Eine musikalische Entdeckungsreise
Eva, Teresa e Caterina,
questo libro è dedicato a voi.
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Umschlaggestaltung: Peter Lohse, Heppenheim
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ISBN 978-3-650-25346-0
Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich:
eBook (PDF): 978-3-650-73084-8
eBook (epub): 978-3-650-73085-5
Einleitung
1. Spaziergang Palestrina
Komponist und Geschäftsmann im Schatten des Petersdoms
S. Maria Maggiore – Palazzo del Quirinale – Kapitol – Villa Farnesina – Gianicolo – Petersdom
2. Spaziergang Bernini
Eine Stadt als Theaterkulisse
Petersdom – Piazza Navona – S. Maria sopra Minerva – Palazzo Barberini – Piazza del Popolo
3. Spaziergang Händel
Rom als Grundstein einer großen Karriere
Piazza del Popolo – Teatro Capranica – Pantheon – Palazzo Doria Pamphilj – S. Maria in Aracoeli
4. Spaziergang Mozart
Ein jugendliches Genie erkundet die Ewige Stadt
Vatikanische Paläste – Chiesa Nuova – Teatro Valle – Piazza Nicosia – Kapitol
5. Spaziergang Mendelssohn und Berlioz
Romantische Begeisterung und Melancholie an der Spanischen Treppe
Piazza di Spagna – S. Maria in Via – Largo Argentina – Via Appia Antica – Villa Borghese
6. Spaziergang Respighi
Klingende Stadtansichten aus dem 20. Jahrhundert
Fontana di Trevi – Teatro dell’Opera – Piazza Navona – Villa Borghese
Literatur
Register
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„Ohne reisen /:wenigstens leüte von künsten und wissenschaften:/ ist man wohl ein armseliges geschöpf!“ |
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Brief von Wolfgang Amadeus Mozart vom 11. September 1778 an seinen Vater |
Eine musikalische Entdeckungsreise in Rom – viele werden dabei zuerst an Puccinis Oper Tosca denken. Die Handlung um die Sängerin Floria Tosca, den Maler Mario Cavaradossi und den Polizeichef Scarpia spielt in der Kirche S. Andrea della Valle, im Palazzo Farnese und der Engelsburg. Sie erscheint so stringent und schlüssig, dass sie selbst in Reiseführer Eingang gefunden hat, obwohl sie komplett erfunden ist und oberflächlich aus verschiedenen Ereignissen verschiedener Epochen zusammengesetzt wurde. Wenn Cesare Angelotti, der fiktive entflohene politische Gefangene, die Kirche S. Andrea della Valle betreten hätte, dann hätte er dort keine Cappella degli Attavanti wie in der Oper gefunden. Die Kapelle der Familie Attavanti befand sich nämlich einst in der Kirche Sant’ Agostino. Schauplatz der Opernhandlung könnte die Cappella Ginnetti oder Lancelotti gewesen sein. Allerdings malte Bartolomeo Cavarozzi, genannt de’ Crescenzi (1590–1625), für S. Andrea della Valle ein Altarbild des Hl. Carlo Borromeo. Vielleicht wurde er im Libretto zu Toscas Cavaradossi.
Abseits von mehr oder minder fiktiven Opernschauplätzen für Puccinis Tosca, Wagners Rienzi oder Mozarts La clemenza di Tito bietet Rom viele musikalische Entdeckungen für seine Besucher. Und soviel auch über die zahllosen Kunstwerke und die Künstler, die Paläste, Päpste und Parks geschrieben wurde, ein wichtiger Bestandteil der römischen Kultur wurde – wenn überhaupt – bisher hauptsächlich in der Fachliteratur oder in einem Absatz weit unten im Text behandelt: Rom als Musikstadt.
Von jeher war die Stadt Rom ein wichtiges Zentrum in der Musikgeschichte, zahllose Komponisten besuchten die Stadt oder wirkten an einer ihrer Kirchen oder Bühnen. Von der frühen Mehrstimmigkeit bis hin zu Respighis akustischen Romgemälden führt der Weg über Palestrina, Frescobaldi, Händel, Mozart, Mendelssohn und viele andere mehr, die mit unterschiedlichen Intentionen und Voraussetzungen Rom besuchten, hier lebten und wirkten. Beispielhaft führt dieses Buch wissenschaftlich fundiert in sechs Spaziergängen durch verschiedene Epochen und auf den Spuren einzelner Persönlichkeiten durch die Stadt. Es nähert sich wichtigen Monumenten Roms aus meist unbekannten, musikalischen Blickwinkeln an und bezieht zusätzlich Orte mit ein, die abseits der üblichen Wege liegen, in der musikalischen Geschichte Roms aber eine wichtige Rolle spielten. Dabei will das Buch als Ergänzung zu einem guten kunsthistorischen Stadtführer gesehen werden und soll mit der Beschreibung der Strecken keinen Stadtplan ersetzen. Ein im Text verweist auf eine Hörempfehlung, mit sind die einzelnen Zwischenziele der Spaziergänge kenntlich gemacht, manchmal ohne den expliziten Hinweis, dort hinzugehen.
In diesem Sinne hoffe ich, das Buch möge zum Weiterlesen in Briefen und Biografien ermuntern und wünsche viele spannende Neuentdeckungen in der Ewigen Stadt, ganz im Sinne Leopold Mozarts, der an seine Frau schrieb: „du weist, daß Rom der Ort ist, wo man sich nothwendig aufhalten muß.“
S. Maria Maggiore – Palazzo del Quirinale – Kapitol – Villa Farnesina – Gianicolo – Petersdom
Am 2. Februar 1594 starb Giovanni Pierluigi da Palestrina im Alter von 68 Jahren in Rom in seinem Haus in der Via dell’Armellino. Noch am selben Abend wurde sein Leichnam in den Petersdom gebracht, begleitet von den Sängern der päpstlichen Kapelle, allen Musikern der Stadt und unter großer Anteilnahme der Bevölkerung. Er fand dort seine Ruhestätte in der Cappella Nova an der Seite seiner ersten Frau Lucrezia, seiner Söhne Rodolfo und Angelo, vier seiner Enkelkinder und seines Bruders Silla. Sein Leichnam war in einen Bleisarg mit der Aufschrift „Joannes Petraloysius Praenestinus musicae princeps“ gelegt worden – Fürst der Musik. Einzig der Ort seiner Bestattung war alles andere als fürstlich: Die Cappella Nova war bereits dem Abriss geweiht und sollte dem Hauptschiff des neuen, gewaltigen Petersdomes weichen.
Schon 1452 hatte man den baufälligen Zustand der alten Peterskirche aus dem 4. Jahrhundert erkannt, 1506 hatte dann Papst Julius II. den Grundstein zum Neubau gelegt – und mit dem entsprechenden Ablassbrief einen der Auslöser der Reformation geschaffen. Seitdem zankten sich Päpste, Kardinäle, Architekten und Bauleiter um die Baupläne. Diese Großbaustelle war Sinnbild der Macht, aber auch des großen Umbruchs in der katholischen Kirche, ein steinernes Zeugnis der Kirchenspaltung.
Das Engagement der Päpste für die Kunst und ihre oftmals überbordende Sucht nach Glanz und Prunk hatte Palestrina meist zu seinen Gunsten nutzen können. Durch geschickte Schachzüge war es ihm gelungen, seinen Ruhm Stück für Stück auszubauen und für die Nachwelt zu zementieren. Daneben hatte er es immer verstanden, als geschäftstüchtiger Unternehmer durch kluges Wirtschaften seine Güter zu vermehren. Die Baustelle des Petersdomes hatte er dabei zeitlebens im Blick.
Und so, wie die Bauarbeiten an der Peterskirche sein Wirken in Rom lebenslang begleiteten und beeinflussten, so ließen sie ihn auch nach seinem Tod nicht los. Bei der Errichtung der heutigen Chorkapelle wurde 1615 sein Grab zerstört, der Sarg mit den sterblichen Überresten ging dabei verloren.
Doch nicht nur bei seinem Grab verlieren sich die Spuren schnell in den Windungen der Geschichte, auch die Zeugnisse seines privaten Lebens – fest verwurzelt in der ewigen Stadt – sind so spärlich, dass man nur schwer ein Bild des Musikers erhält, der bereits zu Lebzeiten eine Legende war, als Retter der Kirchenmusik stilisiert, zur Personifikation der Renaissancemusik und zum Vorbild aller Kirchenmusik nach ihm wurde – und als der römischste aller Komponisten gilt.
Geboren wurde Palestrina um 1525/26 möglicherweise im Stadtteil Monti im Herzen Roms. Sein Vorname: Giovanni, lateinisch Joannes. Sein Familienname: Pierluigi, lateinisch Petraloysius. Heute wird fast ausschließlich seine Herkunftsbezeichnung da Palestrina, lateinisch Praenestinus, als Name verwendet.
Über dem Petrusgrab stand zu dieser Zeit eine beeindruckende Bauruine. Nach einer fast zwanzigjährigen Pause an der größten Baustelle der Stadt hatte die Natur langsam wieder Besitz von den mächtigen Vierungspfeilern ergriffen, die Bramante errichtet hatte. Drohend standen die grasbewachsenen, einsturzgefährdeten Bögen über den Resten der teilweise noch intakten Basilika von Alt-Sankt-Peter, als wollten sie diese verschlingen. Der niederländische Maler Marten van Heemskerck hat dieses Bild in einer seiner Skizzen während seines Romaufenthalts ab 1532 festgehalten, auf der die bewachsenen Mauern zu erkennen sind. Über dem Papstthron und dem Petrusgrab hatte man zum Schutz eine provisorische Kapelle errichtet, nachdem 1506 das Dach der alten Kirche über der Vierung abgetragen worden war. Die Altarkerzen erloschen unter freiem Himmel und mehrfach mussten die liturgischen Feiern wegen Regen abgebrochen werden.
Abb. 1: Marten van Heemskerck: Blick von Norden auf St. Peter. Berlin, Kupferstichkabinett, Heemskerck-Skizzenbücher I, fol. 13r.
Aufgewachsen ist Palestrina wahrscheinlich in der Kleinstadt Palestrina, knapp 40 Kilometer östlich von Rom, denn es gab einen triftigen Grund für die Familie, die Ewige Stadt zu verlassen: den Sacco di Roma. Am 6. Mai 1527 waren deutsche Landsknechte und spanische Söldner in Rom eingefallen und hatten die Stadt geplündert.
Papst Clemens VII. hatte sich im Krieg um die Herrschaft über die reichen Städte Oberitaliens auf die Seite Franz I. von Frankreich und gegen Karl V., Kaiser des Heiligen Römischen Reiches, gestellt. Daraufhin fielen 24.000 wütende und disziplinlose Landsknechte, die Karl V. als Söldner verpflichtet hatte, quasi führerlos in die Ewige Stadt ein. Die marodierende Meute raubte, vergewaltigte, folterte, schändete Kirchen und tötete bis zu 40.000 Menschen. Das Resultat: leichengepflasterte Straßen, Anarchie, ein Schaden von 10 Millionen Dukaten (etwa 1,5 Mrd. Euro), eine durch Seuchen nahezu unbewohnbare, hungernde Stadt. Das Petrusgrab war aufgebrochen, der Papst eingeschlossen in der Engelsburg. Das gesamte Abendland war verstört. Wie konnte es sein, dass Menschen zu derartigen Taten fähig waren?
Möglicherweise hat der kleine Giovanni in Palestrina von all dem nur wenig mitbekommen. In der beschaulichen Kleinstadt war er von Kindesbeinen an von Musik umgeben, von Volksmusik, volkstümlichreligiöser Musik, aber auch zeitgenössischer polyphoner Kirchenmusik und gregorianischen Gesängen. An der Kathedrale S. Agapito in Palestrina gab es ein reiches musikalisches Leben. Die Bischöfe der Stadt stammten aus den großen Adelsgeschlechtern Roms, wie etwa Andrea della Valle. Dieser wurde 1534 Erzpriester der Basilika S. Maria Maggiore und nahm den jungen Palestrina als Sängerknaben zur Ausbildung mit in die große Stadt. Sieben Jahre nach der Plünderung, einem schweren Hochwasser und einer sich anschließenden Malariaepidemie blühte Rom wieder auf und zelebrierte sich und seine wiedererlangte Stärke und Pracht: „Roma resurgens“, eine Stadt, die auch wieder in die Künste investierte. Geistliche wie weltliche Musik war allgegenwärtig.
Machen wir uns nun auf den Weg, Palestrinas Spuren an seinen Wirkungsstätten und im Rom seiner Zeit zu entdecken. Es ist ein Spaziergang, der immer wieder neue Blicke auf den Petersdom freigibt, auf den Dreh- und Angelpunkt in Palestrinas Leben und Schaffen. Unsere erste Station ist die Basilika S. Maria Maggiore. Im Chor dieser Kirche erhielt Palestrina im Alter von etwa 8 Jahren seine erste Gesangs- und Musikausbildung.
Der Legende nach erschien die Jungfrau Maria dem römischen Patrizier Johannes und Papst Liberius in der Nacht auf den 5. August 356 und beauftragte sie, ihr zu Ehren eine Kirche an der Stelle zu errichten, an der des Morgens Schnee liege. Tags darauf war der Esquilinhügel mit einer Schneedecke überzogen. An dieses Wunder wird jedes Jahr erinnert, indem auf die Gläubigen weiße Blütenblätter aus der Kassettendecke herabregnen. Tatsächlich hängt der Bau der Kirche mit einem kirchengeschichtlichen Ereignis zusammen: 431 wurde auf dem Konzil von Ephesus Maria als Mutter Gottes proklamiert. Einzigartig sind an den Seitenwänden die Mosaiken aus dieser Zeit.
Der Überlieferung nach ist das Gold der Kassettendecke das erste Gold, das aus Amerika nach Europa kam. Isabella und Ferdinand von Spanien hatten es Papst Alexander VI. geschenkt. Große Verehrung genießt das Gnadenbild Salus Populi Romani in der Cappella Paolina im linken Seitenschiff, eine Marienikone, die der Überlieferung nach der Apostel Lukas gemalt haben soll.
Das erste Dokument, das Palestrinas Namen erwähnt, ist ein Versorgungsvertrag zwischen dem Kapitel der Kirche S. Maria Maggiore und dem Kantor Giacomo Coppola aus dem Jahr 1537, in dem von einem „Ioannes de pelestrina“ als Sängerknabe die Rede ist. Die Knaben, die mit etwa sieben Jahren dem Chor beitraten, erhielten als Ausgleich für ihre Dienste im Chor von S. Maria Maggiore, der Cappella Liberiana, Unterkunft, Verpflegung, Kleidung und Ausbildung. Sie lernten Grammatik, Latein, Gregorianik und polyphonen Gesang, Kontrapunkt und Komposition. Gemeinsam mit hauptberuflichen Sängern taten sie hier in der Kirche täglich Dienst im Rahmen der Liturgie. Auch einige andere Kirchen Roms unterhielten solche cappelle, die renommierteste darunter war der Privatchor des Papstes, die Cappella Pontificia. In ihm sangen als einzigem Chor Roms keine Knaben. Die Sopran- und Altpartien wurden von Countertenören und ab der Mitte des 16. Jahrhunderts zunehmend von Kastraten übernommen. Diesem Chor gehörten die renommiertesten Musiker der Zeit als Sänger an, darunter Guillaume du Fay oder Josquin des Prez. Letzterer hatte von der Sängerkanzel der Sixtinischen Kapelle für Papst Alexander VI. Borgia gesungen und – dort heute noch zu sehen – seinen Namen in den Putz geritzt.
Die Kapellmeister der Stadt waren auch als Komponisten tätig und standen in der Tradition der sogenannten franko-flämischen Schule. Deren Vertreter hatten die vokale Mehrstimmigkeit (Polyphonie) aus Belgien, den Niederlanden und Frankreich nach Italien gebracht und hier durch landestypische Elemente (Madrigal, Falsobordone, Tanzformen) und örtliche Traditionen erweitert. Die Ideen der Renaissance und des Humanismus, dieser Übergangszeit vom Mittelalter zur Neuzeit, in der 1450 der Buchdruck erfunden, 1492 Amerika entdeckt oder 1517 durch Luther die Reformation eingeläutet worden war, wirkten sich auch auf die Musik aus. Ihre Kompositionsideale entstammen, ebenso wie die Ideale der Baukunst, theoretischen Überlegungen und idealisierenden Konstruktionen. Die Musik ist gekennzeichnet durch Ebenmaß, rationale Durchdringbarkeit und schließlich das Streben nach Vollkommenheit.
Wir verlassen S. Maria Maggiore in Richtung der Piazza della Repubblica. Hier steht eine recht eigenwillige Kirche: S. Maria degli Angeli. Ihre Entstehung ab 1561 hat Palestrina miterlebt. Sie führt eine Idee der Renaissance baulich vor Augen: die Zusammenführung von Heidentum und Christentum, die Rückbeziehung auf die antiken ebenmäßigen Formen und Ideale und – typisch für Rom – die bildhaft werdende Kontinuität der Kirche aus der Antike heraus. In den Mauern der Diokletiansthermen errichtete Michelangelo eine Kirche, indem er die bestehende Bausubstanz in ihrem antiken Erscheinungsbild mit ihren harmonischen Proportionen lediglich restaurierte. Im 18. Jahrhundert wurde sie so stark umgestaltet, dass von dem Eindruck, den ein Besucher zu Palestrinas Lebzeiten von der schlichten Kirche mit ihrem nackten Mauerwerk aus der Kaiserzeit hatte, kaum mehr etwas geblieben ist. In S. Maria degli Angeli sind heute zahlreiche Originalgemälde aus dem Petersdom zu sehen, die dort durch Kopien aus Mosaiksteinen ersetzt wurden, um sie vor der großen Feuchtigkeit in der Nähe des Tiber zu schützen.
1544 bekam Palestrina mit 18 Jahren dank seiner familiären Verbindungen einen unbefristeten und gut dotierten Vertrag für seine erste Stelle als Organist und Chorleiter an der Kathedrale S. Agapito in Palestrina und verließ Rom für sieben Jahre. Am 13. Dezember 1545 wurde in Trient das sogenannte Tridentinische Konzil eröffnet, das sich mit Luthers Ideen auseinandersetzte. Es sollte Reformen auch in der katholischen Kirche durchsetzen sowie die eigenen Positionen gegenüber den „neuen“, lutherischen Lehren schärfen und vereinheitlichen. Das Konzil tagte mit großen Unterbrechungen bis 1563. Im Bereich der Kirchenmusik sollte es Palestrinas Ruhm als Komponist geistlicher Werke für Jahrhunderte zementieren.
Über die Via XX Settembre geht es von der Kirche S. Maria degli Angeli den Quirinalshügel hinauf zur Piazza del Quirinale, auf der seit der Antike die Statuen der Dioskuren Castor und Pollux mit ihren Pferden stehen. Papst Gregor XIII. glaubte, der Aufenthalt hier oben sei in den Sommermonaten gesünder und die Luft besser als die „mal aria“ am Tiberufer im Vatikan, die so viele Fieberkranke hervorbrachte. Er ließ den Palast ab 1583 – als Palestrina mit 46 Jahren sein erstes Enkelkind bekam – im Stil der ausgehenden Renaissance errichten.
Hinter seinen Mauern birgt der Palast eine musikalische Kuriosität: die Fontana dell’organo im Nymphäum des Parks, eine Hydraulis bzw. Wasserorgel, deren Ursprünge aus der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts stammen. Ebenso wie die Nachahmung der Antike waren die Nachahmung und Idealisierung der Natur ein zentrales Anliegen der Renaissance. Bei der Wasserorgel des Quirinal ist dieses Prinzip bis ins kleinste Detail umgesetzt: in einer künstlichen und aufwändig geschmückten Grotte steht eine Orgel, die zum Klingen gebracht wird, indem Wasser eine Stiftwalze antreibt, die in der Art einer Spieluhr Töne auf einer Klaviatur anschlägt. Den Wind bekommt die Orgel ebenfalls durch eine wassergetriebene Mechanik. Mehrfach wurde das Instrument umgebaut und restauriert, im 19. Jahrhundert spielte man hier Walzen mit Kompositionen Verdis ab. Nach langer Pause ist sie seit 2002 wieder spielbereit.
Eine Papstwahl entschied über Palestrinas weiteres berufliches Schicksal: 1550 zog Giovanni Maria Ciocchi del Monte, der Bischof von Palestrina, als Julius III. in den Vatikan ein und berief „seinen“ Kirchenmusiker, inzwischen verheiratet und Vater, aus Palestrina zum Kapellmeister der Cappella Giulia. Dieser Chor war für die musikalische Gestaltung der Liturgie im Petersdom zuständig, war 1513 ins Leben gerufen worden und nach seinem Gründer Papst Julius II. della Rovere benannt. Daneben hatte dieser Papst die Schweizergarde als päpstliche Leibwache begründet, den Grundstein für den Neubau des Petersdoms gelegt und Michelangelo mit der Bemalung der Decke der Sixtinischen Kapelle beauftragt. Für sein Grabmal schuf Michelangelo die berühmte Mosesstatue, die heute in S. Pietro in Vincoli steht. Die Cappella Giulia war nach der Cappella Pontificia (später nach ihrem Wirkungsort auch Cappella Sistina genannt) die angesehenste Musikinstitution der Stadt.
Palestrina stand also bereits im Alter von etwa 25 Jahren an der Spitze einer der renommiertesten Kapellen Europas. Sein Aufgabenbereich umfasste die Auswahl sowie die Musik- und Gesangsausbildung der Sängerknaben, die künstlerische und organisatorische Leitung sowie die Auswahl der Solostimmen. Dazu wachte er über die chorische Disziplin, sorgte für Schreib- und Notenmaterial – und verfasste selbstverständlich eigene Musik.
Auf die Piazza del Quirinale leuchtet die Kuppel des Petersdoms zu uns herüber. Als Palestrina die Chorleiterstelle der Cappella Giulia annahm, bot sich von hier aus ein anderer Blick. Abgesehen davon, dass noch nicht einmal der Grundstein zu dem mächtigen Palast in unserem Rücken gelegt war, ging die Arbeit am Petersdom kaum voran. 1546 war Michelangelo im Alter von 71 Jahren die Bauleitung übertragen worden. Er warf den kompletten Bauplan um und ließ Teile des Neubaus von Raffael wieder einreißen, um seine eigenen Vorstellungen umzusetzen. Gegen allen Widerstand und viele Intrigen setzte er – auch dank der Unterstützung durch Julius III. – seine Ideen durch. Er wetterte über alle bisherigen Verzögerungen an der Baustelle: Sie sei ein zu großes Geschäft für alle Beteiligten, als dass ein Interesse daran bestünde, das Werk zu einem Abschluss zu bringen. Heemskercks Zeichnung zeigt diesen Zustand: Während im Zentrum die Vierung der neuen Kirche zu erkennen ist, stehen an den Seiten die Säulen, die das Hauptschiff der konstantinischen Basilika begrenzten. In der Mitte ist die provisorisch über dem Petrusgrab errichtete Kapelle zu erkennen.
Die Chorproben Palestrinas fanden im Ginnasio della Cappella Giulia an der linken Seite der alten Peterskirche statt. In diesem Gebäude, das sich vom Quirinal aus gesehen hinter der linken kleinen Kuppel des Doms befand, wohnte Palestrina mit seiner Familie.
Abb. 2: Marten van Heemskerck: Blick von Osten durch das Hauptschiff von St. Peter. Staatliche Museen, Berlin, 1535.
Julius III. war ein gebildeter Humanist und Liebhaber der Künste und förderte sie nach Kräften. Er beauftragte den renommierten Architekten Giorgio Vasari, zusammen mit Michelangelo die Sommerresidenz Villa Giulia außerhalb der Stadt zu errichten, in deren Gärten und Sälen in lauen Sommernächten eine cappella zur Unterhaltung spielen sollte; gut vorstellbar, dass auch Julius’ Protegé Palestrina hier als Musiker und Komponist weltlicher Musik beteiligt war.
Vom Quirinal aus führt die Via della Dataria zu einem weiteren Ort, an dem Palestrina tätig war: das Oratorio del Crocifisso an der Via dell’Umiltà bzw. die nahe gelegene Kirche S. Marcello al Corso. Der Vorgängerbau der heutigen Kirche San Marcello war 1519 von einem verheerenden Brand zerstört worden. Zwischen Asche und Ruinen fand man einzig ein hölzernes Kreuz aus dem 14. Jahrhundert unversehrt. Das Volk erkannte darin ein göttliches Zeichen, es bildete sich eine Gruppe von Gläubigen, die sich regelmäßig zur Andacht vor dem Kreuz traf und sich Compagnia bzw. Confraternità del SS. Crocifisso, Bruderschaft vom Heiligen Kreuz, nannte. Kurz darauf ebbte eine Pestepidemie ab, nachdem man mit dem Kreuz durch die Stadt gezogen war. Im Andenken daran veranstaltete die Bruderschaft eine jährliche Prozession, die sich mit den Jahren zu einem grandiosen Spektakel mit geschmückten Prunkwagen und unter Beteiligung der berühmtesten römischen Musiker ausweitete. 1552 nahm die Cappella Giulia unter Palestrinas Leitung daran teil.
Im Herbst 1551 betrat eine große Musikerpersönlichkeit die Stadt: der „belgische Orpheus“ Orlando di Lasso. Palestrina und Lasso, die sich wohl auch persönlich kannten, waren die letzten großen Vertreter des sogenannten A-cappella-Stils. Palestrinas Werken werden Begriffe wie Mäßigkeit, erhabene Gelassenheit, natürliche, makellose, überirdische Schönheit oder himmlische Lyrismen zugeordnet, während die Kompositionen Lassos als kontrastreich, genial, inspiriert und ausdrucksintensiv beschrieben werden. Von ihren Zeitgenossen wurden beide hoch geschätzt. Das wesentliche Unterscheidungsmerkmal ihrer Werke ist möglicherweise die Tatsache, dass Palestrina immer von einer gesungenen Aufführung ausging und seine Werke von der Sprache leben, während Lasso meist die Möglichkeit einer instrumentalen oder vokalen Darbietung offen ließ.
Anders als der „heimatverbundene“ Palestrina lernte Lasso schon früh verschiedene Regionen Europas kennen. 1532 in Mons in den Burgundischen Niederlanden geboren, trat er als Knabensopran in die Dienste Ferrante Gonzagas, des Vizekönigs von Sizilien. Mit ihm ging er im Alter von 12 Jahren nach Palermo und lernte auf der langen Reise die Volksmusik und Traditionen ganz Italiens kennen. Die umfassende Bildung seiner Umgebung sog er begierig auf und sprach schließlich fließend Deutsch, Italienisch, Französisch und Latein. 1553 wurde er Kapellmeister in S. Giovanni in Laterano, verließ Rom aber im Jahr darauf, um zu seinen sterbenden Eltern zurückzukehren. Durch Drucke seiner Werke wurde Herzog Albrecht V. von Bayern auf ihn aufmerksam. 1556 trat Lasso in die Dienste des bayerischen Hofes in München und blieb dort bis zu seinem Tod im Jahr 1594. Rom hatte er nochmals 1574 besucht. Im Jahr seines Todes widmete er Papst Clemens VIII. den Zyklus Lagrime di San Pietro mit 20 geistlichen Madrigalen und einer lateinischen Motette, der als sein bedeutendstes Werk und Höhepunkt der gesamten Madrigaltradition gilt. Eine durchgehende Rolle spielt die Zahl 7: Die einundzwanzig Stücke sind in drei Abschnitte zu je sieben Madrigalen geordnet, die gesamte Komposition ist – ungewöhnlich – siebenstimmig gehalten. Von den acht Kirchentonarten verwendet Lasso nur sieben. Die Zahl 7 steht für die Verbindung von Himmel (Dreieinigkeit) und Erde (Elemente), für die Vollkommenheit. Mit den Lagrime di San Pietro schuf Lasso vielleicht das Paradestück römischer Kirchenmusik der Gegenreformation, denn allein schon das geistliche Madrigal war typisches musikalisches Ausdrucksmittel dieser Bewegung. Der deutliche Petrus- und Papstbezug im Zusammenhang mit der Zahlensymbolik unterstützt diesen Eindruck.
Über die Piazza Venezia hinüber führt an der rechten Seite des Nationaldenkmals für Viktor Emanuel II. die Cordonata, die große Freitreppe, hinauf auf das Kapitol. Dieser Ort atmet ganz den Geist des 16. Jahrhunderts: War der Platz bisher gegen das Forum und damit das Zentrum des antiken Rom gewandt, so geht der Blick seit 1568 hinüber zum Vatikan, dem Zentrum der uneingeschränkten kirchlichen Macht der Renaissancepäpste.
Der Anblick des Petersdoms, der sich Palestrina in den 1550er Jahren von hier aus bot, war neu. Wie der Ausschnitt aus dem Stadtplan Roms von 1577 des französischen Künstlers Etienne Dupérac zeigt, war inzwischen die Südapsis der Kirche geschlossen worden und die Trommel, die später die große Kuppel tragen würde, ragte über den Pinien des Gianicolo ständig wachsend empor – Michelangelo hatte gegen alle Widerstände seinen eigenen Plan durchgesetzt. Allerdings wurde ihm für teures Geld minderwertiges Baumaterial geliefert, das dann nachts auch noch von der Baustelle gestohlen wurde. Um dies zu verhindern, blieb ihm schließlich nichts anderes übrig, als aus eigener Tasche Nachtwachen zu bezahlen.
Abb. 3: Etienne Dupérac: Plan der Stadt Rom von 1577. Kupferstich (Ausschnitt).
Der Senatorenpalast in unserem Rücken zeigte sich Palestrina noch als ein typisch mittelalterliches Gebäude, bei dem nur eine Freit reppe von der neuen Pracht kündete. Michelangelos Pläne für eine Neugestaltung wurden erst ab 1568 umgesetzt. Einzig das Reiterstandbild Marc Aurels hatte zu Palestrinas Zeit hier bereits seinen Platz gefunden, es war 1535 vom Lateran auf das Kapitol gebracht worden.
Von der kirchlichen Macht konnte Palestrina 1555 zum wiederholten Mal profitieren. Er hatte ein Jahr zuvor sein erstes selbstständiges Werk publiziert, eine Sammlung von Messvertonungen, die er seinem Gönner Papst Julius III. widmete. Auf dem Titelblatt ließ er sich kniend vor dem Papst abbilden, dem er gerade ein Exemplar seines Werkes überreicht. Die Huldigung blieb nicht ohne Wirkung: Julius III. ernannte ihn am 13. Januar 1555 zum Mitglied des päpstlichen Chores, ohne die vorgeschriebene Prüfung seiner musikalischen Fähigkeiten wenigstens pro forma durchführen zu lassen, und obwohl es keine Vakanz gab – ein Affront gegenüber den Mitgliedern der Kapelle. Was für Palestrina ein enormer beruflicher Erfolg war, brachte Nachteile mit sich: Die Sänger fühlten sich übergangen und es kam in den Folgejahren immer wieder zu Querelen und Unstimmigkeiten.
Was die Qualität des Chores angeht, so sind die Meinungen allerdings gespalten: Manche Romreisende berichteten ganz euphorisch über dessen Auftritte, es existieren aber auch interne Listen, in denen über ein Drittel der Sänger als unqualifiziert und ihre Stimme als hässlich bezeichnet wird. Dass man – wie Palestrina – durch Protektion in den Chor kam, war eben keine Seltenheit.
Nach dem Tod Julius III. wurde Marcello Cervini als Marcellus II. zum Papst gewählt. Er hatte sich vorgenommen, größeres Augenmerk auf den Zustand der Kirchenmusik zu legen, starb jedoch bereits nach wenigen Wochen. Paul IV. Caraffa folgte ihm auf den Thron. Er versuchte, strenge Reformen in der Kirche durchzusetzen. Unter anderem erließ er ein Dekret, das vorschrieb, dass in der päpstlichen Kapelle nur unverheiratete Sänger tätig sein dürften, die dann auch die niedrigen Weihen empfangen und liturgische Funktionen übernehmen könnten. Drei Sänger, unter ihnen Palestrina, mussten deshalb die päpstliche Kapelle verlassen – mit immerhin zwei Dritteln ihres bisherigen Verdienstes als Pension. Palestrina nahm bald danach eine Anstellung als Kapellmeister in S. Giovanni in Laterano an. Diese extra für ihn neu geschaffene Position bei dem erst 1535 gegründeten Chor war zwar nicht so renommiert wie die bisherige Stellung, sie sicherte ihm und seiner Familie aber weiter ein gutes Auskommen.
Vom Kapitolinischen Hügel aus führt unser Weg durch das heute sehr malerische ehemalige Ghetto, das bis 1870 Bestand hatte. Lassen