügliches Anzeichen für traumatische Geburten. Mit Superteleskopen können wir schließlich das Wunder des Universums als Ganzes beobachten und einige seiner Eigenschaften mit erstaunlicher Präzision messen. Die räumliche Verteilung der Temperatur im Universum ist ein fantastisches Gedächtnis, das vielsagende Spuren der Geschehnisse birgt, die sich in den allerersten Augenblicken des Kosmos zugetragen haben: Winzige Temperaturschwankungen verraten uns Dinge aus frühester Vergangenheit in einer Sprache, die wir seit geraumer Zeit entschlüsseln können.
Aber das Verblüffendste ist, dass die beiden Wege der Erkenntnis, obwohl sie auf so unterschiedlichen, geradezu gegensätzlichen Methoden beruhen und von zwei völlig unabhängig arbeitenden Wissenschaftsgemeinschaften eingesetzt werden, zu absolut übereinstimmenden Ergebnissen führen: Die Daten, die in der Welt der winzigsten Ausdehnungen, der der Elementarteilchen, gesammelt werden, fügen sich mit denen aus der Welt der gewaltigen kosmischen Distanzen unweigerlich zur gleichen Erzählung der Ursprünge zusammen.
Der wissenschaftliche Diskurs verlangt vor allem, sich von Vorurteilen in jedweder Form zu befreien. Echte Forscher fürchten sich nicht vor dem Unerwarteten, sondern brennen im Gegenteil darauf, auf unvorhergesehene Phänomene zu stoßen. Wie die Argonauten der Sage, die sich auf der Suche nach dem Goldenen Vlies einschifften, treibt sie eher die Neugierde als die Aussicht auf Belohnung an. Sie suchen nicht die Geruhsamkeit, sondern lieben das Risiko.
Wenn man eine Reise zu den Ursprüngen der Welt unternimmt, wie wir sie in Angriff nehmen, müssen wir uns von den Anschauungen, die uns im Alltagsleben leiten – so die Beständigkeit der Dinge, die uns beruhigende scheinbare Harmonie um uns herum –, sofort und für immer trennen. Wir können das Universum nicht länger mit dem Wort «Kosmos» bezeichnen, insofern es uns bislang als ein geordnetes und regelmäßiges System erschien, das wir dem Chaos, einer Unordnung, entgegensetzten, die an entlegene und bedeutungslose Winkel verbannt war.
Unser Alltagsleben, das, was wir in der dünnen Sphäre um uns herum gewöhnlich sehen und erfahren, hat uns so stark geprägt, dass wir uns ganz selbstverständlich vorstellen, dass dieselben Gesetze, die unsere Existenz regieren, auch jeden anderen Bereich des Universums beherrschen. Fasziniert von der Regelmäßigkeit, mit der die Nächte auf die Tage folgen, sich die Mondzyklen und die Jahreszeiten wiederholen, sowie von der Beständigkeit der Sterne, die das Himmelsgewölbe erhellen, stellen wir uns vor, dass überall ähnliche Gleichgewichte herrschen. Aber dem ist nicht so. Im Gegenteil.
Wir existieren erst seit wenigen Millionen Jahren, und unsere Lebensdauer ist nach den Maßstäben jedes bedeutsamen kosmischen Zyklus verschwindend gering. Wir bewohnen einen Gesteinsplaneten mit gemäßigten Temperaturen, reich an Wasser und umgeben und geschützt von einer behaglichen Atmosphäre und einem behütenden Magnetfeld, die wie Wunderdecken die ultraviolette Strahlung filtern und uns gegen kosmische Strahlen und Teilchenschwärme abschirmen, die ohne sie verheerend wirkten. Unser Mutterstern, die Sonne, ist von mittlerer Größe und liegt, eher am Rand angesiedelt, in einer sehr ruhigen Region unserer Heimatgalaxie. Unser Sonnensystem als Ganzes umkreist träge, wenn man so sagen kann, in einem Abstand von 26.000 Lichtjahren das Zentrum der Milchstraße – in sicherer Entfernung zu Sagittarius A*, einem monströsen Schwarzen Loch, das vier Millionen Sonnenmassen auf die Waage bringt und in der Lage ist, Tausende von Sternen in seinem Umfeld zu zerstören.
Beobachtet man aufmerksam die Phänomene, die um scheinbar stillstehende und friedliche Himmelskörper wie die Sterne herum in Erscheinung treten, so stößt man auf unglaubliche Objekte und stellt fest, dass sich gewaltige Materiemassen auf ganz exotische Weise verhalten.
Dies gilt für die Pulsare, finstere und kompakte Objekte, in denen auf einen Radius von rund 10 Kilometern die Masse von einer oder zwei Sonnen konzentriert ist: in Form von Neutronen, zusammengedrückt von der Schwerkraft, die sie zerquetscht, gewaltig verdichtet und zu zertrümmern versucht, während der Stern mit schwindelerregender Geschwindigkeit um die eigene Achse rotiert und ungeheure Magnetfelder erzeugt.
Ganz zu schweigen von den Quasaren und Blazaren, Körpern von gewaltiger Dichte, die im Zentrum mancher Galaxien ihr Geheul veranstalten. Schwarze Löcher mit riesigen Massen, bis zum Milliardenfachen der Sonne, die mit ihrem monströsen Gravitationsfeld unglückselige Sterne einfangen und schließlich verschlingen können. Ein makabrer Tanz, der sich über Millionen Jahre abspielt und den wir von der Erde aus beobachten können, weil die Materie, die trudelnd in diesen Abgrund stürzt, sich krümmt, auflöst und am Ende hochenergetische Jets und Gammastrahlen ausstößt, die unsere Detektoren aufspüren können.
Diese seltsamen Himmelskörper, Neutronensterne und Schwarzen Löcher rufen unvorstellbare Katastrophen hervor, die in ganzen Regionen des «Kosmos» als Normalfall erscheinen. Aber heute können wir sie mit großer Genauigkeit untersuchen, so präzise, dass wir manche schon dabei beobachten konnten, wie sie in eine Kollision eintraten und die Raumzeit mit Gravitationswellen erschütterten, die aus Milliarden Lichtjahren Entfernung auch unseren Planeten erreichten.
Doch um zu erkennen, dass sich hinter dem Anschein des geordneten Kosmos das Chaos verbirgt, ist ein so weit reichender Blick gar nicht notwendig. Man muss nur die Oberfläche der Sonne von Nahem beobachten. Was als ein beschauliches Gestirn erscheint, das friedlich unsere Tage erhellt, erweist sich aus der Nähe als ein komplexes und chaotisches System aus endlosen thermonuklearen Explosionen, Konvektionsströmungen, gewaltigen periodischen Massenschwankungen und Plasmaflüssen, die durch mächtige Magnetfelder überall umhergeschleudert werden. Im Inneren unseres Zentralgestirns spielt sich ein titanisches Kräftemessen ab, eine Schlacht, die seit Äonen tobt, mit einem von vornherein feststehenden Sieger: der Gravitation. Wenn in einigen Milliarden Jahren der nukleare Brennstoff zur Neige geht, wird es ihr schließlich gelingen, in den inneren Schichten die Atome zu zertrümmern und zu zermalmen und damit den Kollaps unserer Sonne herbeizuführen. Der innere Kern stürzt in sich zusammen, während sich die äußeren Schichten bis zu Merkur, Venus und Erde aufblähen und sie sogleich verdampfen lassen.
Dass stark chaotische Systeme, aus der Ferne betrachtet, geordnet und regelmäßig erscheinen, gilt auch für das andere Extrem der Beobachtungen: für die Welt des schier unendlich Kleinen.
Betrachtet man etwa eine vollkommen glatte, blankpolierte Oberfläche aus allernächster Nähe, stößt man sogleich auf den chaotischen Tanz der elementaren Bestandteile der Materie, die wogen, schwingen, wechselwirken und in rasantem Tempo ihre Natur verändern. Quarks und Gluonen, die Grundbausteine von Protonen und Neutronen, verändern unablässig ihren Zustand, indem sie miteinander und mit Myriaden umgebender virtueller Teilchen wechselwirken. Auf mikroskopischer Ebene folgt die Materie unerbittlich den Gesetzen der Quantenmechanik, in der der Zufall und die Unschärferelation regieren. Nichts ist fest, alles brodelt in einer wechselhaften gewaltigen Vielfalt an Zuständen und Möglichkeiten.
Doch sobald wir diese Teilchen auf großer Skala betrachten, auf der sich die Strukturen makroskopisch präsentieren, erlangen die Mechanismen, die ihre Dynamik steuern, auf geradezu magische Weise Regelmäßigkeit, Beständigkeit, Ordnung und Gleichgewicht. Die Superposition, die Überlagerung einer gewaltigen Vielzahl zufälliger mikroskopischer Phänomene, die sich in alle möglichen Richtungen entfalten, erzeugt geordnete und dauerhafte makroskopische Zustände.
Vielleicht bedarf es eines neuen Konzepts, um dieses Faktum zu beschreiben, das wahrhaftig strukturell erscheint: Kosmisches Chaos