Wie es dazu kommt
Wie man sie erkennt
Was wir dagegen tun können
C.H.Beck
Fälle von Gewalt in der Pflege bis hin zur Tötung von Patienten haben in letzter Zeit immer wieder die Öffentlichkeit erschüttert. Ans Tageslicht kommen jedoch oft nur die extremsten Ereignisse, denen wir meist mit Entsetzen und schnellen Schuldzuweisungen begegnen. Der international renommierte Pflegewissenschaftler Jürgen Osterbrink und die Juristin Franziska Andratsch wollen mit diesem Buch helfen, das Schweigen zu durchbrechen. Vor dem Hintergrund zahlreicher Fallbeispiele erklären sie, wie es zu Übergriffen in Pflegeheimen und Krankenhäusern kommt, welche Frühwarnsignale wir kennen müssen und welche Maßnahmen wir gegen die Gewalt ergreifen können. Darüber hinaus diskutieren sie, ob nicht auch die Ökonomisierung des Gesundheitswesens einem zynischen Umgang mit Patienten Vorschub leistet, der die Entstehung von Gewalt begünstigt.
Jürgen Osterbrink, geb. 1961, ist Vorstand des Instituts für Pflegewissenschaft und -praxis an der Paracelsus Medizinischen Privatuniversität Salzburg sowie Professor für Pflegewissenschaft an der University of North Florida, Jacksonville (USA).
Franziska Andratsch, geb. 1984, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin des Instituts für Pflegewissenschaft und -praxis an der Paracelsus Medizinischen Privatuniversität Salzburg. Sie absolvierte das Studium der Rechtswissenschaften am Juridicum – Rechtswissenschaftliche Fakultät in Wien.
Einleitung
Kapitel 1 Gewalt in der Pflege und ihr Ausmaß
Patiententötungen – kein «neues» Phänomen
Fragen, die uns beschäftigen
Kapitel 2 Pflege – eine asymmetrische Beziehung
Pflege – eine Beziehung zwischen Macht und Ohnmacht
Gewalt innerhalb der pflegerischen Versorgung – wie man sie erkennt
Formen von Gewalt in der Pflege
Wahrnehmung von Gewalt
Exkurs: «Legitime» Gewalt in der Pflege
Aggression im pflegerischen Alltag
Kapitel 3 Lainz – ein exemplarischer Fall von Patiententötungen
Wenn Pflegepersonal mordet
Der Pflegeskandal von Lainz – ein Rückblick
Analyse des Tathergangs
Wer waren die Opfer?
Wer waren die Täterinnen? Ein Blick auf ihre Persönlichkeiten
Die Tatmotive
Resümee eines exemplarischen Pflegeskandals
Allgemeine Charakteristika von Patiententötungen
Welche Lehren lassen sich aus dem Fall Lainz ziehen?
Kapitel 4 Demographische Entwicklungen und epidemiologische Hintergründe
Der demographische Wandel – Ursachen und Einflussfaktoren
Was bedeutet es konkret, pflegebedürftig zu werden?
Der alte Mensch als Patient
Das gesellschaftliche Altersbild im Wandel der Zeit
Leben, Leiden, Sterben und Tod
Exkurs: Der Pflegeberuf im gesellschaftlichen Kontext
Kapitel 5 Ursachen und Hintergründe von Gewalt in der Pflege
Pflege – eine grenzüberschreitende Dienstleistung am Menschen
Ursachen von Gewalt innerhalb der Pflegebeziehung
Ursachen von Gewalt außerhalb der Pflegebeziehung
Kapitel 6 Was wir gegen Gewalt in der Pflege tun können
Präventive Maßnahmen gegen Gewalt
Die Bedeutung der Selbstpflege
Professioneller Umgang mit Gefühlen und Grenzsituationen
Funktionierende Kommunikation und professionelle Gesprächs- und Sprachkultur
Strukturelle und gesellschaftliche Ansätze
Schlussbemerkungen
Anhang
Anmerkungen
Literaturverzeichnis
Gewalt ist allgegenwärtig. In ihren vielschichtigen und komplexen Erscheinungsformen betrifft sie sämtliche Lebensbereiche. Jeder von uns wird mit ihr konfrontiert, sei es durch die mediale Kommunikation oder durch eigene Erfahrungen und Beobachtungen im beruflichen wie auch im privaten Alltag. Längst hat Gewalt auch Einzug in die pflegerische Versorgung genommen. Fälle von Gewaltanwendungen innerhalb der Pflegebeziehung bis hin zur Tötung von Patienten bzw. pflegebedürftigen Menschen durch Angehörige der Gesundheitsfachberufe haben in den letzten Jahren wiederholt Schlagzeilen gemacht und die Öffentlichkeit erschüttert. Ans Tageslicht kommen vielfach nur die extremsten Fälle, denen mit Entsetzen, Unverständnis und vorschnellen Schuldzuweisungen begegnet wird. Eine ernsthafte Auseinandersetzung, warum es zu diesen Überschreitungen und Vorfällen gekommen ist, eine genaue Analyse, in welcher Lage sich Täter und Opfer befunden haben und welche verantwortlichen Ursachen es für diese Ereignisse gibt, fehlt meistens. Zu schnell wird in den betroffenen Einrichtungen zur Tagesordnung übergegangen. Das betrifft auch die nicht weniger wichtige Frage nach den Konsequenzen bzw. den Lehren, die aus erlebten Gewaltsituationen gezogen werden können.[1]
Wir wollen mit diesem Buch das Bewusstsein für Gewalthandlungen in der Pflege schärfen und die Mauer des Schweigens um das tabuisierte Thema «Gewalt in der Pflege» durchbrechen. Wir sind überzeugt: Nur durch eine möglichst frühe Wahrnehmung und das Erkennen erster Anzeichen von Fehlverhalten innerhalb der pflegerischen Beziehung lässt sich der Gewalt präventiv entgegenwirken.
Aufgrund der enormen Komplexität, die das Thema der Gewalt in der pflegerischen Versorgung mit sich bringt, haben wir uns auf die Behandlung ausgewählter Themenkomplexe beschränkt. Unser Interesse gilt ausschließlich den Gewalthandlungen, die von Gesundheits- und Krankenpflegepersonen ausgehen und pflegebedürftige, alte Personen treffen, sowohl im Zuge der Langzeitpflege als auch der Akutversorgung in den Krankenhäusern. In unserer Betrachtung wird somit lediglich der intramurale Bereich abgedeckt. Den umgekehrten Fall, den es auch gibt, nämlich Übergriffe pflegebedürftiger Menschen gegenüber den beruflich Pflegenden, lassen wir außer Acht. Das betrifft auch die Gewalt innerhalb der familiären Pflege.
Es geht uns in diesem Buch weder darum, Anklage zu erheben, noch die in der Pflege tätigen Personen mit Vorwürfen und Schuldzuweisungen zu konfrontieren. Wir wollen nicht pauschalieren oder gar behaupten, alle Pflegenden seien gewalttätig; dies wäre in der Tat eine höchst unqualifizierte und auch falsche Behauptung. Es ist nicht unsere Absicht, mit unseren Zeilen Unmut hervorzurufen oder jemanden vor den Kopf zu stoßen. Im Gegenteil, das persönliche Engagement, der enorme Einsatz und die unermüdliche Geduld der meisten Pflegenden im Umgang mit den ihnen anvertrauten Personen schätzen wir sehr. Für diese schwere, vielfach energieraubende Arbeit möchten wir unsere Anerkennung klar zum Ausdruck bringen.
Ziel des Buches ist es vielmehr herauszuarbeiten, welche Ursachen für Gewaltanwendungen in der Pflege verantwortlich sind und wie gute und professionelle Pflege der Entstehung von Gewalt rechtzeitig entgegenwirken kann. Wir fragen uns, welcher Veränderungen es bedarf, um die beschriebene Problematik einzudämmen und gleichzeitig den jüngsten Entwicklungen im Pflegebereich hinreichend Rechnung zu tragen. Die aktuellen Maßnahmen des österreichischen Sozialministeriums und etwa die Installierung eines «Pflegenotrufs» im Bundesland Brandenburg belegen die Brisanz des Themas. Die Frage, wie die weitere Versorgung bei schwindenden Ressourcen gewährleistet werden kann, hat uns ebenfalls beschäftigt. Darüber hinaus ist ein wichtiger Aspekt, inwieweit sich die Pflegeausbildung im Hinblick auf die Gewaltproblematik positiv beeinflussen lässt. Die Qualität der Pflege ständig weiterzuentwickeln und auch die Ausbildung der Pflegenden zu verbessern, ist ein wesentliches Anliegen von uns.
Das Buch gliedert sich in sechs Kapitel. Kapitel 1 widmet sich aktuellen Fällen von Gewalt im Gesundheitswesen innerhalb der letzten Jahre, die das gesamte Spektrum von verbaler Gewalt (Respektlosigkeit, Lieblosigkeit, Verdinglichung des Patienten, Zynismus) und physischer Gewaltanwendungen bis hin zur Tötung von Patienten bzw. pflegebedürftigen Menschen abdecken. Die Geschehnisse veranschaulichen, dass es sich bei weitem nicht um Einzelfälle handelt, und machen mitunter deutlich, in welcher Vielschichtigkeit Gewalt in der Pflege auftreten kann. Am Ende des Kapitels steht ein Überblick über jene Fragen, die für uns bei der Konzeption dieses Buches maßgeblich waren.
Kapitel 2 beschäftigt sich mit der Asymmetrie der Pflegebeziehung und geht besonders auf Macht und Ohnmacht innerhalb dieses Beziehungsgeflechts ein. Die Frage, wie Macht Potenzial für Gewaltentstehung sein kann und inwieweit Macht und Gewalt zusammenhängen, wird behandelt. Dazu widmen wir uns den unterschiedlichen Formen und Ausprägungen von Gewalt in der Pflege und unternehmen einen Versuch, Gewalt von Aggression abzugrenzen. Beispiele aus dem Pflegealltag dienen der Veranschaulichung und zeigen auch, wie schwer es ist, Gewalt als solche zu erkennen. Mögliche Hinweiszeichen für die Wahrnehmung von Gewalt werden dargelegt. Kurz angeschnitten wird die Frage nach jener Gewalt, die innerhalb der pflegerischen Versorgung «legitim» eingesetzt wird.
Kapitel 3 befasst sich mit der schlimmsten Form der Gewalt innerhalb der Pflegebeziehung, der Patiententötung, und ihren Spezifika. Im Rahmen dieses Kapitels erfolgt eine eingehende Darstellung und anschließende Analyse zum österreichischen Pflegeskandal von Lainz, der in den Achtzigerjahren Furore gemacht hat. Grundlage unserer Beschäftigung ist die Einsichtnahme in die Prozessakten des am Landesgericht für Strafsachen Wien 1991 verhandelten Geschworenenverfahrens. Davon ausgehend versuchen wir, die Motive und Charakteristika solcher Taten aufzuklären. Wir stellen uns die Frage, was die Pflege aus den Vorfällen in Lainz lernen kann bzw. bereits in positiver Hinsicht gelernt hat und in welchen Bereichen Handlungs- und Aufholbedarf besteht.
Kapitel 4 widmet sich den jüngsten Entwicklungen in der Pflege, allen voran dem demographischen Wandel und dessen Auswirkungen. Das gesellschaftliche Altersbild im Wandel der Zeit wird beleuchtet. Wir beschäftigen uns mit der Rolle des alten Menschen als Patient und fragen nach dem Zeitpunkt, zu dem Pflegebedürftigkeit eintritt. Leben, Leiden, Sterben und Tod sind Teil des pflegerischen Alltags, im Gegensatz zum «normalen» bzw. «alltäglichen» Leben, aus dem das Sterben, aber auch das Leiden möglichst weit hinausgedrängt werden. Auf die Herausforderungen und Schwierigkeiten, die diese «Parallelwelt» für Pflegende schafft, gehen wir im Rahmen dieses Kapitels im Detail ein. Ein kurzer Exkurs widmet sich dem Pflegeberuf im gesellschaftlichen Kontext.
In Kapitel 5 wagen wir den Versuch, Umstände und Hintergründe, die für Gewaltdelikte in der Pflege ursächlich und verantwortlich sein können, zu definieren. Es werden sowohl jene Ursachen betrachtet, die sich innerhalb der Pflegebeziehung finden, als auch jene, die strukturelle Gegebenheiten betreffen. Ziel des Kapitels ist, die Vielfalt gewaltursächlicher Faktoren und deren mögliches, wechselseitiges Zusammenspiel bewusstzumachen.
Ansätze zur Gewaltprävention und gewaltvermindernde Ressourcen werden in Kapitel 6 vorgestellt. Eingegangen wird vor allem auf jene präventiven Maßnahmen, die mit den in Kapitel 5 dargelegten Ursachen für Gewalt in Verbindung stehen. Besonders von Bedeutung ist die Frage, auf welche Art und Weise Pflegende bei ihrer Arbeit unterstützt werden und welchen gewaltpräventiven Beitrag Institutionen, Führungskräfte und die Gesellschaft leisten können.
Was können wir gegen Gewalt in der Pflege tun? Welche Maßnahmen und Interventionen sind besonders notwendig, um Fälle von Gewaltanwendungen in der Pflege zu verhindern bzw. zu minimieren? In den Schlussbemerkungen formulieren wir Forderungen an die Politik und die Entscheidungsträger und weitere für uns wichtige Anliegen.
Um einen besseren Lesefluss zu gewährleisten und allfällige Schwierigkeiten sprachlicher Natur zu vermeiden, verwenden wird in diesem Buch meist nur die Sprachform des generischen Maskulinums. Wir möchten an dieser Stelle darauf hinweisen, dass die ausschließliche Verwendung der männlichen Form geschlechtsunabhängig verstanden werden soll und dass selbstverständlich bei allen Ausführungen auch die weibliche Form mitgemeint ist.
Neben gewöhnlichen Anmerkungen, auf die mit hochgestellten Ziffern hingewiesen wird und die im Anhang zusammengefasst sind, finden sich im laufenden Text auch reine Quellenangaben. Diese sind durch Ziffern in eckigen Klammern gekennzeichnet und verweisen auf das Literaturverzeichnis am Ende des Buches. Auf die genaue Seitenangabe aus der zitierten Quelle wurde verzichtet, sowohl bei indirekten als auch bei direkten Zitaten. Direkte Zitate werden im laufenden Text zusätzlich durch Anführungszeichen gekennzeichnet.
In diesem Buch wird keine strikte Trennung der Begrifflichkeiten «Patient», «Bewohner in Langzeiteinrichtungen» und «pflegebedürftige Menschen/Personen» vorgenommen. Grundsätzlich wird unter dem Begriff «Patient» auch der Bewohner in Langzeiteinrichtungen subsumiert. Ist nur der Bewohner einer Langzeiteinrichtung gemeint, wird er ausdrücklich als solcher erwähnt. Die Bezeichnung «Pflegebedürftige» bzw. «pflegebedürftige Menschen/Personen» bezieht sich sowohl auf den Patienten als auch auf Bewohner von Pflegeeinrichtungen. Ist nur eine dieser beiden Gruppen alleine gemeint, wird sie explizit genannt.
Der Begriff «Pflegende» umfasst die Gruppe der diplomierten Gesundheits- und Krankenpflegepersonen, aber auch alle sonstigen Personen, die in Einrichtungen der Langzeitbetreuung arbeiten, etwa Altenpfleger, sind damit gemeint. Auch in diesem Fall gilt, dass wenn es uns um eine konkrete Berufsgruppe geht, diese als solche erwähnt wird. Ist von «Pflegeeinrichtung» die Rede, handelt es sich um Einrichtungen bzw. Organisationen, in denen alte Menschen Betreuung erhalten; dies sowohl im Zuge der Langzeitpflege als auch in der Akutversorgung der Krankenhäuser. Sofern eine Einrichtung im Besonderen gemeint ist, wird diese auch als solche bezeichnet.[1]
Die Schilderung eigener Erfahrungen der Autoren dient der Veranschaulichung und will den nötigen Praxisbezug herstellen, erhebt jedoch keinen Anspruch auf Generalisierbarkeit.
«Die Gewalt fängt nicht an, wenn Kranke
getötet werden. Sie fängt an, wenn einer sagt:
‹Du bist krank: du musst tun, was ich sage!›»
Erich Fried[2]
Mai 2010: In einem Seniorenpflegeheim in Deutschland werden aufgrund eines Gutachtens des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen (MDK) Pflegemissstände öffentlich. Die vermutete Schwere der Missstände veranlasst die Heimaufsichtsbehörde dazu, dem Heim die Betriebsfortführung vorerst zu untersagen. Bei mehreren Bewohnern sei ein sogenannter Hungermarasmus festgestellt worden, worunter eine Abmagerung durch Unterernährung zu verstehen ist. Zusätzlich zu dem gravierenden Gewichtsverlust vieler Bewohner ist von hygienischen Mängeln die Rede. Auch der Umgangston zwischen Pflegenden und Pflegebedürftigen wird beanstandet. Vielfach seien die Bewohner angeschrien und durch verbale Äußerungen gedemütigt und beleidigt worden. Bei einigen Pflegebedürftigen sei zudem die Pflegedokumentation falsch geführt worden. Zusätzlich wird kritisiert, dass die Einrichtung völlig unterbesetzt sei: für einen Nachtdienst mit 56 Bewohnern sei beispielsweise nur ein Pflegender zuständig.[3]
Januar 2011: In einem Pflegeheim in Augsburg sollen Bewohner misshandelt worden sein. Ein Pfleger habe die Pflegebedürftigen äußert brutal behandelt. Auch von Übergriffen sexueller Natur und der Ruhigstellung durch Psychopharmaka ist die Rede. Die Gewalthandlungen hätten vor allem geistig verwirrte Bewohner getroffen. Im Vorfeld habe es bereits Beschwerden von ärztlicher Seite gegeben, denen jedoch nicht ausreichend nachgegangen worden sei. Auch der erhöhte Medikamentenverbrauch sei lange Zeit niemandem aufgefallen.[4]
Juni 2012: In einem Seniorenheim im Saarland werden Missbrauchsvorwürfe gegen zwei Pfleger erhoben. Einem Patienten sei eine tödliche Überdosis Morphium verabreicht worden. Ein weiterer Pfleger steht im Verdacht, eine bereits an Dekubitus (Druck- bzw. Wundliegegeschwür) leidende Patientin ohne Betäubung und ohne ärztliche Erlaubnis chirurgisch behandelt zu haben. Auch diese Patientin verstirbt bald im Anschluss daran; es kann nicht ausgeschlossen werden, dass der Tod durch die Schmerzen begünstigt worden ist. Zusätzlich wird der Verdacht laut, dass auch andere Bewohner über Monate hinweg misshandelt und systematisch gequält worden seien; einem unruhigen Patienten sei absichtlich die Atemkanüle gezogen worden, um ihn zu «erziehen». Einem anderen Pflegebedürftigen sei beim Rasieren ein Schnitt zugefügt worden, weil er nicht ausreichend ruhig gehalten habe. Angeblich habe man eine alte Frau fotografiert, das Bild mit einem Hitlerbärtchen versehen und anschließend an Kollegen verteilt. Sofort nach Bekanntwerden der Fälle wurde eine Prüfung bei der Staatsanwaltschaft beantragt.[5]
September 2013: «Nun lassen Sie ihn doch, er liegt doch schon im Sterben.» Diesen Satz soll ein Pfleger in einem deutschen Heim in Gegenwart der Angehörigen des Betroffenen geäußert haben. Der Mann war damals 91 Jahre alt. Aufgrund seines Gesundheits- und Alterszustands und den Folgen eines Schlaganfalles war er sehr eingeschränkt; hören konnte er aber noch gut. Laut den Angehörigen seien derartige und ähnliche Äußerungen nicht das erste Mal getätigt worden. Neben diesen verbalen Übergriffen werden von den Angehörigen auch andere Missstände beanstandet: Ihr Vater sei seit Wochen nicht mehr richtig gewaschen worden; manchmal würde er über Wochen im eigenen Kot und Urin liegen und kaum zu essen bekommen. Sein Körper sei mit blauen Flecken übersät gewesen, die von den Pflegenden nicht plausibel erklärt werden konnten. Auch andere Mängel wurden dem Heim vorgeworfen. Die Patienten seien ohne Vorwarnung unsanft angepackt und geduzt worden, notwendige Medikamente seien vielfach vergessen worden. Nach langem Hin und Her entscheiden sich die Angehörigen, den alten Vater aus dem Heim zu nehmen, selbst wenn dies für ihn mit erheblichen Unannehmlichkeiten verbunden ist. Aber die Angst und die Sorge um den Vater sind größer. Die Angehörigen räumen jedoch ein, dass der verängstigte Vater schwierig und der Umgang mit ihm nicht immer ganz leicht ist.[6]
Oktober 2013: In einem Seniorenheim in Deutschland soll ein demenzkranker Bewohner mit Medikamenten ruhiggestellt worden und daraufhin von Ratten gebissen worden sein. Die Ruhigstellung von demenzkranken Personen in Deutschland durch Psychopharmaka ist keine Seltenheit, weil vielfach zu wenig Pflegepersonal in den Heimen arbeitet, um die verwirrten, doch oftmals sehr aktiven Patienten betreuen zu können.[7]
Mai 2014: In einem Altenheim in München wird mit versteckter Kamera ein Mitarbeiter gefilmt, wie er einen älteren, dementen Mann gewaltsam in den Rollstuhl bugsiert. Andere Bewohner weisen erhebliche Hämatome auf und behaupten, geschlagen worden zu sein.[8]
Juli 2014: In einem niederösterreichischen Pflegeheim stirbt eine Bewohnerin, abgemagert und mit eitrigen Druckgeschwüren. Die Pflege und medizinische Versorgung der Frau seien gröblich vernachlässigt worden.[9]
Oktober 2014: An einer Uniklinik in Nordrhein-Westfalen werden fünf Pflegende unter dem Verdacht gekündigt, Selfies und Intimfotos von dementen oder anderweitig im Bewusstsein eingeschränkten Patienten gemacht zu haben. Die Patienten seien zudem geschminkt und verkleidet und die Fotos anschließend über den Kurznachrichtendienst WhatsApp verbreitet worden.[10]
November 2014: Drei Frauen, ehemalige Mitarbeiter eines Seniorenheims im Bundesland Salzburg, erheben schwere Vorwürfe wegen angeblicher Missstände innerhalb der Heimversorgung. Von Vernachlässigungen in der Pflege und einem rüden Umgangston den alten Menschen gegenüber wird berichtet. Mobbing unter den Mitarbeitern und ständiger Personalwechsel seien an der Tagesordnung. Angeblich sind die Vorwürfe schon länger bekannt; bereits im Mai 2013 habe es Gespräche dazu gegeben. Geändert habe sich seitdem aber anscheinend nur wenig. Die Sozialabteilung des Landes ist nun dafür zuständig, einen genauen Bericht über die Zustände im Heim zu verfassen und zu prüfen, inwieweit die erhobenen Vorwürfe richtig sind.[11]
Januar 2015: In einem Altenheim in Bonn mussten rund 60 pflegebedürftige Menschen evakuiert werden. Der Grund: Die Heimaufsicht stellte im Zuge der jährlichen Routinekontrolle gefährliche Zustände in der Pflege fest, die eine unverzügliche Umsiedlung der Bewohner notwendig machten. Beanstandet wurden etwa falsche Medikamentenvergabe, nicht behandeltes Wundliegen etc. Mit ausschlaggebend für das Aufkommen der Mängel war der Tod zweier Bewohner unter fragwürdigen Umständen. Dem einen sei angeblich irrtümlicherweise Insulin gespritzt worden, obwohl er kein Diabetiker war; der andere Bewohner soll an einem epileptischen Anfall verstorben und erst Stunden später tot auf dem Fußboden liegend aufgefunden worden sein.[12]
Februar 2015: Mängel in der Pflegedokumentation, in der medikamentösen Versorgung, der Arzneimittelsicherheit, der ordnungsgemäßen Aufbewahrung von Medikamenten und der Pflege der Bewohner führten zu einem befristeten Belegungsverbot, sprich einem Aufnahmestopp, für ein Seniorenheim in Euskirchen (Nordrhein-Westfalen). Von einer Schließung der Institution wurde vorerst Abstand genommen; trotz der Mängel sei das Mindestmaß der Versorgung gewährleistet. Dem Seniorenheim wurden jedoch Fristen für die Beseitigung der Missstände auferlegt.[13]
Problemlos ließe sich die Aufzählung der Pflegemissstände und «Pflegeskandale» fortsetzen. «Tag für Tag ein Skandal» titelte «Die Zeit» im Oktober 2014 in einem Bericht über Missstände in einem Pflegeheim in Nordrhein-Westfalen. Eine Angehörige berichtete, dass es im Zimmer ihrer dort untergebrachten Mutter «erbärmlich nach Erbrochenem, Kot und Urin» gestunken haben soll. Hilflos und allein habe die Mutter in ihren eigenen Ausscheidungen gelegen. Von Heimpersonal keine Spur. Als sie den Pflegenden berichtete, was vorgefallen war, habe sie meist Ausflüchte zur Antwort bekommen: «Das muss gerade erst passiert sein.»[14]
Diese und ähnliche Schilderungen erschrecken Betroffene, Angehörige und die Mitarbeiter der entsprechenden Institutionen, deren Image darunter leidet. In manchen Pflegesituationen scheint die Wahrung der Würde und Autonomie des pflegebedürftigen Menschen nicht mehr gewährleistet zu sein.[15]
Was bewegt Menschen, die einen Heilberuf erlernt haben, dazu, die besondere Schutzbedürftigkeit der ihnen anvertrauten Personen auszunutzen und in der Folge dazu überzugehen, diesen Menschen Gewalt anzutun? Wir wollen in diesem Buch erste Antworten auf diese Frage und Erklärungsansätze für Gewaltdelikte in der Pflege finden.[2]
Neben den die Öffentlichkeit besonders erschütternden sogenannten Pflegeskandalen gibt es auch Berichte von direkt Betroffenen, die das Ausmaß von gewalttätigen Handlungen in der Pflege deutlich machen.[3]
In einem Altenheim beobachtet eine Frau zufällig, wie eine Altenpflegerin, als es Zeit zum Abendessen ist, die Heimbewohnerin auffordert, in ihr Zimmer zu gehen. Die Dame will aber nicht. Sie weigert sich vehement. Da packt die Altenpflegerin die Heimbewohnerin an der Hand und versucht, die alte Frau in ihr Zimmer zu schleifen.[16]
Eine Neunzigjährige lebt nach einem Schlaganfall bereits seit eineinhalb Jahren im Heim. Von Beginn an wurde die ältere Dame bettlägerig gehalten, obwohl die Folgen des Schlaganfalles dies nicht erfordert hätten. Ständig wurde sie gewindelt, wodurch Blasen- und Harnwegsinfektionen begünstigt wurden. Die Essenseinnahme erfolgt meistens im Zimmer, oftmals im Bett. Die Bewohnerin erhält kaum Ansprache und es wird ihr keine Möglichkeit eingeräumt, mit anderen Bewohnern in Kontakt zu treten. Die Grundpflege wird nur mangelhaft durchgeführt; Bett und Einlagen werden nicht regelmäßig gewechselt. Auf ausreichendes Trinken wird nicht geachtet. Bei jeglichem Widerstand der pflegebedürftigen Frau erfolgt eine Ruhigstellung mit Psychopharmaka.
«Seien Sie doch nicht so empfindlich!» oder «Glauben Sie eigentlich, Sie sind die Einzige auf Station?» – Sätze aus dem Pflegealltag in einem Altenheim, berichtet von Betroffenen.[17]
Die Gewalt fängt früh an, in kleinen Gesten oder verbalen Äußerungen, die jedoch vielfach als bedeutungslos und nicht erwähnenswert abgetan werden. Häufig würde man in diesen Fällen auch gar nicht von Gewalt sprechen. Erst bei näherem Hinschauen wird die Gewalt sichtbar. Nach und nach verschafft sie sich mehr Raum und schleicht sich in den Alltag ein. Vor allem den Anfangsphasen, in denen die Gewalt entsteht und die Bereitschaft zu weiteren Gewalttaten des späteren Täters zu steigen beginnt, wird zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Wir erachten es als wichtig, gerade an diesem Punkt anzusetzen. Die Tötung eines Menschen durch Pflegende stellt mit Sicherheit die schlimmste Ausprägung von Gewalt innerhalb der pflegerischen und medizinischen Versorgung dar. Der Weg bis zur tatsächlichen Tötung eines anderen Menschen ist aber meist ein langer, in mehrere Phasen unterteilter Prozess.[18, 19] Anzunehmen ist, dass «nach der ersten Tat die Hemmschwelle für weitere Tötungen sinkt», so Dr. Karl-Heinz Beine (2011), deutscher Facharzt für Nervenheilkunde und Psychotherapeutische Medizin, der sich besonders mit Krankentötungen in Kliniken und Heimen auseinandergesetzt hat.[20]
In Österreich ist der Pflegeskandal im damaligen Wiener Krankenhaus Lainz (heutiges Krankenhaus Hietzing) in den Achtzigerjahren noch vielen in Erinnerung. Vier Stationsgehilfinnen ermordeten über mehrere Jahre hinweg eine große Anzahl von Patienten. Die Tötungen erfolgten durch intravenöse Verabreichung von zwei bis drei Ampullen Rohypnol, durch intravenöse Verabreichung von Insulin (teilweise 100 Einheiten) oder in manchen Fällen durch Verabreichung von drei Ampullen Dominal.[4] Des Weiteren wurde die sogenannte «Mundpflege» angewandt, sprich das Einflößen einer größeren Menge Wasser in die Luftwege, was zu einer Tötung durch Ersticken führte. Die beiden Haupttäterinnen Waltraud W. und Irene L. wurden zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe, die beiden anderen Frauen (Stefanija M. und Maria G.) zu einer zwanzig- bzw. zwölfjährigen Freiheitsstrafe verurteilt.[5] Auf die genaueren Details dieses Falles gehen wir im Kapitel 3 noch ein.
Der spektakulärste deutsche Fall von Patiententötungen ist uns allen noch frisch in Erinnerung. Im September 2014 wird an einem Klinikum in Delmenhorst der 38-jährige Krankenpfleger Niels H. verhaftet. Die Anklage lautet auf Mord an Patienten in drei Fällen und Mordversuch in zwei Fällen. Bereits 2005 war derselbe Krankenpfleger das erste Mal verhaftet worden, weil er im Verdacht stand, einen Patienten getötet zu haben. Mangels Fluchtgefahr wurde Niels H. damals vorerst auf freien Fuß gesetzt. Erst 2008 erlangte das zweitinstanzliche Urteil gegen Niels H. Rechtskraft: Er wird wegen versuchten Mordes zu einer Freiheitsstrafe von siebeneinhalb Jahren verurteilt. Es konnte ihm nachgewiesen werden, dass er den im Jahr 2005 verstorbenen Patienten auf der Intensivstation eine Überdosis eines Medikaments verabreicht hatte, welches zur Behandlung von Herzrhythmusstörungen eingesetzt wird. Zum damaligen Zeitpunkt gab es schon Hinweise, dass das Ausmaß der Taten unter Umständen viel größer sein könnte. Der im September 2014 begonnene erneute Prozess gegen Niels H. nimmt im Januar 2015 eine Wende; die Zahl der mutmaßlich getöteten Patienten erhöht sich auf 30 und steigt im Laufe des Verfahrens weiter an. Niels H. könnte bis zu 200 Patienten getötet haben. Darunter sind auch Verdachtsfälle am Klinikum Oldenburg, wo der Krankenpfleger in früheren Jahren angestellt war. Die Tötungen seien überwiegend durch das Spritzen des Medikaments Gilurytmal[6] herbeigeführt worden, ohne dass dieses von ärztlicher Seite verschrieben oder der Krankenpfleger zu seiner Verabreichung berechtigt gewesen sei. Die Motive für die Taten sind noch nicht vollständig geklärt. Vermutet wird, der Pfleger habe aus Langeweile gehandelt. Zusätzlich habe er bewusst Notfälle in der Absicht herbeigeführt, zu beweisen, wie gut er Patienten wiederbeleben könne. Im Februar 2015 wird Niels H. zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Nachfolgende Prozesse sind aufgrund der noch weiteren vermuteten Tötungen zu erwarten.[21, 22]
Auch in Deutschland gibt es das Phänomen der Patiententötungen nicht erst seit kurzem. Zu nennen sind etwa zwei Vorfälle in Wuppertal in den Siebziger- und Achtzigerjahren. Im August 1973 wurde der Krankenpfleger Rudi Z. verhaftet und ihm die vorsätzliche Tötung mehrerer Patienten und Heimbewohner zur Last gelegt. Mit Urteil vom 2. August 1976 erhielt Rudi Z. eine lebenslange Freiheitsstrafe. Das Gericht sah zweifachen Mord, den versuchten Mord in vier Fällen und eine Körperverletzung an einem Patienten als erwiesen an. Rudi Z. tötete seine Opfer überwiegend durch die Verabreichung von nicht verordneten Injektionen. Nach Ansicht des Gerichtes handelte Rudi Z. aus niedrigen Beweggründen; in erster Linie sei es ihm darum gegangen, ihm lästige und unsympathische Patienten loszuwerden. Zudem seien ihm die Patienten nervig gewesen, weil sie viel Pflege beanspruchten, seinen Vorstellungen von Sauberkeit widersprachen oder sich nicht so verhielten, wie er sich das wünschte.[20]
Im Februar 1986 wurde ebenfalls in Wuppertal die zum damaligen Zeitpunkt 27-jährige Stationsschwester Michaela R. aus dem Dienst entlassen aufgrund des Verdachtes, dass sie Patienten nicht verordnete Medikamente verabreicht habe. Es kam zum Prozess gegen Michaela R.; das Gericht verurteilte sie schließlich 1989 zu einer elfjährigen Freiheitsstrafe. Es wurde der Totschlag in fünf Fällen, Tötung auf Verlangen, fahrlässige Tötung und versuchter Totschlag als erwiesen angesehen. Weitere neun Fälle wurden ihr von der Anklage zur Last gelegt, konnten ihr jedoch nicht ausreichend nachgewiesen werden. Als Motive für ihre Taten gab Michaela R. überwiegend an, sie habe die Patienten erlösen und ihrem menschenunwürdigen Zustand ein Ende setzen wollen. Sie verteidigte ihr Handeln mit Mitleid den Patienten gegenüber und dem Argument, es habe sich um humane Sterbehilfe gehandelt.[20]
Im Dezember 1990 wurde in Gütersloh der 33-jährige Krankenpfleger Wolfgang L. verhaftet. Zur Last gelegt wurde ihm der Mord an einer 86-jährigen Patientin, den er wenig später gestand. Er gab zu, der Patientin Luft injiziert zu haben. Er habe damit erreichen wollen, dass sie auf die Intensivstation verlegt wird und er weniger Arbeit hat. Im Zuge des Gerichtsverfahrens gestand Wolfgang L., insgesamt 14 weitere Patienten durch Luftinjektionen getötet zu haben. Als Motiv für seine Taten gab er in erster Linie Mitleid den Patienten gegenüber an. Aber auch einen gewissen «inneren Zwang», «Arbeitsüberlastung» und «Ekel» führte er an. Das Urteil gegen Wolfgang L. lautete auf 15 Jahre Gesamtfreiheitsstrafe wegen des Totschlages in zehn Fällen. Weitere ihm zur Last gelegte Tötungen, die Wolfgang L. zunächst gestanden, später jedoch widerrufen hat, konnten ihm vom Gericht nicht mehr eindeutig nachgewiesen werden, da die Todesursache gerichtsmedizinisch nicht exakt festgestellt werden konnte und das Gericht nicht ohne Zweifel beweisen konnte, dass der Tod durch ein ursächliches Verhalten von Wolfgang L. herbeigeführt worden war.[20]
Eine lebenslange Freiheitsstrafe erhielt mit Urteil vom 20. November 2006 auch der Krankenpfleger Stephan L. Das Landesgericht Kempten sah in seinem Fall den Mord an 12 Personen, Totschlag in 15 Fällen, versuchten Totschlag, Tötung auf Verlangen, gefährliche Körperverletzung und Diebstahl in fünf Fällen als erwiesen an. Die erste Tötung eines Patienten an der Klinik Sonthofen konnte Stephan L. bereits 2003 nachgewiesen werden. Der Tod aller Patienten wurde durch die Verabreichung von unzulässig entnommenen Medikamenten herbeigeführt, die durch einen, bei den späteren Opfern bereits vorhandenen Venenkatheter gespritzt wurden. Im Vorfeld schläferte Stephan L. die Patienten zuerst ein, meist durch ein Medikament zur Narkoseeinleitung. In weiterer Folge verabreichte er seinen Opfern ein Muskelrelaxantium, wodurch die Atemmuskulatur gelähmt wurde, was schließlich zum baldigen Tod der Patienten führte. Seine Taten rechtfertigte Stephan L. als moralische Sterbehilfe. Nie sei es seine Absicht gewesen, jemanden zu quälen. Vielmehr habe er die Patienten erlöst.[20]
Als letztes deutsches Beispiel sei der Fall Irene B. in der Berliner Charité 2007 erwähnt. Bereits 2006 erfolgten erste polizeiliche Ermittlungen gegen die 54-jährige Krankenschwester aufgrund des Verdachts, sie habe den Tod mehrerer Patienten zu verantworten. Nachdem sich die Verdächtigungen bestätigten, wurde Irene B. schließlich verhaftet. Im Prozess vor dem Berliner Landgericht konnten Irene B. die Morde an fünf Patienten nachgewiesen werden; das Urteil lautete auf lebenslange Freiheitsstrafe. Die Tötungen erfolgten durch das Spritzen nicht verordneter Medikamente. Irene B. beteuerte, dass den Opfern die Lebensfreude gefehlt habe; sie hätten keine Lebensqualität mehr gehabt. Sie sah in ihrem Handeln eine Erlösung für die Patienten. Zudem erachtete Irene B. die von ärztlicher Seite erfolgten zahlreichen Reanimationen dem Menschen gegenüber als unwürdig. Sie fühlte sich berechtigt, dem ein Ende zu setzen.[20]
Wir beschließen diese lediglich auszugsweise Darlegung von Fällen von Patiententötungen innerhalb der letzten Jahrzehnte mit einem Fall aus der Schweiz: Aufgrund einer ungewöhnlichen Häufung von Todesfällen von Bewohnern wurden 2001 in einem Zentrum für Betagte in Luzern polizeiliche Ermittlungen eingeleitet und schließlich der damals 32-jährige Krankenpfleger Roger A. festgenommen. Er gab zu, während der Jahre 1995 bis Ende 2001 an 24 Bewohnern Handlungen vorgenommen zu haben, die schließlich zum Tod der Betroffenen führten. Darüber hinaus gestand Roger A. drei weitere Tötungen. In diesen Fällen konnte jedoch nicht mehr eindeutig festgestellt werden, ob seine Manipulationen tatsächlich für den Tod ursächlich waren oder nicht. Roger A. führte die Morde entweder durch die Verabreichung von Beruhigungsmitteln durch oder indem er die Patienten durch Aufdrücken eines Plastikbeutels auf Mund und Nase erstickte. In manchen Fällen kombinierte er auch beide Tötungsmethoden miteinander. Die Beweggründe für die Taten von Roger A. variierten und waren nicht einheitlich. Einerseits rechtfertigte er seine Taten mit Mitleid den Patienten gegenüber, andererseits empfand er seine Situation auch als überlastend und überfordernd. Seine Entscheidung, einen Pflegeberuf zu ergreifen, bezeichnete er dem Gericht gegenüber als falsch; er habe mehrfach darüber nachgedacht, den Job zu wechseln. Durch seine Taten habe er sich selbst und die Patienten erlösen wollen; oft habe er sich darüber gefreut, ihnen beim Sterben helfen zu können, und vielfach keine Schuldgefühle verspürt. Roger A. wurde am 21. Januar 2005 aufgrund des Mordes an 22 Personen, wegen des vollendeten Mordversuches in drei Fällen und des unvollendeten Mordversuches in zwei Fällen zu einer lebenslänglichen Zuchthausstrafe verurteilt. Das Urteil wurde auch nach eingebrachter Berufung durch das Luzerner Obergericht bestätigt.[20]
Unser Ziel ist es, wie gesagt, keineswegs, dem Leser Angst zu machen. Es muss aber ein Anliegen von uns allen sein, das Problem ernst zu nehmen und der Gewalt innerhalb der pflegerischen Versorgung entgegenzutreten. Tötungen von pflegebedürftigen Menschen durch Angehörige des Gesundheitsbereiches sind ein wiederkehrendes Problem. Dennoch ist dieses Thema noch immer stark tabuisiert, vor allem deshalb, da derartige Taten dem heilberuflichen Grundgedanken der Pflege diametral widersprechen. Der Tatort ist hier gleichzeitig das direkte Arbeitsumfeld des Täters, also in den überwiegenden Fällen Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen.[20, 23] Der deutsche Gerichtspsychologe Herbert Maisch bezeichnete die Tatorte als «sensible Bereiche medizinischer Versorgung und Pflege, Stationen und Abteilungen in Kliniken sowie (seltener) Altenpflegeheimen, in denen Sterben und Tod zum Alltag gehören.»[23] Untersuchungen (in denen teilweise auch die genannten Beispiele Berücksichtigung fanden) haben gezeigt, dass die Opfer meist ältere Menschen in einem schlechten Gesundheitszustand sind. Dazu Beine: «In aller Regel waren die Opfer hochbetagte, nicht aber todkranke Menschen, deren Tod unmittelbar bevorstand.» Teilweise sind sie nicht mehr ansprechbar und keiner Kommunikation zugänglich. Manchmal handelt es sich um von den Tätern als «lästig» und «unangenehm» bezeichnete Patienten. Entgegen der allgemeinen Meinung ist eine als hoch eingestufte Arbeitsbelastung nicht zwingend ausschlaggebend bzw. kein alleiniges Indiz.[20] Vergangene Patiententötungen, so etwa auch der Fall Lainz, haben zudem dargelegt, dass längere Pflege- und Betreuungsverhältnisse die Ausnahme waren. Es konnte festgestellt werden, dass die Tötungen meistens bereits kurz nach der Aufnahme der Pflegebedürftigen erfolgten.[23] Die amerikanische Studie von Yorker et al. zeigte, dass die Täter von seriellen Tötungen im Gesundheitsbereich überwiegend Mitarbeiter aus dem Gesundheitsbereich sind, in erster Linie Mitarbeiter aus der Pflege, gefolgt von Ärzten und Angehörigen der medizintechnischen Assistenz.[24] Die Täter wurden teilweise als ausgezeichnete, fachlich kompetente und motivierte Mitarbeiter beschrieben, beliebt bei den Kollegen, fleißig und unauffällig.[23] Die häufigste Tötungsart ist die Verabreichung von Medikamenten in Form von Injektionen (z.B. Insulin), gefolgt von Ersticken, Vergiften, Ertränken und Malträtieren mit Gegenständen. Auffällig in den Fällen der Patiententötungen ist, dass es sich meist nicht um einmalige Taten handelt, sondern um serielle Tötungen, die mehrere, oft eine größere Anzahl von Opfern fordern und lange Tatzeiträume aufweisen.[24, 25]
Zum Abschluss dieses einleitenden Kapitels geben wir einen Überblick über die Fragen, die sich angesichts der geschilderten Fälle stellen und die für uns in den folgenden Kapiteln maßgeblich sind:
• Was charakterisiert die Beziehung zwischen Pflegenden und Pflegebedürftigen und welche Bedeutung haben Macht und Ohnmacht innerhalb dieser Beziehung?
• Wann spricht man von Gewalt und welche unterschiedlichen Formen von Gewalt in der Pflege gibt es?
• Gibt es Möglichkeiten, Gewalt innerhalb der pflegerischen Versorgung zu erkennen?
• Lässt sich Gewalt in der Pflege überhaupt gänzlich vermeiden?
• Warum werden Menschen aggressiv und welche Bedeutung kommt aggressivem Verhalten innerhalb der Pflegebeziehung zu?
• Was sind die Spezifika von seriellen Patiententötungen?
• Welche Frühwarnsignale gibt es, um die Gefahr von Patiententötungen zu erkennen?
• Welche Umstände erschweren die Aufdeckung von Patiententötungen?
• Welchen Einfluss haben demographische und sozio-demographische Entwicklungen auf die Pflege und Betreuung alter Menschen?
• Wie verhält sich der alte Mensch in der Patientenrolle?
• Welchen Stellenwert hat Pflege innerhalb unserer Gesellschaft?
• Welche Auswirkungen hat Pflege auf den pflegebedürftigen Menschen und den Pflegenden und inwieweit ist die Beziehung zwischen diesen beiden Menschen der Gewaltentstehung förderlich?
• Welche Bedeutung kommt dem Verhalten von Führungskräften zu und inwieweit kann schlechte Führung der Gewaltentstehung förderlich sein?
• Wie kann eine professionelle, patientenorientierte Pflege der Gewaltentstehung innerhalb der Pflegebeziehung entgegentreten?
• Wie kann sich ein richtiger Umgang der Pflegenden mit Tod und Sterben, Krankheit und Leid positiv auf die pflegerische Beziehung auswirken und gewaltpräventiv wirken?
• Durch welche Unterstützungs- und Hilfsangebote können Pflegende in ihrer Arbeit entlastet werden und wie kann ihnen ein besserer Umgang mit dem Pflegebedürftigen ermöglicht werden?
• Inwieweit kann die Ausgestaltung struktureller Gegebenheiten einen positiven gewaltpräventiven Beitrag leisten? Welche Maßnahmen von politischer und gesellschaftlicher Seite können helfen?
Unsere Ausgangssituation ist die pflegerische Beziehung, sprich die Beziehung zwischen dem beruflich Pflegenden auf der einen und demjenigen, der der Pflege bedürftig ist, auf der anderen Seite. Die Ausgestaltung der pflegerischen Beziehung und die Einwirkung äußerer Faktoren (Rahmenbedingungen) sind ausschlaggebend dafür, ob und inwieweit Potenzial für die Entstehung von Gewalt vorhanden ist. Wir wollen uns daher die Beziehung zwischen Pflegendem und Pflegebedürftigem näher anschauen.
Einen wesentlichen Teil der pflegerischen Beziehung stellt die Beziehungsarbeit dar. Mitunter ist sie eine anspruchsvolle Aufgabe für den Pflegenden. Die Erwartungen daran lassen sich in drei Aspekte gliedern.
1. Als Kern der Pflege gilt häufig eine zwischenmenschliche, persönliche Beziehung zwischen Pflegendem und Pflegebedürftigem. Unter Berufung auf sein Fachwissen und seine Fähigkeiten versucht der Pflegende auf jeden einzelnen Pflegebedürftigen entsprechend seiner Situation einzugehen. Auch Sympathie und Mitleid können diese Beziehung prägen. Trotz seiner Betroffenheit darf der Pflegende aber nicht handlungsunfähig werden; vielmehr muss er gegenüber der pflegebedürftigen Person emotionale Distanz wahren. Innerhalb der Pflegebeziehung zählt somit nicht nur der Pflegebedürftige als Individuum, sondern auch der Pflegende, der in dem Maße, wie er sich in diese Beziehung einbringt, selbst verwundbar wird.[26]
2. Andere sehen die Pflegebeziehung als kongruente Beziehung, die auf die Erreichung eines Zieles gerichtet ist, nämlich das gemeinsame Pflegeziel. Durch das entgegengebrachte Vertrauen kann der Pflegebedürftige zu seiner Genesung beitragen; der Pflegende kann im Gegenzug mit der Adhärenz (Mitwirkung) des Pflegebedürftigen rechnen. Dadurch fühlt er sich in seiner Arbeit akzeptiert und durch den Pflegebedürftigen angenommen. Der Pflegeprozess ist in dieser Sicht zugleich ein Problemlösungsprozess.[27] Im Mittelpunkt steht die Pflege, die sich am täglichen Leben des Patienten (Modell des Lebens) orientiert und die Menschen im Krankheitskontinuum begleitet.[28]
3. Schließlich wird die Pflegebeziehung auch als heilende Beziehung angesehen, insbesondere bei Menschen mit chronischen Erkrankungen. Sofern es sich um eine gute Beziehung handelt, hat sie eine positive therapeutische Wirkung und trägt zur Genesung des Pflegebedürftigen bei.[27] Um diese besondere Beziehung mit dem Pflegebedürftigen aufbauen zu können, muss der Pflegende über ausreichendes Fachwissen und die notwendigen Kompetenzen verfügen. Zudem muss ihm bewusst sein, wie er dem pflegebedürftigen Menschen helfen und dadurch womöglich heilend auf dessen Gesundheitszustand einwirken kann.[29]
Alle drei Aspekte der pflegerischen Beziehung hängen eng miteinander zusammen:
• die zwischenmenschliche und persönliche Beziehung, die im Wesentlichen die Grundeinstellung des Pflegenden dem Pflegebedürftigen gegenüber umschreibt;
• die kongruente Beziehung, die das Ziel beschreibt;
• und die heilende Beziehung als positives Ergebnis der Beziehung zwischen Pflegendem und Pflegebedürftigem.
In Abgrenzung zu dieser Sichtweise, wonach die Pflege eine persönliche und zwischenmenschliche Beziehung zum Pflegebedürftigen darstellt, wird in der einschlägigen Literatur inzwischen vermehrt für das Einhalten einer gewissen Distanz innerhalb der Pflegebeziehung plädiert.[30] Dadurch sei es sowohl dem Pflegenden als auch dem Pflegebedürftigen möglich, sich selbst besser zu schützen. Ein zu starkes Mitfühlen mit den Schmerzen und Belastungen des Pflegebedürftigen können beim Pflegenden zu Gefühlen führen, die er in der Folge schwer bewältigen kann. Schützt sich der Pflegende zu wenig in seiner Rolle, sind negative Emotionen die Folge, etwa wenn er Schuldgefühle dem Pflegebedürftigen gegenüber entwickelt und an seinem pflegerischen Handeln zweifelt. Schuldgefühle wiederum können Aggressionen schüren.[31]
Der Ansicht, dass die Pflegebeziehung eine kongruente Beziehung sei, stehen vor allem das Machtgefälle und die damit verbundene Asymmetrie zwischen Pflegendem und Gepflegtem entgegen. Sie ist auch keineswegs immer eine heilende Beziehung.[30] Mitunter kann die Pflegebeziehung verletzende Ausmaße annehmen, etwa indem sie in die Privatsphäre des Patienten bzw. Bewohners eingreift, diese zumindest zu wenig achtet.[32] In diesem Kontext spielt auch die Organisationsstruktur bzw. die gelebte Kultur der konkreten Betreuungseinrichtung eine nennenswerte Rolle.[33] Eine auf Augenhöhe basierende, mitfühlende und anteilnehmende Pflege muss auch der pflegebedürftigen Person genügend Raum lassen. Diesen Ausgleich zu finden, ist eine der wesentlichen Herausforderungen der Pflege.[30]
Durch den Umstand, dass man zum Patienten wird oder aufgrund von Pflegebedürftigkeit in eine Betreuungseinrichtung übersiedeln muss, geht automatisch ein Teil der eigenen Unabhängigkeit verloren. Krankheits- oder altersbedingt ist der Patient bzw. Bewohner nicht mehr in der Lage, sich ausreichend um sich selbst zu kümmern, sondern ist dabei auf die Hilfe von Pflegenden angewiesen. Allein schon dadurch entsteht eine gewisse Abhängigkeit des Pflegebedürftigen. Er kommt unweigerlich in die Situation, dass Pflegepersonal und Ärzte eine gewisse Macht über ihn erlangen. Institutionelle Bedingungen können Machtkonstellationen zusätzlich begünstigen und die Entstehung von Aggression innerhalb der Pflegebeziehung schüren.[34]7