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Hanno Beck
Aloys Prinz

STAATSVERSCHULDUNG

Ursachen – Folgen – Auswege

 

 

 

 

 

 

 

 

Verlag C.H.Beck

 


 

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Zum Buch

Die Staatsverschuldung hat in den meisten westlichen Industrieländern mittlerweile so hohe Ausmaße erreicht, dass ihre Beherrschung zum größten Thema und zur schwierigsten Aufgabe der Politik geworden ist – und es auf lange Zeit bleiben wird.

In klaren, für Leser ohne ökonomische Vorbildung verständlichen Worten erläutern Hanno Beck und Aloys Prinz in diesem Band die wichtigsten Begriffe, Fakten und Zusammenhänge, die man über Staatsverschuldung wissen muss.

Die Autoren stellen die maßgebenden Argumente für und wider Staatsverschuldung vor und erklären, wie es zu den hohen Schuldenständen in Deutschland und anderen Ländern kommen konnte, und welche Auswirkungen das auf unsere Wirtschaft hat. Der Politik bleiben immer weniger Möglichkeiten, die Schulden zu begrenzen und die aktuelle Euro-Krise zu überwinden.

Über die Autoren

Hanno Beck lehrt Volkswirtschaftslehre als Professor an der Hochschule Pforzheim.

Aloys Prinz lehrt Finanzwissenschaft als Professor an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster.

Inhalt

Vorwort

  I. Grundlagen: Das Einmaleins der Staatsverschuldung

1. Interne und externe Staatsverschuldung

2. Die Messung von Staatsverschuldung

3. Offene und versteckte Staatsverschuldung

4. Anleihen, Obligationen, Schatzbriefe

5. Organisation der Staatsverschuldung

6. Die Rating-Agenturen

 II. Warum lebt der Staat auf Pump?

1. Rentabilität und Dringlichkeit

2. Konjunkturpolitik

3. Staatsverschuldung im politischen Betrieb

III. Die Entwicklung der Staatsverschuldung in Deutschland

IV. Die Folgen der Staatsverschuldung

1. Staatsverschuldung und Gesamtwirtschaft

2. Wachstum und Wohlstand

3. Staatsverschuldung und Einkommensverteilung

4. Inflation

5. Staatsbankrott

6. Staatsverschuldung in einer Währungsunion

 V. Auf der Suche nach Auswegen

1. Staatliche Schuldengrenzen

2. Entschuldung

3. Entschuldung in Staatengemeinschaften und die Krise der Europäischen Union

4. Der Euro-Rettungsschirm um EFSM, EFSF und ESM

VI. Schlussfolgerungen

Quellen und Anmerkungen

Literaturempfehlungen

Index

Vorwort

Die Ereignisse der Jahre 2009 bis 2012 haben einer breiteren Öffentlichkeit deutlich gemacht, dass nicht nur Privatpersonen und Unternehmen, sondern auch Staaten insolvent werden können – selbst wenn sie hochentwickelt und reich sind. So haben die Staaten der Europäischen Union (EU) in einer spektakulären Rettungsaktion einen voluminösen finanziellen Rettungsschirm aufgespannt, um drohende Staatsbankrotte und damit ein Auseinanderbrechen der Eurozone zu verhindern. Europas Bürger müssen schockiert feststellen, dass ihre Staatsfinanzen alles andere als sicher sind. Staaten am Rand des Bankrotts werden drakonische Sparmaßnahmen auferlegt, die sie in tiefe Anpassungsrezessionen stürzen, die – wie im Fall von Griechenland – ein Land nicht nur wirtschaftlich, sondern auch sozial zu ruinieren drohen. Die Europäische Zentralbank greift zu umstrittenen Maßnahmen wie dem Aufkauf von Staatsschuldtiteln. Das hat man sich bei der Euro-Einführung so nicht vorgestellt.

Staatsverschuldung ist aber nicht nur ein europäisches, sondern ein weltweites Problem. Was geschieht, wenn ein Staat seine Zinszahlungen nicht leisten oder seine Schulden nicht mehr refinanzieren kann? Wie kann es überhaupt so weit kommen? Wen belastet die zunehmende Verschuldung der Staaten mehr, Bürger mit geringerem Einkommen oder Wohlhabendere? Was darf, was kann, was muss ein Staat an Verschuldung hinnehmen? So ganz einfach lassen sich diese Fragen nicht beantworten. Nicht jede staatliche Verschuldung ist negativ zu beurteilen, und nicht jeder verschuldete Staat muss zwangsläufig in einen Staatsbankrott schlittern.

Dieses Bändchen will differenzierte Antworten geben. Es soll Lesern ohne Vorkenntnisse in Ökonomie einen Überblick über das Thema Staatsverschuldung geben und ihre Urteilsfähigkeit steigern. Dabei verzichten wir zu Gunsten von Kürze und Prägnanz teilweise auf die vollständige Wiedergabe der wissenschaftlichen Argumente und Studien. Wichtig ist uns vielmehr, dass die zentralen Argumente so ausgeführt werden, dass man sie versteht. Staatsverschuldung geht uns alle an, denn es sind unsere Schulden, über die wir da sprechen.

I. Grundlagen: Das Einmaleins der Staatsverschuldung

1. Interne und externe Staatsverschuldung

Was angesichts der Griechenland-Krise den Bürgern des heutigen Europas so spektakulär vorkommt – ein drohender Staatsbankrott in der Mitte ihrer Gemeinschaft –, ist aus historischer Perspektive betrachtet nichts Neues: Die Ökonomen Kenneth Rogoff und Carmen Reinhart haben alleine für die vergangenen 200 Jahre rund 320 Staatspleiten gezählt[1]. Unter den Staaten, die ihre Schulden nicht zurückzahlten, finden sich Nationen wie Spanien, Dänemark, England, Japan und auch Deutschland. Zu den Spitzenreitern gehört übrigens Argentinien, das alleine zwischen 1980 und 2001 dreimal seine Schulden nicht begleichen konnte. Nach einem Blick in die Geschichtsbücher darf man also auch als Bürger eines vermeintlich reichen Industriestaates eigentlich nicht überrascht sein, wenn das Heimatland den Schuldendienst einstellt.

Wann aber ist ein Staat pleite? Bei Privatpersonen und Unternehmen lässt sich das einfach feststellen: Sobald ein Unternehmen (oder eine Privatperson) nicht mehr in der Lage ist, seine (bzw. ihre) Schulden zu bedienen (also Zinsen zu bezahlen) oder sie zurückzuzahlen, ist es (oder sie) insolvent. Denkt man aber einen Moment nach, so stellt man fest, dass es einen entscheidenden Unterschied zwischen Unternehmen, Privatpersonen und Staaten gibt: Ein Staat kann sich jederzeit neue Einnahmen verschaffen. Wenn ein Unternehmen seine Schulden nicht zurückzahlen kann, so liegt das daran, dass seine Einnahmen nicht ausreichen, um seine Rückzahlungsverpflichtungen zu erfüllen. Es kann seine Einnahmen nicht einfach steigern. Ein Staat hingegen kann im Zweifelsfall neue Einnahmen generieren, indem er die Steuern erhöht, die ja seine Einnahmen darstellen. Steuern sind schließlich nach der Legaldefinition in § 3 der Abgabeordnung definiert als «Geldleistungen, die nicht eine Gegenleistung für eine besondere Leistung darstellen (...)». Mit anderen Worten, Steuern sind Zahlungen an den Staat ohne Anspruch auf eine Gegenleistung des Staates. So gesehen kann ein Staat nicht insolvent werden: Braucht er mehr Geld, um seine Schulden zu begleichen, so kann er einfach die Steuern erhöhen.

Ganz richtig ist der letzte Satz allerdings nicht, wenn sich der Staat gegenüber dem Ausland verschuldet. Leiht sich der Staat Geld von seinen eigenen Bürgern, so tut er das ja in derselben heimischen Währung, in der auch seine Steuern bezahlt werden. Also: Der Staat leiht sich von seinen Schuldnern Geld in inländischer Währung, und wenn er dieses zurückzahlen muss, kann er die Steuern erhöhen, welche die Bürger ebenfalls in inländischer Währung zahlen, und mit den Steuereinnahmen begleicht der Staat seine Schulden. Diese Art der Staatsschuld nennt man interne oder inländische Verschuldung. Verschuldet sich der Staat hingegen in ausländischer Währung (diese Form wird externe Verschuldung genannt), dann wird es für ihn schwieriger, die Schuld zu begleichen. Argentinien hat sich beispielsweise oft im Ausland Dollar geliehen, musste diese Schulden natürlich auch in Dollar zurückzahlen, konnte sie jedoch nicht direkt und unmittelbar über höhere Steuern von seinen Bürgern eintreiben. Kann ein Staat seine Verschuldung gegenüber dem Ausland nicht zurückzahlen, so ist er ebenso insolvent wie Unternehmen oder Privatpersonen, die ihre Schulden nicht zurückzahlen können.

Diese Unterscheidung zwischen inländischer und ausländischer Verschuldung (respektive interner und externer Verschuldung) ist wichtig, wenn man über die Folgen der Staatsverschuldung und die Wege aus der Verschuldung nachdenkt. Es ist vor allem die externe Staatsverschuldung, die in der Öffentlichkeit Wellen schlägt, weil dann ein Staat der Weltöffentlichkeit erklären muss, dass er seine Schulden gegenüber anderen Mitgliedern der Staatengemeinschaft nicht zurückzahlen wird, und dass Ausländer also die Zeche für eine gescheiterte Politik des Schuldnerlandes zahlen müssen. Deutsche Anleger beispielsweise, die in der Vergangenheit Argentinien Geld geliehen hatten, kennen dieses Gefühl zur Genüge. Der öffentliche Fokus auf die externe Verschuldung darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass es trotz der Fähigkeit des Staates, seine inländische Verschuldung über höhere Steuern zu beseitigen, in den vergangenen 200 Jahren viele Staatspleiten gab, bei denen der Staat seine Schulden auch gegenüber den eigenen Bürgern nicht zurückzahlte. Von den eingangs erwähnten 320 Staatspleiten waren das rund 70 Fälle in den letzten 200 Jahren.

2. Die Messung von Staatsverschuldung

Ein Staatsbankrott ist die Endstation auf einem langen Weg, der wie viele lange Wege mit einem ersten Schritt beginnt, nämlich mit der jährlichen Aufstellung des Staatshaushalts. Dort werden die Einnahmen und Ausgaben des Staates erfasst, und die Differenz zwischen den Einnahmen und den Ausgaben ist, sofern die Ausgaben höher als die Einnahmen sind, das Budgetdefizit. Natürlich können die Einnahmen des Staates auch größer sein als seine Ausgaben, dann spricht man von einem Budgetüberschuss. Das gab es in der Bundesrepublik Deutschland sehr selten, beispielsweise in den fünfziger Jahren. In der Regel übertreffen aber die Ausgaben die Einnahmen und das Budgetdefizit muss mit Krediten, also Neuschulden, finanziert werden. Nicht selten wiederholt sich dieses Spiel jedes Jahr aufs Neue.

Die letzte Bemerkung birgt eine wichtige Erkenntnis: Das Budgetdefizit wird pro Jahr ermittelt, es ist eine so genannte Stromgröße, die sich immer auf einen bestimmten Zeitraum bezieht (in der Regel ein Haushaltsjahr). Das Gegenteil einer Stromgröße ist eine Bestandsgröße wie der Schuldenstand, also die Summe aller Defizite (Schulden). Diese Zahl hat unabhängig vom betrachteten Zeitraum stets die gleiche Aussagekraft. Das Budgetdefizit und der Schuldenstand stehen naturgemäß in einem engen Zusammenhang: Der Schuldenstand ist die Summe aller über die Jahre angehäuften Budgetdefizite. Mit anderen Worten, die Schulden, die ein Staat jedes Jahr (netto) neu macht, werden zu den Schulden der vergangenen Jahre hinzuaddiert und ergeben den Schuldenstand.

Doch die absoluten Zahlen zum Budgetdefizit und zum Schuldenstand sagen kaum etwas darüber aus, ob diese Schuldenlast ein Problem für den Staat werden kann. Damit man das Ausmaß der Staatsverschuldung und die potentielle Gefahr, die davon ausgeht, einschätzen kann, muss man die absoluten Werte ins Verhältnis setzen zur wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit eines Landes. Der Gedanke ist einfach: Je leistungsfähiger ein Staat ist, umso leichter kann er seine Schulden zurückzahlen. Hier passt der Vergleich mit der Privatwirtschaft: wie ein Unternehmen, das viel Geld verdient, höhere Schulden machen kann, kann auch ein Staat, der viel erwirtschaftet, seine Schulden leichter zurückzahlen.

Was aber erwirtschaftet ein Staat? Nimmt man wie international üblich, den Wert aller innerhalb eines Jahres im Land hergestellten Güter und Dienstleistungen – genannt Sozialprodukt oder Bruttoinlandsprodukt (BIP) – als Indikator für die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit eines Landes, so erhält man die wohl bekanntesten Größen, mit deren Hilfe man die Leistungsfähigkeit eines Staates messen kann. Um eine Einschätzung der Schuldenlast zu erhalten, setzt man die Schulden eines Landes ins Verhältnis zu seiner wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit (das BIP) und erhält auf diesem Weg zwei Kennzahlen: die Defizitquote und die Schuldenstandsquote. Die Schuldenstandsquote ist das Verhältnis zwischen dem Schuldenstand eines Landes und dem Sozialprodukt. Eine Schuldenstandsquote von beispielsweise 50 Prozent bedeutet, dass die Schulden eines Landes die Hälfte der jährlichen wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit betragen. Die Defizitquote ist das Verhältnis des Budgetdefizits eines bestimmten Jahres zum Bruttoinlandsprodukt desselben Jahres. Eine Defizitquote von beispielsweise drei Prozent besagt, dass sich ein Land in Höhe von drei Prozent seiner jährlichen Wirtschaftskraft neu verschuldet.

Welche Aussagekraft haben die beiden Kennzahlen? Die Aussagekraft der Schuldenstandsquote ist eher begrenzt, weil hier eine Bestandsgröße (der Schuldenstand) ins Verhältnis gesetzt wird zu einer Stromgröße (dem Sozialprodukt, das jährlich ermittelt wird). Der Schuldenstand ist ein Rückblick, das Resultat vergangener Tage, während das Sozialprodukt die Bestandsaufnahme der aktuellen, heutigen Leistungsfähigkeit ist – beides muss nicht notwendigerweise zueinander passen. Im besten Fall gibt die Schuldenstandsquote an, wie lange es dauern könnte, bis der Staat seine Schulden abgetragen hätte, wenn sich weder der Schuldenstand noch das Sozialprodukt in den kommenden Jahren verändern würden. Als alleiniger Indikator für die Bedeutung und die Schwere der Staatsverschuldung eines Landes eignet sich die Schuldenstandsquote allerdings nicht, denn ein internationaler Vergleich ergibt, dass Länder mit recht unterschiedlichen Schuldenstandsquoten leben können. Im Jahr 2010 hatte Deutschland zum Beispiel eine Schuldenstandsquote von 83 Prozent des Sozialprodukts, Spanien dagegen lag bei 60 Prozent, Italien bei 119 und Japan sogar bei 220 Prozent[2].

Besser geeignet ist da schon die Defizitquote, also das Verhältnis zwischen den beiden Stromgrößen Budgetdefizit und Sozialprodukt. Der jährliche Aufbau von Schulden wird hier in Relation gesetzt zu der jährlichen Leistung einer Volkswirtschaft. Die Aussagekraft dieser Kennziffer liegt auf der Hand: Je größer die Leistungskraft eines Landes ist, umso mehr Verschuldung kann es sich leisten, weil es diese (zumindest potentiell) dank seiner im Sozialprodukt dokumentierten Leistungsfähigkeit zurückzahlen kann.

Ein perfekter Indikator für die Solidität der öffentlichen Haushaltsführung ist aber auch diese Quote nicht, denn es fehlt der Aspekt der Mittelverwendung. Wofür der Staat die Kredite ausgibt, spielt eine wichtige Rolle bei der Frage, ob der Staat seine Schulden später zurückzahlen kann. Genau so, wie der Sachbearbeiter einer Bank bei der Vergabe eines Privatkredites danach fragt, wofür der Schuldner das geliehene Geld ausgeben will, muss man den Staat fragen, wofür er sich Geld leiht. Gibt der Staat das geliehene Geld für Investitionen aus, die längerfristig ein höheres Wachstum und damit ein steigendes Sozialprodukt versprechen, so ist diese Form der Staatsverschuldung weniger bedenklich, da das höhere Sozialprodukt eine spätere Rückzahlung der Schulden erleichtert oder überhaupt erst möglich macht. Wird das geliehene Geld hingegen in unproduktive Verwendungen gesteckt – in Griechenland beispielsweise wurde damit unter anderem ein überdimensionierter Beamtenapparat finanziert –, so muss man fragen, woher der Staat später die wirtschaftliche Kraft nehmen will, seine Schulden zurückzuzahlen. Wer einen Kredit aufnimmt, um damit in Urlaub zu fahren, hat eine andere Position gegenüber seiner Bank als jemand, der mit diesem Kredit eine Ausbildung finanziert.

Dieser Überlegung trägt eine weitere Kennziffer Rechnung, der Primärsaldo. Der Primärsaldo ist die Differenz zwischen den Einnahmen des Staates und seinen Ausgaben ohne Berücksichtigung der Zinsausgaben für aufgelaufene Staatsschulden. Die Idee hinter dem Primärsaldo ist einfach: Zinszahlungen gehören nicht zu den Kernaufgaben eines Staates. Wenn die Einnahmen des Staates ausreichen, um all seine Kernaufgaben zu finanzieren, so ist der Primärsaldo Null. Der Staat muss dann keine neuen Schulden aufnehmen, um seine Kernaufgaben zu finanzieren. Ist der Primärsaldo positiv, bleiben dem Staat nach der Finanzierung all seiner Aufgaben noch Steuergelder übrig, um die Zinsen auf seine Schulden zu zahlen. Ein negativer Primärsaldo dagegen bedeutet, dass der Staat nicht nur Kredite aufnehmen muss, um seine Kernaufgaben zu erfüllen, er muss darüber hinaus auch einen Kredit aufnehmen, um seine Zinszahlungen auf bereits bestehende Schulden zu zahlen. Je länger ein Staat einen negativen Primärsaldo aufweist, umso größer wird deswegen der Schuldenberg, den er anhäuft.

Eine weitere Kennziffer für die Staatsschuldenlast, die auch das Bundesverfassungsgericht verwendet, ist die Zins-Steuer-Quote. Sie gibt an, welcher Anteil der Steuereinnahmen für Zinszahlungen verwendet werden muss und somit nicht zur Finanzierung der eigentlichen Staatsaufgaben zur Verfügung steht. Eine Zins-Steuer-Quote von rund 13 Prozent für das Jahr 2010 bedeutet, dass 13 Prozent der Steuereinnahmen der Bundesrepublik Deutschland im Jahr 2010 erforderlich waren, um die Zinsen auf die Staatsschuld zu finanzieren[3]. Je höher diese Quote ist, umso größer ist der Anteil der Steuereinnahmen, der bereits für Zinszahlungen verplant ist, und umso geringer ist der finanzpolitische Spielraum eines Staates. Analog wird auch die Zins-Ausgaben-Quote verwendet, die den Anteil der Zinsausgaben des Staates an seinen Gesamtausgaben wiedergibt und damit anzeigt, welcher Anteil der aktuellen Staatsausgaben nicht zur freien Verfügung steht, weil der Staat Zinsen auf frühere Schulden zahlen muss.

3. Offene und versteckte Staatsverschuldung

Die genannten wichtigsten Kennziffern zur Messung der Staatsverschuldung haben eine gemeinsame Schwäche, die erheblich ist: Sie beziehen sich nur auf die explizite Verschuldung, also auf diejenigen Schulden, die der Staat offiziell als Schulden in seinem Haushalt ausweist. Leiht sich der Staat Geld auf den Finanzmärkten, so werden diese Kredite als Schulden in den entsprechenden Haushalten verbucht und tauchen auch als solche bei der Ermittlung der Kennziffern zur Staatsverschuldung auf.

Neben dieser expliziten Verschuldung existiert aber noch eine implizite Verschuldung, die auch als versteckte Staatsverschuldung bezeichnet wird, weil sie im jährlichen Haushaltsbudget nicht auftaucht. Ein einfaches Beispiel zur Illustration: Wenn der Staat heute seinen Bediensteten höhere Pensionen verspricht, so entstehen ihm daraus in Zukunft höhere Zahlungsverpflichtungen in Form dieser höheren Pensionen. Grundsätzlich gilt das für jedes Zahlungsversprechen, das der Staat seinen Bürgern gibt: Was er ihnen heute verspricht, muss er morgen zahlen, und das ist nichts anderes als Verschuldung – schließlich schuldet der Staat es seinen Bürgern, diese Versprechen auch zu halten. Alle Pensionszusagen des Staates an seine Beamten sind daher nichts anderes als eine Verschuldung des Staates gegenüber seinen Bediensteten. Nur wird diese Form der Verschuldung nicht in den öffentlichen Haushalten von Bund, Ländern und Gemeinden ausgewiesen und findet sich damit auch nicht in der offiziellen Schuldenquote wieder – es handelt sich um implizite, versteckte Staatsverschuldung.

Grund dafür sind die Regeln der öffentlichen Buchführung, die an vollzogenen Zahlungen orientiert ist. In vereinfachter Form kann man sagen, dass in öffentlichen Haushalten nur Geschäftsvorfälle erfasst werden, die unmittelbar zu Auszahlungen führen. Künftige Zahlungsverpflichtungen hingegen schlagen sich in der öffentlichen Buchhaltung nicht nieder. Zu letzteren gehören neben den Beamtenpensionen auch die Verpflichtungen des Staates im Rahmen der gesetzlichen Rentenversicherung, der Pflegeversicherung und der Krankenversicherung. Diesen Sozialversicherungen ist gemeinsam, dass der Staat den Bürgern für die Zukunft Leistungen zusichert, die er erbringen muss, für die er aber zum gegenwärtigen Zeitpunkt keinerlei Rücklagen gebildet hat und die er auch nicht budgetiert Somit enthalten auch die Sozialversicherungen eine implizite Schuld des Staates gegenüber den künftigen Leistungsempfängern.

Die Höhe der impliziten Staatsschuld wird anhand der Methode der Generationenbilanzierung geschätzt, welche die gegenwärtige und zukünftige Abgabenbelastung aller Bürger eines Landes ihren gegenwärtigen und zukünftigen Ansprüchen an den Staat gegenüberstellt. Um die zukünftigen Ansprüche und Abgaben miteinander vergleichbar zu machen, muss man sie auf den Gegenwartswert abzinsen, also dem Umstand Rechnung tragen, dass 100 Euro heute (wegen alternativer zinstragender Anlagemöglichkeiten) mehr wert sind als 100 Euro in zehn Jahren. Vereinfacht gesagt macht man Folgendes: Man zählt zuerst alle heutigen und zukünftigen Abgaben aller Bürger zusammen und zinst sie auf ihren heutigen Wert ab, dann zählt man alle heutigen und zukünftigen Ansprüche der Bürger an den Staat zusammen und zinst diese ebenfalls auf die Gegenwart ab. Falls der Gegenwartswert der Leistungsversprechen des Staates höher ist als derjenige der Abgabenzahlungen, besteht eine implizite Staatsverschuldung in Höhe dieser Differenz.

Während die explizite Staatsverschuldung also das Ergebnis vergangener Haushaltsdefizite darstellt, ist die implizite Staatsverschuldung sozusagen das Ergebnis zukünftiger Haushaltsdefizite und gibt damit an, welche nicht finanzierten Verbindlichkeiten den Staat in Zukunft erwarten. Der Freiburger Finanzwissenschaftler Bernd Raffelhüschen hat anhand dieses Konzepts ermittelt, dass die Verschuldung der Bundesrepublik Deutschland für das Jahr 2008 insgesamt fast 315 Prozent des Sozialprodukts betrug. 63 Prozentpunkte davon entfielen auf die explizite, also offen ausgewiesene Staatsverschuldung, die restlichen 251 Prozentpunkte resultierten aus der impliziten Staatsverschuldung. Um es deutlicher zu sagen: Wollte die Bundesrepublik Deutschland heute mit einem Schlag sich aller ihrer Schulden (also der expliziten und der impliziten) entledigen, so müssten wir mehr als drei jährliche Sozialprodukte bezahlen[5]. Damit steht Deutschland international im Mittelfeld: Für die Vereinigten Staaten schätzt man die implizite Staatsverschuldung auf 567 Prozent, diejenige Großbritanniens auf 530 Prozent und diejenige Frankreichs auf 255 Prozent. Die Schweiz weist als einer der wenigen Staaten eine implizite Staatsschuld von minus 155 Prozent aus – die Generationenbilanz der Schweizer prognostiziert also zukünftige Budgetüberschüsse in Höhe von anderthalb Sozialprodukten heutigen Werts[6].

Allerdings kämpft die Schätzung der impliziten Staatsverschuldung mit einigen methodischen Problemen, welche die Ergebnisse angreifbar machen. Da ist zunächst einmal die Abzinsung der zukünftigen Zahlungen und Leistungen auf den heutigen Wert. Je nachdem, welchen Zinssatz man als Abzinsungsfaktor verwendet, ändern sich die Ergebnisse deutlich. Wenn der Staat beispielsweise in zehn Jahren 5000 Euro an einen Bürger zahlen muss, so sind diese 5000 Euro bei einem Zinssatz von jährlich zwei Prozent dann so viel wert wie heute 4101 Euro (oder andersherum, eine Spareinlage von 4101 würde bei zwei Prozent Zinsen p. a. in zehn Jahren auf 5000 Euro anwachsen). Verdoppelt sich der Zinssatz auf vier Prozent, so sind die gleichen 5000 Euro in zehn Jahren nur noch so viel wert wie heute 3378 Euro. Je nachdem, welchen Zinssatz man also verwendet, um die zukünftigen Zahlungen auf den heutigen Tag abzuzinsen (was man aber machen muss, um sie vergleichbar zu machen), können sich die Ergebnisse deutlich ändern. Je höher der verwendete Zinssatz, umso geringer wird die implizite Staatsverschuldung aus den zukünftigen Verpflichtungen.

Eine weitere Schwachstelle bei der Berechnung der impliziten Staatsverschuldung ist der Zeithorizont: Wie weit wollen wir in die Zukunft schauen, wenn wir die zukünftigen Einnahmen und Ausgaben des Staates zusammenzählen? Viele Studien betrachten 50 oder 75 Jahre, andere legen keinen Endpunkt fest und wagen sozusagen den Blick in die Unendlichkeit, wobei allerdings sehr weit in der Zukunft liegende Zahlungen aufgrund der Abzinsung mit einem verschwindend geringem Gewicht in die Berechnungen eingehen. Ebenfalls erschwert wird die Berechnung der impliziten Staatsschuld dadurch, dass man bei diesem Blick in die Zukunft Annahmen über Bevölkerungsentwicklung und Wachstum des Sozialprodukts machen muss – und mit jeder Veränderung dieser Annahmen variiert auch das Ergebnis.