Vom Erdbeben
zur atomaren Katastrophe
Verlag C.H.Beck
Florian Coulmas und Judith Stalpers waren in Tokyo als in Japan die Erde bebte. Sie schildern in diesem Buch den verheerenden Verlauf des großen Bebens, analysieren, wie es zur Havarie der Reaktoren kommen konnte und beschreiben, wie Gesellschaft und Politik in Japan mit Erdbeben, Tsunami und Atomunfall umgegangen sind. Dabei lassen sie immer wieder persönliche Erfahrungen und Erlebnisse einfließen, tragen den Wissensstand der Experten zusammen und hinterfragen die Klischees der deutschen Berichterstattung. Am Ende steht die Frage nach der Zukunft und den Folgen, die die Katastrophe für das Land haben wird.
Florian Coulmas ist Direktor des Deutschen Instituts für Japanstudien in Tokyo. Bei C.H.Beck ist von ihm lieferbar: Die Gesellschaft Japans (2007), Die Kultur Japans (22009), Hiroshima (2010).
Judith Stalpers ist Japankorrespondentin der Wochenzeitschrift Elsevier und anderen niederländischen Medien.
Beide zusammen haben bei C.H.Beck veröffentlicht: Die 101 wichtigsten Fragen: Japan (2011).
Vorwort
Teil I Der Boden unter den Füßen
1 11. März 2011, 14:46 Uhr
2 Der Katastrophe erster Teil: Die Kräfte der Natur
3 Japan am Saum der Kontinentalplatten
4 In Kesennuma
Teil II «Insel des Glücks»
5 Der Katastrophe zweiter Teil: Die Kräfte der Technik
6 Ein altes Atomkraftwerk: Fukushima Daiichi
7 Warum Fukushima nicht Tschernobyl ist
8 Tepco und der Staat
9 Japans Atompolitik
10 Was sind die Alternativen?
Teil III Fukushima mon amour – Folgen und Konsequenzen
11 Gelassenheit und Disziplin
12 Hilfe für die Überlebenden in Tohoku
13 Ausländer raus!
14 Im Fokus der Medien
15 Sperrzonen um Fukushima Daiichi
16 Strahlung und Kontaminationsangst
17 Akzeptanz der Kernenergie
18 Strommangel
19 Wirtschaftliche Folgen
20 Die Krise als Chance
Anmerkungen
Liste der Abbildungen
Nachweise
Erdbeben, Tsunami und Reaktorunfall kumulierten im März dieses Jahres zu einem nie da gewesenen Desaster. Obwohl Japan viel Erfahrung mit Katastrophen hat, sprengte das Große Ostjapanische Erdbeben, wie es jetzt offiziell genannt wird, den Rahmen jeder Vorstellung. Jedes der drei Ereignisse allein hätte die Leidtragenden, den Staat und die Gesellschaft vor größte Herausforderungen gestellt, und jedes für sich ist so komplex, dass Wissenschaftler verschiedener Disziplinen herangezogen werden müssen, will man hoffen, es zu verstehen. Geologen, Seismologen und Tsunamiforscher gehören dazu ebenso wie Ingenieure, Atomphysiker, Chemiker, Umweltwissenschaftler und Katastrophen forscher. Und dann hat man die Folgen der Katastrophe noch gar nicht im Blick. Um sie richtig einschätzen zu können, vertrauen wir auf die Expertise von Ökonomen, Sozialwissenschaftlern, Psychologen, Medizinern, Strahlenschutzexperten, Kommunikationswissenschaftlern, Topographen, Verwaltungswissenschaftlern und manchen anderen. Ihre Studien werden die Wahrheit an den Tag bringen.
Daneben gibt es eine andere Wahrheit, die der unmittelbaren Erfahrung. Zwischen beiden, der wissenschaftlichen Untersuchung und dem Erlebnis am eigenen Leibe, gibt es ein gewisses Spannungsverhältnis. Dass sich etwa die japanische Hauptstadt durch das Erdbeben um 50 cm verschoben hat – die Analyse der Messdaten wird vielleicht noch Korrekturen erforderlich machen–, ist eine Erkenntnis, die für die Wissenschaft von größtem Interesse ist. In den Erfahrungsberichten derer, die zu dem Zeitpunkt im dreißigsten Stock ihr Bürogebäude schwingen fühlten, im Supermarkt Regale umstürzen sahen oder in einer Tokioter U-Bahn festsaßen, wird dieser topographische Aspekt aber kaum eine Rolle spielen, obwohl es sie im Nachhinein vielleicht interessieren wird zu erfahren, was sie da erlebt haben.
In diesem Bändchen gehen wir zwischen den beiden Wahrheiten hin und her. Mehr denn je zuvor dringen wissenschaftliche Erkenntnisse in unser Alltagswissen ein und bestimmen unser tägliches Leben. Dem können wir nicht ausweichen. Was wir jedoch können und wollen, ist, der Wissenschaft den ihr gebührenden Respekt zu erweisen. Wir schreiben über Erdbeben, Tsunami und Reaktorunfall als Zeitzeugen, die dabei waren und von den Kenntnissen vieler Spezialisten Gebrauch machen. Die Fehler, die uns dabei möglicherweise unterlaufen sind, haben wir im guten Glauben gemacht. Sie gehen allein auf unser Konto. Da wir den 11. März 2011 in Tokyo erlebt haben und nicht so bald vergessen werden, haben wir ein vitales Interesse daran, die Zusammenhänge so gut wie möglich zu verstehen. Davon und von unserer Betroffenheit ausgehend, haben wir diese Darstellung der Ereignisse in der Hoffnung unternommen, aus dem kurzen Abstand weniger Monate etwas über das fatale Zusammenspiel von überwältigenden Naturgewalten und moderner Technik mitteilen zu können. So kurz ist der Abstand, dass ein Rückblick noch gar nicht möglich ist, denn der dritte Teil der Katastrophe, der Reaktorunfall, dauert an, während dieses Buch in Druck geht. Es ist ein eindrückliches Zeichen der enormen mit der Kernenergie verbundenen Kräfte, dass die Lage in dem Kraftwerk Fukushima Daiichi auch nach einem halben Jahr noch keine Entwarnung erlaubt. Unvorhersehbare externe Einflüsse wie ein weiteres Erdbeben könnten auch jetzt noch verheerende Folgen haben.
Claus Harmer und Yuki Abe haben uns mit Recherchen und der Erstellung von Grafiken sehr hilfreich unterstützt. Ihnen sei an dieser Stelle gedankt wie auch den vielen Fachleuten und anderweitig Beteiligten, mit denen wir gesprochen haben.
Tokyo, im August 2011
F. C., J. S.
J Wird es mir schwindlig? Das Schaukeln verändert sich in ein Schütteln, und es wird heftiger, baut sich weiter auf. Ein Erdbeben, ein großes. Man weiß es sofort. Alle Feuer aus? Küchentür öffnen, damit sie sich nicht verklemmt und ich rauskomme, wenn es sein muss. Stehend in der Türöffnung, wird das Beben stärker und stärker und vor allem lauter. Die Erde grollt, wie knirschende Kieselsteine. Soll ich drinnen bleiben – und die Decke fällt mir auf dem Kopf? Soll ich rausgehen – und zwischen Haus und der Gartenmauer aus Beton eingeklemmt werden? Ich entscheide mich fürs Rausgehen. Die Erde unter mir bebt und bebt. Rechts von mir das Haus wackelt zwar sichtlich, sieht aber stabil aus. Links von mir die Mauer krümmt sich wie eine Schlange. Und das Grollen aus der Tiefe der Erde und meine ängstliche Litanei: Wann hört das endlich auf?!
F Die Blätter der Zimmerpalme in meinem Arbeitszimmer zitterten leicht, noch bevor die Ursache der Bewegung fühlbar war. Es folgte ein rollendes Geräusch, verbunden mit welchem der Boden zu wanken begann. Ich ging in meinem Zimmer auf und ab und trat schnell an den Schrank, um mir den Schutzhelm aufzusetzen, da ich fühlte, dass mehr als ein kleiner Erdstoß im Anzug war. Der Bibliothekarin auf der anderen Seite des Gangs und einem Praktikanten winkte ich zu, das Gebäude zu verlassen. Sekretärinnen und Empfangsdame bewegten sich bereits in Richtung Ausgang. Nicht den Aufzug benutzen! So schnell wie möglich über die Treppe hinab! Im Treppenhaus begann das ganze Gebäude ohrenbetäubend zu ächzen, wie ein Dampfer bei hohem Seegang. Da nicht jeder in der kleinen Gruppe gut zu Fuß war und ich hinten ging, dauerte der Abstieg in dem dröhnenden Treppenhaus seine Zeit, aber als wir unten auf der anderen Straßenseite waren, schwankte das ganze achtstöckige Gebäude. Einige Fenster, die offen waren, klappten auf und zu, auf und zu. Es dauerte eine Ewigkeit, sechs Minuten. Die anderen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter standen wie vom Schlag getroffen auf der anderen Straßenseite, die sich schnell mit anderen Menschen füllte. Manche waren so aufgeregt, dass sie Halt aneinander suchten, fast alle starrten gebannt auf ihr Mobiltelefon. Jeder versuchte, seine Familie zu erreichen.
A «Wer kann mir sagen, was ihr heute gelernt habt?» Mein Chemielehrer fragte seine übliche Frage am Ende des Unterrichts. 7 Minuten trennten uns vom Wochenende, aber wie immer sah es unser Lehrer nicht ein, uns diese paar Minütchen zu schenken. Wir fingen gerade an, mit ihm darüber zu diskutieren, dass diese Frage nicht beantwortet werden muss und dass er uns stattdessen früher ins Wochenende entlassen sollte, als jemand plötzlich sagte: «Erdbeben.» Wie üblich, wenn das jemand ruft, werden alle still, weil wir uns einbilden, besser spüren zu können, wenn wir nicht reden. Tatsächlich, es schaukelte etwas, aber nicht sehr beunruhigend. Als es schon etwa 30 Sekunden andauerte, fragte mein Lehrer: «Und, was machen wir jetzt?» «Na, alle unter die Tische, würde ich sagen», rief ich, eigentlich nur um Zeit zu schinden. Weitere 30 Sekunden später fiel der Strom aus, die Lampen im Klassenraum, der Bildschirm des Computers, das projizierte Bild auf der Leinwand erloschen, im Flur schalteten sich die Notlämpchen an und blinkten. Und unter uns schaukelte der Boden. In dem Moment des Stromausfalls realisierte ich, wie ernst es war. Bei einem normalen Erdbeben, das jeder kennt, der in Japan wohnt, fällt der Strom nicht aus. Bei einem normalen Erdbeben wackelt unser großes, erdbebengesichertes Schulhaus nicht. Der Boden wackelte so stark, wie ich es noch nie erlebt hatte. Aus Angst befahl ich meinem Sitznachbarn, komplett unter den Tisch zu kommen, nicht nur mit dem Kopf, und hielt mich an ihm fest. Hinter uns gingen die Schranktüren auf und klapperten hin und her, die Reagenzgläser klirrten, der Beamer drohte von der Decke zu fallen, und es hörte immer noch nicht auf zu wackeln. «Gleich stürzen wir und das ganze Schulgebäude in eine Erdspalte», dachte ich. Seltsamerweise dachte ich nicht, dass das Schulgebäude einstürzen könnte, sondern dass der Boden aufreißen würde und wir als Ganzes hineinfallen würden. «Schon viereinhalb Minuten», sagte jemand, der wohl die Zeit gestoppt hatte. Ich blickte abwechselnd in die Gesichter meiner Mitschüler, die ich noch nie so angespannt gesehen hatte. Ich blickte zu meinem Chemielehrer, der unter dem Tür rahmen stand und sich an ihm festhielt, um nicht umzufallen. Man sah, wie stark das Gebäude wackelte. Hin und her und hin und her. Das stärkste Erdbeben, das ich erlebt hatte, kündigte sich durch das Knarren meiner Schränke an, und ich spürte es auf dem Bett liegend. Noch nie habe ich ein Gebäude vom Erdbeben wackeln sehen.
J Fünf, sechs Minuten waren es. Stille nach dem Getöse. Stiller als sonst, kein Auto, kein Zug, alles scheint bewegungslos. Zurück ins Haus. Fernseher an. Mit lauter Stimme und rotem blinkenden Banner verkündet die bekannte Stimme des Nachrichtensprechers eindringlich eine Tsunami-Warnung. Ohne Pause wiederholt sich die Botschaft. Klar ist erst mal, dass ich und unser Haus sicher sind. Alles steht, wie es war. Nur im ersten Stock sind Bücher aus Regalen, kleinere Gegenstände runtergefallen. Aber wie geht es meinem Mann, wie meiner Tochter? Mit den Telefonen kriege ich keine Verbindung. Meine SMS werden nicht beantwortet. Was tun? Wasser. Alle Behälter, die ich finde, fülle ich mit Wasser: leere Bierflaschen, Badewanne, Eimer, Waschbecken. Taschenlampe griffbereit gelegt. Auto vollgepackt mit warmen Decken, Wasserflaschen, warmen Kleidern für uns alle drei. Und zwischendurch immer wieder versuchen, telefonisch Kontakt zu kriegen. Währenddessen warnt der Nachrichtensprecher weiter unaufhörlich vor einer Riesentsunami, gibt das Epizentrum bekannt und korrigiert immer wieder die Stärke des Bebens in den verschiedenen Regionen. Es sind beängstigende Zahlen.
F Elf Minuten nach dem Beben, wir standen noch vor dem Gebäude, erreichte mich eine SMS von meiner Tochter, die in Yokohama in der Schule war, der ich entnehmen konnte, dass sie unversehrt war. Meine Frau hingegen, von der ich nicht wusste, wo sie war, konnte ich zunächst nicht erreichen. Ich ging zurück ins Gebäude, um mich davon zu überzeugen, dass niemand mehr in den Büros war, und um meine Frau anzurufen, was mir schließlich gelang. Auch sie war in Sicherheit, und wir waren beruhigt, dass ich von unserer Tochter gehört hatte. Da das Gebäude wieder zu schwanken begann, verließ ich es, so schnell ich konnte.
A «Alter, Allllter», sagten wir immer und immer wieder in den Minuten, in denen das Erdbeben nicht aufhörte. Wir saßen fest. Man kann nichts machen, wir saßen unter den Tischen, und alles, was wir tun konnten, war Warten. Bei einem Feuer kann man noch versuchen, es zu löschen oder wegzurennen. Aber bei dem Erdbeben konnten wir uns nicht von der Stelle bewegen und nichts dazu beitragen, dass es endlich aufhörte. Langsam wurde es schwächer, bis es schließlich ganz aufhörte. Augenblicklich standen wir alle auf, packten unsere Sachen, nahmen unsere Jacken und gingen zur Klassentür. Das war das Verdienst alljährlicher Übungen. Jedes Jahr gehen wir zu Beginn des Schuljahres die Fluchtwege ab und besprechen, wie man sich in Notsituationen verhalten soll. Es war ruhig. Keiner schrie, keiner rannte. Wir waren so erschrocken, dass wir nur allmählich anfingen, miteinander zu reden. «Shiiit, wie stark war das denn?!», war einer der Sätze, die immer und immer wiederholt wurden. Wir konnten es nicht fassen. Auf dem Weg nach draußen begegneten wir unserem Schulleiter, selber vor Schock ruhig, der uns angab, uns auf dem Fußballplatz zu versammeln, während er noch durch die Schule ging und alle Klassenräume kontrollierte. Wir waren eine der ersten Klassen draußen auf dem Schulhof und bewegten uns zu unserem «Notplatz» auf dem Fußballfeld. Nach und nach strömten die Klassen aus dem Schulgebäude und taten es uns gleich, stellten sich in Reihen auf dem Platz auf – die Ältesten ganz hinten, die Jüngsten ganz vorne. Die Lehrer versuchten, eine ruhige Miene aufzusetzen, doch auch ihnen war der Schock anzusehen. Um den Schulleiter herum versammelte sich die Verwaltung, mit Radio und Megaphon ausgestattet, um einerseits die Nachrichten zu verfolgen, andererseits Anweisungen geben zu können. In allen Klassen wurde die Anwesenheit der Schüler abgecheckt, und die Klassensprecher liefen zum Schulleiter, um die Listen abzugeben. Auch ich lief zu ihm, um die Anwesenheitsliste abzugeben.
Zurück bei meiner Klasse, ging es erneut los, der Boden fing wieder an, sich unter uns zu bewegen. Nun, da wir draußen waren, wusste ich, es kann nichts auf unsere Köpfe fallen, das gab mir ein Gefühl der Sicherheit, doch es wackelte so stark, dass ich mich hinsetzte. Wir wurden hin und hergeschoben und konnten beobachten, wie die Gebäude um uns herum wackelten.
Trotz dieses starken Erdbebens ist nichts beschädigt worden. Also gingen wir davon aus, dass wir alle bald nach Hause könnten. Einige von uns hatten freitags in der neunten und zehnten Stunde noch Sport. Ich wurde gefragt, ob wir noch Sport hätten. Wir erwarteten, dass in spätestens 15 Minuten der Normalzustand einkehren würde, dass wir alle nach Hause gehen könnten, und hofften, dass wir wenigstens keinen Sport hätten.
J Endlich, ich weiß nicht genau wann, erreicht mich mein Mann. Er ist in Sicherheit, und er kann mir auch sagen, dass unsere Tochter sicher in ihrer Schule ist. Nun kehrt in mir eine gewisse Ruhe zurück, und ich höre auf mit meinen hektischen Notmaßnahmen. Schaue mir die Fernsehbilder an. Grausam. Live verfolgen Fernsehhubschrauber die Tsunami. Ein weißer Streifen kriecht übers Meer Richtung Land, um dann auf die Küste zu prallen und sie mit aller Gewalt zu überfluten. Ich sehe Menschen vor der Welle fliehen und es nicht schaffen. Ich sehe, wie Wohnviertel und Bauernland überschwemmt werden, wie wegfahrende Autos in der Welle verschwinden. Eine Riesenkatastrophe! Auch das weiß man sofort. Die Berichterstattungen ins Ausland fangen sofort an und werden mir die Nacht rauben. Man spricht einstweilen noch von 14 Toten, aber man weiß, dass diese Zahl verschleiert, was sich in Nordjapan zugetragen hat. Nachbeben und andauernde Tsunami-Warnungen verhindern sofortige Rettungsmaßnahmen. Das macht einen fassungslos. Als der Premierminister abends den Ausnahmezustand um das Kernkraftwerk Fukushima Daiichi verkündet, bangt man um Japan. Der Naturkatastrophe ist eine von Menschenhand induzierte Katastrophe gefolgt. Es ist furchtbar, aber wir sind selbst schuld. Als unsere Familie nach etwa sieben Stunden wieder vereint ist, kehrt ein Satz in unserem Gespräch immer wieder: Wir haben wirklich Glück gehabt.
F Alle Mitarbeiter/innen des Instituts waren unversehrt. Für drei von ihnen war der Nachhauseweg zu Fuß zu weit. Sie verbrachten die Nacht in einer Notunterkunft. Ich selber machte mich zu Fuß auf den Weg, zunächst gemeinsam mit drei Mitarbeiter/innen. Ganz Tokyo ging zu Fuß. Die Menschen bewegten sich ruhig vom Stadtzentrum in alle Richtungen. Es machte sich sofort eine Stimmung der Solidarität bemerkbar, die sich in allgemeine Zuvorkommenheit und Freundlichkeit übersetzte. Es war etwas Unerhörtes geschehen. Der Nachhauseweg war lang – 18 km, wie ich später feststellte, aber der Himmel war blau, und die Erfahrung, dass die Strecke auch zu Fuß zurückgelegt werden konnte, war gar nicht schlecht. Wegen der ungeheuerlichen Stärke des Bebens war ich überrascht, dass unterwegs praktisch keine Schäden zu sehen waren. Hier und da ein Riss in der Wand und abgebröckelter Putz, aber die ganzen Hochbauten schienen unbeschädigt zu sein. Nur einmal sah ich im Osten der Stadt eine riesige Wolke aufsteigen, ein bedrohliches Zeichen. Nach etwas mehr als drei Stunden zu Hause angekommen, zunächst große Erleichterung, da meiner Frau nichts zugestoßen war; dann ungeduldiges Warten auf unsere Tochter. Während wir auf sie warteten, verfolgten wir die beängstigenden Nachrichten im Fernsehen. Es war nach 10 Uhr abends, als sie nach Hause kam. Die Beklemmung war vorbei, für uns.
Abb. 1 SMS nach dem Beben
A Die Hausmeister brachten Decken, weil es angefangen hatte zu regnen und wir noch draußen auf dem Schulhof saßen. Ich schaute auf die Uhr. Es war halb fünf. Eineinhalb Stunden waren bereits vergangen. Ich hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Es hätten genauso gut zehn Minuten gewesen sein können. Die Decken wurden verteilt, und wir wärmten uns gegenseitig. Plumpsklos wurden in Zelten aufgebaut, weil auch die Wasserleitungen nicht mehr funktionierten.
Als es zu dämmern begann, durften wir zurück ins Schulgebäude. Alle sollten ihre Taschen in der Mensa abstellen und sich dann in der Aula versammeln. Einige heulten, andere rannten herum und lachten. Der Schock und Stress versetzte jeden in einen anderen Zustand. Wir setzten uns in Klassenverbänden in der Aula auf unsere Decken und warteten. Es wurde dunkel, und wegen des Stromausfalls versorgte eine Notlampe die gesamte Aula. Ich hatte versucht, über mein iPhone Kontakt zum Wifi unserer Schule zu bekommen, doch es war ja Stromausfall. Etwa eine Minute nach dem Erdbeben hatte ich eine SMS sowohl an meinen Vater als auch an meine Mutter geschrieben. Doch ich war mir bewusst, die Handynetze würden überfüllt sein. Als ich nach zwei Stunden immer noch keinen Kontakt aufbauen konnte, stieg meine Sorge stetig. Mein Vater umgeben von Glasfenstern in seinem Büro, meine Mutter zu Hause wahrscheinlich vor dem Schreibtisch mit kiloschweren Bücherregalen im Rücken. Ich hoffte einfach, dass bei ihnen genauso wenig passiert war wie bei uns in der Schule. Schließlich kam mir die Idee, dass ich noch die 3G-Funktion auf meinem Handy hatte – wieso hatte ich vorher nicht daran gedacht? –, und schickte meiner Mutter eine E-Mail. Alle fünf Minuten rannte ich aus der Aula, um Empfang zu kriegen und meine Mails zu checken. Erst eine Stunde später, um sieben Uhr, erhielt ich eine Antwort. Meine Mutter war wohlbehalten zu Hause und mein Vater auf dem Weg. Und wir? Wir saßen immer noch in der Aula und warteten darauf, endlich nach Hause zu können. Einige hörten Radio und verfolgten die Nachrichten. Wir hatten angefangen, Karten zu spielen, und andere bauten eine Leinwand auf, um einen Film zu zeigen. Schließlich hatten wir Fünft- und Sechstklässler unter uns, die beschäftigt werden mussten. Inzwischen wurden Wasser und die Ration an Erdbebenfutter verteilt: Kräcker, die nicht verderben können. Einige von uns stahlen sich weg und liefen zum Convini, um Essen und Trinken zu kaufen. Von wegen – die Convinis waren zwar geöffnet, doch bereits ausverkauft.
Die Zeit schlich voran, es wurde acht Uhr, halb neun, neun. Immer wieder wackelte die Aula, doch nie so schlimm wie vor einigen Stunden. Trotzdem waren wir aufmerksam wie noch nie. Das Adrenalin hielt uns wach.
Die Verwaltung versuchte, die Busse bald losfahren zu lassen. Doch keiner wusste: Würde noch einmal so ein starkes Erdbeben kommen? Wenn ja, wären wir alle sicherer in der Schule. War Stau auf der Autobahn zwischen Yokohama und Tokyo? Wir wurden ungeduldig. Die Schüler, deren Eltern sie abholen konnten, durften gehen. Alle anderen mussten bleiben, weil auch der Bahnverkehr ausgefallen war. Oberstufenschüler, die in der Nähe wohnten, durften ebenfalls gehen. Doch die meisten von uns wohnen in Tokyo, wir waren vom Bus abhängig. Schließlich kam die Mutter eines Mitschülers, der bei uns in der Nähe wohnte, und bot an, mich mitzunehmen. Auf dem Weg nach Hause wackelte es immer wieder, und manchmal fragte ich mich, ob ich nicht doch lieber in der Schule geblieben wäre. Um zehn Uhr kam ich an und fand meine Eltern beim Abendessen vor. Endlich zu Hause.
Die am 11. März 2011 entfesselten Naturkräfte haben die Seismologen erstaunt, denn ein so gewaltiges Seebeben ist selten, und in Tohoku, vor der nordöstlichen Küste der japanischen Hauptinsel Honshu, hatten sie damit nicht gerechnet. Zwei Tage zuvor, am 9. und 10. März, ereigneten sich in der Region 23 Erdbeben der Magnitude 5 und stärker, aber niemand erkannte sie als Vorboten des Großen Ostjapanischen Erdbebens.
Am 11. März um 14 Uhr 46 begann das stärkste Erdbeben Japans in historischer Zeit. Das Epizentrum lag 370 km nordöstlich von Tokyo vor der Küste von Miyagi. Die Seismologen hatten dort ein Beben zwischen 6,8 und 8,2 für möglich gehalten, aber nicht ein solches der Magnitude 9. Es entstand dadurch, dass sich die Spannung entlud, die durch den dauernden Druck der pazifischen Seeplatte auf die nordamerikanische Landplatte, auf der Nordostjapan liegt, aufgebaut wird (JMA 2011). Im Normalzustand kommt es durch diesen Druck zu einer stetigen Absenkung der Landplatte, wobei sich dieser Teil Japans langsam in westlicher Richtung verschiebt. Wenn der akkumulierte Druck aber zu groß wird, entsteht ein Rückprall, der eine Wiederanhebung der Landplatte verursacht und dadurch eine Tsunami auslöst, wie in Abbildung 2 dargestellt. Seismologen der Tohoku-Universität maßen eine Aufwölbung des Meeresbodens vor der Küste von 5 m, während die Landplatte absackte.
Im gegebenen Fall brach dabei innerhalb von weniger als drei Minuten ein Erdsegment von geschätzten 400 bis 500 km Länge und 200 km Breite ab, das bis in 25 km Tiefe reichte. Der betroffene Teil der Insel Honshu rutschte dadurch etwa 4 m nach Osten, während der Meeresboden um 5 bis 7 m angehoben wurde. Die durch diese gewaltige Erdverschiebung ausgelöste Tsunami nahm riesige Ausmaße an. Eine Simulation berechnete eine Höhe von 20 Metern (Fujii und Sataka 2011). Die Messgeräte funktionierten und lösten nur drei Minuten nach dem Beben den Tsunami-Alarm aus, der aus allen städtischen Lautsprechern ertönt, über alle Radio- und Fernsehsender ausgestrahlt und auf private Mobiltelefone geschickt wird. An einigen Orten hatte das Erdbeben jedoch die Stromversorgung unterbrochen, so dass die Systeme ausfielen. Die Bevölkerung wurde mit Glocken gewarnt, Feuerwehrleute gingen von Tür zu Tür. Da das Erdbeben auch an Land extrem stark gefühlt wurde, erwarteten die Menschen eine Tsunami-Warnung. Die vom Epizentrum nur 130 km entfernten Gemeinden an der Küste erreichte die Tsunami schon 15 Minuten nach dem Beben. Für eine Evakuierung auf höher gelegenes Land ist das nicht viel Zeit, es besteht aber kein Zweifel daran, dass das Frühwarnsystem vielen Menschen das Leben gerettet hat. Wie vielen, weiß freilich niemand.
Abb. 2 Entstehung einer Tsunami nach einem Seebeben (nach Abteilung für Geowissenschaften, Universität Shizuoka)
Von Hubschraubern der Polizei, der Verteidigungskräfte und der Fernsehsender wurde die Tsunami an manchen Orten aufgenommen, und die furchterregenden Bilder wurden zum Teil live ausgestrahlt. In den in aller Welt verwendeten Wiederholungen wurden dann die Passagen ausgeblendet, in denen Menschen ums Leben kamen. Aus sicherer Entfernung wurden Aufnahmen mit privaten Videokameras gemacht, die der Öffentlichkeit in kürzester Frist über das Internet zugänglich waren. Ein ungeheurer Mahlstrom drang in die Hafenstädte ein, überspülte Deiche und Hafenmauern oder riss sie einfach hinweg. Ganze Dörfer wurden weggespült, landwirtschaftliche Anbauflächen über Hunderte von Quadratkilometern unter Wasser gesetzt. Fischereiflotten wurden vernichtet, Schiffe aufs Land geworfen. Nachdem sich die erste Flutwelle zurückgezogen hatte, folgten noch zwei weitere, was sich im Nachhinein in vielen Gebäuden an drei Wasserlinien ablesen ließ. Die Tsunami war 10 bis 15 m hoch, an manchen Orten wie z.B. Miyako erreichte sie eine Höhe von über 30 m, viel höher als alle Wälle und Deiche entlang der Küste, auch die keilförmige Schutzmauer vor dem Atomkraftwerk Fukushima Daiichi.
Da das Erdbeben auch in Tokyo überall stark fühlbar war und die Bilder von der sich ins Land fressenden Tsunami die Hauptstadt praktisch sofort erreichten, war die Regierung unverzüglich darüber informiert, dass sich eine große Naturkatastrophe zugetragen hatte. Premierminister Kan war zur Zeit des Erdbebens im Oberhaus des Parlaments. Schon um 14 Uhr 50 – als die Erde noch mit voller Wucht bebte – wurde er aus dem Rechnungsausschuss geholt, und dessen Sitzung unterbrochen. Um 15 Uhr 07, noch bevor die Tsunami die Küste erreicht hatte, befand er sich bereits im Katastrophenzentrum in seinem Amtssitz und leitete eine Sitzung des Krisenstabs, während die Ereignisse vor aller Augen ihren fatalen Lauf nahmen. Die Tsunami-Warnung und die unaufhörlichen Nachbeben – 73 mit einer Magnitude über 6,0 und fünf größer als Magnitude 7,0 – ließen ein sofortiges Eingreifen im Katastrophengebiet freilich nicht zu.
Abb. 3 Vorbeben und Nachbeben in Tohoku, 5.3. bis 9.4.2011; Vertikale: Magnitude, Horizontale: Datum. Quelle: Seismisches Forschungsinstitut, Universität Tokyo
Man begann dennoch sehr bald damit, die angerichteten Schäden zu erfassen. Trotz der vielen Bilder, die einen unmittelbaren Einblick eröffneten, erwies sich das wegen des Ausmaßes der Verwüstung als äußerst schwierig und blieb es wochenlang, da über weite Strecken alle Infrastruktureinrichtungen zerstört, Brücken kollabiert, Straßen entweder unterbrochen oder durch Trümmer unpassierbar waren und Strom-, Telefon-, Wasser- und Gasleitungen nicht mehr funktionierten.
Die Opferstatistik in Tabelle 1 lässt deutlich werden, wie schwierig es anfangs war, exakte Angaben zu machen. Die Zahl der Toten war zunächst zweistellig und wurde am Abend des Bebens mit 133 angegeben. Es gab 722 Verletzte, und 530 Menschen waren als vermisst gemeldet. Bis Ende April verhundertfachte sich die Zahl der Toten, was aber auch noch kein akkurates Bild ergab. Bis zum 3. April stieg die Zahl der Toten und die der Vermissten, vom 4. April an jedoch ging Letztere kontinuierlich zurück, während Erstere weiter stieg. Die Zahl der Toten beinhaltet nur gefundene Leichname. Auch am 11. Mai, genau zwei Monate nach der Tsunami, betrug die Zahl der Vermissten noch mehr als 11.000, was freilich nicht bedeutete, dass mit ihrem Überleben gerechnet wurde. Vielmehr wird man viele Opfer dieser Katastrophe niemals finden. Die bei Weitem meisten wurden von der Tsunami ins Meer gezogen. Angespülte Leichen sind in Massengräbern beigesetzt worden, weil sie nicht identifizierbar waren und um der Seuchengefahr vorzubeugen. Für die Angehörigen ist das besonders hart, weil ihnen nichts bleibt, um ihrer Toten zu gedenken. Hier zeigt sich ein großer Unterschied zwischen dem Großen Ostjapanischen Erdbeben und dem Erdbeben 1995 in Kobe, wo es sehr viel mehr Verletzte gab und alle Opfer identifiziert wurden. In Tohoku gab es kaum Verletzte. Es war fast ausschließlich die kolossale Kraft der Tsunami, die Menschenleben forderte und ungeheuren Sachschaden anrichtete.
Weiterhin lässt die Tabelle erkennen, mit welcher Geschwindigkeit auf manchen Gebieten Maßnahmen zur Bewältigung des Notstands getroffen wurden. Drei Tage nach dem Erdbeben waren beinahe 600.000 Menschen in Notunterkünfte geflohen. Innerhalb von sechs Wochen verringerte sich diese Zahl auf ein Viertel. Manche Menschen konnten in ihre Häuser zurückkehren, nachdem sie sich von ihrer Sicherheit überzeugt hatten. Andere kamen bei Verwandten und Freunden unter, viele suchten in öffentlichen Gebäuden und anderen provisorischen Unterkünften Schutz, wohin in großer Eile Matratzen, Decken, Lebensmittel und Wasser transportiert werden mussten. Naturkatastrophen treffen Japan nicht unvorbereitet, obgleich das Große Ostjapanische Erdbeben Dimensionen hatte, die für alle Betroffenen neu waren. Was zu tun war, wusste man, aber nicht überall auf dem ländlichen, total verwüsteten langgestreckten Küstenstreifen waren Hilfeleistungen sofort möglich. Solche wurden auch durch die intensive seismische Aktivität nach dem großen Beben erschwert. Im ersten Monat seit dem 11. März hat es in der Region nicht weniger als 500 Nach beben der Magnitude 5 oder mehr gegeben, viele davon so stark, dass die Menschen selbst aus den Notunterkünften wieder evakuiert werden mussten.
Datum |
Tote |
Vermisste |
Verletzte |
in Notunterkünften* |
11.03.2011 |
133 |
530 |
722 |
|
12.03.2011 |
686 |
642 |
1426 |
|
13.03.2011 |
1597 |
1481 |
1923 |
|
14.03.2011 |
1897 |
3002 |
1885 |
570.000 |
15.03.2011 |
3373 |
7558 |
1990 |
520.000 |
16.03.2011 |
4314 |
8606 |
2282 |
430.000 |
17.03.2011 |
5692 |
9522 |
2409 |
410.000 |
18.03.2011 |
6911 |
10.692 |
2611 |
400.000 |
19.03.2011 |
7653 |
11.746 |
2583 |
335.000 |
20.03.2011 |
8450 |
12.909 |
2701 |
338.000 |
21.03.2011 |
9079 |
12.645 |
2633 |
310.000 |
22.03.2011 |
9199 |
13.786 |
2722 |
265.000 |
23.03.2011 |
9523 |
16.094 |
2755 |
258.000 |
24.03.2011 |
9811 |
17.541 |
|
250.000 |
25.03.2011 |
10.102 |
17.053 |
2777 |
250.000 |
26.03.2011 |
10.489 |
16.621 |
2777 |
244.000 |
27.03.2011 |
10.804 |
16.244 |
2776 |
|
28.03.2011 |
11.004 |
17.339 |
|
180.000 |
29.03.2011 |
11.168 |
16.407 |
2778 |
180.000 |
30.03.2011 |
11.362 |
16.290 |
2872 |
170.000 |
31.03.2011 |
11.532 |
16.441 |
|
172.000 |
01.04.2011 |
11.734 |
16.375 |
|
166.279 |
02.04.2011 |
11.938 |
15.478 |
|
164.244 |
03.04.2011 |
12.087 |
15.552 |
|
161.643 |
04.04.2011 |
12.259 |
15.315 |
|
166.237 |
05.04.2011 |
12.431 |
15.153 |
|
163.008 |
06.04.2011 |
12.554 |
15.077 |
|
160.625 |
07.04.2011 |
12.690 |
14.736 |
|
157.600 |
08.04.2011 |
12.787 |
14.991 |
|
154.234 |
09.04.2011 |
12.915 |
14.921 |
|
153.680 |
10.04.2011 |
13.013 |
14.608 |
|
151.115 |
11.04.2011 |
13.130 |
13.718 |
|
145.565 |
11.05.2011 |
14949 |
9880 |
|
117.085 |
11.06.2011 |
15413 |
8069 |
|
88361 |
*Insgesamt 2383 Notunterkünfte