Irene Winters ist Agentin der unsichtbaren Bibliothek, die jenseits von Raum und Zeit als Tor zwischen den Welten existiert. Seit undenklichen Zeiten werden diese Welten von einer erbitterten Feindschaft zwischen Drachen und Elfen erschüttert. Doch nun kommen beide Parteien im Paris des Fin de Siècle zusammen, um unter Führung der Bibliothek einen Friedensvertrag auszuhandeln. Es sieht nach einem Durchbruch aus, bis ein wichtiger Verhandlungsführer der Drachen ermordet wird. Der Täter muss schnellstens gefunden werden! Eine Abordnung – unter ihnen die Agentin Irene Winters – soll den Mörder aufspüren.
Genevieve Cogman hat sich schon in früher Jugend für Tolkien und Sherlock Holmes begeistert. Sie absolvierte ihren Master of Science (Statistik) und arbeitete bereits in diversen Berufen, die primär mit Datenverarbeitung zu tun hatten. Mit ihrem Debüt »Die unsichtbare Bibliothek« sorgte sie in der englischen Buchbranche für großes Aufsehen. Die Reihe um Agentin Irene Winters hat auch in Deutschland viele Fans. Genevieve lebt im Norden Englands.
GENEVIEVE COGMAN
Aus dem Englischen
von Arno Hoven
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Deutsche Erstausgabe
Für die Originalausgabe:
Copyright © 2018 by Genevieve Cogman
Titel der englischen Originalausgabe: »The Mortal Word«
Originalverlag: First published 2018 by Pan, an imprint of Pan Macmillan,
a division of Macmillan Publishers International Limited
Für die deutschsprachige Ausgabe:
Copyright © 2019/2021 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Dr. Frank Weinreich, Bochum
Umschlaggestaltung: Guter Punkt, München | www.guter-punkt.de
Unter Verwendung von Motiven von © Gettyimages: Natle | Nicoolay | Extezy | su-ricoma
eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen
ISBN 978-3-7325-7829-0
luebbe.de
lesejury.de
Für meine Eltern – in Liebe.
Und mit Dank für alles.
Mein Herr Vater,
bitte vergeben Sie mir die Hast und Formlosigkeit dieses Briefes: Sie kennen meinen Respekt vor Ihnen und meine Gehorsamkeit gegenüber Ihrem Willen. Sie werden gehört haben, dass ich unter höchst skandalösen Umständen vom Dienst für die Bibliothek ausgeschlossen wurde – und wegen meiner persönlichen Zuneigung für eine der Bibliothekarinnen. Dies entspricht absolut nicht der Wahrheit und stellt eine widerliche Verdrehung der Tatsachen dar.
Minister Zhao, ein hochrangiger königlicher Hofbeamter, wurde ermordet. Sie werden davon gehört haben, mein Herr Vater. Die Königin der Südlichen Ebenen veranstaltete daraufhin einen Wettbewerb, um die Stellung des Ministers mit einem der Drachen zu besetzen, die sich in seinem Dienst befunden hatten. Was Sie vielleicht nicht wissen, ist, dass ein Junior-Bibliothekar im Zusammenhang mit diesem Wettbewerb in eine schwerwiegende Verfehlung verwickelt war. Irene, meine gegenwärtige Vorgesetzte in der Bibliothek, wurde damit beauftragt, diese Angelegenheit zu untersuchen. Und ich begleitete sie.
Wir waren schließlich gezwungen, vor der Königin höchstpersönlich als Zeugen auszusagen. Auf eine geschickte und wirkungsvolle Weise machte Irene ein Mitglied des Hofstaats der Königin als Schuldigen ausfindig. Vater, Sie wären von ihrem Auftreten und ihrer Intelligenz beeindruckt gewesen: Obwohl sie nur ein Mensch ist, sind ihre Selbstbeherrschung und ihr Mut wahrlich bewunderungswürdig, und sie verhält sich mit einer inneren Kraft und Stärke, die mich an die Besten unter uns erinnert.
Ich allerdings – da ich ein Drache bin und für die Bibliothek gearbeitet habe – war in ernster Gefahr, sowohl uns als auch die Bibliothek zu kompromittieren. So war ich gezwungen, zu behaupten, dass ich mich ohne Ihr Wissen der Bibliothek angeschlossen hätte, als wäre es ein Jungenstreich gewesen. Ich erzählte allen Anwesenden, ich hätte mich in menschlicher Gestalt eingeschlichen, sodass die Bibliothekare meine wahre Natur nicht bemerkten; eine Offenbarung, die dazu führte, dass ich meine Position als Lehrling verleugnen musste.
Mir ist bewusst, dass dies nicht in Übereinstimmung mit Ihren größeren Plänen ist, Vater. Obwohl mein Eintritt in die Bibliothek unvorschriftsmäßig war, sahen Sie einen Vorteil darin, dass ich Einfluss bei den Bibliothekaren gewann. Viele Male haben Sie gesagt, dass diese Institution geheimnistuerisch ist, deren Mitglieder ihre Fähigkeit, sich in der Bibliothek zwischen den Welten zu verstecken, optimal nutzen. Und obgleich im Moment unsere Verwandten ihnen gegenüber nicht feindlich gesinnt sind, kann es unserer Sache nur dienlich sein, wenn wir mehr Informationen und Zugang zu ihren Geheimnissen haben. Mein Herr Vater, Sie sind der älteste der Drachenkönige und der am meisten respektierte von allen Drachenherrschern. Was Ihnen dient, dient uns allen. Es war mir eine Ehre, mich in die Reihen der Bibliothekare einzuschleusen und ihr Verhalten zu beobachten.
Ich wünsche wirklich nicht, Sie nun zu enttäuschen, indem ich versage. Ich habe keinerlei offizielle Bande mehr hier, doch ich bitte Sie demütig um die Erlaubnis, an meinem gegenwärtigen Standort verbleiben zu dürfen, sodass ich meine Kontakte festigen kann. Insbesondere zu Vale, einem Meisterdetektiv, und Irene, meiner ehemaligen Mentorin.
Selbstverständlich werde ich sofort zurückkehren, wenn Sie meine Anwesenheit wünschen, mein Herr Vater. Ihr Wort ist mir Befehl. Doch ich möchte meine Arbeit nicht halberledigt zurücklassen.
Ihr gehorsamer Sohn,
Kai
Tian Shu: Der Junge schwafelt in diesem Brief nur herum. Seit jenem Zweikampf zur Verteidigung des Ansehens seiner Mutter habe ich nicht mehr so viele Entschuldigungen für fragwürdiges Verhalten vernommen. Finde heraus, was da vor sich geht; und um der Götter und gleichermaßen der Menschen willen – lass ihn keinesfalls auch nur in die Nähe der Friedenskonferenz gelangen.
In der Folterkammer war das Feuer in den Kohlenbecken heruntergebrannt, während Irene darauf wartete, dass der Graf kam. Die Steinwand hinter ihrem Rücken war kalt; das spürte sie sogar durch mehrere Schichten Kleidung – Dirndl, Bluse, Schürze und Schultertuch. Und die eisernen Fesseln scheuerten an den Handgelenken. Den Gang hinunter konnte sie die Geräusche der anderen Gefangenen hören: unterdrückte Tränen, Gebete und die Laute einer Mutter, die ihr Baby zu beruhigen versuchte.
Ungefähr um drei Uhr war sie gefangen genommen worden. Inzwischen musste es früher Abend sein: Es gab keine Fenster in den Verliesen, und sie konnte die Glocken von Burgkapelle und Dorfkirche nicht hören; doch es mussten zumindest mehrere Stunden vergangen sein. Sie wünschte, sie hätte mehr zu Mittag gegessen.
Die Tür öffnete sich, und einer der Wächter steckte seinen Kopf hinein, um nachzuschauen, ob Irene immer noch da war. Diese Überprüfung geschah nur pro forma: Immerhin war sie in einer verschlossenen Folterkammer an der Wand festgekettet, die tief unter der Burg lag. Wie sollte es für sie möglich sein, irgendwo hinzugehen?
Die Annahme des Wächters hätte gestimmt, wäre Irene nicht eine Bibliothekarin gewesen.
Doch im Moment gingen die Leute hier davon aus, dass sie ein normaler Mensch war, selbst wenn sie tatsächlich glaubten, Irene sei eine Hexe; und sie musste die ihr zugedachte Rolle spielen.
Irene wusste, dass die Bewohner des kleinen deutschen Dorfs neben der Burg in dieser Nacht ganz besonders inbrünstig beten würden. Denn eine weitere Hexe, und zwar Irene, war von der Wache des Grafen gefangen genommen und fortgezerrt worden, um verhört zu werden. Otto, der Graf von Süllichen, war abergläubisch, paranoid und rachsüchtig. Ständig war er auf der Hut vor Hexen und Verschwörern gegen seine Herrschaft. Die Dorfbewohner hatten gewiss Angst, dass Irene bei deren unvermeidlichem Geständnis einige von ihnen bezichtigte.
Das Weinen verstummte, als das Stampfen von beschlagenen Stiefeln im Gang widerhallte. Irene schluckte; ihre Kehle war urplötzlich trocken. Gleich kam der Augenblick, wo sie herausfinden würde, ob ihr Plan wirklich so klug war, wie er ihr zuvor erschienen war.
Die Kerkertür wurde mit roher Gewalt aufgerissen und krachte gegen die Wand. Der Schein des Fackellichts dahinter umrahmte den Grafen, der mit verschränkten Armen drohend ins Blickfeld rückte. Sein Wams aus schwerem schwarzem Samt deutete breitere Schultern an, als dies tatsächlich der Fall war; aber die zwei Soldaten, die in Habachtstellung hinter ihm standen, waren muskulös genug für jegliche Art von grober Behandlung, die notwendig werden mochte. Der Adlige betrachtete Irene und strich sich nachdenklich über das Kinn.
»So …«, sagte er schließlich, »die neueste Hexe, die es wagt, sich in meinen Herrschaftsbereich hineinzuschleichen und ihre Ränke gegen mich zu spinnen. Hast du nicht erfahren, Hure, dass all jene, die vor dir herkamen, gescheitert sind?«
»Oh, vergebt mir, höchst edler Graf!«, flehte Irene demütig. Sie wusste, dass ihr Deutsch zu modern war für diese Zeit und diesen Ort, doch er würde wahrscheinlich nur zu glücklich sein, dies als zusätzlichen Beweis für ihre Hexerei zu nehmen. »Was war ich nur für ein Dummkopf, dass ich hergekommen bin. Ich werfe mich Euch zu Füßen und bitte um Gnade!«
Der Graf blickte überrascht. »Du gestehst deine Schuld?«
Irene schaute zu Boden und versuchte, sich ein oder zwei Tränen rauszuquetschen. »Ihr habt mich in Eisenketten gelegt, Euer Gnaden, und da ist ein Kruzifix an der Tür. Ich bin gefesselt, und Satan, mein Meister, wird mir nicht mehr helfen.«
»Nun denn.« Der Graf hielt inne und rieb sich dann die Hände. »Also, das ist doch mal eine erfreuliche Abwechslung! Vielleicht werde ich dich nicht so streng verhören müssen wie zuvor deine Schwestern. Gestehe all deine Missetaten, und nenne deine Komplizen, und du könntest von der Verdammnis noch einmal verschont bleiben.«
»Doch ich habe solch schreckliche Dinge getan, höchst edler Graf …« Irene schaffte es, ein tief empfundenes Schniefen hervorzubringen. »Wie kann ich mit meinem Geständnis Eure Ohren besudeln? Ihr seid ein Edelmann, der weit über solchen Dingen steht.«
Wie sie gehofft hatte, gewann das sein uneingeschränktes Interesse. »Hure, es gibt nichts, was du mir erzählen könntest, das ich nicht schon gelesen habe. Du wirst dies wohl nicht wissen …«
Tatsächlich wusste sie es – und das war der Grund, weshalb sie hier war.
»… doch ich bin der gelehrteste Mann in ganz Württemberg. Menschen aus ganz Deutschland kommen her, um meine Bücher zu bewundern. Zahlreiche Abhandlungen der großen heiligen Männer und der Hexenjäger schmücken meine Bibliothek. Der Malleus Maleficarum von Kramer gehörte zu meiner Kindheitslektüre. Ich habe die Geständnisse von Hexen aus der ganzen Welt studiert. Deines wird nicht anders sein.«
Irene kam eine Idee, wie sie zumindest einen Wachmann loswerden konnte. »Dann bitte ich Euch, einen Priester herzubeordern, höchst edler Graf. Lasst mich meine letzte Beichte vor ihm ebenso wie vor Euch ablegen, sodass ich vor den Flammen der Hölle gerettet werden mag.«
Der Graf nickte. »Du zeigst Weisheit, Frau. Stefan! Hol sofort Vater Heinrich her.«
»Aber, mein Herr«, protestierte der Wachmann, »er sagte doch, er wolle nichts mehr mit der Befragung von Hexen zu tun haben und –«
»Du Narr«, schnitt der Graf ihm das Wort ab. »Diese Hexe fleht darum, ihre Sünden zu beichten. Hah! Das wird ihm beweisen, dass ich die ganze Zeit mit meinen Verdächtigungen recht hatte. Hol ihn, und zwar schnell! Es ist mir egal, ob er mitten in einer Messe oder mit seinem Abendessen beschäftigt ist. Schlepp ihn hier herunter, auf dass diese schändliche Hure ihr Gewissen reinigen kann.«
Irene bemerkte, dass der Wächter seine Augen himmelwärts verdrehte; allerdings achtete er darauf, dies erst zu tun, als der Graf ihm den Rücken zugewandt hatte. »Natürlich, mein Herr«, murmelte er und trabte davon, wobei er die Tür hinter sich schloss.
»Nun, Hure …« Der Graf begann förmlich zu sabbern bei dem Gedanken an unzüchtige Geständnisse. »Erzähl mir: Was brachte dich in mein Herrschaftsgebiet und in meine Hände … und in die Hände der Mutter Kirche, natürlich«, fügte er als Nachsatz hinzu. »Und sei gewarnt: Wenn du versuchst, irgendwas zurückzuhalten, werde ich am Ende gezwungen sein, dich einer strengen Befragung zu unterziehen. Du siehst diese Eisen, die im Feuerbecken erhitzt werden, ja? Du hast auch die Folterbank und die Eiserne Jungfrau dort in der Ecke bemerkt, nicht wahr? Viele zuvor haben versucht, stumm zu bleiben, und es ist ihnen misslungen.« Er dachte nach. »Sag mir zuerst, warum dein Haar in einer solch unweiblichen Art geschoren ist. Hast du es deinem finsteren Herrn geopfert, um im Gegenzug Kräfte zu bekommen, mit denen du Leute verführen oder krank machen kannst?«
Irene fiel nichts ein, wie sie es bewerkstelligen konnte, dass der zweite Wachmann den Raum verließ; sie würde einfach mit ihm fertigwerden müssen, bevor der erste zurückkam. Es wurde Zeit, zu Stufe zwei des Plans überzugehen. »Er hat sie mir abgeschnitten, als ich vor ihm kniete, höchst edler Graf«, beichtete sie. »Er sprach Worte der Macht, als er dies tat.« Das war nicht im Entferntesten richtig. Ihr Haar war während eines kürzlich erfolgten Ausflugs in das Amerika der Prohibitionszeit von ihrem Freund und Ex-Lehrling abgeschnitten worden. Es war recht schwierig, zwischen den verschiedenen Parallelwelten eine bleibende Frisur aufrechtzuerhalten. Niemand an diesem Ort und in dieser Zeit – dem sechzehnten Jahrhundert in Deutschland – würde jedoch glauben, dass eine Frau sich freiwillig dafür entschied, kurzgeschnittenes Haar zu tragen.
»Wirklich?« Der Graf ging zu einem Lesepult hinüber, auf dem ein aufgeklapptes Buch lag, und tauchte dort die Schreibfeder in ein geöffnetes Tintenfass. »Gib seine diabolischen Worte für mich wieder, damit ich eine Aufzeichnung von diesen Zaubersprüchen erstellen kann.«
»Er sagte …«, begann Irene und wechselte zur Sprache; die Zeit für Vorspiegelungen war vorüber, »Tinte, fliege in die Augen der Männer; Ketten, öffnet euch und lasst mich frei.«
Es war eines der vielen nützlichen Dinge, die mit dem Dasein als Bibliothekar – im Gegensatz zu dem Dasein als Hexe – einhergingen, dass Irene die Sprache der Bibliothek verwenden konnte, um die Welt um sie herum zu verändern. Selbst wenn sie in Handschellen und an die Mauer gekettet war.
Was sie nicht mehr länger war. Die schweren Eisenschellen öffneten sich und ließen sie frei. Klugerweise trat sie ein paar Schritte zur Seite. Der Wachmann, der sich im Moment die Augen rieb und vor Wut und Angst heulte, mochte ja auf den Gedanken kommen, sie dort anzugreifen, wo sie gestanden hatte. »Stiefelhosen, bindet eure Beine zusammen und hindert eure Träger zu laufen!«, befahl sie. Schließlich trug sie ein Kleid, keine Stiefelhose, sodass die einzigen Personen, die diese Anweisung betreffen würde, der Wachmann und der Graf waren.
»Hexe!«, kreischte der Graf, dessen Beine wild und nutzlos auf den Boden einschlugen.
»Ich dachte, Ihr wusstet das bereits«, hob Irene hervor und nahm einen verbogenen schmiedeeisernen Gegenstand auf, bei dem es sich wahrscheinlich um ein Folterinstrument handelte. Im Augenblick war für sie das Wichtigste an dem Werkzeug, dass es schwer und stumpf war, sodass es auf die Köpfe von Leuten angewandt werden konnte.
Zwei dumpfe Schläge später war es in der Kammer sehr viel leiser geworden, und sie öffnete die Tür und trat in den Gang hinaus. Das abgelegte Gebende hatte sie sich schon wieder über das Haar gelegt und machte es jetzt fest. Der Schlüssel – auch ein Gegenstand aus Kaltem Eisen – hing praktischerweise an der Mauer, und sie benutzte ihn, um die Tür zuzuschließen, bevor sie weiterging. Sie hatte Zeit, bis Stefan mit dem Priester zurückkehren würde, also sollte das genügen.
Ein weiteres Wimmern kam aus einer der anderen Zellen, und Irene fühlte sich innerlich zerrissen. Ihr Ziel hier war, ein Buch aus der Privatbibliothek des Grafen zu beschaffen. Es kam nicht häufig vor, dass sie im Umfeld eines solch durch und durch unerfreulichen und zugleich verdienstvollen Zielbereichs ihren Job verrichtete – dass sie also Bücher stahl, um das Gleichgewicht des Universums aufrechtzuerhalten. Sie sollte sich auf diese Arbeit konzentrieren und nicht auf die anderen Opfer Seiner Lordschaft. Und wenn sie Zeit auf diese Leute verwendete, könnte sie dadurch ihre Chance aufs Spiel setzen, jene bestimmte Ausgabe des Heliand sicherzustellen. Was viel bedeutsamer war als das Leben einiger weniger Bauern, die niemals etwas von der Bibliothek wissen oder deren Mission verstehen würden …
Andererseits wäre es schon eine riesige Ablenkung, all diese Gefangenen zu befreien. Das war ein zweckmäßiges Gegenargument, das ihr Gewissen befriedigte und beinahe auch schon ihr Pflichtgefühl. Natürlich mochte dies auch nur eine fadenscheinige Rationalisierung darstellen. Doch es bedeutete, dass sie die Gefangenen des Grafen nicht im Stich lassen musste; also konnte sie damit leben.
Fünf Minuten später hatte sie zwei Häftlinge losgemacht und ihnen die Verantwortung übertragen, die anderen zu befreien, während sie selbst die nächste Treppe hochschlich.
Das darauf folgende Hindernis zeigte sich schneller, als ihr lieb war. Die Wachstube befand sich am Kopfende des Treppenhauses, und sie war belegt. Dieser ganze Burgkomplex war wie der Graf – vollkommen paranoid. Auch gab es keine Deckung, denn das Treppenhaus war aus einfachen, grob bearbeiteten Steinen errichtet. Und obwohl es nur von Fackeln erhellt wurde, gab es hier nirgendwo eine Stelle, wo man sich verstecken könnte, wenn die Wachen losrannten, um nachzuschauen, was es mit der Unruhe unten auf sich hatte. Aber Irene hatte noch einen Trick auf Lager.
Sie marschierte zur Wachstubentür hoch, öffnete sie und ging hinein.
Die vier Wachmänner, die in der Kammer herumlungerten und sich einen verbotenen Krug Bier teilten, glotzten Irene entsetzt an. Zum Glück war keiner von ihnen so geistesgegenwärtig, um augenblicklich »Hexe!« zu rufen oder sich auf sie zu stürzen, was ihr genügend Zeit zum Sprechen gab.
»Ihr nehmt wahr«, sagte Irene, die abermals die Sprache benutzte, »dass ich nicht die Hexe bin, nach der ihr Ausschau haltet, sondern bloß ein weiterer Wachmann, der etwas für den Grafen erledigt. Es ist völlig normal, dass ich hier durchgehe, und es lohnt sich nicht, darauf Zeit zu verschwenden oder sich dafür zu interessieren.«
Unvermittelt bekam sie Kopfschmerzen. Der Einsatz der Sprache, um die Wahrnehmungen von Menschen durcheinanderzubringen, war zu den besten Zeiten schon eine arge Belastung, dies aber für vier Leute gleichzeitig zu bewerkstelligen war noch deutlich schlimmer.
Aber es funktionierte. Die Wachmänner nickten Irene nur flüchtig zu, da ihre Gehirne die Anwesenheit der eingetretenen Person als unwichtig umdeuteten. Zwei von ihnen, die beim Würfelspiel saßen, setzten ihr Streitgespräch fort, während der dritte sich wieder der Aufgabe widmete, sein Schwert zu polieren.
Der vierte allerdings starrte weiterhin Irene an. Ihre Kehle war trocken, als sie den Raum durchquerte und zwischen den Männern hindurchging, wobei sie sich darauf konzentrierte, nichts zu tun, was die Illusion der Wachleute erschüttern könnte. Diese Täuschung würde jedenfalls nicht lange währen. Doch wenn der vierte Wachmann es irgendwie geschafft hatte, die Wahrheit zu erkennen …
»He, Johann«, grummelte er, »hast du mit Liese über deine Schwester gesprochen?«
Irene zuckte mit den Schultern und gab einen unverbindlichen Laut von sich; dabei spürte sie, dass sie auf dem Rücken eine Gänsehaut bekam. Noch drei weitere Schritte bis zur Tür am anderen Ende der Stube. Bemerkt nichts, betete sie, bemerkt nichts …
Einer der Würfelspieler blickte verwirrt auf. »Johann?«, sagte er. »Das ist doch Bruno.«
Der erste Fragesteller runzelte die Stirn. »Nein, das ist Johann …«
Irene stürzte durch die Tür und knallte sie hinter sich zu. »Tür, schließ dich ab und klemme fest!«, keuchte sie. Dann hörte sie, wie sich die mechanischen Teile im Schloss klickend bewegten – nur einen Augenblick, bevor jemand am Türgriff auf der anderen Seite rüttelte. Die Tür presste sich in ihren Rahmen, als weitere Wächter mit ihrem Gewicht am Griff zerrten; woraufhin die Männer laut riefen, um Alarm zu schlagen.
So viel zu meinem Sicherheitsspielraum, dachte Irene und rannte den vor ihr liegenden Gang entlang. Hier war das Mauerwerk glatter, und die Fackeln hatten eine bessere Qualität, was bedeutete, dass sie sich den Quartieren des Grafen oben in der Burg näherte. Doch das bedeutete auch, dass es wahrscheinlicher wurde, bemerkt zu werden. Selbst wenn niemand sie als die »Hexe« wiedererkannte, die früher an diesem Tag hergebracht worden war, würde man ihre bäuerliche Kleidung nicht übersehen und ihr unangenehme Fragen stellen.
In Gedanken ging sie nochmals ihre Erfahrungen als Bibliothekarin durch. Welche der Einsichten, zu denen sie in all den Jahren gekommen war, in denen sie Bücher gestohlen hatte, um das Gleichgewicht zwischen Ordnung und Chaos aufrechtzuerhalten, waren jetzt am meisten von Nutzen? Leitsätze wie Im Zweifelsfall verbirg die Beweise oder Leugne alles ab, und frag nach einem Rechtsanwalt flackerten in ihrem Bewusstsein auf, waren jedoch hier nicht hilfreich.
Ich möchte, dass niemand mir im Wege ist, während ich nach oben laufe. Was wäre, wenn die Aufmerksamkeit von allen nach unten gerichtet ist …
In diesem Bereich der Burg hielt sich die Dienerschaft auf: Hier lagen die Küchen, Wachstuben, Wäschereien, Schlafkammern. Essensgeruch kam ihr entgegen – jemand kochte Kohl und Rüben –, was auf eine Küche in der Nähe hinwies. Das würde vollauf genügen.
Irene wartete, bis jemand auftauchte. Es war ein gestresst aussehender Diener, der einen Stapel zusammengefalteter Uniformen trug. Sie erwischte ihn am Arm, und bevor er reagieren konnte, sagte sie ihm: »Du nimmst wahr, dass ich dir berichtet habe, dass in den Verliesen der Teufel sein Unwesen treibt – und dass dies zweifelsfrei wahr ist. Und du musst die Wachmänner zusammenscharen, damit sie dort runtergehen und den Grafen retten.«
Dann ließ sie ihn gehen und entfernte sich ein ganzes Stück weit. Als Alarm geschlagen wurde, nahm sie eine andere Route durch die Gänge der Dienerschaft.
Irene wiederholte dieses Manöver mehrere Male, während sie durch die Burg nach oben ging. In dieser Feste gab es einen Überfluss an Wachmännern, und sie alle kamen nun in den unteren Bereichen der Festung zusammen. Selbst wenn sie nicht alle an den Teufel glaubten, so glaubten sie doch an den Grafen – und an das, was der Graf ihnen antun könnte, wenn sie nicht mit ausreichender Einsatzfreude reagierten. Oder sie glaubten womöglich tatsächlich an den Teufel. In der fiebrigen, von Panik und Misstrauen geprägten Atmosphäre, die diesen Ort umgab, war es sehr leicht, an das Böse zu glauben.
Mit einem Seufzer der Erleichterung setzte Irene schließlich ihren Fuß auf die Treppe, die zum Privatquartier und zur Bibliothek des Grafen führte. Es hatte sich erwiesen, dass die Pläne, die sie sich ins Gedächtnis eingeprägt hatte, bislang präzise waren. Unten gab es ein großes Durcheinander: Sie hatte Schreie und eine Menge Krach gehört, und sie glaubte, Rauch riechen zu können; aber die Leute richteten ihre Aufmerksamkeit weiterhin auf die Geschehnisse in den Tiefen der Burg und nicht nach oben. Irene litt unter pochenden Kopfschmerzen, hatte aber auch ein paar Kopfschmerztabletten – was der Zeit nicht entsprach – in ihrem Mieder versteckt, die sie nehmen würde, wenn all das hier vorüber war. Bisher verlief die Mission ganz nach Plan. Nun ja, mehr oder weniger. Einigermaßen. Sie war immer noch am Leben und hatte ihr Zielobjekt fast erreicht. Und wenn es im unteren Stockwerk so etwas wie einen winzig kleinen Regimewechsel gab – nun denn, solche Dinge passierten eben.
Sie benutzte die Sprache, um die fest verriegelte Tür zu öffnen, und verschloss sie hinter sich, um etwaige Spuren zu verdecken. Danach stapfte sie erschöpft die Treppe hoch, nicht ohne die Wandteppiche und bestickten Läufer auf den Absätzen zu bewundern. Wie der Rest der Burg war dieser Turm aus schweren Steinen erbaut worden, um Jahrhunderte zu überdauern und sowohl Wetter als auch Angreifer draußen zu halten. Aus dem Grund hatte sie sich auch diese Art des Eindringens ausgedacht. Der Graf und seine Wachleute waren zu paranoid, als dass Irene die Festung unter normalen Umständen hätte betreten können. Sie hatte ihn dazu verlocken müssen, dass er selbst sie ins Innere der Burg brachte.
Aber jetzt wurde es schwierig, wieder hinauszukommen, und hing ganz davon ab, ob die private »Bibliothek« des Grafen tatsächlich so groß war, wie er gerne behauptete.
Die Räume ganz oben waren spiralförmig um die emporsteigenden Stufen herum angelegt, und jeder von ihnen war stark verriegelt. Als sie alle nacheinander aufschloss und überprüfte, fiel Irene auf, dass die Kammern im Innern peinlich sauber waren. Von den Regalen ging ein kräftiger Geruch nach Bienenwachs aus, und die schweren Bucheinbände mit ihren eingesetzten Edelsteinen und den Wörtern in Goldschrift funkelten. Entweder übernahm der Graf das Staubwischen selbst – was nach Irenes Einschätzung unwahrscheinlich war –, oder die Dienstmägde wurden täglich hier hocheskortiert. Es war undenkbar, dass einer bloßen Dienerin gestattet sein sollte, die Schlüssel zu den Kammern an sich zu nehmen, in denen sich der ganze Stolz und Ruhm des Grafen befanden. Öllampen brannten durchgehend in allen Räumen, sodass sie viel besser beleuchtet waren als der Rest der Burg.
Zum Glück hatte der Graf seiner Büchersammlung eine gewisse Ordnung gegeben. Das Meiste handelte von Hexerei, Dämonologie, Satanismus und entsetzlichen Verbrechen (vermutlich für den Fall, dass irgendwelche von Hexen begangen worden waren). Die wenigen Werke, die sich tatsächlich mit Theologie und Hagiologie befassten, hatte er in einen kleinen Bücherschrank im fünften Zimmer gestellt. Irene kniete sich nieder, um die Bücher durchzugehen. Da es samt und sonders große, schwere Bände waren und bei den meisten von ihnen der Titel vorne auf dem Umschlag und nicht auf dem Buchrücken stand, musste sie fast jedes Buch herausziehen, um festzustellen, um was für ein Werk es sich handelte.
Irene wurde von den lautlosen Schritten in ihrem Rücken überrumpelt. Wäre nicht von hinten ein Schatten auf das Buch in ihrer Hand gefallen, wäre sie überhaupt nicht vorgewarnt worden. Sie warf sich zur Seite, ließ das Buch fallen und empfand unvermittelt Schuldgefühle, als es dumpf auf den Boden prallte. Rasch warf sie den Arm hoch, um ihr Gesicht zu schützen, während sie sich wegdrehte. Schmerzhaft spürte sie eine dünne Linie, die in ihren Unterarm gekratzt wurde.
Irene kam sogleich wieder auf die Beine und war dabei dankbar für die locker sitzenden Röcke ihres Dirndls. Dann musterte sie die andere Person. Es war eine Frau: Sie trug ein seidenes Untergewand, das für alles andere als ein Bett total unangemessen war, und blondes Haar fiel ihr locker über ihre Schultern und den Rücken hinab. Ihre Hand umklammerte fest einen Misericordia – einen Dolch mit nadelspitzer Klinge. Sie hielt ihn in einem Messerkämpfergriff mit der Spitze nach oben und nicht in der eher amateurhaften Weise nach unten. Und die Klinge wies, wie Irene mit wachsendem Unbehagen feststellte, eine unschöne schwarze Verfärbung vom Heft bis zur Spitze auf.
Irenes Arm pochte. Richtig: Gift. Sie musste sich darum kümmern, doch sie musste sich zuerst um diese Frau kümmern. Irene war zu Ohren gekommen, dass der Graf eine Geliebte hatte. (Es war das Erste gewesen, was die Klatschtanten des Dorfes erwähnt hatten.) Doch Irene hatte nicht gewusst, dass der Graf sie in seiner Privatbibliothek wohnen ließ.
Die Frau verlagerte ihr Gewicht von einem Fuß auf den anderen und beobachtete Irene aufmerksam; dann glitt sie nach vorn, um erneut anzugreifen. Die Klinge bewegte sie so, als wollte sie damit schneiden, anstatt zuzustechen. Sie nahm eine Verteidigungshaltung ein und hatte es darauf abgesehen, Irene Fleischwunden und eben nicht eine ernsthafte Verletzung zuzufügen.
Irene blockierte den Hieb der Frau mithilfe einer der Selbstverteidigungstechniken, die sie erlernt hatte; Fertigkeiten, die sie vor Jahren in einer ganz anderen Welt bei einem Nahkampfkurs ohne Waffen erworben hatte. Irene erwischte das Handgelenk der Gegnerin und drehte ihr den Arm auf den Rücken, während sie ihr gleichzeitig gegen das Knie trat und sie so zu Boden zwang. »Lass ihn fallen!«, befahl Irene.
»Hexe!«, spie die Frau. »Zeig nur, was du kannst!«
Irene versuchte, dies nicht als Herausforderung zu betrachten. Stattdessen wickelte sie einfach ihre freie Hand in das wallende Haar der Frau und knallte deren Kopf ein paarmal gegen die Bodendielen, bis ihre Gegnerin sich nicht mehr regte.
Ihr Arm tat jetzt richtig weh. Sie musste das Gift aus ihrem Körper herausbekommen, und zwar schnell.
Wohlweislich trat sie den Dolch weg, sodass er ein gutes Stück außerhalb der Reichweite der Frau lag, und dann rollte sie den Ärmel an ihrem verletzten Arm hoch. Es war ein oberflächlicher Schnitt, jedoch tief genug, dass eine Substanz in ihren Blutkreislauf hatte eindringen können.
Irene kniete sich wieder hin. »Gift – oder was auch immer auf dem Dolch gewesen ist –, verlass meinen Körper auf demselben Wege, auf dem du hineingekommen bist!«, befahl sie.
Ein plötzlicher Blutstrahl schoss aus ihrer Wunde und spritzte auf ihre Röcke und über den Fußboden. Irene biss die Zähne zusammen, als sie benommen schwankte. Sie wartete, bis das Blut zu fließen aufhörte, bevor sie ihr Gebende abnahm und in einen Druckverband verwandelte. Sie konnte zwar kein Gift in dem Blut erkennen, andererseits würde man so etwas aber auch nicht sehen, oder?
Die leise Stimme des gesunden Menschenverstands in ihrem Hinterstübchen wies darauf hin, dass sich ihre Gedanken allmählich verwirrten. Und sie musste noch die Geliebte des Grafen fesseln, dieses Buch finden und schließlich hier rauskommen.
Irene schüttelte ihren Kopf und riss sich zusammen. Prioritäten … richtig.
Es stellte sich heraus, dass das Buch, nach dem sie suchte, im nächsten unteren Regal stand – und doch nicht der letzte Band im gesamten Bücherschrank war, wie sie schon zu fürchten begonnen hatte. (Manchmal hatte das Universum einen unschönen Sinn für Humor.) Irenes Altsächsisch war recht schwach bis nicht existierend, der Titel aber eindeutig wiederzuerkennen, und sie hatte im Vorfeld nachgesehen, welche Schlüsselsätze in dem Text stehen sollten. Es war die vollständige Version des Heliand und nicht eine Teil-Ausgabe wie all die anderen, die von der Bibliothek bereits aus dieser Welt mitgenommen worden waren: das Leben von Jesus in Versform, geschrieben in Altsächsisch irgendwann während des neunten Jahrhunderts. Und diese Ausgabe sollte – im Unterschied zu den Textvarianten des Heliand aus anderen Welten – einige interessante Abweichungen vom Neuen Testament aufweisen, was sie einzigartig machte.
Auftrag ausgeführt. Jetzt musste Irene nur noch aus dieser Burg herauskommen – und aus dieser Welt.
Die Geliebte des Grafen lag noch gebunden und bewusstlos auf dem Boden, als Irene über sie hinwegschritt und zur offenen Tür ging; das Buch als schwere Last unter ihrem Arm. Sie schloss die Tür; der Griff aus Eisen fühlte sich kalt in ihrer Hand an.
Würde dies jetzt funktionieren oder nicht? Die Bibliothek von einer der Tausenden von Parallelwelten aus zu erreichen setzte voraus, dass man eine genügend große Ansammlung von Büchern um sich hatte. Die Bibliothek des Grafen war einigermaßen groß – nun ja, für diese Zeit und diesen Ort. Und sie war gewiss für die Funktion vorgesehen, eine Bibliothek und nicht einfach ein Vorzeigeort oder Warenlager zu sein. Es würde Irenes Leben sehr viel leichter machen, wenn das hier funktionierte …
»Öffne dich zur Bibliothek hin!«, befahl Irene in der Sprache und zog die Tür auf.
Der Raum auf der anderen Seite war einem Treppenaufgang im Turm so unähnlich, wie es nur möglich war. Ein Netzwerk aus Metallregalen bedeckte die Wände und spannte sich an der Decke entlang; unverrückbar auf den Boden gepresst von dem Gewicht von Stapeln von Ausdrucken und Büchern, die in glänzenden weißen Karton und glattes Plastik eingebunden waren. In der Mitte des Zimmers summte im Verein mit einem elektronischen Stonehenge aus Servern in Tower-Gehäusen eine Ansammlung von Computerbildschirmen – dunkle Spiegel, in denen sich der Rest des Raums reflektierte.
Vom Fußboden hinter Irene war das geschockte Aufkeuchen der Geliebten des Grafen zu vernehmen.
Irene trat durch den offenen Eingang, doch bevor sie ihn schloss, wandte sie sich der Frau zu, um das Wort an sie zu richten. Es erschien unfair, sie mit all der Schuld zurückzulassen. »Ich schlage vor, du erzählst ihm, dass du mich erstochen hättest und ich mit einem Schrei verschwunden sei«, riet Irene ihr. »Du hast schließlich mein Blut auf dem Boden und am Dolch. Und das ist doch ein gutes Ende für eine Geschichte über Hexen …«
Und dann schloss sie die Tür und unterbrach die Verbindung zu jener Welt.
Mehrere Stunden später hatte Irene das Buch im zentralen Sammelsystem der Bibliothek hinterlegt, von dem aus es zum richtigen Ort für die Archivierung und fürs Lesen gebracht würde. Und jetzt hatte jene Welt stärkere Verbindungen zur Bibliothek, sodass sie besser gegen die Kräfte des Chaos geschützt sein sollte. Irene hatte die Schnittwunde an ihrem Arm mit moderner Arznei behandelt und neu bandagiert, mehrere Aspirin-Tabletten eingenommen und ihre Kleidung gewechselt. Denn ihr nächster Aufenthaltsort – ihr gegenwärtiges Zuhause – war etwas ganz Anderes als der vorherige: ein vage an das Viktorianische Zeitalter erinnerndes England mit einem Hang zur Dampfkraft, zu Zeppelinen, Freigeistern und großen Detektiven.
Und jetzt saß sie in der Unterkunft eines großen Detektivs. Peregrine Vale war der Erzfeind der Verbrecher in ganz Großbritannien und Irenes Freund, was sie selbst ziemlich überraschte. Nun war sie im Begriff, ihm einen kleinen Gefallen zu tun.
Ein Erpresser der feinen Gesellschaft war zufällig auf ein kompromittierendes Dokument in osmanischem Türkisch gestoßen, das britische Truppenstellungen betraf. Und obgleich Vale durchaus in der Lage gewesen war, den gesamten Bestand an privaten Dokumenten des besagten Erpressers in seine Hände zu bekommen, so konnte er osmanisches Türkisch nicht lesen und den speziellen Brief auch nicht identifizieren. Was der Grund für Irenes Besuch war. Nun ja, einer der Gründe.
Der andere Grund saß Vale gegenüber am Tisch und sah den großen Haufen von Dokumenten durch, der mitten auf dem Tisch abgeladen worden war; die Ätherlichter verwandelten den Betreffenden in das Bild eines meisterhaften Tuschemalers. Sein dunkles Haar fiel nachlässig um sein Gesicht herum, und seine Haut war blass wie Marmor. Die Augen waren von einem so dunklen Blau, dass es die lichtlosen Tiefen des Ozeans widerzuspiegeln schien, und seine Knochen hätten das Werk eines Meisterbildhauers sein können.
Kai war Irenes ehemaliger Lehrling. Er war auch ein Drachenprinz. Und er hatte jegliche Karriereaussichten, die sich ihm als Bibliothekar möglicherweise geboten hätten, aufgeben müssen (obgleich Irene offen gestanden bezweifelte, dass er sich letzten Endes für diesen Weg entschieden hätte) – und zwar aufgrund von politischen Verwicklungen. Und so hatten sie beide sich in aller Öffentlichkeit getrennt. Doch öffentliche Erklärungen wie »Leider bist du nicht mehr meine Mentorin« bezogen private Treffen in den Häusern gemeinsamer Freunde nicht mit ein. Irene wusste nicht, wie lange sie so weitermachen konnten. Daher bereitete sie sich bereits auf den Moment vor, wenn die theoretische Trennung sich in eine reale verwandelte. Doch im Augenblick würde sie Kais Gesellschaft so lange genießen, wie sie konnte.
Ausgenommen natürlich, wenn die Bibliothek sie auf dringende Missionen fortschickte. Um ehrlich zu sein, fand sie die zeitliche Einplanung der jüngst erfolgten Heliand-Rückgewinnung ein wenig suspekt. Womöglich war das sogar ein subtiler Hinweis gewesen, dass sie ihre Zeit ausschließlich für Angelegenheiten der Bibliothek aufwenden sollte? Aber das Gute an subtilen Hinweisen war, dass man sie ignorieren konnte, solange die eigentliche Arbeit erledigt wurde. Und sie hatte ihre Arbeit erledigt. Ihre Zeit gehörte jetzt nur ihr selbst.
Irene diente eigentlich einer höheren Bestimmung. Die unendliche Abfolge von Parallelwelten war instabil und wechselte immer wieder in Richtung des Chaos an dem einen Ende oder der Ordnung am anderen. Wesenheiten von den entfernten Enden dieser Wirklichkeit – die Elfen repräsentierten das Chaos, und die Drachen standen für die Ordnung – drohten stets, die Welten für ihre eigenen Zwecke zu destabilisieren. Sie waren imstande, eine Welt bis an den Rand eines Kriegs zu bringen oder gar zu zerstören. Doch die Bibliothek hielt das Gleichgewicht zwischen den Welten aufrecht, indem sie einzigartige literarische Werke aus den verschiedenen Parallelwelten erwarb – für gewöhnlich, ohne im Vorhinein darum zu bitten – und die Bücher aufbewahrte. (Die kleine Sache mit dem Aufbewahren war sehr wichtig.) Dies hatte eine äußerst stabilisierende Wirkung auf die unterschiedlichen Welten. Und Irenes Pflichten als vereidigte Bibliothekarin waren weitaus wichtiger als etwaige persönliche Schwächen.
Andererseits gab es wenig, was sie mit Blick auf die Verfolgung der besagten höheren Bestimmung um zwei Uhr morgens in einer nebligen Londoner Dezembernacht zu unternehmen vermochte. Somit konnte sie genauso gut Vales Dokumente durchsehen, ein Glas Brandy trinken und die von der Nacht noch übrig gebliebene Zeit für Plaudereien mit Freunden nutzen. Und dann möglicherweise noch etwas anderes tun – mit Kai.
Was persönliche Schwächen anbelangte … Kai hatte ziemlich deutlich zu verstehen gegeben, dass er sich freuen würde, das Bett mit Irene zu teilen. Aber das wäre für ihre Beziehung als Mentorin und Lehrling nicht angebracht gewesen. Jetzt aber war sie nicht mehr verantwortlich für sein Wohl. Nun ja …
Die Ätherlampen an den Wänden waren zu voller Helligkeit aufgedreht worden, sodass ihr Licht die Konturen von Kais schwarzem und weißem Abendanzug deutlich hervortreten ließ, und auf dem ramponierten Kragen sowie den abgenutzten Ärmelaufschlägen von Vales Lieblingsmorgenrock verweilte. Kai hielt einen der Briefe hoch, um das Wasserzeichen zu inspizieren. Er schnüffelte daran und zog dabei die Nase kraus.
»Der hier gibt keinerlei Namen am Anfang oder Ende preis«, berichtete er. »Doch es geht ständig um Liebe. Die Zielperson hat scharlachrotes Haar und der Schreiber eine unglückselige Vorliebe für Sandelholz.«
»Wahrscheinlich eine der Chisholm-Schwestern«, meinte Vale, ohne von seinem Bündel von Rechnungen aufzublicken, die er gerade durchblätterte. »Legen Sie ihn auf den Stapel zu meiner Rechten. Wenn Sie sich von Ihrer Reise erholt haben, Winters, dann könnten Sie sich einen Sessel heranziehen und uns Hilfe leisten. Strongrock und ich haben einen Anfang gemacht, doch ich würde dies hier gerne vor der Morgendämmerung geordnet und aufgeräumt bekommen, um alle möglichen Unannehmlichkeiten zu vermeiden.«
»Es ist immer eine vernünftige Idee, für Ordnung und Sauberkeit zu sorgen«, stimmte Irene zu. Und kompromittierende Beweise loszuwerden, bevor die Polizei auftauchen und das Haus durchsuchen kann. Sie zog den freien Sessel an den Tisch heran und nahm sich ein paar Blätter. »Ist es ein interessanter Abend gewesen?«, fragte sie Kai.
Er zuckte mit den Achseln. »Manchmal kann das Leben grausam sein. Ich musste auf dem Dach stehen, während andere Leute …« – er nahm Blickkontakt mit Vale auf – »äh, Unterlagen beschafften. Wenn wir so etwas noch mal machen müssen, würde ich einen gerechter verteilten Anteil an der Arbeit bevorzugen.«
»Es ist höchst unwahrscheinlich, dass so etwas noch einmal passiert«, erwiderte Vale mit Nachdruck. »Ich lasse mich nicht zu kriminellen Taten herab – es sei denn, dass es einen guten Grund dafür gibt und die Tat absolut notwendig ist.«
Kai und Irene sahen einander von der Seite an, waren jedoch so vernünftig, dass sie Vale nicht widersprachen.
Irene stellte bald fest, dass sie sich entspannte, während sie die Unterlagen durchschaute. Da ihre eigenen Aufgaben für den Moment beiseitegestellt waren, hatte sie das Empfinden, einfach unter Freunden zu verweilen; und das war eine ziemlich neue Erfahrung, an die sie sich noch nicht vollständig gewöhnt hatte.
Im Verlauf der letzten ein, zwei Jahre war sie erst allmählich mit dem Gefühl vertraut geworden, dass es Leute in ihrem Leben gab, auf die sie sich verlassen konnte. Denen sie vertrauen konnte. Selbst wenn es sich bei dem einen von ihnen um den größten Detektiv in einem viktorianischen London einer Parallelwelt handelte und der andere ein ziemlich in Ungnade gefallener Drachenprinz in menschlicher Gestalt war. Selbst wenn sie und der Drachenprinz getrennte Wege gehen und in der Öffentlichkeit keinen Umgang miteinander haben sollten. Aber dies war nunmehr Irenes Leben: eine dauerhafte Mission als vor Ort ansässige Bibliothekarin in dieser Welt. Es war nicht das, was sie geplant hatte.
Aber Pläne gingen selten nach Plan.
»Irene?«, fragte Kai, der sich umdrehte und sie genauer anschaute. »Ist etwas nicht in Ordnung?«
Sie zögerte und versuchte darüber nachzudenken, was sie antworten sollte. Mit einem gedanklichen Aufseufzen blendete sie ihre Stimmung aus und kehrte zu praktischen Überlegungen zurück. »Metaphysik«, erwiderte sie mit einem Schulterzucken. »Und wie wir dahin gekommen sind, wo wir uns jetzt befinden. Nichts Wichtiges.«
Draußen auf der Straße knarrten Wagenräder und kamen zum Stehen. Vale runzelte die Stirn. Er erhob sich, ging hinüber zum Fenster im ersten Stock und zog einen Vorhang ein kleines Stück zurück, um hinauszuspähen. »Eine Privatkutsche«, berichtete er. »Keine Polizei, nicht mal Singh. Und auch nicht Lady Rotherhyde …«
Er hielt inne, blickte aufrichtig überrascht. »Winters, ich glaube, das ist Ihre Kollegin Bradamant. Weshalb könnte sie zu dieser Stunde nach Ihnen suchen?«
Unten läutete die Türglocke.
»Ich weiß es nicht«, antwortete Irene und stand vom Tisch auf. »Doch ich sollte wohl besser gehen und es herausfinden. Entschuldigung.«
Vale schüttelte den Kopf. »Das macht nichts. Aber gehen Sie nur und sehen Sie nach ihr, bevor sie die Haushälterin weckt.«
Kai erhob sich halb von seinem Sitz, aber Irene gab ihm mit einer Geste zu verstehen, dass er bleiben sollte, wo er war. »Wir sollen doch keinen Umgang miteinander haben, schon vergessen?«, erinnerte sie ihn.
Kai schnaubte. »Als ob Bradamant das glaubt.« Gleichwohl setzte er sich wieder hin.
Irene dachte darüber nach, welche Vorzüge es hatte, glaubhaft etwas abstreiten zu können, als sie die Treppe hinunterlief. Hoffentlich war Bradamant nicht in irgendeiner dienstlichen Funktion hier.
Die Türglocke ertönte erneut, als Irene am Fuße der Treppe war und somit die Hausdiele erreicht hatte. Sie beeilte sich, die Riegel zurückzuschieben und die Tür zu öffnen.
Bradamant hatte eine Hand erhoben, um wieder auf die Klingel zu drücken, senkte den Arm aber, als sie Irene erkannte. »Gott sei Dank, dass du hier bist«, sagte sie. »Ich habe es zuerst bei deiner Unterkunft versucht, doch du warst nicht da, und hast auch keine Notiz hinterlassen.«
»Ich habe keine Besucher erwartet«, erklärte Irene, winkte Bradamant herein und schloss die Tür hinter ihr. Ihre Kollegin war in einen dicken grauen Samtumhang gehüllt, der an den Ärmelaufschlägen und am Kragen mit Hermelinpelz besetzt war. Das war ein kleines bisschen unpassend, was Epoche, Welt und Land anging, in denen sie beide sich gerade aufhielten, wärmte aber sicher gut und war auch äußerst stilvoll. Ihr schwarzes Haar glänzte, da sich vom Nebel winzige Wassertropfen darin verfangen hatten. »Gibt es einen Notfall?«
»Ja«, antwortete Bradamant. »Doch du bist nicht die einzige Person, die ich suche.«
Irenes Gedanken gingen augenblicklich zu Kai, und ihr sank das Herz. War das hier irgendeine Art von offizieller Trennungsaufforderung? War einer der Verantwortungsträger zu der Entscheidung gelangt, ein Verbot über sie beide verhängen zu müssen? »Oh?«, entfuhr es ihr, während sie versuchte, ihren Pulsschlag unter Kontrolle zu bringen. »Wen sonst noch?«
»Vale.« Bradamant nickte in Richtung der Treppe. »Ich freue mich zu sehen, dass er hier ist. Es hat einen Mord gegeben, Irene. Wir brauchen einen Detektiv, und zwar einen guten. Oder die Lage wird sogar noch schlimmer, als du es dir vorstellen kannst.«