Heinz Schilling
KARL V.
Der Kaiser,
dem die Welt zerbrach
Biographie
C.H.Beck
Karl V. (1500–1558) ist der mächtigste Herrscher seiner Zeit – und der ohnmächtigste zugleich. In seinem Reich geht die Sonne nicht unter, doch nach seinem Willen formen kann er es nicht. Ebenso wenig gelingt es ihm, die große Kirchenspaltung aufzuhalten, mit der die Einheit der Christenwelt zerbricht. Heinz Schilling schildert in dieser Biographie, wie der Kaiser zwischen den Epochen alles in seiner Macht Stehende tut, um dem Lauf der Zeit Einhalt zu gebieten – und sich am Ende gescheitert und gedemütigt aus der Welt zurückzieht in die Einsamkeit der spanischen Extremadura.
Heinz Schilling befreit in dieser Biographie Karl V. aus dem Habsburgermythos des 19. Jahrhunderts und führt ihn wieder zurück in seine historische Welt – das kulturell reiche Burgund seiner Jugend und Spanien mit dem atlantisch-überseeischen Raum. Auch dem verschlossenen Menschen Karl spürt dieses Buch nach, seiner Erotik, seinen kurzen Liebesbeziehungen, seiner unterschätzten musischen Seite. Es räumt Karl einen fairen Platz in den Religionskämpfen der Zeit ein und porträtiert ihn als zutiefst religiösen Menschen – hierin Luther ebenbürtig. Vor allem aber zeigt Schilling die Tragik der Macht: Im Herzen ein Friedenspolitiker, kommt der Kaiser während seiner Herrschaft nur selten aus dem Militärlager, weil er sich dynastischen und religiösen Zielen verpflichtet fühlt, die er in einer Welt, die immer komplexer wird, nicht mehr verwirklichen kann.
Heinz Schilling ist em. Professor für Europäische Geschichte der frühen Neuzeit an der Humboldt-Universität zu Berlin. Mit seiner viel gerühmten Biographie «Martin Luther. Rebell in einer Zeit des Umbruchs» (42017) und dem Bestseller «1517. Weltgeschichte eines Jahres» (42019) bildet die neue Karls-Biographie ein Triptychon der Frühen Neuzeit.
PROLOG
Karl V. hat alles erreicht, was ein Mensch seiner Zeit erreichen konnte.
Karl V. ist das Wichtige fehlgeschlagen.
Karl V., Herrscher und Mensch zwischen den Zeitaltern und Welten.
1: GENT 24. FEBRUAR 1500 –
Kind der Freude und der Stolz Burgunds
Glückliches Heiraten und rechtzeitiges Sterben
in der Welt der Fürstenstaaten
Burgund – Realität und Mythos
Karl der Kühne und sein Vermächtnis
Gent, 24. Februar 1500
Erziehung und Bildung der Burgunderkinder
Eheprojekte, neues «Gouvernement»
und die Charakterprägung des Prinzen
Der Herzog von Burgund
Niederburgund im Herrschaftssystem des Kaisers
2: VALLADOLID 23. NOVEMBER 1517 –
Ein Europa und die Welt
umspannendes Erbe
Der spanische Erbfall
Karls Charakter und Erscheinungsbild
Ein Liebesbrief und die erste Entscheidung
als Familienoberhaupt
Juana und Ferdinand –
die innerdynastische Abstimmung
mit Mutter und Bruder
Valladolid 23. November –
Übernahme der Herrschaft über Kastilien
Das Murren der Untertanen und die ersten Berichte
über das neue Goldland
Eine weitere Königskrone
Aufstand in Spanien
3: FRANKFURT 23. JUNI 1519;
AACHEN 23. OKTOBER 1520 –
Deutscher König und
Erwählter Römischer Kaiser
Die Wahl zum Deutschen König
Krönung in Aachen
Das deutsche Königtum in Karls Herrschaftssystem
Logistische Probleme eines überspannten
Herrschaftsraumes
Regieren als Familienunternehmen
Räte und Vertraute
Minderheiten und Minderheitenpolitik
4: WORMS 1521 –
Verteidiger der von den Vorfahren
ererbten Religion
Schützer des reinen Glaubens – mit dem Papst
oder mit Luther
Das in Gott gefangene Gewissen des Reformators
Das in Tradition und Glauben der Vorfahren gefangene
Gewissen des Kaisers
Der Weg in die religiös-kulturelle Differenzierung
Europas
Universelles Kaisertum als Ordnungsprinzip
für den auseinanderstrebenden Kontinent
5: PAVIA 24. FEBRUAR 1525 –
Triumph über Franz I. und
ein nicht endendes Ringen um die Vormacht
in Italien und Europa
Ringen um die mächtepolitische Ordnung
Entscheidung über Italien?
Nötigung zu Frieden und Freundschaft
Ein Frieden innerer Widersprüche
Erneut Krieg um Italien und
der «Sacco di Roma» von 1527
Das kaiserliche Klientelsystem in der Po-Ebene,
Mantua und die Gonzaga-Dynastie
Krieg – Freundschaft – Krieg
Der Friede von Crépy 1544 als Vorbereitung
zum Schlag gegen die Protestanten
6: SEVILLA 10. MÄRZ 1526 –
Liebesdinge und politisches Kalkül
der Casa de Austria
Erotik der frühen Jahre
Eheprojekte
Hochzeit in Sevilla und «luna de miel» in Granada
Maurischer Zauber, höfische Feste, Musik und Jagd
Familienleben im Schatten der Politik
Margarete von Parma und Don Juan de Austria
Sakrale Überhöhung der Ehe
7: BOLOGNA UND AUGSBURG 1530 –
Kaiserkrönung und Konfessionsreichstag
Ein Friedensfest für die zerrissene Christenheit
Verhandlungen über die Neuordnung Italiens
und die Einberufung eines Konzils
Kaiser und Päpste
Der Augsburger «Konfessionsreichstag»
Versuch einer außerkonziliaren Lösung
Reichsrechtliche Weichenstellungen
jenseits der Glaubensfrage
Flandern, wieder Deutschland und
die Rückkehr nach Spanien
8: TUNIS 1535 –
Auftakt zum Kreuzzug
gegen die Türken?
Der Sieg vor Tunis – Realität und Propaganda
Karl V. und Suleiman der Prächtige
Chaireddin der Rote
Triumph als neuer Scipio Africanus
Rückkehr in den mächtepolitischen Alltag
Das Ende des Kreuzzugsplans und
die Katastrophe 1541 vor Algier
Eine gemischte Bilanz im Ringen der Weltmächte
9: Leyes Nuevas 1542 –
oder der Streit um die Seelen
und das Gold der Indios
Reichtum und Prestige aus dem amerikanischen
«Goldkastilien»
Das Reich der Inkas und die Inseln der Gewürze
Um Recht und Ordnung in den neuen Besitzungen
Besinnung auf Gottes Gebot der Menschlichkeit
Las Casas gegen Sepúlveda – der erste freie Disput
über Kolonialpolitik
Der realpolitische Vorrang Europas
10: MÜHLBERG 24. APRIL 1547 –
und der geharnischte Reichstag
von Augsburg 1547/48
Veni, vidi, Deus vicit – Triumph des Miles christianus
Schonung des Luthergrabes in Wittenberg
und Demütigung des Landgrafen in Halle
Der Höhepunkt der Macht – von Tizian inszeniert
Ein geharnischter Reichstag
Das Interim, das Interim,
der Teufel, der steckt hinter ihm – Karls Scheitern
am lutherischen Stadtbürgertum
11: VILLACH, MAI 1552 –
Herabgeschleudert
vom Rad der Fortuna
Die Rächer der deutschen Freiheit und der widerrechtlich gefangenen Fürsten
In der Falle – Flucht aus Innsbruck
Villach und Passau
Wieder ein Franzosenkrieg
Kaiser der Endzeit
12: BRÜSSEL 1555/56 –
Zeremoniell des Rückzugs
Das ermüdende Ringen um die Nachfolge oder
das Gespenst der «spanischen Sukzession»
Die englische Ehe Philipps II. –
die Vision eines katholischen Großreiches
in Westeuropa
Abdankung und Neuaufstellung der Casa de Austria
Machtverzicht zur Sicherung des Seelenheils?
13: YUSTE 21. SEPTEMBER 1558 –
Sterben in Christo
Die letzte Reise des Kaisers
Frömmigkeit und Muße
«Lebensfülle, (die) niederklingt in meine Ruh»
«Jetzt, Herr, komme ich»
Der Tod Kaiser Karls V. und die Wende
in den Konfessionalismus
EPILOG
Europa vereint in Trauerfeiern
Vision einer hegemonialen Weltherrschaft
Ein Europapolitiker der frühen Neuzeit?
ANHANG
FORSCHUNGSLAGE UND POSITIONSBESTIMMUNG
ANMERKUNGEN
Prolog
1 Gent 24. Februar 1500 – Kind der Freude und der Stolz Burgunds
2 Valladolid 23. November 1517 – Ein Europa und die Welt
umspannendes Erbe
3 Frankfurt 23. Juni 1519; Aachen 23. Oktober 1520 –
Deutscher König und Erwählter Römischer Kaiser
4 Worms 1521 – Verteidiger der von den Vorfahren
ererbten Religion
5 Pavia 24. Februar 1525 – Triumph über Franz I.
und ein nicht endendes Ringen um die Vormacht
in Italien und Europa
6 Sevilla 10. März 1526 – Liebesdinge und politisches Kalkül
der Casa de Austria
7 Bologna und Augsburg 1530 – Kaiserkrönung und
Konfessionsreichstag
8 Tunis 1535 – Auftakt zum Kreuzzug gegen die Türken?
9 Leyes Nuevas 1542 – oder der Streit um die Seelen
und das Gold der Indios
10 Mühlberg 24. April 1547 und der geharnischte Reichstag
von Augsburg 1547/48
11 Villach, Mai 1552 – herabgeschleudert vom Rad der Fortuna
12 Brüssel 1555/56 – Zeremoniell des Rückzugs
13 Yuste 21. September 1558 – Sterben in Christo
Epilog
KARTE:
EUROPÄER IN DER NEUEN WELT ZUR ZEIT KAISER KARLS V.
BIBLIOGRAPHIE
Quellen
Literatur
BILDNACHWEIS
GENEALOGIE
PERSONENEGISTER
ORTSREGISTER
Karl V. hat alles erreicht, was ein Mensch seiner Zeit erreichen konnte. Drei Jahrzehnte an Rang und Ansehen der Erste in der Christenheit, herrschte Kaiser Karl V. über ein Reich, «in dem die Sonne nicht unterging» – eine bewundernde Charakterisierung, die ihm bis heute anhaftet wie dem Stauferkaiser Friedrich II. der «stupor mundi», das Staunen der Welt. Karl war Haupt der ehrwürdigsten und mächtigsten Dynastien Europas: Erbe der glanzvollen Herzöge von Burgund aus dem französischen Hause Valois; der Katholischen Könige aus der Trastámara-Dynastie, die das neuzeitliche Spanien geformt und das Tor zur Neuen Welt aufgestoßen hatten; nicht zuletzt des deutschen Hauses Österreich, das nach ihm die Römische Kaiserwürde erhielt und behalten sollte, bis der Höllensturz des Ersten Weltkriegs der Fürstengesellschaft Alteuropas definitiv ein Ende setzte. Keines der europäischen Königs- und Fürstenhäuser konnte sich mit diesem «edlen Blut» messen, als das man Karl bei seiner Wahl zum Deutschen König gefeiert hatte.
Das burgundisch-spanische Hofzeremoniell wurde an den europäischen Höfen bewundert und nachgeahmt. Die spanischen Tercios, mit Lanzen bewehrte Infanterie-Blöcke, die einem Uhrwerk gleich die Gegner überrannten, beherrschten die Schlachtfelder Europas. Die dynamischste Wirtschaftsregion der Zeit war Teil seiner Herrschaften – die Niederen Landen an den Mündungsgebieten der großen Ströme Schelde und Rhein mit dem rasch expandierenden Handelsplatz Antwerpen im Zentrum. Seit Beginn des zweiten Jahrhundertdrittels landeten in Sevilla, dem bedeutendsten Überseehafen der Welt, alljährlich reichbeladene Silberflotten aus Südamerika, mit sprunghaft ansteigenden Frachtraten.[1]
Bereits mit 19 Jahren zum Römischen Kaiser erwählt, stand er zusammen mit dem Papst an der Spitze der Christenheit oder Europas, was damals noch dasselbe war. Als Kaiser war er verantwortlich für die Reform von Kirche und Glauben ebenso wie für die Sicherung Europas nach außen. Als Miles christianus, christlicher Glaubenskrieger, wies er in Tunis die islamische Vormacht der Osmanen in die Schranken und triumphierte in Mühlberg an der mittleren Elbe über die Häresie der Luther-Anhänger. Unübertroffen auch sein symbolisches Kapital – als Großmeister des burgundischen Goldenen Vlies Ordens wie des spanischen Ordens de Calatrava, der beiden vornehmsten Ritterorden der Christenheit, dazu Auftraggeber für die ersten Künstler seiner Zeit. Noch heute künden Tizians Gemälde «Karl V. nach der Schlacht von Mühlberg» und «La Gloria»/«Der Triumph der Dreifaltigkeit» von seinem Ruhm und seiner von Gott gegebenen Majestät. Beide zählen heute zu den Staatsikonen in der spanischen Ruhmeshalle des Prado. Die gewaltigen von Jan Vermeyen entworfenen Wandteppiche aus der Brüsseler Manufaktur Willem de Pannemakers, deren Kartons das Kunsthistorische Museum Wien bewahrt, berichten von seinen Taten in Nordafrika – Inszenierung seines ritterlichen Kampfes gegen den islamischen Glaubensfeind wie Demonstration des hohen Stands der Künste und des Luxusgewerbes in seiner burgundischen Heimat. Und das sind nur zwei Beispiele eines über ganz Europa verstreuten Kunstschatzes, der den Zeitgenossen wie der Nachwelt ständische Erhabenheit, Prestige und Tatenruhm dieses Kaisers verkündet.
Karl V. ist das Wichtige fehlgeschlagen. Hinter der heroischen Majestät, die er wie kein zweiter Herrscher repräsentierte und die er hundertfach in Marmor, Bronze, auf Leinwand und Tapisserien darstellen ließ, verbarg sich ein Mensch, der mehr Leid, Elend und Krankheit zu ertragen hatte als viele seiner Untertanen – die angeborene Missbildung seines Kiefers; die dadurch bedingte Behinderung seiner Sprache; schwere Gichtanfälle, die ihn schließlich zwangen, zur Fortbewegung statt des herrschaftlichen Pferdes eine Sänfte zu benutzen; frühe Zahnlosigkeit, die ihn seine Mahlzeiten alleine einnehmen ließ. Als Ergebnis von alldem eine menschliche Einsamkeit, die mit fortschreitendem Alter die gewollte und inszenierte Distanz zu den Menschen ins Pathologische steigerte.
Tragisch der Gegensatz zwischen prätendierter Majestät und erbrachter Herrscherleistung. Der Kaiser hatte am Ende die Ziele, die er sein Leben lang als von Gott erhaltenen Auftrag verfolgte, verfehlt: Statt der neuen Friedensordnung für das Heilige Römische Reich und Europa war Deutschland im Innern zerrissen, und die europäischen Mächte standen sich unversöhnlicher denn je gegenüber. Statt der ersehnten Einheit und Unversehrtheit der Kirche war die Christenheit in die Fundamentalfeindschaft der Konfessionen zerfallen. Die für ihn und sein Haus allein heilige, katholische und apostolische Kirche war zu einer Partikularkirche geworden. Statt in einer mächtigen Kreuzzugsbewegung den Islam aus den christlichen Kernzonen Byzanz und Kleinasien wieder zurückzudrängen, musste er sich mit einer labilen Waffenruhe zufriedengeben: Der Balkan war verloren, Ungarn, das Reich des Heiligen Stephan, zweigeteilt, in einen östlichen, osmanischen Teil mit den Königsstädten Buda und Pest und einen kleineren westlichen Teil, in dem sein Bruder Ferdinand als ungarischer König herrschte. Im Mittelmeer und an den Küsten Nordafrikas waren die Träume christlicher Dominanz zerbrochen, denen seine spanischen Vorgänger im ersten Hochgefühl der Reconquista angehangen hatten und denen auch er auf dem Höhepunkt seiner Macht noch nachgejagt war.
Der erste Kaiser eines Weltreiches musste vor den Fliehkräften der neuen Zeit kapitulieren und sich eingestehen, dass ihm seine Welt zerbrochen war. Wo er Eintracht, Recht und Ordnung stiften wollte, wurde er Partei, im Streit um die mächtepolitische Ordnung Europas ebenso wie im Ringen um die Reform der Kirche. Statt der einheitlichen Lobpreisung der Christenheit, die er sich in seinen frühen Herrscherjahren hochgemut zu verdienen gehofft hatte, war er im Alter Hass und Verleumdung des einen Teils der gespaltenen Christenheit ausgesetzt, in ihren Pamphleten öffentlich angegriffen als «Metzger aus Flandern»; als sündhaft Verantwortlicher für die grauenvolle Explosionskatastrophe in seiner Heimatstadt Mechelen, mit der ihn Gott gestraft und gezeichnet habe; ja als Blutschänder mit Schwester oder Tochter, ein Anwurf, der wie kein zweiter die ständische wie die ganz persönliche Ehre beschmutzte.
Als Einziger in der langen Reihe Römischer Kaiser legte Karl V. sein Amt nieder – für Zeitgenossen wie Nachwelt ein unerhörtes Geschehen, entfernt vergleichbar dem rätselhaften Rücktritt Papst Benedikts XVI. in unseren Tagen. In nur fünf Jahren hatte ihn das Rad der Fortuna von der Höhe des siegreichen Imperators, der 1547/48 auf dem «geharnischten Reichstag» von Augsburg den Besiegten seine Bedingungen diktierte, herabgerissen ins Elend eines Flüchtlings. Ein sächsischer Herzog, eben durch ihn zum Kurfürsten erhoben, hatte ihn in die Enge der Alpentäler getrieben, fast aus der Welt hinaus. Dessen Verbündeter, der König von Frankreich, den er endgültig in die zweite Reihe gewiesen wähnte, hatte vor Metz über seine als unschlagbar geltenden spanischen Truppen triumphiert. Mit den Protestanten wurde über einen dauerhaften Religionsfrieden verhandelt. Seine Seele wollte er damit nicht belasten und überließ es der säkular-politischen Klugheit seines Bruders Ferdinand.
Misslungen auch die einheitliche Vererbung seiner Reiche. Die mit bewundernswerter Energie und Klarsicht zustande gebrachte Bewahrung des Erbes durch die Aufspaltung in zwei Linien, der spanische und der deutsche Zweig des Hauses Österreich beziehungsweise der Casa de Austria, war ihm nur Notlösung. Quälend offen schließlich auch die humane Gestaltung und die Rettung der Indioseelen in den neuen Welten, derer sich der Kaiser persönlich angenommen, die er aber immer wieder hintangestellt hatte, um die machtpolitischen Notwendigkeiten in Europa nicht zu gefährden.
Verbunden mit der psychischen Last des Versagens waren Angst und Sündenbewusstsein, dem Bösen nicht entschieden genug entgegengetreten und der von Gott verliehenen kaiserlichen auctoritas nicht gerecht geworden zu sein. Anders als die Herrschaftsämter ließ sich diese Qual nicht ablegen. Sie verfolgte ihn in Yuste, seinem spanischen Alterssitz, bis in die letzten Lebenstage hinein.
Gescheitert war auch – eine berührende Parallelität in der Biographie dieser weltgeschichtlichen Gegenspieler – Martin Luther.[2] Anders als der Reformator hinterließ der Kaiser aber keine ihm emphatisch verbundene Gemeinde, die im Scheitern ihres Helden den kommenden Triumph der Wahrheit über das Verlogene, des Guten über das Böse erblickte. Dieser Unterschied bestimmt bis heute die Stellung der beiden in der europäischen wie der globalen Erinnerung: Der Mönch wurde 2017 erneut gefeiert als Heros der Neuzeit, der der Menschheit Freiheit, Selbstbestimmung und Fortschritt brachte. Der Kaiser hingegen erschien 2000 bei den Feiern zu seinem 500. Geburtstag in gedämpftem Licht, in wissenschaftlicher Distanz. Die Gebrochenheit des Menschen Karl V. trat hervor, und damit ein Zug seiner historischen Persönlichkeit, die zur Widersprüchlichkeit der Moderne passt.
Karl V., Herrscher und Mensch zwischen den Zeitaltern und Welten. So strahlend die kulturelle Repräsentation Karls in seiner eigenen Zeit war, so bescheiden seine Position in der europäischen Erinnerungskultur. Ihm wird keine ähnliche identitätsstiftende Kraft zugeschrieben wie seinem Namensvetter Karl dem Großen, der gleichzeitig nationale Größe und europäische Eintracht versinnbildlicht, das eine im Reiterstandbild vor Notre Dame in Paris, das andere im Aachener Karlspreis. Die Erinnerung an den Kaiser der beginnenden Neuzeit blieb begrenzt. In Deutschland gedenkt man seiner vorwiegend im Umkreis der Reformation wie auf den Historienbildern «Luther auf dem Reichstag zu Worms» oder «Karl V. am Grab des Reformators» des Leipziger Historienmalers Adolf Friedrich Teichs. In Österreich vereinnahmte ihn der Habsburgermythos als Begründer der Weltgeltung des Hauses und reduzierte ihn damit auf eine Herkunfts-/Identitätslinie, die er selbst kaum als die wichtigste angesehen hatte.[3]
Die Person, die dieses glücklich-unglückliche Leben lebte, lässt sich nur schwer fassen. «Nimm doch Gestalt an!» – dieser inständigen Bitte so mancher Biographen an die historische Person, die sie begreifen und begreifbar machen wollen, entzieht sich kaum jemand so entschieden wie Karl V.[4] Sein Aussehen ist in Dutzenden von Gemälden, Stichen, Statuen, Reliefs, Münzprägungen überliefert. Was Abbildung, was Stilisierung ist, bleibt aber in der Schwebe. Kaum ein anderer Herrscher hat so viel Briefe hinterlassen wie er, und doch ist Karl V. «un Empereur taciturne»,[5] ein Schweiger in eigenen Dingen, den inneren Handlungsmotiven wie den Emotionen. In den vielen tausend Stücken seiner Korrespondenz findet sich kaum ein Brief privaten Inhalts. Über die persönliche Frömmigkeit gibt «nicht einmal der Briefwechsel mit den Beichtvätern» deutlich Auskunft.[6]
Der Biograph hat diese Ambivalenzen auszuloten, Karl Gestalt zu geben, indem er aus den Verlautbarungen, Abbildungen und dem Handeln des Kaisers die Person herausschält. Verfehlt wäre es allerdings, seine Biographie auf eine eindeutige Linie festzulegen. Für sie gilt nicht die Trennung zwischen Mittelalter und Neuzeit, wie sie spätere Historiker vornahmen. Er war geistig-kulturell fest an den alten Kontinent gebunden, hat nie in Erwägung gezogen, selbst nach Amerika aufzubrechen. Die Neuen Welten, über die er herrschte, haben ihn gleichwohl fasziniert. An dem Prozess, der neues Weltwissen nach Europa brachte und zur Formung von Neuzeit und Moderne beitrug, hatte er persönlich Anteil.
Hinzu kommt die vergleichsweise lange Regierungszeit von rund vier Jahrzehnten, in denen sich sein Herrschaftsbereich dramatisch ausweitete – von Niederburgund, heute Belgien und Holland, über Spanien mit Süditalien und den Ländern in der Neuen Welt hin zum Römischen Reich. Eine Ansammlung von Herrschaften mit politischen, religiösen und kulturellen Traditionen, wie sie unterschiedlicher nicht sein konnten. Der Kaiser sah sich immer aufs Neue vor überstürzende Veränderungen und neue Probleme gestellt. Er war «Empereur d’une fin des temps» (Denis Crouzet), doch auch Kaiser der Anpassung oder genauer, des Versuches der Anpassung von Politik und Kultur an die neu aufgezogenen Bedingungen. So kann er als einer der Gründungsväter der neuzeitlichen Staaten- und Weltordnung gelten, wenn auch eher ungewollt und als Folge seines Scheiterns. Da es eine übermenschliche Aufgabe war, die auseinanderstrebenden Partikularkräfte, zumal in dieser geographischen Weite, zu bändigen, wurde die Lebensleistung dieses ersten Kaisers der Neuzeit zwangsläufig zu einer «Geschichte eines übergroßen Wirkungsbereiches» (Ernst Schulin).
Auf dem Lebensweg Kaiser Karls V. werden uns Glanz und Triumph, scheinbar unbegrenzte Macht, skrupellos eingesetzte Gewalt, jäher Absturz und tiefe Depressionen begegnen, aber auch die nie abgelegte, tief persönliche Religiosität, die ihm gerade in der endgültigen, klar erkannten Niederlage Kraft gab, dem Gesetz, unter dem er angetreten war, treu zu bleiben. Macht, Glanz und Majestät waren ihm viel, nicht aber genug, um sein Gewissen für einen Kompromiss zu verraten, so unausweichlich er realgeschichtlich sein mochte.
1
Die Fülle der Macht, über die er als Kaiser verfügte, war Karl V. nicht in die Wiege gelegt. Geboren wurde er am 24. Februar 1500 im Prinzenhof der flämischen Stadt Gent als Erbprinz von Burgund. Zusätzlich war er Erzherzog von Österreich und Infant von Spanien. Aber das waren Titel, die jedes Kind in der Familie seines Vaters, des burgundischen Herzogs Philipp des Schönen, aus dem Hause Österreich, und seiner Mutter Juana, geborene Infantin von Spanien, trug. Ein Anspruch auf Herrschaft war damit nicht verbunden. Dass der Neugeborene knapp zwei Jahrzehnte später die Länder seiner burgundischen, deutschen und spanischen Vorfahren zu einem Herrschaftskomplex zusammenfassen würde, der Europa vom österreichischen Osten bis zum atlantischen Westen, vom friesischen Norden bis Neapel und Sizilien im mediterranen Süden überspannte, wird kaum einem vor Augen gestanden haben – den Eltern nicht und auch nicht den Großen Burgunds oder gar der Bevölkerung.
Philipp der Schöne (1478–1506).
Johanna von Kastilien «Johanna die Wahnsinnige» (1479–1555).
Der «Aufstieg» zum unbestritten mächtigsten Herrscher in der lateinischen Christenheit war die Realisierung einer ganz ungewissen Möglichkeit eines Ehebündnisses, wie es die europäischen Fürstenhäuser zu Hunderten untereinander abzuschließen pflegten, um politische Allianzen zu bekräftigen und ihren Dynastien Wege zum Zugewinn von Herrschaften durch Erbfolge zu eröffnen. Nur in wenigen Fällen aber wurde aus Möglichkeit Wirklichkeit, und dann häufig nur durch teure und verlustreiche Erbfolgekriege. Nicht anders sollte es sich mit der Kaiserwürde des Heiligen Römischen Reiches verhalten, mit der Karl neben den Papst an die Spitze der Christenheit trat. Und schon gar nicht war abzusehen, dass Karl als erster Herrscher eines europäischen Weltreiches würde verkünden können «in meinem Reich geht die Sonne nicht unter». Hatte man im Moment seiner Geburt doch noch keinerlei Vorstellungen, welche Ländermassen jenseits der Westindischen Inseln lagen, auf die Kolumbus sieben Jahre zuvor gestoßen war und die erst näher erschlossen wurden, als Karl bereits König von Kastilien war.
Das Haus Österreich oder die Casa de Austria, wie es nach Antritt des spanischen Erbes in Europa genannt wurde, hat später ihre Ehepolitik propagandistisch wirkungsvoll überhöht. In einem an Ovid[1] angelehnten, wohl auf ein Bonmot von Matthias Corvinus, dem ungarischen Rivalen der Habsburger, zurückgehenden[2] Distichon wurden die erheirateten Zugewinne als höhere, göttliche Fügung dargestellt:
Bella gerant alii,
tu felix Austria nube.
Nam quae Mars aliis,
dat tibi diva Venus.
Kriege lass andere führen,
du, glückliches Österreich, heirate!
Denn was den anderen Mars, Venus,
die Göttin, gibt es dir.
So sehr dieser Habsburger Mythos die historische Legitimität und staatsrechtliche Stellung des Hauses über Jahrhunderte hin ideologisch rechtfertigte, letztlich beruhten der Aufstieg des Hauses und die damit verbundene politische Neuordnung Europas auf Zufall. Der Erfolg des glücklichen Heiratens trat häufig nur durch unvorhersehbar «glückliche» Todesfälle ein.
Das trifft im Fall Karls V. in einem besonderen Maße zu: Der Ehevertrag, der seine Machtfülle rechtlich begründete, war erst 1495 abgeschlossen worden. Vertragspartner waren der deutsche Großvater Kaiser Maximilian I., der zugleich als Rechtsnachfolger seiner verstorbenen Frau Maria von Burgund, Karls Großmutter, handelte, und die Katholischen Könige Spaniens aus dem Haus Trastámara, Isabella von Kastilien und Ferdinand von Aragon, Karls Großeltern mütterlicherseits. Im Vordergrund stand die Befestigung des politischen und militärischen Bündnisses, das man eingegangen war, um die jeweiligen Interessen auf der Apenninenhalbinsel gegen die Militärinvasion der französischen Valois-Dynastie zu sichern: Maximilian in Oberitalien, wo einige Herrschaften zum Reichsverband gehörten; die spanischen Könige im Süden, wo es die Königreiche Neapel und Sizilien gegenüber den französischen Ansprüchen zu verteidigen galt.
Auf eine große Erbschaft des Genter Säuglings lief das alles aber kaum hinaus. Denn 1495 wurde eine doppelte Eheverbindung verabredet – zum einen zwischen dem spanischen Thronfolger Juan und Margarete von Österreich, der Tochter Maximilians, und zum anderen zwischen der spanischen Infantin Juana, Juans Schwester, und Maximilians Sohn Philipp, den man den Schönen nannte, den Eltern Karls. Das spanische Erbe stand dem ältesten Sohn der Katholischen Könige, also dem Infanten Juan und seinen Nachkommen zu. Erst Juans Tod noch im Jahr der Eheschließung 1497 – infolge zu intensiven Liebesgenusses, wie es in der Familie kolportiert wurde[3] – öffnete dem zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht geborenen Karl einen Spalt weit die Tür zur spanischen Thronfolge. Ganz geöffnet wurde sie erst durch eine Reihe weiterer vorteilhafter Todesfälle. Im Europa der Fürstenstaaten hingen Herrschaft und politische Führung von biologischen Zufällen ab, und damit auch der Gang der Geschichte, die sich eben in jenen Jahren zur Weltgeschichte ausweitete.
Fürs Erste hatte alle Hoffnung noch auf der Schwangerschaft Margaretes gelegen. Wenige Wochen nach dem plötzlichen Tod ihres Mannes brachte sie ein Kind zur Welt, aber ein totes. Damit war nun Isabella, älteste Tochter des Katholischen Königpaares und Ehefrau des portugiesischen Königs Manuel, die erste in der spanischen Thronfolge. Aber auch sie starb bereits im Folgejahr, als sie – hochschwanger – im spanischen Saragossa die Huldigung der Stände als Thronfolgerin einholte. Da sie im Kindbett bei der Geburt eines Sohnes, Miguel da Paz, gestorben war, stand bei dem spanischen Königspaar neben der Trauer um die Tochter die Freude über den endlich geborenen männlichen Thronfolger, dem Spanien und Portugal zufallen würden. Sein Vater König Manuel einigte sich mit den spanischen Großeltern, dass das Kind am spanischen Hof bleiben und dort in der Tradition seiner Erbreiche erzogen werden solle.
Als Karl am 24. Februar 1500 in Gent das Licht der Welt erblickte, war nicht er, sondern der junge spanisch-portugiesische Prinz Thronfolger auf der iberischen Halbinsel. Doch auch er starb früh, am 20. Juli 1500 in Granada, fünf Monate nach der Geburt seines Vetters in Gent. Nicht genug mit diesen vier Todesfällen. Vor Karls Herrschaft in den spanischen Königreichen stand nun die zweite Ehe, die sein Großvater Ferdinand von Aragon nach dem Tod Isabellas von Kastilien mit der französischen Prinzessin Germaine de Foix im März 1506 einging, um noch in letzter Minute die iberischen Herrschaften an ein eigenes Kind vererben zu können. Erst als der im Mai 1509 geborene Thronfolger Johann noch am Tag seiner Geburt starb, war für Karl der Weg gebahnt. Allerdings war als letzte Voraussetzung noch nötig, dass Karls eigene Mutter Juana, die zweitgeborene Tochter des spanischen Königpaars, an die nach dem Tod ihres Vaters Ferdinand im Frühjahr 1516 die Thronfolge fiel, so schwer erkrankte, dass sie unfähig zu eigener Regierung war.
Am Beispiel Kaiser Karls V. zeigt sich eindrücklich die Offenheit geschichtlicher Entwicklung im Moment scheinbar schicksalhafter Vorprägung durch Dispositionen der Fürstenhäuser, biographisch wie staatenpolitisch. Dem in Gent geborenen burgundischen Erbprinzen wäre persönlich wie als Herrscher ein ganz anderer Lebensweg beschieden gewesen, hätten nicht mehrere Todesfälle die vorrangig auf die Vereinigung der iberischen Königreiche ausgerichtete Ehepolitik seiner spanischen Großeltern durchkreuzt. Auch die Geschichte Europas und der Welt hätte ohne die durch Karls Erbfolge geschaffene Verklammerung der weit nach Osten reichenden Mitte des Kontinents mit seinem Südwesten und dessen transatlantischen Besitzungen, die sich erst durch das Scheitern der portugiesischen Erbstrategie ergab, einen anderen Verlauf genommen. Das Leben des Genter Fürstensäuglings zu schildern, wäre trotzdem interessant gewesen; eine die Grundlagen der modernen Welt berührende Biographie würde das aber nicht abgeben.
Sicher war immerhin eines – am 24. Februar 1500 war in Gent der Erbe Burgunds geboren worden. Als Herzog von Burgund würde er über jenes von seinen französischen Vorfahren im späten Mittelalter zusammengezwungene Reich zwischen der Krone Frankreichs und dem Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation herrschen, das wegen seiner Wirtschaftskraft, gesellschaftlichen Modernität und kulturellen Blüte in Europa hoch angesehen war. Karl blieb dem Burgundertum zeitlebens emotional verbunden, so sehr sich das Zentrum seiner Herrschaft auch verschob. Das zeigt sein erbitterter Kampf mit dem französischen König Franz I. um die Rückkehr des Herzogtums Burgund unter die Herrschaft seines Hauses. Die Chartreuse von Champmol bei Dijon blieb lange Zeit der ersehnte Ort seiner letzten Ruhe, jenes fürstliche Kartäuserkloster, das seine Vorfahren durch die ersten Künstler Flanderns und Burgunds zum Zeugnis einer eigenständigen Kulturblüte zwischen Frankreich und Deutschland hatten ausbauen lassen. Neben den Grabmälern der Burgunderherzöge mit ihren expressiven Skulpturen von Engeln und Trauermönchen hoffte Karl seine eigene Grabstätte zu finden.
Sarkophag des Burgunderherzogs Philipp des Kühnen (1342–1404) aus der Chartreuse de Champmol, heute im Musée des Beaux-Arts, Dijon.
Heute sind die in ewiger Trauer und Anbetung versunkenen «Pleurants» Objekte musealer Bewunderung, nachdem der Hass der Französischen Revolution auf alles Sakrale die Grablege der Burgunderherzöge niedergerissen hat. In Champmol zeugt allein der einsam übriggebliebene Mosesbrunnen des Haarlemer Bildhauers Claus Sluter (1350–1405/06) von der zur Zeit Karls V. noch lebendigen kulturellen und politischen Größe der burgundischen Tradition. Dass der Kaiser heute im Escorial, der Klosterburg seines Sohnes Philipp II., ruht, ist die Folge der im Einzelnen zu schildernden Wende nach Südwesteuropa, die er mit der Übernahme der Kronen von Kastilien und Aragon vollzog. Zugleich spiegelt das die Höhen und Tiefen seiner Lebensleistung wider, die sein Haus weit über das Burgundertum hinaushob, dabei aber nicht verhindern konnte, dass ihm das Stammherzogtum Burgund an der Saône endgültig verloren ging und fest in das Gebiet der französischen Krone eingefügt wurde.
Ein Herrschaftsgebilde wie das mittelalterliche Burgund hatte schon einmal unter den Erben Karls des Großen im 9. Jahrhundert Gestalt angenommen, als im Vertrag von Verdun 843 dem ältesten Enkel Lothar mit dem Kaisertum der mittlere Reichsteil zugesprochen wurde, der sich von Friesland bis hinab in die Provence und weiter nach Italien erstreckte. Zwischen dem ost- und dem westfränkischen Reich seiner Brüder Ludwig des Deutschen und Karl des Kahlen gelegen, hatte es jedoch keine politische Dauer gewinnen können. Als Vision indes wirkte es fort und beflügelte ein halbes Jahrhundert später die Herzöge von Burgund aus einer Nebenlinie der französischen Valois-Dynastie. Diese Vorfahren Karls aus der Linie Marias von Burgund, seiner Großmutter väterlicherseits, gingen in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts daran, von ihrer Hauptstadt Dijon aus erneut ein Mittelreich aufzubauen. Italien konnten sie zwar nicht mehr einbeziehen. Das hochmittelalterliche Burgund sollte sich aber immerhin vom holländischen Ijsselmeer im Norden bis zur südlichen Kulturlandschaft Burgunds an Doubs und Saône erstrecken.
Formell waren die Herzöge aus der Linie Valois-Burgund lehnsabhängig, teils von ihren königlichen Vettern der Pariser Hauptlinie, teils vom Deutschen König. Faktisch schalteten und walteten sie in ihren Ländern jedoch nach Belieben; und mit den Lehnsherren verhandelten sie von gleich zu gleich. Ausgehend von dem Herzogtum Burgund, dem französischen Lehn ihres Hauses um Dijon und die Saône entlang, zwangen Philipp der Kühne (1363–1404), Philipp der Gute (1419–1467) und Karl der Kühne (1467–1477) durch Heirat, Kauf, Pfand oder schiere Gewalt ein drittes mitteleuropäisches Großreich zusammen, das sich zwischen Deutschland und Frankreich schob. Auf seinem Höhepunkt um 1475 erstreckte es sich von den oberburgundischen Besitzungen Mâcon, Nevers, dem Herzogtum mit der strahlenden Hauptstadt Dijon und der Freigrafschaft Burgund um Dole im Süden über eine soeben dazu gezwungene Verbindungsbrücke Elsass, Breisgau, Lothringen und Bar in der Mitte zum Norden nach Flandern, Artois, Mechelen, Antwerpen, Namur, Limburg, Brabant, Seeland, Holland, Hennegau, Picardie und Luxemburg.
Niederburgund, wie die nördlichen Herrschaften der Herzöge bald genannt wurden, war ausgangs des 15. Jahrhunderts neben Norditalien die wirtschaftlich und gesellschaftlich dynamischste Region Europas. In seinen südwestlichen Provinzen blühte das Textilgewerbe, teils auf traditionell zünftischer Basis wie in den Städten Flanderns und Brabants, teils mit modernen Betriebsformen außerhalb des Zunftwesens wie in den Landgebieten Walloniens. Antwerpen hatte den Aufstieg zum führenden Handelsplatz nördlich der Alpen angetreten und zog die Wirtschaft der umliegenden Zonen mit.[4] Davon profitierten auch die nördlichen Grafschaften Holland und Seeland, die Fischfang und Seefahrt in Nord- und Ostsee beherrschten. In der Regierungszeit Karls V. sollte diese Wirtschaftszone, in der Atlantik- und Ostsee-Schifffahrt sich trafen, einen nachgerade kometenhaften Aufstieg erleben, als die Osmanen im östlichen Mittelmeer den Orienthandel blockierten und der Handel ins neuentdeckte Amerika in Fahrt kam. Daraus resultierte eine weltgeschichtliche Drehung der europäischen Haupthandelsrouten – von der bislang dominierenden Nord-Süd-Linie aus der Levante über Venedig nach Oberdeutschland und von dort in den Nordwesten beziehungsweise Nordosten hin zu der nun expandierenden Ost-West-Linie von den baltischen Agrarzonen über die Niederlande nach Spanien und über den Atlantik in die Neue Welt. So wurden die niederburgundischen Herrschaften dank ihrer günstigen Lage zwischen Ostsee und Atlantik zur Schaltstelle der sich rasch entwickelnden frühneuzeitlichen Weltwirtschaft.[5]
Faszinierender noch als ein solcher Wirtschaftsaufschwung waren Kulturblüte und hohe politische Beteiligung der Einwohner, vor allem in Niederburgund beziehungsweise den Niederlanden. In den wallonischen Herrschaften war es vorrangig der an der Herrschaft partizipierende Adel; in Flandern, Brabant und Holland maßgeblich das Bürgertum der vielen Städte. Angeführt von Brabant hatte sich in dieser Zone bereits früh jene Tradition von Herrschaftsverträgen, Wahlkapitulationen und festumrissenen Fundamentalgesetzen durchgesetzt, mit der sich die Stände in den europäischen Ländern eine Beteiligung an den Staatsgeschäften sicherten. Festgeschrieben war das in der berühmten Joyeuse Entrée oder Blijde Inkomst von 1356. In dieser nach dem feierlichen Einzug des Herrschers benannten Verfassungsurkunde musste jeder Herzog Brabants bei seinem Regierungsantritt den Ständen das Vertretungsrecht für das Land und weitere konkrete Freiheitsprivilegien bestätigen. Erst danach galt er als rechtmäßiger Herrscher des Landes.
Das kulturelle Profil Burgunds hatte sich zunächst in den südlichen, französischen Landschaften Oberburgunds ausgebildet, war aber mit den Herzögen auch in die niederburgundischen Herrschaften vorgedrungen und dort rasch zum Eigenen geworden. Gleichgültig, ob man in der Hochblüte dieser Kultur seit Mitte des 15. Jahrhunderts mit dem niederländischen Kulturhistoriker Johan Huizinga einen «Herbst des Mittelalters» sieht oder wie die jüngere Forschung ein zweites, nördliches Zentrum der Renaissance,[6] die kulturelle Gestalt Burgunds war glänzend und braucht den Vergleich mit der uns heute näheren Renaissance Italiens nicht zu fürchten. In den Gemälden Rogier van der Weydens, der Gebrüder van Eyck, Hugo van der Goes, auch Hans Memlings, des in Brügge tätigen Deutschen, nicht zuletzt in der zur Hochblüte gereiften Buchmalerei fand die Gotik ihre Vollendung, ebenso in der Flamboyance von Maßwerk und Gewölben der Kathedralen.
Vorbildlich war vor allem das Musikleben der burgundischen Herzöge, die hohen Wert auf den Ausbau ihrer Hofkapelle legten. Die dort gepflegte Polyphonie gelangte mit der Erbtochter Maria von Burgund, die die Hofkapelle des Vaters übernahm, im letzten Viertel des 15. Jahrhunderts nach Norden in die Niederlande. Institutioneller Kern des europäischen Musiklebens der Zeit waren klerikale beziehungsweise semiklerikale Knaben- und Männerchöre, da Mädchen und Frauen an öffentlichen Auftritten nicht beteiligt waren. Neben diesen bald vorbildlichen Chören wirkten in den Niederlanden auch die ersten Komponisten und Instrumentalmusiker der Zeit wie Josquin des Prez (1450–1521) oder der Organist Hendrik Bredemers (1472–1522), der unter Philipp dem Schönen und Margarete von Österreich die burgundische Hofkapelle leitete, gefolgt von Nicolas Gombert und Cornelius Canis. Bei Verschiedenheit und Variation im Einzelnen waren sie alle einem gemeinsamen stilistischen Prinzip verbunden: «Durchimitation, die abwechselnde kontrapunktische Wiederholung eines einzelnen Motivs in jeder Stimme. Nach der Eröffnung, wo die einzelnen Stimmen noch erkennbar bleiben, entwickelt sich eine komplexe, subtile Vielstimmigkeit, die eher nach der Schönheit der melodischen Linienführung strebt, denn nach Verdeutlichung des Textes. Sobald das erste Motiv ausgeschöpft ist, führt der Komponist in der gleichen Weise das nächste ein. Da dieses neue Motiv schon von einer Stimme vorgetragen wird, während das alte noch in den anderen Stimmen nachhallt, zeichnen sich diese Werke durch eine nachdrückliche Verschleifung der musikalischen und textlichen Strukturen aus.»[7]
Es war nicht zuletzt die Musik, die den Burgunderherzögen die kulturelle Führung in der europäischen Fürstengesellschaft sicherte. Von den Niederlanden strahlte die franko-flämische Polyphonie weit aus und beherrschte das Musikleben Europas, auch und insbesondere an den Renaissance-Höfen Ungarns und Italiens.[8] Die Fürstenhöfe des Reiches zogen erst seit Mitte des 16. Jahrhunderts nach.[9]
In manchem drängte die burgundische «Herbstzeit» aber längst zu einem neuen Frühling. Ins Auge springt das etwa bei der von Karls Tante und Erzieherin Margarete in den 1520er Jahren errichteten Neuanlage des Klosters Brou bei Bourg-en-Bresse, in Savoyen hart an der Grenze zu Frankreich gelegen. Unter aktiver Mitwirkung der Fürstin von niederländisch-burgundischen und westdeutschen Künstlern entworfen und errichtet, ist sie einem Übergangsstil verpflichtet – nicht mehr ausschließlich Herbst des Mittelalters und noch nicht ganz Neuzeit.[10] Das als Ausdruck eines erstarrten konventionellen Geschmacks oder gar eines rückwärtsgewandten Geistes zu bewerten, hieße die Komplexität der Stilentwicklung, vor allem aber der menschlichen Seele verkennen. Dass Margarete italienische Meister durchaus zu schätzen wusste, hatte sie beim Bau ihres Palasts in Mechelen bewiesen. Nun aber, für das religiöse Zentrum Brou, das zugleich savoyardische Herrschaftsgeste gegenüber dem nahen Frankreich war, hielt sie die Kunst ihrer burgundischen Heimat für angemessen. Es sind insbesondere die Grablegen der letzten Generationen des Hauses Burgund, in denen sich Altes und Neues verbinden – stilistische Reife und überzeitliches Majestätsbewusstsein mit expressiver Emotionalität und persönlicher Frömmigkeitsgeste des in den Vordergrund tretenden Individuums. Das gilt für die Anlage in Brou mit ihren raffinierten, rational berechneten «Blickachsen, Bildinszenierungen und Materialtranszendenz»,[11] in anderer Konstellation auch für das eine knappe Generation später in der Brügger Onze-Lieve-Vrouwekerk neben dem gotischen Sarkophag Marias im Auftrag Karls V. errichtete Prunkgrab Karls des Kühnen.
Viel bewundert und an den anderen europäischen Höfen eifrig nachgeahmt wurden vor allem Burgunds Aufbau einer neuzeitlichen Bürokratie, das Zeremoniell und die Finesse seiner höfischen Selbstdarstellung. Das war kein Widerspruch, wie man aus heutiger Sicht anzunehmen geneigt ist. Im Übergang von den alten feudalen zu neuzeitlichen Formen politischer Herrschafts- und Staatsfunktionen ergänzten sich Rationalität der Verwaltung und kulturelle Eleganz der Repräsentation aufs Beste.