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… ich habe mir nie groß Gedanken darüber 
gemacht, wie mein Leben einmal aussehen 
würde. Und selbst wenn – meine Vorstellung 
wäre ohnehin nie Wirklichkeit geworden.

Ein Sprichwort aus Bakul besagt: ›Mach nie 
zu große Pläne, der Morgen wird etwas ganz 
anderes bringen.‹

Doch auch wenn du auf alles gefasst zu sein 
glaubst: Wenn es eintrifft, bist du doch nicht 
vorbereitet …

Der Beginn

Es war einer jener stürmischen Tage im November. In Elindor herrschte klirrende Kälte. Felder und Wege lagen unter einer dicken Schneedecke und auf den hohen Stadtmauern versperrte eine Eisschicht den Soldaten ihren üblichen Patrouillenweg. Im kalten Dunst konnte man die nächstgelegenen Berge bereits nicht mehr erkennen und es war schwierig, eine klare Grenze zwischen See und Himmel auszumachen, die grau in grau inein­anderflossen und gelegentlich durch dicke Nebelschwaden verschluckt wurden.

Allmählich brach die Nacht an, und während ein Licht nach dem anderen im Schloss Siramon hoch über Elindor erlosch und es wie ein Gespenst in der Dunkelheit verschwand, begegnete man nur selten Wachen, die ihre Runden zogen, obschon die Sicherheitsvorkehrungen vor geraumer Zeit verschärft worden waren.

Es war lange nach Mitternacht, als im höchsten der fünf Türme vier Männer in langen, schweren Umhängen aus dem dunklen Korridor in einen schwach beleuchteten Raum traten. Der Letzte von ihnen schloss die Tür hinter sich zu. Seine Hand zitterte leicht, als er sie vom Türknauf nahm. Mit sorgengefurchter Stirn gesellte er sich zu den beiden anderen Männern, die stehen geblieben waren. Ihre Blicke folgten dem Vierten, der jetzt mit lautlosen Schritten, eingehüllt in einen pechschwarzen Umhang, den langen Tisch umrundete. Seine Gebärden waren nicht die eines gewöhnlichen Mannes. Seine Bewegungen waren verwirrend schnell und geschmeidig. Irgendetwas an ihm machte jeden, der in seiner Nähe war, unruhig: Man hatte das unangenehme Gefühl, in die Enge getrieben worden zu sein; eine unheimliche, eine unerklärliche Angst saß einem im Nacken, sodass niemand es ertragen hätte, allein mit ihm in einem Raum zu sein.

Er blieb hinter dem schweren Holztisch ebenso geschmeidig wie abrupt stehen und zog etwas aus seinem Umhang hervor. Weiße Kerzen warfen ein züngelndes Licht an die hohen Wände und erhellten in ihrem flackernden Schein die vielen Bilder und Bücherregale.

Der Raum war luxuriös ausgestattet. Prächtige, mit samtenem Stoff bezogene Stühle standen um den mächtigen Holztisch, wertvolle Gegenstände glänzten auf polierten Möbeln. Die Wände waren hoch, die Decke leicht gewölbt. Feine Stuckaturen schlängelten sich in einem ziselierten Muster über die gesamte Länge des Raums und schwere, dunkelrote Vorhänge bedeckten große Fenster, die bis zum Boden hinunterreichten.

Die Minuten verstrichen. Nur ein gelegentlich verhaltenes Hüsteln war zu hören, ansonsten war es still. Die bleichen Finger des Herrn schlossen sich um einen grünlich schimmernden Stein, den er verdeckt in der Hand hielt, während das flackernde Licht dunkle Schatten unter seine Augenlider warf.

Die drei offensichtlich in die Jahre gekommenen, leicht gebeugt dastehenden Männer schienen allmählich ungeduldig zu werden, aber der Vierte machte keine Anstalten, sich ihnen zuzuwenden oder den Blick von dem zu heben, was seine Hand verbarg. Es schien ihn nicht zu stören, dass sie alle paar Minuten verstohlen auf die Standuhr blickten. Allem Anschein nach war er in seinen Gedanken mit etwas beschäftigt, das ihn beunruhigte; Wichtiges schien sich in seinem Kopf abzuspielen und ihn ganz zu vereinnahmen.

Doch obwohl die drei Männer die Anspannung fast nicht mehr aushielten, blieben sie stumm. Keiner wagte, die Gedanken ihres Herrn zu unterbrechen. Sie hatten schon den ganzen Tag gewartet; jetzt konnten sie diese Minuten, ehe sie es erfahren würden, auch noch ausharren. Und während sie gleichermaßen verzweifelt wie ergeben an seinem bleichen Gesicht hingen, erhob sich unten im Hof wütendes Gekläff. Ein Tor wurde geöffnet, ferne Stimmen drangen zu ihnen hoch. Dann herrschte wieder Stille.

Zornig ließ der Herr nun einen Blick über das Pergament schweifen, das er aus dem Inneren seines Umhangs zog. Auf der Rückreise hatte er es immer und immer wieder durchgelesen. Doch es gab keine Zweifel – die Lage war eindeutig und er musste handeln.

Der lange Zeiger rückte auf die volle Stunde und die Uhr schlug mit einem hellen Klang drei Mal. Als die Spannung dem Zerreißen nahe war, durchbrach schließlich eine zittrige Stimme die Stille.

»Herr, wir sollten noch warten …«, wisperte einer der älteren Männer und verstummte sogleich, als er die Kälte in den Augen des Herrn sah. Er schlug die Augen nieder, verlor den Faden und der Satz endete in einem jämmerlichen Stottern. Verstört blickte er auf das glänzende Braun der Tischplatte und fuhr dann schließlich sichtlich angestrengt fort: »W-wir s-sollten kei-keine voreiligen …« Wieder brach er ab, irritiert und verängstigt von dem Blick, den er auf sich haften spürte.

»Hat sie denn niemand gefunden!«, donnerte der hohe Herr mit schneidender Stimme. »Es sollte doch nicht so schwer sein, diese Frau ausfindig zu machen!« Seine Kiefermuskeln spannten sich, während sein harter Blick erneut die Schrift des Pergaments fixierte.

Der Mann, der zu sprechen gewagt hatte, sackte zitternd in sich zusammen.

»Es ist ja nicht so, dass sie gewöhnlich ist!«, fuhr der Herrscher leise, doch mit nicht minder schneidender Stimme fort. »Ihre Schönheit fällt noch jedem Tölpel auf!«

»Fürwahr, Herr«, meldete sich der offenbar Älteste zu Wort. Er hatte schneeweißes, kurz geschnittenes Haar. Seine Stimme klang hoch und leicht hysterisch. »Es heißt, sie sei so schön, dass man meine, Sonne, Mond und Sterne gleichzeitig am Firmament zu sehen.« Einen Moment irritiert von dem lodernden Blick des Herrn auf seinem Gesicht, fuhr er zögernd fort: »Das ganze Land sucht nach ihr, aber sie scheint wie vom Erdboden verschwunden …«

»Vom Erdboden verschwunden …«, zischte der Herr und ließ ein leises, hasserfülltes Lachen folgen.

Dann herrschte wieder erbitterte Stille. Keiner der drei Männer wagte es mehr, das Wort zu erheben. Sie hatten das heftige Pulsieren an der Schläfe ihres Herrn bemerkt; es war nicht ratsam, den Herrn, den König herauszufordern.

Nach mehreren tiefen Atemzügen schaute er in die versammelte Runde. Einen nach dem anderen betrachtete er mit seinen lodernden Augen, dann zuckte es abermals heftig an seiner Schläfe und er wandte sich von ihnen ab. Sein dunkler Umhang strich über den Boden, als er sich dem Gemälde zudrehte, das hinter ihm an der Wand in einem dunklen, schweren Rahmen hing. Es war das Bild eines Mannes. Auch er hatte sehr bleiche Haut und rabenschwarzes Haar und, wenn man den Farben Glauben schenken konnte, außergewöhnlich dunkle Augen. Noch dunklere als die des Königs, obwohl das beinahe nicht möglich schien.

Man hatte diesen Mann im Königreich jedoch noch nie gesehen und keiner wusste, wer er war oder was dieses Bild hier im Schloss zu suchen hatte. Den Mut dazu, den König danach zu fragen, hatte bisher niemand aufgebracht. Das Bild war jedoch keinem im Schloss geheuer, weder den Soldaten noch den Beratern des Königs, und schon gar nicht den Dienstmädchen. Sie alle waren sich einig: Es verbreitete eine düstere Stimmung und am liebsten hätten sie es weggeschafft. Aber König Saahrrin schien äußerst viel von dem Bild zu halten. Oft hatte er minutenlang auf das Gemälde gestarrt, tief in Gedanken versunken, und dann plötzlich Entscheidungen getroffen, die eigentlich lange und reiflich überlegt sein wollten. Das Bild, so schien es, hatte auf ihn eine enorme eingebende Wirkung.

Die drei Männer warfen sich abwechselnd nervöse Blicke zu und starrten dann wieder auf den reglosen Rücken ihres Königs, der wie ein abweisendes Brett zu ihnen gerichtet war.

Er hatte müde ausgesehen, als er das Schloss betreten hatte, müde und abgekämpft, seine Gesichtsfarbe war bleich gewesen – noch bleicher als sonst. Während Stille und Dunkelheit miteinander zu verschmelzen schienen und die Kerzenreste kaum mehr Licht spendeten, hob er schließlich den Kopf und straffte seine Schultern.

Seine Stimme war leise, beinahe ein Flüstern, doch jede Silbe unmissverständlich klar und deutlich: »Die Elfen sind nicht bereit zu verhandeln … Wir haben keine andere Wahl.«

»Aber Herr!« Der Mann mit den schneeweißen, kurz geschnittenen Haaren stockte und fasste sich vor Schreck ans Herz, dann schluckte er krampfhaft und fuhr schließlich tapfer fort: »Wir haben keine Chance gegen dieses Volk! Die Elfen werden uns mit einem einzigen Zauber vernichten!«

König Saahrrin drehte sich mit einem Schwung seines Umhangs um und sah ihm ins Gesicht. »Meint ihr wirklich, ich hätte nicht daran gedacht?« Seine Stimme war eisig kalt und fuhr wie eine messerscharfe Klinge durch die gespannte Stille.

Mit Mühe unterdrückten die drei Männer ihr Schaudern.

»Glaubt ihr allen Ernstes, ich würde diesen Pakt eingehen, wenn ich eine andere Wahl hätte?«

»Aber, Herr … bitte verzeiht … gewiss … Aber, die Elfen … Es ist unmöglich …«

»Unmöglich?« Sein Blick war kalt glühend. »Zweifelt ihr meine Macht an?!«

»Aber nein, Herr! Niemals, Herr! Doch die Elfen …« Die Finger des Alten krallten sich in den Stoff, während er versuchte, diesem Blick standzuhalten. »Sie … sind u-unbesiegbar.« Seine Stimme versagte.

»J-ja«, meldete sich der mit dem längsten Bart zu Wort. »Entschuldigt, mein König …« Auch ihm schien es ernsthafte Schwierigkeiten zu bereiten, dem Herrn zu widersprechen, »doch … ein einfacher Mensch kann niemals gegen einen Elfen ankommen …« Seine Stimme wurde immer dünner und sein Blick sank auf die glänzende Tischoberfläche, in der sich sein Gesicht verzerrt widerspiegelte. »N-nicht e-einmal H-Hunderte könnten einen E-Einzigen besiegen …«

Der Dritte, der bis jetzt geschwiegen hatte, nickte eifrig mit dem Kopf, wagte es jedoch nicht, etwas zu sagen oder den Blick von der Stuhllehne zu heben, die er wie besessen anstarrte.

Saahrrins Kiefermuskeln zuckten, dann zwickte er sich mit dem Finger in die Nase.

»Ich sage ja auch nicht, dass wir Menschen allein gegen die Elfen kämpfen werden.«

Er bedachte seine Berater mit einem kurzen, durchdringenden Blick, zerknüllte das Blatt Pergament und warf es in eine Ecke. Verunsichertes Gemurmel erhob sich und ratlose Blicke wurden getauscht, doch der König sagte nichts weiter. Er fuhr zärtlich über den kleinen Gegenstand in seiner Hand, während sich der Ausdruck in seinem Gesicht plötzlich veränderte.

»Aber Herr … Was meint ihr?«

Die ohnehin schon versteiften Gliedmaßen der alten Männer verkrampften sich erneut. Sie waren es zwar gewohnt zu warten, fühlten sich ständig in seiner Gegenwart verunsichert und konnten sich aus seinen Sätzen keinen Reim machen – aber diese Äußerung verwirrte sie allesamt über alle Maßen.

Der König fuhr über das silberne Abzeichen, das auf seine Brust gestickt war. Als er wieder hochsah und in die ratlosen Gesichter seiner Berater blickte, schien er seine Worte mit Bedacht zu wählen.

»Die Schirkans werden uns unterstützen«, sagte er leise, und obwohl seine Stimme jetzt sanft war, fiel alle Beherrschung von den Beratern ab und ihre Gesichter zeigten schieres Entsetzen – er hätte genauso gut sagen können, er verhandle mit dem Teufel und verschenke ihm ihre Gliedmaßen.

»Die Schschirkans?«, stieß der Mann mit dem langen Bart hervor und griff ebenfalls nach einer Stuhllehne, um sich daran abzustützen.

»Ja«, sagte König Saahrrin schlicht und ging lautlos zum Bücherregal, das zu seiner Linken stand. Seine langen, bleichen Finger glitten über die dicken Bücher und hielten bei einem besonders breit gebundenen Exemplar inne.

»Herr … bei allem Respekt …«, ertönte eine verzagte Stimme hinter ihm, »Herr, Sie können die Schirkans nicht um Hilfe bitten …«

»Nein?« Saahrrins Lippe zuckte.

»Herr, b-bitte versteht mich nicht falsch, aber würden wir uns auf einen Handel mit ihnen einlassen, wären wir zu ewiger Verdammnis verflucht!«

Saahrrin drehte sich mit hochgezogenen Augenbrauen um.

»Adrilan, was denkt ihr, woher wir die Morlaks haben?«

Der letzte Rest an Farbe wich schlagartig aus Adrilans Gesicht und seine Augenlider begannen nervös zu zucken.

»Und, sind Sie seither dem Teufel begegnet? Oder sind sonst irgendwelche Albträume Realität geworden?«

Adrilans Kopf schwankte hin und her, sein Gesicht weiß wie die Kerze, die neben ihm heftig flackerte.

»Sehen Sie? Es ist alles eine Frage von Beziehungen«, sagte Saahrrin lapidar, wandte sich wieder dem Regal zu und zog das breite, in Leder gebundene Buch heraus. Er legte es mit einem dumpfen Knall auf die frisch polierte Tischfläche, ließ sich auf dem größten der samtbezogenen Stühle nieder und begann darin zu blättern.

Plötzlich erfüllte ein Röcheln den Raum. Mit beiden Händen zerrte Adrilan an seinem Kragen, während nur noch stoßweise Luft aus seiner Kehle drang.

»Adrilan!« Binnen einer Sekunde war Saahrrin bei ihm und half ihm auf den Stuhl.

»E-es, es t-tut mir leid, Herr … es ist nur … der Sch-Schock …«

Saahrrin beugte sich langsam zu ihm hinunter. Er sprach ganz leise und obwohl seine Stimme sanft war, begannen sich Adrilans Augen vor Schreck zu weiten.

»Herr …«, flüsterte er atemlos, verstummte jäh und blickte ausdruckslos geradeaus.

Saahrrin wandte sich ab und der alte Mann sackte kraftlos auf dem Stuhl zusammen.

»Bringt ihn in sein Gemach! Er braucht Ruhe!«, befahl er mit kalter Stimme.

Die Berater eilten mit Adrilan rasch hinaus und schlossen dann eilig die Tür hinter sich zu.

*

Viele Meilen vom Schloss entfernt, weit hinter dem verschneiten Gayenorgebirge, erhellten im Mandoriawald grelle Lichtblitze die Baumwipfel. Schnee wurde von der Wucht der Flüche aufgewirbelt, entsetzliche Schreie zerrissen die Stille. Dunkle Gestalten hoben, verborgen im Schatten der Bäume, unheilvoll ihre Arme und der Himmel färbte sich scharlachrot.

Zwei Elfen, für ein menschliches Auge das Ebenbild an Schönheit und Perfektion, standen mitten auf einer kleinen Lichtung. Schnee reichte ihnen bis zu den Knien. Ringsum ragten die riesigen Bäume des Mandoriawaldes empor. Nur auf einer Seite der Lichtung ragte kahl und mächtig eine Felswand empor.

Es gab keinen Ausweg.

Die Flüche, die aus dem Wald kamen, gingen weit über gewöhnliche Magie hinaus. Wer immer sie auch angriff – er wollte die Elfen vernichten!

Die Elfe mit den smaragdgrünen Augen griff verzweifelt nach dem Arm der anderen. Dunkelbraunes, langes Haar fiel ihr flach und glänzend bis ins Kreuz. Eine sanfte Brise teilte ihren langen Umhang und offenbarte den Blick auf ein Medaillon, das sie um ihren Hals trug. Es leuchtete im letzten Schein des Sonnenlichts auf.

»Eldevin!«, schrie sie, »Eldevin!!!«

Sie rüttelte und zerrte an Eldevin, die unverwandt zu den Schatten der Bäume blickte – aber nichts erkennen konnte.

»Tolo! – Komm!«, schrie sie und zerrte verzweifelt an Eldevins Arm. Um sie schmolz der Schnee von der sengenden Hitze, und von der Wucht der Flüche wurden sie mit ihrem Schild fast zu Boden gedrückt.

»Lest nin! – Bitte! Eldevin!« Ihre Stimme ging im lauten Donner eines Fluchs unter.

Mit angstentstelltem Gesicht wandte Eldevin endlich den Blick von den Schatten ab.

»Ta naa neuma, Elehna! – Es ist eine Falle!«, keuchte sie, die Stimme heftig bebend.

Der Druck von Elehnas Händen um Eldevins Arm verstärkte sich und ihre smaragdgrünen Augen funkelten jetzt in aufrichtiger Demut.

»I dagor ea ar’estel. Ve boe ritha, di o Soya menantog! – Der Kampf ist hoffnungslos. Wir müssen versuchen, sie von Soya wegzulocken!«

Einen Moment lang starrten sie sich reglos an. Dann stürzte Eldevin los und zog ihre Tochter mit sich. Sie rannten über die Lichtung und stürmten auf die riesigen, mit Schnee bedeckten Bäume zu, die am nächsten zu erreichen waren.

Sie hatten die Bäume schon fast erreicht, als Elehna ein Fluch heftig in die Seite traf – sie duckte sich und rannte weiter, wollte den grellen Lichtblitzen entfliehen. Doch der nächste Fluch schleuderte sie jäh durch die purpurne Luft. Sie spürte nicht mehr, wie ihr Schild aufflackerte und erlosch, als ein erneuter Fluch sie traf. Sie schlug gegen den Felsen, glitt lautlos an der steilen Gesteinswand hinab und blieb reglos im Schnee liegen. Die schmerzerfüllten Schreie, die durch die Luft gellten, waren nicht mehr die ihren.

Eldevin, bereits bei den ersten Bäumen angelangt, stürzte zurück. Doch noch bevor sie ihre Tochter erreichen konnte, traf auch sie ein Fluch mitten in der Brust und ihre Schreie erloschen rasch, niedergestreckt nur wenige Meter von Elehna entfernt. Ihr Gesicht glitt zur Seite und ihre zuvor noch entstellten Züge glätteten sich.

Stille legte sich über die Lichtung und der Schnee, von der Wucht der Flüche aufgewirbelt, rieselte wieder sanft auf die Erde hinab. Der Himmel verdunkelte sich und für einen kurzen Moment war es, als wären Sonne, Mond und alle Sterne am Firmament erloschen.

Lautlose Schritte glitten über den Boden und giftige Zähne gruben sich in die Körper, während der Wind zu heulen begann, als wollte er protestieren, vor Wut und Entrüstung toben – doch es war zu spät.

Ein großer, hagerer Mann mit schneeweißem, langem Bart, der ihm bis zu den Hüften reichte, blieb reglos unter dem Türrahmen eines kleinen, verschneiten Hauses stehen. Der Saum seines dunkelblauen Umhangs war noch mit Schnee bedeckt und seine Wangen von der eisigen Kälte gerötet. Er starrte auf die zerbrochene Wiege und auf ein kleines Leinenbündel, welches reglos inmitten des verwüsteten Hauses auf dem Boden lag. Er löste sich erst aus dieser Erstarrung, als noch jemand ins Haus gestürmt kam und gegen seinen Rücken prallte.

Auch dieser Mann hatte schneeweiße Haare, doch sie waren nur schulterlang und ein eigenartiger, perlenmatter Schimmer ging von ihnen aus. Sein Gesicht war jedoch das eines jungen Mannes, obgleich etwas darin war, das ihn auf seltsame Weise älter erscheinen ließ. Er war makellos schön. Die Haare hatte er auf den Seiten nach hinten geflochten und so konnte man seine Ohren sehen, die nach oben zu einem Spitz verliefen. Er trug einfache Kleider: eng geschnittene Hosen, Stiefel, die sich vorn verjüngten, und einen dünnen, grünen Pullover, der viel zu wenig warm aussah für diese Jahreszeit. Er stürmte schreiend auf die zersplitterte Wiege zu, fiel auf die Knie und wühlte panisch in dem großen, weißen Leinentuch, das neben den Trümmern lag. Ein Aufschrei der Erlösung entfuhr ihm, als er ein kleines Geschöpf mit zwei funkelnd smaragdgrünen Augen darunter hervorhob. Er schloss es in seine Arme und beugte sich schluchzend darüber.

»Sie lebt. Zindabor. Sie lebt.« Seine Stimme bebte, als würde ihm jedes Wort, das er sagte, Schmerzen bereiten.

Zindabor schloss die Augen. Er schob langsam die gierende, aus den Angeln geratene Tür hinter sich und trat auf die beiden zu.

Als er sich zu ihnen niederließ, breitete sich sein dunkelblauer Umhang wie ein großer, runder Teppich um ihn herum aus. Das Knistern des Kaminfeuers und das krampfhafte Schluchzen des Mannes, der vornübergebeugt dasaß und das kleine Kind an seine Brust gepresst umklammert hielt, wurden erst unterbrochen, als sich Zindabor nach einer Weile leise räusperte.

»Laendor …«, sagte er leise.

Laendor reagierte nicht. Doch dann wurde das Zittern seiner Schultern schwächer und er hob ein wenig den Kopf. Er war weiß wie Kreide und seine Augen glichen jenen eines Gejagten: Unruhig flackerten sie in ihren dunklen Höhlen und suchten nach festem Halt.

»Wer nur … wer, Zindabor … wer hat das getan?« Seine Hand glitt fahrig und zitternd über das weiße Tuch. »Wer kann nur so grausam sein?«, fuhr er mit bebender Stimme fort, den Blick angewidert auf die Trümmer gerichtet.

»Wir werden es herausfinden, Laendor«, sagte Zindabor mit leiser Stimme. »Wir werden sie finden.«

»Sie? Du glaubst, es waren mehrere?«

»Allem Anschein nach ja, jedenfalls deutet alles darauf hin.«

»Aber … wieso sollten …«

Zindabor richtete sich auf und fuhr sich über seinen langen, schneeweißen Bart.

»Ich denke, dass das heute kein Zufall war, keine spontane, erst recht keine unbesonnene Gräueltat, obwohl … mehrere Faktoren nicht übereinstimmen.« Die Falten auf seiner Stirn vertieften sich. »Die beiden Angriffe stehen miteinander in Verbindung, es waren wohl dieselben Angreifer. Nur hier wurden sie gestört und konnten ihr Vorhaben nicht zu Ende bringen … Wir haben ihren Plan durchkreuzt.«

»Es war also sorgfältig geplant«, zischte Laendor. »Sie haben gewusst, dass wir weg sind, und haben dann zugeschlagen …«

Zindabor faltete seine großen Hände ineinander und betrachtete den Boden, der übersät war mit hellen Holzsplittern.

»Und doch waren sie in Eile … Sie mussten gewusst haben, dass wir davon erfahren können.«

»Aber was ist mit den Verletzungen, die Elehna und Eldevin aufweisen? Das müssen eindeutig Tiere gewesen sein.«

Zindabor blickte nachdenklich auf ein kleines Rad, das vor ihm auf dem Boden lag. Vor nicht allzu langer Zeit waren sie mit der Wiege fertig geworden. Elehna war vor Freude fast in Tränen ausgebrochen.

»Hmmmm«, sagte er leise. »Trotzdem bin ich mir sicher, dass es einen Zusammenhang gibt.« Er hielt einen Moment inne, dann huschte sein Blick zum Fenster.

»Es ist klar, weswegen sie hier waren. Nur«, er hob die Brauen, »eines musste zuerst vernichtet werden, bevor das eigentliche Leben angegriffen werden konnte.« Seine Augenbrauen schoben sich tief in die Stirn, während seine Augen auf dem kleinen Bündel in Laendors Arm verweilten. »Was die Verletzungen an Elehnas und Eldevins Körpern angeht, sind es mit ziemlicher Sicherheit Bisswunden von Morlaks.«

»Morlaks?« Laendor hob verblüfft den Kopf. »Diese rotäugigen Monsterhunde?«

»Nun, ja. Es irritiert mich genauso. Doch die Art, wie sich die Haut um die Wunden herum verfärbt hat, lässt keinen Zweifel daran. Womit sich eine wichtige Frage stellt: Wie haben sie es geschafft, überhaupt in den Mandoriawald einzudringen?«

»Die Morlaks können die magische Grenze nicht überschreiten! Das ist nicht möglich! Sie kommen von der dunklen Seite!«

»Gewiss. Und doch bin ich mir sicher, dass es ihr Gift ist«, Zindabor atmete tief aus, »und sie haben sie verletzt. Doch sie allein hätten niemals die Kraft dazu, Eldevin und Elehna zu töten. Selbst wenn es Tausende gewesen wären.«

»Sie müssen unterstützt worden sein von der dunklen Seite«, grenzenloser Zorn stand in Laendors Gesicht, »denn Elfen hätten sie nicht gehorcht! Sie hätten sich gegen sie aufgebäumt! Du weißt, wie groß ihre Abscheu vor dem elbischen Blut ist. Nur dafür wurden sie geschaffen«, flüsterte er boshaft, »um Elfen zu wittern, um sie zu jagen und für immer in die Flucht zu schlagen!« Er verzog verächtlich das Gesicht. »Schreckliche Bestien, herangezüchtet, um das menschliche Reich nach dem Krieg von den Elfen zu säubern.«

Zindabors Falten auf der Stirn vertieften sich.

»Das hier«, seine langen Finger richteten sich auf die zertrümmerte Wiege, »muss ein ausgewachsener Magier gewesen sein – kein Morlak wäre so gezielt vorgegangen. Zudem hätte er sich von uns nicht stören lassen.«

»Und«, fuhr Laendor fort, »jemand muss den, der das getan hat, gewarnt haben, dass wir unterwegs sind. Vermutlich ist er kurz vor unserer Ankunft geflohen.« Laendors Blick fiel auf die Überreste der Wiege, die auf dem dunklen Holzboden verstreut herumlagen; Staub, Splitter, Fetzen, überall ein Bild der Verwüstung.

»Aber wie konnte die dunkle Seite den Mandoriawald betreten?«, fragte Laendor. »Wie konnten sie die Grenze überschreiten? Niemand kann so viel Magie besitzen und den Bann brechen! Das ist elbisches Land!«

In Zindabors Brillengläsern spiegelte sich die orangerote Glut des Kaminfeuers, während er nachdenklich den Funken zusah, wie sie im Rauch erloschen.

»Genau das frage ich mich, seit ich das Haus betreten habe«, murmelte er nachdenklich und neigte den Kopf. »Der Bann müsste so stark sein, dass es selbst den mächtigsten dunklen Magiern nicht gelingen dürfte, ihn zu brechen. Deswegen ist er erschaffen worden. Damit der Krieg ein für alle Mal ein Ende hat.«

Laendor schaute ihn an. »Und? Hast du eine Idee?«, fragte er mit verbissener Miene.

»Natürlich«, sagte Zindabor. Ein freudloses Lächeln erhellte sein Gesicht. »Tausende. Und eine verrückter als die andere.«

Resigniert wandte sich Laendor von ihm ab. »Ich werde nicht eher ruhen, bis ich sie gefunden habe«, sagte er leise. »Sie werden dafür bezahlen. Und wenn es das Letzte ist, was ich tue.«

Zindabor sah zu, wie Laendor mit irrem Blick auf ein abgesplittertes Holzstück stierte, während er, das kleine Geschöpf an sich gepresst, vor- und zurückwippte.

Der Kampf war also unwiderruflich entfacht. Es war ohne Zweifel so, dass Laendor nie in sich hineinhorchen würde. Er würde niemals zur Erkenntnis kommen, dass es besser war, überlegt und langsam zu handeln, statt gedankenlos blutrünstige Rache zu üben … Sein Stolz war gebrochen. Es gab nichts mehr, was er noch hatte, alles war ihm mit einem Schlag genommen worden; seine Frau und seine Tochter. Jetzt hatte er nur noch dieses kleine Geschöpf, das er in seinen Armen hielt, und um genau das machte sich Zindabor am allermeisten Sorgen.

Eine Weile blieben sie so sitzen; nur das ferne Rufen eines Waldkauzes in der Dämmerung war zu hören. Am Horizont bildeten sich bereits die ersten goldenen Streifen und kündeten den Morgen an.

Zindabor wandte den Blick vom Kamin ab. »Sie hat nicht geweint, Laendor …«, sagte er in die Stille hinein und blickte besorgt von Laendor auf das kleine, weiße Bündel an seiner Brust.

Verwirrt sah Laendor hoch, dann verlor sein Gesicht sogleich jeglichen Ausdruck. Einen Herzschlag lang schien er wie aus Stein gemeißelt, dann richtete er sich abrupt auf.

»Nein!«, erwiderte er, und seine Stimme war plötzlich laut und stark und glühender Zorn trieb ihm rote Flecken ins Gesicht. »NEIN! Du nimmst mir Soya nicht auch noch weg! Soya ist – gut. Wage es nicht, auch nur so etwas zu denken!«

Zindabor richtete sich zu seiner vollen Größe auf, seine Haltung hatte jedoch nichts Bedrohliches an sich, obwohl er Laendor mindestens zwei Köpfe überragte und die Spitze seines Hutes sogar die Decke streifte.

»Laendor«, sagte er sanft, doch Laendor sah entschlossen an ihm vorbei, hinüber zu den Trümmern, wo alles in Schutt und Asche lag. »Du hast einen schweren Verlust erlitten. Ich weiß, was du im Moment durchmachst …«

»Du hast keine Ahnung, was ich durchmache!«, schrie Laendor und seine Stimme zitterte.

»Es ist nur natürlich, dass du dich jetzt mit aller Macht an Soya klammerst und sie schützen willst. Wir sollten aber trotzdem in Betracht ziehen, dass Soya womöglich …«

»Sie hat geschlafen!«, schrie Laendor. »Wir können von Glück reden, dass sie geschlafen und die Gräueltaten nicht mitbekommen hat! Zum Glück, Zindabor! Zum Glück!«

»Tatsächlich?«, entgegnete Zindabor sanft und erwiderte gelassen Laendors zornigen Blick.

»Ja! Ja, hat sie!«

»Nun«, sagte Zindabor leise, aber deutlich, »so wie ich die Wiege daliegen sehe, entsteht in mir doch unweigerlich der Eindruck, dass es womöglich nicht ganz ruhig zugegangen ist. Ich mag mich irren, Laendor, du kennst Soya besser als ich. Doch glaubst du wirklich, dass sie bei so einem Krach hätte schlafen können?«

»Ja!«, schrie Laendor mit sich überschlagender Stimme, die Augen vor irrem Wahnsinn geweitet. Dann wandte er den Blick von Zindabor ab und ließ ihn über das Durcheinander schweifen, das um ihn herum herrschte – seine Gesichtszüge erschlafften, dann wirbelte er herum und stürmte aus dem Haus.