Lieder von
Liebe und Schmerz
Aus dem Englischen von Annabel Zettel
C.H.Beck
«Mit einem Herzen voll
unendlicher Liebe für die,
welche sie verschmähten,
wanderte ich… in die ferne
Gegend. Lieder sang ich nun
lange Jahre. Wollte ich Liebe
singen, ward sie mir zum
Schmerz. Und wollte ich
wieder Schmerz nur singen,
ward er mir zur Liebe.»
Franz Schubert
«Die meisten Sänger können nicht erklären, was sie tun. Ian Bostridge kann es. Ob Sie Schuberts ‹Winterreise› kennen oder nicht, sein Buch ist so fesselnd, weil es uns zeigt, wie aus unerfüllter Liebe große Kunst entsteht.»
Richard Sennett
Schuberts Winterreise ist ein unvergleichliches Meisterwerk. Einst geschrieben für intime Gelegenheiten, füllt der betörend schöne Liederzyklus heute auf der ganzen Welt die Konzertsäle. Ian Bostridge, ein Sänger von Weltrang, erschließt in seinem Buch ebenso einfühlsam wie elegant Geschichte und Wirkung der 24 Lieder des Zyklus. Auf wahrhaft beglückende Weise bringt er uns jene magische Energie nahe, die Schuberts Wanderer in einen Spiegel unserer eigenen Seele verwandelt.
Ein junger Mann, zurückgewiesen von einem geliebten Mädchen, verlässt sein Zuhause und wandert hinaus in Schnee und Dunkelheit. Während er so aus dem Dorf und in die leere Landschaft zieht, geht eine Kaskade von Gefühlen durch ihn hindurch – Verlust, Schmerz, Zorn, das Erlebnis der Einsamkeit, durchbrochen von flüchtigen Momenten der Hoffnung. In den letzten Monaten seines kurzen Lebens vollendet, gilt die Winterreise von Franz Schubert heute als das bedeutendste Werk der Liedkunst. Täuschend schlicht, besitzen die 24 Lieder gleichwohl eine emotionale Tiefe und Kraft, die kein Werk dieser Gattung je wieder erreicht hat.
Ian Bostridge greift für sein wundervoll kluges und sanftes Buch auf seinen reichen Erfahrungsschatz als Interpret der Winterreise (die er über hundert Mal gesungen hat), auf seine musikalischen Kenntnisse und auf seine akademische Ausbildung als Historiker zurück. Er erkundet die enigmatischen Seiten und subtilen Bedeutungen der 24 Lieder und macht uns vertraut mit der Welt, in der Schubert lebte, mit seiner Biographie und mit den Zwängen, denen er ausgesetzt war. Kein anderes Buch rückt uns so nahe heran an die Geheimnisse der Winterreise wie dieses.
Ian Bostridge gilt als einer der größten Liedsänger unserer Zeit. Für seine Einspielungen hat er zahlreiche Preise erhalten, darunter mehrfach den ECHO-Klassik. Er hat in Oxford mit einer Arbeit über Hexen in England promoviert und lebt mit seiner Frau und seinen beiden Kindern in London.
Der schönen Müllerin
gewidmet
Einleitung
1 Gute Nacht
2 Die Wetterfahne
3 Gefrorne Tränen
4 Erstarrung
5 Der Lindenbaum
6 Wasserflut
7 Auf dem Flusse
8 Rückblick
9 Irrlicht
10 Rast
11 Frühlingstraum
12 Einsamkeit
13 Die Post
14 Der greise Kopf
15 Die Krähe
16 Letzte Hoffnung
17 Im Dorfe
18 Der stürmische Morgen
19 Täuschung
20 Der Wegweiser
21 Das Wirtshaus
22 Mut
23 Die Nebensonnen
24 Der Leiermann
Nachklang
Literatur
«Mit einem Herzen voll unendlicher Liebe für die, welche sie verschmähten, wanderte ich … in ferne Gegend. Lieder sang ich nun lange, lange Jahre. Wollte ich Liebe singen, ward sie mir zum Schmerz. Und wollte ich wieder Schmerz nur singen, ward er mir zur Liebe.»
Schubert, «Mein Traum», Manuskript, 3. Juli 1822
Winterreise – ein Zyklus von 24 Liedern für Gesang und Klavier, den Franz Schubert gegen Ende seines kurzen Lebens komponierte. Er starb 1828 mit nur 31 Jahren in Wien.
Als Liedkomponist von unvergleichlicher Produktivität und Meister berückend schöner Melodien war Schubert bereits zu Lebzeiten berühmt, die Winterreise aber, so scheint es, sorgte bei seinen Freunden für Verwirrung. Einer seiner engsten Gefährten, Joseph von Spaun, erinnerte sich 30 Jahre später daran zurück, wie der Zyklus im Schubert-Kreis aufgenommen worden war:
Schubert wurde durch einige Zeit düster gestimmt und schien angegriffen. Auf meine Frage, was in ihm vorgehe, sagte er nur: «Nun, ihr werdet es bald hören und begreifen.» Eines Tages sagte er zu mir: «Komme heute zu Schober, ich werde euch einen Zyklus schauerlicher Lieder vorsingen. Ich bin begierig zu sehen, was ihr dazu sagt. Sie haben mich mehr angegriffen, als dieses bei anderen Liedern der Fall war.» Er sang uns nun mit bewegter Stimme die ganze Winterreise durch. Wir waren über die düstere Stimmung dieser Lieder ganz verblüfft, und Schober sagte, es habe ihm nur ein Lied, «Der Lindenbaum», gefallen. Schubert sagte hierauf nur: «Mir gefallen diese Lieder mehr als alle, und sie werden euch auch noch gefallen; …»
Ein anderer enger Freund, mit dem Schubert einige Jahre zuvor ein Zimmer geteilt hatte, war Johann Mayrhofer, Regierungsbeamter und Poet (Schubert vertonte 47 seiner Gedichte). Für Mayrhofer war die Winterreise Ausdruck persönlicher Erschütterung:
Er war lange und schwer krank gewesen [Ende 1822 hatte er sich mit Syphilis infiziert], er hatte niederschlagende Erfahrungen gemacht, dem Leben war die Rosenfarbe abgestreift; für ihn war Winter eingetreten. Die Ironie des Dichters, wurzelnd in Trostlosigkeit, hatte ihm zugesagt; er drückte sie in schneidenden Tönen aus.
Auf noch dramatischere Weise vermischte Spaun in seinem Bericht über die Entstehung des Zyklus Persönliches und Künstlerisches. «Ich halte es für unzweifelhaft, dass die Aufregung, in der er seine schönsten Lieder dichtete, dass insbesondere seine Winterreise seinen frühen Tod mit veranlassten.»
Diesen Schilderungen ist etwas zutiefst Mythologisierendes eigen, insbesondere jener von Spaun, die an Christus im Garten Gethsemane erinnert – die Düsternis, die Freunde, die das Wesentliche nicht erkennen, und der Schleier des Mysteriums, der erst nach dem Tod seines Urhebers gelüftet werden kann. Entgegen der hartnäckigen Legende des «armen Schubert» – verkannt, ungeliebt, erfolglos zu Lebzeiten – sollte nicht vergessen werden, dass er mit seiner Musik beträchtliche Summen verdiente, in den Salons der guten Gesellschaft (wenn nicht sogar des Adels) willkommen war und sowohl großen Beifall als auch seinen gerechten Anteil an scharfer Kritik erntete. Schubert war womöglich der erste große Komponist, der als freischaffender Künstler außerhalb der Sicherheit und Beschränkung einer kirchlichen Anstellung oder eines adligen Patronats tätig war, und trotz einer gewissen jugendlichen Leichtfertigkeit schlug er sich letztlich gut durch. Nur Rossinis Musik war in den Konzertprogrammen Wiens noch besser vertreten als seine eigene; die meisten der großen Interpreten seiner Zeit spielten Schuberts Stücke, und er erhielt üppige Honorare. Die Winterreise selbst blieb von der Presse nicht unbeachtet – hier ein zeitgenössischer Bericht der Theaterzeitung vom 29. März 1828:
Schuberts Geist hat überall einen kühnen Schwung, in dem er alle mit sich fortreißt, die sich ihm nahen, und der sie durch die unermesslichen Tiefen des Menschenherzens in weite Ferne trägt, wo ihnen die Ahndung des Unendlichen in dämmerndem Rosenlicht sehnsüchtig aufgeht, wo aber auch zur schaurigen Wonne eines unaussprechlichen Vorgefühles der sanfte Schmerz beschränkender Gegenwart sich gesellet, der die Grenze des menschlichen Seins umstellt.
Trotz der etwas aufgeblasenen romantischen Rhetorik hat der Verfasser klar erkannt und durchdrungen, was die heute allgemein anerkannte Erhabenheit des Zyklus ausmacht; diese transzendentale Qualität, die das, was man so leicht für eine ausschweifende Parade enttäuschter Liebeslyrik halten könnte, auf wundersame Weise verwandelt. Für den Eingeweihten ist die Winterreise eines der großen Feste des musikalischen Kalenders: ein ernstes Fest, aber auch eines, das eigentlich immer das Unaussprechliche streift und tief zu Herzen geht. Nach dem letzten Lied, «Der Leiermann», tritt eine besondere Stille ein, die Art von Stille, die sonst nur eine Bach-Passion heraufbeschwören kann.
Und doch lässt allein der Begriff des «Eingeweihten» einige Alarmglocken klingen. Das ist einer der Gründe, eine andere Art von Buch über dieses Werk zu schreiben: eines, das es erklärt, rechtfertigt, kontextualisiert und seine Feinheiten erläutert. Das klavierbegleitete Lied gehört heute nicht mehr zum häuslichen Leben und ist in den Konzertsälen nicht mehr so stark vertreten wie früher. Das Kunstlied (art song), wie die Amerikaner sagen – während die Deutschen von Liedern sprechen –, ist ein Nischenprodukt, und das sogar innerhalb der Nische, die wiederum die klassische Musik darstellt; aber die Winterreise ist unangefochten ein großartiges Kunstwerk, das ebenso Teil unserer gemeinsamen Erfahrungswelt sein sollte wie die Dichtung Shakespeares und Dantes, die Gemälde van Goghs und Pablo Picassos, die Romane der Brontë-Schwestern oder Marcel Prousts. Es ist bezeichnend, dass das Werk bis heute lebendig ist und sein Publikum in Konzertsälen auf der ganzen Welt in seinen Bann zieht, in Kulturen, die wenig mit seinen Ursprüngen im Wien der 1820er Jahre zu tun haben: Ich schreibe diese Einleitung in Tokio, wo die Winterreise ihre Wirkung ebenso entfaltet wie in Berlin, London oder New York.
In diesem Buch möchte ich die einzelnen Lieder als Plattform nutzen, um diese Ursprünge zu erkunden, das Werk in seinen historischen Kontext einordnen, aber zugleich neue und unerwartete Beziehungen aufspüren, sowohl zeitgenössische als auch solche, die in ferner Vergangenheit liegen – literarische, visuelle, psychologische, wissenschaftliche und politische. Musikalische Analysen werden unweigerlich eine Rolle spielen, aber sie sind lediglich die Grundausstattung von Anleitungen zur Winterreise, wie sie schon vielfach existieren. Dass ich nicht die fachliche Qualifikation habe, Musik in einem traditionellen, musikwissenschaftlichen Sinn zu analysieren – ich habe Musik nie an einer Universität oder Musikhochschule studiert –, hat seine Nachteile, aber vielleicht auch Vorteile. Ermutigt hat mich Nicholas Cooks Untersuchung der «Diskrepanz zwischen der Musikerfahrung des Zuhörers und der Art und Weise, auf die Musik theoretisch beschrieben und erklärt wird» (in seiner brillanten Studie Music, Imagination, Culture). Experimente haben gezeigt, dass selbst hochqualifizierte Musiker nicht dazu neigen, Musik auf formale, fachwissenschaftliche Weise zu hören; wir alle, es sei denn, wir gehen einer speziellen und zielgerichteten Analyse nach, nähern uns der Musik eher episodisch und ungezwungen, weniger streng theoretisch – auch dann, wenn wir ein sehr traditionsreiches Stück hören, das sich selbst als musikalische Auseinandersetzung präsentiert, eine Beethoven-Symphonie zum Beispiel oder eine Bach-Fuge. Innerhalb einer solch diffusen Struktur wie der Winterreise – mit einer Reihe von 24 Liedern das erste und großartigste Konzeptalbum – mag es wiederkehrende Muster oder harmonische Elemente geben, auf die hinzuweisen es sich lohnt; ich möchte das jedoch auf eine Weise tun, die man als phänomenologisch bezeichnen könnte, indem ich eher den subjektiven und kulturell aufgeladenen Entwicklungslinien von Zuhörern und Künstlern nachgehe, als Modulationen, Kadenzen und Oktavlagen zu katalogisieren.
Indem ich eine solch disparate Menge an Material zusammenbringe, hoffe ich, die uns prägenden Reaktionen zu erhellen, zu erklären und zu vertiefen, die Erfahrung derer, die das Werk bereits kennen, zu intensivieren und diejenigen zu erreichen, die es noch nie gehört oder auch nur darüber gehört haben. Der Dreh- und Angelpunkt ist immer das Werk selbst – wie musizieren wir es, wie sollten wir es hören? Aber indem wir es in einen viel breiteren Kontext setzen, werden sich ungewohnte, unerwartete Perspektiven ergeben und, so hoffe ich jedenfalls, ihre eigene Faszination entfalten.
Mein eigener Weg zur Winterreise wurde mir erleichtert durch großartige Lehrer und meine persönliche Wesensart. Meine erste Begegnung mit der Musik von Franz Schubert und der Dichtung von Wilhelm Müller (der die Texte der Winterreise schrieb) fand in der Schule statt, als ich zwölf oder dreizehn Jahre alt war. Michael Spencer, ein wahres Wunder von Musiklehrer, brachte uns stets dazu, grandiose, fast absurd anspruchsvolle Musikprojekte auf die Beine zu stellen.
Als Sänger, der kein Instrument spielte, hatte ich mich immer leicht außerhalb des eingeweihten Kreises gefühlt, obwohl wir oft genug fantastische Musik sangen – Britten, Bach, Tallis und Richard Rodney Bennett für den Anfang. Als Michael, Mr Spencer, vorschlug, dass er (auf dem Klavier) und einer meiner Klassenkameraden, Edward Osmond (mit der Klarinette) etwas mit dem Titel «Der Hirt auf dem Felsen» spielen sollten, hatte ich keine Ahnung, wie genial verrückt das Stück war. Samstags morgens in Michaels Haus zu kommen, um mit den anderen Musikern zu üben, gehörte zu den aufregendsten Dingen in meinem Leben.
«Der Hirt auf dem Felsen» war eines der allerletzten Stücke, die Schubert komponierte. Er schrieb es auf ausdrückliche Bitte der großen Operndiva Anna Milder-Hauptmann, die in ihrer Zeit als Wunder galt: «eine Stimme wie ein Haus» oder «wie das reinste Metall», so zwei ihrer Zeitgenossen. Die einleitenden und abschließenden Verse stammen von Wilhelm Müller, dem Dichter der Winterreise, aber nichts könnte weiter entfernt sein von Schuberts großem Liederzyklus als diese schillernde Mischung einer virtuosen Pastorale. Ein Schafhirt steht auf einem Felsen und singt in die vor ihm liegende Alpenlandschaft. Seine Stimme erschallt und hallt wider, und er denkt an seine ferne Geliebte. Auf eine sehnsüchtige Mittelpartie folgt eine aufgeregte und aufregende Anrufung des Frühlings. Der Frühling wird kommen, der Schäfer wird wandern, und er und sein Mädchen werden wieder vereint sein. Das ist das genaue Gegenteil der Winterreise, wie wir sehen werden.
Irgendwo in einer Kiste auf meinem Dachboden befindet sich ein Tonband von dieser Schulaufführung. Ich habe es lange nicht angehört, aber ich erinnere mich, dass mein schwacher Sopran den berühmten stimmlichen Herausforderungen des Stückes nicht gerecht wurde. Zugleich hatte es aber etwas Erfrischendes, diese Hosenrolle, diesen Travestie-Hirtenknaben wieder mit der Stimme eines echten Jungen zu besetzen. Wie auch immer, ich verliebte mich in die Musik, aber vergaß sie dann schnell wieder, diese erste Begegnung mit der Liedtradition.
Bis ein anderer großartiger Lehrer kam, diesmal ein Deutschlehrer in der Oberstufe, Richard Stokes, dessen tiefe, drängende und ansteckende Liebe zu den Liedern in viele, wenn nicht gar die meisten Unterrichtsstunden einfloss. Stellen Sie sich 20 etwa 14- bis 15-Jährige in unterschiedlichen Stadien der stimmlichen Entwicklung vor, die im Sprachlabor Schuberts «Erlkönig» oder Marlene Dietrichs «Sag mir wo die Blumen sind» grölten, und Sie haben das richtige Bild vor Augen. Es war der «Erlkönig», durch den ich die Liebe zum deutschen Lied entdeckte, eine Passion, die meine Jugendzeit beherrschte. Und es war eine bestimmte Aufnahme, abgespielt in unserer allerersten Deutschstunde, die von meiner Vorstellungskraft und meinem Denken Besitz ergriff: Dietrich Fischer-Dieskau, der größte unter den deutschen Baritonen, und Gerald Moore, sein englischer Begleiter. Ich konnte die Sprache noch nicht sprechen, aber ihr Klang und die Dramatik, die Klavier und Gesang – bald schmeichelnd, bald zitternd oder als das inkarnierte Böse – zum Ausdruck brachten, waren für mich eine völlig neue Entdeckung. Ich versuchte, so viele Aufnahmen von Fischer-Dieskaus Liedinterpretationen in die Finger zu bekommen wie möglich, und ich sang dazu, vermutlich mitten im Stimmbruch vom Sopran zum Tenor: nicht ideal für meine noch unausgereifte Stimmtechnik, da Fischer-Dieskau zweifelsohne ein Bariton war.
Auch mein persönliches Temperament spielte hinsichtlich meiner Lieder-Leidenschaft eine wichtige Rolle, denn ich hielt mich an der Musik und den Texten fest, um durch die Tücken und schmerzvollen Erfahrungen der Adoleszenz hindurch zu finden. Der andere Wilhelm Müller-Zyklus, der erste – Die schöne Müllerin –, war wie geschaffen für meine ganz besonders romantische Gemütslage. Ich glaubte, ich hätte mich in ein Mädchen verliebt, das in meiner Straße wohnte, meine unbeholfenen Aufmerksamkeiten blieben jedoch zunächst unbeachtet und wurden dann abgewiesen, und in meiner Einbildung, vielleicht auch in Wahrheit ging sie eine Verbindung mit einem sportlichen Typen aus dem örtlichen Tennisclub ein. Es erschien mir ganz selbstverständlich, die Straßen Süd-Londons in der Nähe ihres Hauses zu durchstreifen und leise Schubert vor mich hin zu singen, die Lieder von der Liebeswonne und die des wütenden Zurückgewiesenen. Am Ende geht die schöne Müllerin mit dem Macho-Jäger und nicht mit dem einfühlsamen singenden Müllerburschen.
Die Winterreise lernte ich erst ein wenig später kennen, aber ich war bereits vorbereitet. Ich hörte sie in London, gesungen von zwei großen Deutschen – Peter Schreier und Hermann Prey –, aber irgendwie habe ich mir die einzige Chance entgehen lassen, sie mit Fischer-Dieskau und Alfred Brendel zu erleben, die im Royal Opera House, Covent Garden auftraten. Mein erster eigener öffentlicher Auftritt mit der Winterreise fand im Januar 1985 vor etwa 30 Freunden, Lehrern und Kommilitonen in den President’s Lodgings des St John’s College, Oxford statt. Die Leute fragten mich, wie ich mir all die Worte merken könne; die Antwort darauf ist, jung damit anzufangen. Mit Erscheinen dieses Buches werde ich den Zyklus 30 Jahre lang gesungen haben.
Dieses Buch ist das Ergebnis einiger Jahre des Schreibens und der Recherche, aber auch einer seit drei Jahrzehnten anhaltenden Leidenschaft für die Winterreise, die ich vielleicht öfter als jedes andere Stück meines Repertoires aufgeführt habe, die ich immer wieder versuche auf neue Weise zu singen, dem Publikum zu präsentieren und selbst zu verstehen. Viel zu verdanken habe ich daher meinen Freunden und Kollegen, die zu zahlreich sind, um sie alle einzeln zu nennen. Zwei Lehrer, die mich inspirierten, habe ich bereits erwähnt, Michael Spencer und Richard Stokes. Die Pianisten, mit denen ich den Zyklus aufgeführt habe, trugen in entscheidender Weise zu diesem Buch bei. Schubert selbst, der 1825 nach Salzburg reiste und von dort aus an seinen Bruder schrieb, erkannte, dass er sowohl durch seine Liedkomposition als auch durch seine Aufführungen eine neue Kunstform geschaffen hatte, die eine ganz spezielle Einheit zwischen dem Sänger und dem Pianisten forderte: «Die Art und Weise, wie Vogl singt und ich accompagnire, wie wir in einem solchen Augenblicke Eins zu sein scheinen, ist diesen Leuten etwas ganz Neues, Unerhörtes.» Julius Drake, mit dem ich den Zyklus verfilmt und davor und danach zahllose Male aufgeführt habe, war der wunderbarste Begleiter auf dieser Reise aller Reisen, ein weiser Freund und herausragender Musiker; Graham Johnson teilte mit mir inspirierende Augenblicke während unserer Konzerte und ließ mich in unseren Gesprächen an seinem unvergleichlich reichen Wissen über Schubert teilhaben; Leif Ove Andsnes, ein wundervoller und gebildeter Pianist, nahm sich die Zeit, mit mir auf Tournee zu gehen und den Zyklus gemeinsam aufzunehmen; Auch Mitsuko Uchida führte mich durch ihr Spiel an besondere Orte. Wenwen Du, eine Debütantin, aber durchaus keine Anfängerin, eröffnete mir durch die Frische ihrer Herangehensweise jüngst neue Einblicke. Und während ich dieses Buch abschließe, sehe ich mit freudiger Erwartung einer Winterreise-Tournee mit dem Komponisten Thomas Adès entgegen, der Neues und Unerwartetes über das Stück zu sagen hat. Mit ihm zu proben und aufzutreten, während dieses Buch in den Druck ging, erinnerte mich auf zugleich heilsame und schmerzliche Weise daran, dass meine verbalen Beschreibungen dessen, was in dieser vielgestaltigen Musik vor sich geht, bestenfalls provisorisch und schlimmstenfalls vollkommen inadäquat sind. Ying Chang war die erste Pianistin, mit der ich an der Winterreise gearbeitet habe, eine ausgezeichnete Historikerin und Amateurmusikerin, der mein besonderer Dank gilt. Sowohl bei Faber & Faber als auch bei Knopf standen mir zwei legendäre und sagenhafte Lektorinnen, Belinda Matthews und Carol Janeway, zur Seite, deren Vertrauen und Unterstützung in diesem Projekt mir Kraft gaben und deren weise Worte mich vor mir selbst geschützt haben. Beider Team leistete erstklassige Arbeit und verdient mehr als eine alphabetische Aufzählung: Peter Andersen, Lisa Baker, Lizzie Bishop, Kevin Bourke, Kate Burton, Eleanor Crow, Roméo Enriquez, Maggie Hinders, Andy Hughes, Josephine Kals, Joshua LaMorey, Peter Mendelsund, Pedro Nelson, Kate Ward, Bronagh Woods.
Peter Bloor, Phillippa Cole, Adam Gophnik, Liesl Kundert, Robert Rattray, Tamsin Shaw, Caroline Woodfield – ich danke Euch allen. Und mit einer besonderen Entschuldigung möchte ich mich an meinen lieben Freund Alexander Bird wenden, der, wie sich nun erweist, vor vielen Jahren Recht hatte: Schubert ist wirklich der Beste.
Und abschließend möchte ich meiner Familie danken: meiner Mutter, die mir das erste Album mit Schubert-Liedern in die Hand gab, meinem verstorbenen Vater, der mit mir auf langen Autofahrten sang, und vor allem meinen Kindern, Oliver und Ottilie, die zu häufig hinnehmen mussten, dass ich nicht bei ihnen war, und deren Liebe die Entfremdung bannt, von der die Winterreise bestimmt ist. Dieses Buch ist meiner geliebten Frau und besten Freundin Lucasta Miller gewidmet. Seine Konzeption geht auf sie zurück, und ihren Anregungen und fundierten Kenntnissen der 1820er Jahre verdanke ich viele der besten Ideen in diesem Buch. Mit ihrer Liebe und Begleitung ist alles möglich.
Fremd bin ich eingezogen,
Fremd zieh ich wieder aus.
Der Mai war mir gewogen
Mit manchem Blumenstrauß.
Das Mädchen sprach von Liebe,
Die Mutter gar von Eh’ –
Nun ist die Welt so trübe,
Der Weg gehüllt in Schnee.
Ich kann zu meiner Reisen
Nicht wählen mit der Zeit:
Muß selbst den Weg mir weisen
In dieser Dunkelheit.
Es zieht ein Mondenschatten
Als mein Gefährte mit,
Und auf den weißen Matten
Such’ ich des Wildes Tritt.
Was soll ich länger weilen,
Daß man mich trieb’ hinaus?
Laß irre Hunde heulen
Vor ihres Herren Haus!
Die Liebe liebt das Wandern, –
Gott hat sie so gemacht –
Von einem zu dem andern –
Fein Liebchen, gute Nacht!
Will dich im Traum nicht stören,
Wär’ schad’ um deine Ruh’,
Sollst meinen Tritt nicht hören –
Sacht, sacht die Türe zu!
Schreib’ im Vorübergehen
An’s Tor dir gute Nacht,
Damit du mögest sehen,
An dich hab’ ich gedacht.
Gute Nacht» ist sehr oft das Ende einer Erzählung, nicht wahr? Es ist das, was wir Kindern sagen, wenn die Gutenachtgeschichte zu Ende ist. Die beiden Worte haben etwas Sanftes an sich, und es ist ein sanftes Lied, ein Lied, das ich bei den Proben oder im Konzert immer als Ende von etwas und zugleich als Auftakt für den Zyklus selbst empfinde. Fast durchweg in zurückgenommener Geschwindigkeit und gedämpft, so wie der Wanderer sich von dem Hause fort schleicht, in dem er einst liebte und die Liebe irgendwie auch wieder verloren hat, enthält es nur zarte Hinweise auf die Entfremdung und die emotionalen Extreme, die folgen werden. Diese Hinweise sind aber bereits vorhanden, um sich in den späteren Liedern einzuschreiben und Bahn zu brechen.
Ich fürchtete dieses Lied, als ich meinen Weg mit der Winterreise begann; oder besser gesagt, ich fühlte immer eine enorme Erleichterung, wenn es zu Ende ging. Aufgrund meiner Unerfahrenheit, durch zu wenig eigenes Engagement und durch mangelndes Vertrauen in die Konzeption des Komponisten, hatte ich Angst, dass ich mich selbst und folglich (was viel viel schlimmer ist) das Publikum langweilen würde. «Gute Nacht» ist länger als jedes andere Lied der Winterreise, vor allem angesichts seines moderaten aber nicht langsamen Tempos: Es ist im Grunde repetitiv und vielleicht ein wenig gesichtslos. Wenn wir hier über die streunenden, bellenden Hunde hören, dann ist es verlockend, im ersten Vers die Dynamik zu ändern, lauter und akzentuierter zu singen, um ihr Bellen nachzuahmen. Dem sollte man widerstehen, aber dieser Widerstand sollte zweifellos fühlbar werden. Diese repetitive, von Schubert sorgfältig hervorgehobene Struktur ist entscheidend; entscheidend im Hinblick auf den für Schubert absolut typischen Effekt im letzten Vers, in dem die Tonart auf magische Weise von Moll zu Dur wechselt. Entgegen der gängigen Auffassung bezüglich der Tonarten, die in Cole Porters «Ev’ry Time We Say Goodbye» mythisiert wird («and how strange the change from major to minor» – «und wie seltsam der Wandel von Dur zu Moll»), klingt Dur hier, wie so oft bei Schubert, trauriger als Moll. Seine Traurigkeit liegt zum Teil in seiner Fragilität begründet: Dieser schillernde Gedanke an das Mädchen, das schläft und träumt, ist selbst ein Traum. Träume vom Glück, in Dur gesetzt und deshalb um so herzzerreißender, sind ein stets wiederkehrendes Moment dieses Liederzyklus.
Es handelt sich hier um eines der Lieder, bei denen man, bereits wenn die ersten Takte erklingen, den Eindruck hat, dass es schon immer spielt. Wiederholt schleppen sich Achtelnoten in gemessenem Tempo über die Seite und durch das ganze Lied, unablässig, zunächst verflochten mit einer entmutigend absteigenden Phrase, durchbrochen von stechenden Akzenten, die in Schuberts Manuskript Stiche des Schmerzes sind. In dem selben Manuskript hat Schubert als Tempo für dieses Lied die Bezeichnung «mässig, in gehender Bewegung» notiert, und diese gehende Bewegung, die zugleich wie ein melodischer Abstieg, ein sanftes Verklingen erscheint, ist der springende Punkt für das ganze Werk: eine Winterreise, die von einem Ort zum anderen führt, aber gewissermaßen die Bewegung über alles stellt, das Bedürfnis fortzukommen, ein Wanderer im Sinne des 19. Jahrhunderts zu sein (der Ewige Jude, der Fliegende Holländer), unterwegs ins 20. Jahrhundert (Jack Kerouac, Highway 61). Schubert selbst hatte diese Bezeichnung bereits in einer seiner düstersten Inszenierungen verwendet, in einem der Gesänge des Harfners, Goethes verfluchtem Außenseiter, der beginnt mit den Worten «An die Türen will ich schleichen»; Schubert mag auch an Beethovens Klaviersonate Nr. 26 gedacht haben, häufig «Les Adieux» genannt. Dem ersten Satz dieser Sonate liegt ein musikalisches Motiv zugrunde, das der Komponist mit «Lebewohl» überschrieben hat; der mittlere Satz trägt den Titel «Abwesenheit», und das angegebene Tempo lautet: «Andante espressivo» («in gehender Bewegung, doch mit viel Ausdruck»).
Warum muss der Mann, der diese Lieder singt, fortgehen? Wir wissen es nicht wirklich, auch wenn wir oft glauben, wir seien im Bilde, und davon ausgehen, dass seine Liebe abgewiesen wurde und er weiterziehen muss. Führen wir uns die Informationen, die wir haben, vor Augen: Sie sind recht vage – «Das Mädchen sprach von Liebe,/Die Mutter gar von Eh’». Der Satz wird in Schuberts Komposition wiederholt, mit steigender Tonlage und Erwartung. Dann tut sich eine große Kluft auf, es folgt eine Art bedrückender Zäsur, welche die Hoffnungslosigkeit zum Ausdruck bringt, ein Wechsel von der heimatlichen Wärme der Vergangenheit zur bitteren Kälte der Landschaft, durch die wir uns fortan bewegen – «Nun ist die Welt so trübe,/Der Weg gehüllt in Schnee». Aber es bleibt weiterhin unklar, was ihn hinaus trieb. Ließ er sie fallen? Liess sie ihn fallen? War das Gerede der Mutter von Heirat eine Art hoffnungsfrohe Illusion oder die Horrorvision eines umherziehenden Bindungsphobikers? Wandert er schon sein ganzes Leben lang? Warum ist er hier in diesem Haus, in dieser Stadt, zu dieser Stunde? Hielt er sich dort länger auf? War er ein Gast? Kam er zufällig vorbei? Es ist Nacht. Alle schlafen.
Des Rätsels Lösung liegt teilweise in der Beschäftigung des Dichters Wilhelm Müller mit den Themen Byrons (er veröffentlichte in den 1820er Jahren in Deutschland bedeutende Essays über den Dichter von Childe Harold und Don Juan) und mit dem, was wir als die Byronsche Methode der absence (Abwesenheit) bezeichnen könnten, etwas, das Byron selbst von Walter Scott (dem Dichter des Marmion, der später den historischen Roman Ivanhoe schrieb) übernommen und weiterentwickelt hatte. Müllers Protagonist ist wie der Byronsche Held von einer rätselhaften Aura umgeben («Fremd bin ich eingezogen,/Fremd zieh’ ich wieder aus», wie er sich selbst einführt), eine tragische Figur, deren Dilemma in seinen Ursprüngen niemals zufriedenstellend ergründet wird. «Habe ja doch nichts begangen,/Daß ich Menschen sollte scheun», so sagt er selbst von sich (bezeichnenderweise viel später im Zyklus, wenn die Vagheit des Dichters ihre Wirkung getan hat) und persifliert damit fast sein Byron’sches Vorbild. Es handelt sich beinahe um eine Frage – «Habe ich etwa? Das weiß ich genauso wenig wie du …». Dieses Geheimnis bildete den Kern des eigentlichen Byron-Kultes, ein Kult, der die Poesie regelrecht befeuerte. Byron war ein Dichter, dessen Person mit seiner poetischen Stimme so eng verbunden wurde wie nie ein Dichter vor ihm. «Es ist schwierig zu glauben», so schrieb eine seiner Leserinnen, Annabella Millbanke 1814 (ein Jahr bevor sie Byron heiratete), «dass er diese Dinge so von Grund auf kannte, wenn nicht aus eigener innerer Anschauung». Byron lebte die Mythologie seiner eigenen poetischen Erzählungen aus – bruchstückhafte Erzählungen wie die der Winterreise –, indem er ein Verbannter wurde, ein Wanderer, verstoßen wegen eines düsteren und rätselhaften Vergehens (bei welchem es sich, wie sich einige Jahrzehnte später herausstellte, um die inzestuöse Beziehung zu seiner eigenen Halbschwester handelte).
Doch deutet in der Winterreise nichts auf ein schreckliches dunkles Verbrechen hin: Unser Wanderer ist kein Manfred oder Ancient Mariner. Es besteht auch kein Hinweis darauf, dass der glücklich verheiratete Wilhelm Müller zu der Zeit, als er seine Verse schrieb, die Erfahrungen seines Protagonisten durchlebte (wenngleich eine frühere Liebesbeziehung in Brüssel gegen Ende der Napoleonischen Kriege nützliches Material geliefert haben mag). Sein früheres Leben oder das von Schubert gestalteten sich tatsächlich ganz anders, wie wir noch sehen werden. Bezogen auf Müllers eigene Situation in der Zeit, in der er die Gedichte schrieb, kann der Zyklus allenfalls eine Art Allegorie auf die politische Entfremdung Deutschlands in den postnapoleonischen, von Metternich geprägten Zeiten darstellen. Das wäre jedoch als primäre Lesart kaum überzeugend, auch wenn wir später noch einmal darauf zurückkommen werden. Es handelt sich tatsächlich um eine sehr «domestizierte» Notlage, welche diese existentielle Angst hervorbringt, eine Situation, die in einer Biedermeierwelt wurzelt, weit entfernt von den Melodramen in Scotts Marmion oder Byrons Manfred. Zweifellos war das der Grund, warum Müllers Verse einen solchen Reiz auf den großen Deflator des romantischen Exzesses, Heinrich Heine, ausübten. Sicherlich ist es auch gerade diese Gewöhnlichkeit, der die Originalität des Zyklus und seine Kraft entspringen. Dennoch ist diese von Byron inspirierte Aussparung einer klaren, narrativen Mise en Scène, die Kargheit an Informationen, auf ihre Weise entscheidend für unsere Anteilnahme am Schicksal des Protagonisten – ein dichterischer Taschenspielertrick. Wir werden durch ein obsessiv bekenntniswilliges Individuum in das Stück involviert. Offenbar handelt es sich um einen Gefühlsexhibitionisten, der uns die Fakten vorenthält; aber das ermöglicht es uns, die Fakten unseres eigenen Lebens zu ergänzen und ihn so zu unserem Spiegelbild zu machen. Die heftigen Wogen freier Subjektivität dieser Gedichte, die weder an eine bestimmte Handlung, noch an einen klar umrissenen Charakter gebunden sind (wir wissen aus herkömmlicher Perspektive so wenig über diesen Mann), diese unauslotbaren Tiefen führen klar vor Augen, warum unter allen Zeitgenossen Schuberts gerade Müller eine Vertonung seiner Gedichte so sehr herbeisehnte:
Ich kann weder spielen noch singen, und wenn ich dichte, so sing’ ich doch und spiele auch. Wenn ich die Weisen von mir geben könnte, so würden meine Lieder besser gefallen als jetzt. Aber getrost, es kann sich ja eine gleichgesinnte Seele finden, die die Weise aus den Worten heraushorcht und sie mir zurückgibt.
Er schrieb dies 1815, an seinem 21. Geburtstag, in sein Tagebuch. Als der Komponist Bernhard Josef Klein sechs Vertonungen von Müllers Gedichten veröffentlichte, bedankte sich letzterer mit den folgenden Worten:
Denn in der Tat führen meine Lieder nur ein halbes Leben, ein Papierleben, schwarz auf weiß, bis die Musik ihnen Leben einhaucht, oder doch, wenn es darin schlummert, herausruft und weckte.
Das Ironische daran ist, dass Müller Schuberts Vertonungen niemals gehört hat, weder seinen früheren Gedichtzyklus Die schöne Müllerin noch die Winterreise – aber gewiss hörte er frühere Umsetzungen von weniger berühmten Komponisten.
Seine ersten großen Erfolge als Liedkomponist feierte Schubert etwa 14 Jahre vor der Vollendung der Winterreise mit Vertonungen des größten deutschen Dichters seiner oder vermutlich aller Zeiten, Johann Wolfgang von Goethe. «Erlkönig» und «Gretchen am Spinnrade» könnten, dem ersten Anschein nach, emotional nicht unterschiedlicher sein, und dennoch ist die Methode, die Schubert in beiden anwendet, im Grunde die gleiche und etwas ganz Neues in diesem Genre. In einem der beiden Lieder reitet ein Vater durch den Wald, in den Armen seinen kleinen Sohn, der durch die dämonischen Einflüsterungen des geisterhaften Erlkönigs in Angst und Schrecken versetzt wird. Der Vater versucht den Sohn zu beruhigen und abzulenken, aber am Ende des Rittes, und des Liedes, ist der Junge tot. Goethe schrieb das Gedicht 1782 in Weimar als Ballade, die eine höfische Vergnügung, ein von Fischern handelndes Singspiel, eröffnete. Es strebt zumindest vordergründig nach einer gewissen ungekünstelten Rustikalität. Den jungen Komponisten Schubert jedoch reizte es, seine psychologischen Tiefen herauszuarbeiten. «Gretchen am Spinnrade» hingegen, eine Szene aus Goethes berühmtester Versdichtung Faust, ist offenkundig ein Meisterwerk an psychologischem Realismus und erotischer Intensität. Allein an ihrem Spinnrad, sinnt Gretchen über ihre Leidenschaft für Faust nach und beschreibt ihn und ihre Gefühle zu ihm mit wachsender, haltloser Hingabe, die, wie sie selbst sagt, nur im ersehnten Tod enden kann, dem – wir ahnen es – zweifachen Tod des sexuellen Höhepunktes und der eigenen Auslöschung.
Beides sind bis heute innerhalb des deutschen Literaturkanons sehr bedeutende Werke, und Schubert erfand für sie – was so auf der Hand liegt, dass es sich wohl mehr um eine Art Entdeckung als um eine Erfindung handelt – eine musikalische Sprache, die so kraftvoll ist, dass sie die Gedichte ganz durchdringt, sie sich anverwandelt und sie in einer Weise umfängt, die, einmal gehört, schwer wieder wegzudenken ist.
In beiden Werken wird eine dynamische musikalische Figur als Analogie für das zentrale materielle Bild eingesetzt, das Schubert aus den Gedichten auswählte. Für den «Erlkönig» seine hämmernden, wiederholten Oktaven (auf einem modernen Klavier mörderisch für die rechte Hand des Pianisten); für Gretchen eine repetitive Sechzehntel-Arabeske. Auch wenn diese Technik so vertraut, so selbstverständlich erscheint, möchte ich sie doch kurz analysieren (zumal sie in der Winterreise so oft die Grundlage ist, in vielen, wenn nicht allen ihrer Lieder). Es führt nicht viel weiter, hier von Realismus zu sprechen, so als könnten musikalische Töne ein Phänomen der materiellen Welt unmittelbar darstellen oder gar hervorrufen. Die hämmernden Oktaven im Erlkönig sind die donnernden Hufe, die Arabesken im Gretchen ahmen die Drehungen des Spinnrades nach (und sie imitieren noch viele andere Dinge – den Herzschlag des Reiters, das obsessive Gedankenkreisen der Spinnerin). Und natürlich könnten hämmernde Oktaven nicht angemessen oder glaubhaft ein Spinnrad darstellen, ebenso wenig wie eine Arabeske an ein Pferd in vollem Galopp denken lässt. Die Bilder funktionieren über Assoziationen, sie verstärken sich gegenseitig und erzeugen eine zusammenhängende poetische Klangwelt. Sie erwecken in beiden Fällen das ganze Lied zum Leben, und subtile Übergänge werden eingesetzt, um die Perspektive (von Vater zu Sohn zu Erlkönig) oder die Gefühlslage zu ändern (Tempo- und Tonartwechsel steigern die Hysterie Gretchens). Musik und Dichtung verschmelzen, und wir werden auf einem großen musikalischen Spannungsbogen durch das Werk geführt: in «Gretchen» unterbrochen in der Mitte, als sie beim Gedanken an Fausts Kuss aufhört zu spinnen und nur zaghaft wieder mit der Arbeit beginnt, und im «Erlkönig» am Ende, als der Vater den heimatlichen Hof erreicht. Das Gefühl von psychologischer Tiefe, das ein solch nuancenreiches und unermüdliches Unterfangen erzeugt – Schubert lässt die musikalische oder poetische Logik nie aus den Augen –, ist deutlich spürbar, und es ist schwer, das Gedicht wieder allein, ohne die Musik, zu lesen und sich nicht irgendwie beraubt zu fühlen.
Dies ist vermutlich nicht die musikalische Herangehensweise, mit der sich der Komponist beim Dichter beliebt macht, und es gibt eine lange Liste von Autoren, die nicht wollten, dass ihre Werke durch andere Kunstformen «entführt» werden (denken Sie an Yeats Haltung gegenüber der Vertonung seiner Gedichte oder an die Musik, die mit den Liedern aus Shakespeares Stücken verbunden ist. Sie hat nichts von der Komplexität oder Magie des komponierenden Zeitgenossen John Dowland). Auch Goethe scheint in dieser Hinsicht schwierig gewesen zu sein, trotz seiner relativ hohen musikalischen Differenziertheit und seiner kühnen Versuche, in einer reformierten Art des Singspiels (eine Oper mit gesprochenen Textpassagen wie Mozarts Zauberflöte) Worte und Musik zu vereinen. Für die Vertonung seiner Verse – und wir sollten uns hier in Erinnerung rufen, dass es sich bei der Lyrik ihrem Gründungsmythos nach um Gesänge handelte, welche die Musik verloren haben und vielleicht wieder nach ihr verlangen – bevorzugte er Komponisten wie seinen Freund Johann Friedrich Reichardt. Reichardts Vertonungen waren ganz anders als die von Schubert. Seine Ambitionen waren nicht sehr groß, die Mittel, die er einsetzte, einfach, und er sah es als seine erste Pflicht an, die Verse schlichtweg zu begleiten und sie nicht etwa ohne angemessene Achtung und Anstand auszuschlachten. Schubert erkannte ganz klar den sexuellen Sog der «Gretchen»-Verse, die ödipalen Verwirrungen im «Erlkönig», und er baute sie zu dem aus, was Goethe, im Kern der ewige Klassizist, als romantische Hysterie empfunden haben mag, die Krankheit, vor der er sich fürchtete. Für Schubert selbst blieb das Gretchen-Gedicht ein Markstein seines Lebens, ein Werk, mit dem er sich trotz – manche würden sagen wegen – seiner weiblichen Hauptfigur identifizierte. In tiefster Verzweiflung, nach seiner Syphilis-Diagnose 1823, zitierte er Gretchens Worte in einem Brief an einen Freund – «Meine Ruh’ ist hin, mein Herz ist schwer». Dies wird oftmals im Lichte der Debatten über Schuberts Sexualität gelesen, als habe seine Fähigkeit, sich in das Gretchen des Liedes hineinzuversetzen und daraufhin ihre Worte im wahren Leben zu verwenden, der Distanzierung von der konventionellen maskulinen Identität gedient. Ich denke, dieses Zitat zeigt mindestens ebenso, wie sehr sich Schubert dessen bewusst war, dass die Gretchen-Vertonung für die Liedkomposition eine Revolution darstellte, die den Beginn seiner Karriere markierte. Nicht jedes Lied nach «Gretchen» folgte ihrem Modell, und Schubert war durchaus in der Lage, auf weniger komplexe Weise Magie zu erzeugen. Aber die Gretchen-Ballade war eine Art Talisman in Schuberts schöpferischem Leben, und die Genialität, die er in diesem Werk zur Wirkung brachte, ist erkennbar dieselbe, mit der er Müllers Gedicht-Zyklus Die Winterreise in seine eigene Winterreise verwandelte.
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Achten Sie zu allererst auf die radikale Verkürzung des Titels. Schubert war es gewohnt, die literarischen Vorlagen für seine Zwecke zu verändern – die Wiederholung von Gretchens einleitenden Worten «Meine Ruh ist hin, mein Herz ist schwer» zu «Gretchen am Spinnrade» zusammenzufassen, war ein frühes Beispiel. Indem er den bestimmten Artikel von Müllers Gedicht-Zyklus aussparte, erreichte er zwei Dinge. Erstens machte er das Werk zu seinem eigenen, zu etwas, das sich von der Originalversion unterschied und ihr keine Treue schuldete, wenn es seinen Zwecken und der Anpassung an diese nicht dienlich war. Und zweitens ließ er den Zyklus ohne seinen bestimmten Artikel abstrakter werden, weniger definiert, offener und aus unserer Perspektive moderner. Der Titel Winterreise besticht durch seine Kargheit und Kompromisslosigkeit, die dem Stoff in einer Weise entspricht, wie es Die Winterreise nicht könnte. Jeder kann sich diese Reise zu eigen machen.
Müllers Gedichte reizten Schubert aus allen möglichen Gründen, manche davon waren sehr persönlich und spezifisch (der Zyklus endet zum Beispiel mit einem Gedicht über einen Musiker), manche allgemeiner (das Thema des Ausgestoßenen, der durch eine gescheiterte Liebe tragisch gezeichnet ist, übte auf einen Mann wie Schubert, der an Syphilis im Frühstadium litt, eine gewisse Anziehung aus). Die Erforschung dieser Gründe ist Teil dieses Buches. Über all dem stehen jedoch die ästhetischen, formalen Anreize der Winterreise-Gedichte, die regelrecht nach Musik zu verlangen scheinen, wie Müller selbst erkannte. Goethes ablehnende Haltung gegenüber der musikalischen Umsetzung seiner Verse hinderte Schubert nicht daran, eine große Zahl seiner Werke zu vertonen, mehr als die jedes anderen Dichters. Und Goethes Ablehnung konnte den Erfolg, den Schubert mit seinen Vertonungen hatte, nicht aufhalten. Interessanterweise sind seine Gedichte für die Umsetzung viel geeigneter als die seines Freundes und Zeitgenossen Schiller, den Schubert fast ebenso häufig vertonte, jedoch oft mit weniger durchschlagendem Erfolg. Die rätselhafte Subjektivität von Müllers Die Winterreise dagegen schreit förmlich danach, von Schuberts Musik durchdrungen und beseelt zu werden. Die Psychologie unseres Wanderers wird uns durch die Musik präsenter, ebenso seine faktische, dicht mit Metaphern besetzte Umwelt, denn der Komponist bedient sich der komplexen Methode, ein Motiv einzusetzen, um eine physische Analogie zu suggerieren (das gleichmäßige Schreiten von «Gute Nacht» zum Beispiel, aber der Zyklus hält noch viel, viel mehr bereit), und dieses dann der musikalischen Beschwörung wandelnder Stimmungen auszusetzen. Die innere emotionale Intensität wird externalisiert, charakterisiert und sogar dramatisiert, denn das Lied wurde geschrieben, um gesungen zu werden, ihm wurde eine Stimme verliehen. Auch inmitten der Analyse dürfen wir niemals vergessen, dass diese Lieder gesungen werden müssen – ob am Klavier für sich allein, mit Freunden oder vor einem größeren Publikum.
Einige Jahre vor der Entdeckung der Winterreise-Gedichte wagte Schubert seinen einzigen Versuch, ein längeres literarisches Prosastück zu verfassen (einige Gedichte werden ihm außerdem zugeschrieben und natürlich eine Menge Briefe). Es trägt den Titel «Mein Traum», und aus dem Text geht nicht klar hervor, ob es die Niederschrift eines Traumes, eine Erfindung oder eine Fabel ist. Was deutlich wird, ist jedoch, dass sich Schubert darin als exakt die Art von Helden imaginiert – wenngleich Held kaum die richtige Bezeichnung ist –, den Müller für seine Winterreise im Sinn hatte:
Mit einem Herzen voll unendlicher Liebe für die, welche sie verschmähten, wanderte ich … in ferne Gegend. Lieder sang ich nun lange, lange Jahre. Wollte ich Liebe singen, ward sie mir zum Schmerz. Und wollte ich wieder Schmerz nur singen, ward er mir zur Liebe.
Es überrascht nicht, dass Schubert, als er Mitte der 1820er Jahre im Almanach Urania auf zwölf der Gedichte stieß, sofort von ihnen ergriffen war und sich geradezu gezwungen sah, sie zu vertonen. Seine Freunde schrieben später, er habe ihnen neue Lieder versprochen, sei dann jedoch nicht wie ausgemacht erschienen, um sie zu singen; man kam zu dem Schluss, dass er noch immer ganz darin versunken war, sie zu Ende zu bringen. Könnte es sich bei diesen Liedern um die Winterreise gehandelt haben? Als er ihnen den Zyklus vorsang und sich selbst dabei begleitete, überzeugte er sie nicht wirklich. So erinnerte sich Joseph von Spaun: «Schober sagte, es habe ihm nur ein Lied, ‹Der Lindenbaum›, gefallen.» Schubert antwortete darauf: «Mir gefallen diese Lieder mehr als alle, und sie werden euch auch noch gefallen.» Er war im Begriff, etwas zu erschaffen, das, wie er selbst erkannte, im Bereich der Liedkomposition revolutionär war.
Als er den Zyklus auswählte und komponierte, begriff er, welche Möglichkeiten Müller ihm eröffnete. Ihre musikalischen und poetischen Verfahren waren wirklich wie aufeinander abgestimmt. Müllers Einsatz von Byrons Methode der absence (Abwesenheit) wurde durch den Komponisten sogar noch verstärkt, sozusagen durch einen glücklichen Zufall, nämlich durch die Art und Weise, wie er die Gedichte anscheinend entdeckte. Zuallererst fand er die zwölf, die in der Urania veröffentlicht worden waren, und komponierte sie alle durch, als einen Zyklus von 12 Liedern, der als künstlerische Einheit in der selben Tonart, d-Moll, begann und endete. (Ich habe diese Ur-Winterreise als eigenständigen Zyklus oft in Konzerten aufgeführt). Als Müller schließlich seine komplette Version mit ihren 24 Gedichten veröffentlicht hatte, im zweiten Band seiner Gedichte aus den hinterlassenen Papieren eines reisenden Waldhornisten, mit dem Untertitel «Lieder des Lebens und der Liebe», ordnete er die Abfolge so an, dass die neuen Gedichte zwischen die alten gesetzt erschienen. Doch Schubert folgte Müller nicht, als er auf die neue Version stieß. Stattdessen ließ er die ersten zwölf Lieder, wie sie waren und machte sie zur ersten Hälfte des Zyklus; dann nahm er die neu hinzugekommenen Gedichte und ordnete sie in der Reihenfolge an, wie sie in Müllers Buch erschienen, also ein buntes Durcheinander, wie man meinen könnte.
Dies sind die 24 Gedichte Müllers in ihrer endgültigen Abfolge:
Gute Nacht
Die Wetterfahne
Gefrorne Tränen
Erstarrung
Der Lindenbaum
Die Post
Wasserflut
Auf dem Flusse
Rückblick
Der greise Kopf
Die Krähe
Letzte Hoffnung
Im Dorfe
Der stürmische Morgen
Täuschung
Der Wegweiser
Das Wirtshaus
Das Irrlicht
Rast
Die Nebensonnen
Frühlingstraum
Einsamkeit
Mut
Der Leiermann
Und dies ist Schuberts Version – mit den ersten zwölf Titeln in der Abfolge von Müllers erster Fassung:
Teil eins |
Gute Nacht Die Wetterfahne Gefrorne Tränen Erstarrung Der Lindenbaum Wasserflut Auf dem Flusse Rückblick Irrlicht Rast Frühlingstraum Einsamkeit |
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Teil zwei |
Die Post Der greise Kopf Die Krähe Letzte Hoffnung Im Dorfe Der stürmische Morgen Täuschung Der Wegweiser Das Wirtshaus Mut Die Nebensonnen Der Leiermann |
Der Komponist traf eine ästhetische Auswahl, um seinen eigenen Zyklus zu gestalten, und formte die poetische Vorlage nach seinen Vorstellungen um, wie er das zuvor, Lied für Lied, schon so oft getan hatte. Er änderte die Tonart des zwölften Liedes, «Einsamkeit», das ursprünglich der Abschluss seiner Folge gewesen war, das aber nun in die Mitte fiel; es sollte nicht länger in derselben Tonart stehen wie das erste Lied des Zyklus, «Gute Nacht», denn damit war es eine Art ästhetischer Abschluss für die Ur-Winterreise mit ihren zwölf Liedern gewesen. Und er vertauschte außerdem zwei Stücke in der zweiten Hälfte des Zyklus, die nun nicht mehr Müllers Anordnung folgten, vermutlich, um einen besonderen Tempowechsel am Ende des Werkes herbeizuführen, um drei langsame oder eher gemächliche Lieder unmittelbar hintereinander zu vermeiden – «Der Wegweiser, «Das Wirtshaus», «Die Nebensonnen» – und um nicht, wie Müller, den Eindruck zu erwecken, Mut sei das vorherrschende Gefühl des Wanderers, bevor er im letzten Lied auf den Leiermann trifft. Aber jegliche narrative Ordnung, die Müller innerhalb des poetischen Zyklus ansatzweise verfolgte (Hinweise auf eine Geschichte, eine zeitliche Abfolge, eine räumliche Logik, die einige Kommentatoren dazu verleitet haben, Müllers Anordnung dem Zyklus Schuberts vorzuziehen), wird durch Schuberts kompositorisches Vorgehen in der zweiten Hälfte des Werkes vollkommen aus den Angeln gehoben. Die Folge ist, dass die Empfindung des Fragmentarischen sich ab dem zwölften Lied nochmals verstärkt. Wie alle großen Künstler holt er mit einem Kniff das Beste aus dieser Regellosigkeit heraus, mit einer gelungenen Intensivierung der Byronschen Strategie des displacement (Verschiebung). Die Winterreise ist zugleich anheimelnd und zutiefst mysteriös – eines der Geheimnisse ihrer enormen Kraft.
Natürlich hat diese Verschiebung und Auflösung des Narrativen auch etwas ungemein Zeitgemäßes, Modernes – oder ist es postmodern? In seinem Buch Reality HungerWinterreiseWinterreise