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Copyright © 2011 Simon Barnes

Copyright © 2019 Edel Germany GmbH,
Neumühlen 17, 22763 Hamburg, www.edelbooks.com

Projektkoordination: Dr. Marten Brandt

Lektorat: Caroline Katzianka, Dr. Marten Brandt

Übersetzung der Gedichte: Silvia Paetz

Layout: schaefermueller publishing GmbH | Nina Maria Küchler

Satz: Datagrafix GSP GmbH

Illustrationen (Cover und Innenteil):
Christopher Schmidt | www.naturillustrationen.de

Covergestaltung: Groothuis. Gesellschaft der Ideen
und Passionen mbH | www.groothuis.de

ePub-Konvertierung: Datagrafix GSP GmbH, Berlin | www.datagrafix.com

Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved.
Das Werk darf – auch teilweise – nur mit
Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

eISBN 978-3-8419-0666-3

INHALT

Musik in meinen Ohren

Lieder für das Überleben

Das Rotkehlchen

Im zweistelligen Bereich

Das eigene Revier

Der Zaunkönig

Sprechende Vögel

Pii-uu!

Wie man um die Ecke blicken kann

Die Heckenbraunelle

Zeit und Raum

Vogelgesang als Lebensretter

Die Schwanzmeise

Wie sich der Frühling verlängern lässt

Die Kohlmeise

Halten Sie es einfach

Die Singdrossel

Welch ein Repertoire!

Der Buchfink

Den eigenen Namen rufen

Die Blaumeise

Der Buntspecht

Wie wir die Musik gestohlen haben

Die Amsel

Als der Gesang anfing

Der Grünfink

Wie ich die Musik erfand

Die Feldlerche

Ein Hauch frischer Luft

Munterer Geist

Der Zilpzalp

Umsiedlung in Krisenzeiten

Der Kuckuck

Der letzte Kuckuck?

Die Schwalben

Chauvinismus der Wirbeltiere

Die Tauben

Wieso die Sänger?

Die Mönchsgrasmücke

Das Ende eines Phantoms

Der Fitis

Hören und sich darauf einlassen

Die Möwen

Der Mauersegler

Noch ein Bonus

Die Watvögel der Küste

Hallo!

Die Krähen

Binsenweisheiten

Zwei weitere Krähen

Weltmeisterschaft der Vogelbeobachter

Die Süßwasservögel

Zählt das wirklich?

Die Gänse

Lied des Schmetterlings

Die Greifvögel

Stille

Die Eulen und Kauze

Die Winterdrossel

Venedig

Die Misteldrossel

Der Star

Lernen

Mozarts Star

Das Wintergoldhähnchen

Der Grünspecht

Porträt eines Künstlers

Der Stieglitz

Die Goldammer

Der Rhythmiker

Der Kleiber

Die Tannenmeise

Die Rhythmusgruppe

Die Bachstelze

Der Wiesenpieper

Der Fasan und das Rebhuhn

Freut euch!

Die Mehlschwalbe

Die Gartengrasmücke

Die Dorngrasmücke

Die Nachtigall

Herzschmerz

Liebliche Musik

MUSIK IN MEINEN OHREN

Stellen Sie sich vor, Sie sitzen in einem Café und im Hintergrund läuft Musik. Sie hören nicht, welche Musik es ist, welches Lied, Sie registrieren nicht einmal, dass überhaupt Musik läuft. Die Musik bildet eine Art Hintergrundrauschen.

Sie lesen vielleicht Zeitung, warten auf jemanden, mit dem Sie verabredet sind, oder unterhalten sich mit Ihrem Gegenüber. Wegen des Geräuschpegels und der Musik erheben Sie unbewusst Ihre Stimme.

Und auf einmal hören Sie das Lied. Ein Lied, das Ihnen persönlich etwas bedeutet, Sie an Ihre erste Liebe erinnert oder an einen besonderen Moment. Das Lied dringt in Ihr Bewusstsein, und Sie sind wie elektrisiert. Die Gefühle von damals sind schlagartig wieder da.

Die Musik ist aus dem Hintergrundrauschen herausgetreten, wie eine wichtige Botschaft, sie hat jetzt eine Bedeutung und mit ihr auch der Ort und die Zeit. Und auf einmal sind die Sinne hellwach, zählt jede Note, jedes Instrument, jedes Wort. Wie eine persönliche Nachricht, wenngleich Sie wissen, dass die Musikauswahl aus den Lautsprechern dem Zufallsprinzip folgt. Plötzlich lebt der Ort. Plötzlich leben Sie.

Was ich Ihnen mit diesem Buch vermitteln möchte, ist diese besondere Musik, die aufhorchen lässt – nicht für die Dauer eines Liedes, sondern für den Rest Ihres Lebens. Jedes Mal, wenn Sie einen Waldspaziergang machen, jedes Mal, wenn Sie auf dem Weg zur Arbeit einen Park durchqueren, jedes Mal, wenn Sie im Garten oder auf dem Balkon sitzen und einen Vogel singen hören, wünsche ich Ihnen, dass diese Töne für Sie eine Bedeutung erhalten. Denn der Vogel wird Ihr Lied singen.

LIEDER FÜR DAS ÜBERLEBEN

Vögel singen. Für uns mag das interessant, bereichernd, bezaubernd sein. Für den Vogel geht es um Leben und Tod. Jeder Vogel singt sein ganz eigenes Lied. Seine wichtigste Botschaft dabei ist zu zeigen, welcher Art er angehört. Denn was nutzt es einer Amsel, einem Zaunkönig ein Liebeslied zu trällern? Für eine Amsel ist wichtig, dass sie wie eine Amsel klingt.

Fitisse und Zilpzalps sind optisch kaum voneinander zu unterscheiden. Ein Zilpzalp hat meist dunklere Beine, aber das ist nur aus der Nähe zu erkennen – für Vogel und Mensch gleichermaßen. Doch, und das macht das Ganze kompliziert, diese Regel gilt nicht immer. Wer schon einmal Vögel beringt und einen Fitis in seinem Vogelnetz gefangen hat, der weiß, dass es noch einen weiteren Unterschied gibt: Fitisse haben längere Flügel. Der Grund ist, dass Fitisse in Afrika überwintern, und sie benötigen deshalb größere Flügel als Zilpzalps, die ihr Winterquartier in Südeuropa aufschlagen. Fitisse fangen ihre Artgenossen nicht mit einem Vogelnetz und vermessen auch nicht die Flügel. Um zu zeigen, dass sie ein Fitis sind, singen sie.

So ähnlich sich die beiden Vogelarten rein äußerlich sind, so verschieden ist ihr Gesang. Man muss sie also nicht einmal sehen, um sie zu unterscheiden. Erfahrene Vogelbeobachter wissen das, ihnen genügt es, den Vogel zu hören. Und den Vögeln genügt das auch.

Wir Menschen unterscheiden uns von den meisten Säugetieren. Ein Großteil der Säugetiere hat einen hochentwickelten Geruchssinn, Hunde sind ein gutes Beispiel. Sie können eine breite Palette von unterschiedlichen Duftnuancen wahrnehmen, es ist ihre Art Nachrichten auszutauschen, zu kommunizieren. Die meisten Vögel riechen wie wir Menschen, und das heißt: nicht besonders gut. Manche Geier können Aas per Geruch aufspüren, und Albatrosse entdecken dank ihrer feinen Nase Fische. Auch Nachtschwalben und Mauersegler haben einen ausgeprägten Geruchssinn, doch dieser hat bei Vögeln gemeinhin nicht annähernd die Bedeutung wie bei Hunden. Sie brauchen ihn auch nicht, denn sie kommunizieren anders als Hunde: Sie schnüffeln nicht, sie singen. Und der Vogelgesang berührt unser Herz.

Wie für die Vögel ist auch für uns Menschen das Sehen und Hören wichtig. Es ist sogar überlebenswichtig. Vögel bringen Farbe in unser Leben, und mit dem Schönsten, das sie besitzen, ihrem Gesang, betören sie uns.

Wer lernt, Vogelstimmen zu erkennen, wird nicht nur ein besserer Vogelbeobachter. Er bekommt auch die Chance, den vielfältigen Soundtrack unseres Planeten Erde zu verstehen.

DAS ROTKEHLCHEN

Vögel singen vor allem im Frühling, und daher ist der Winter die beste Zeit, sich dem Phänomen zu nähern. Vögel singen, um ein Revier abzustecken, eine Partnerin zu gewinnen und gegen Konkurrenten zu verteidigen. Mit anderen Worten: Die meisten Sänger sind Männchen, und ihr Gesang steht im Zusammenhang mit der Fortpflanzung, die im Frühling geschieht.

Ob Wald, Park oder Garten, im Frühjahr ertönt eine herrliche Symphonie an Vogelstimmen. Bei Tagesanbruch hebt sie an, wie von einem unsichtbaren Dirigenten gesteuert, in einer genau festgelegten Abfolge, dessen Prinzip uns jetzt, am Beginn unserer Beschäftigung mit Vogelgesang, noch weitestgehend verschlossen ist. Das Frühlings-Morgenkonzert ist einfach großartig und lässt einem das Herz aufgehen. Für Anfänger ist jedoch kaum nachvollziehbar, wer da wann und wie singt. Wer die einzelnen Instrumente eines Orchesters heraushören möchte, sollte nicht gleich mit dem letzten Satz von Beethovens „Neunter“ beginnen. Aber es ist auf jeden Fall ein lohnendes Ziel, das zu einem tieferen Verständnis und letztendlich noch einer größeren Freude an der „Ode an die Freude“ führt.

Beschränken wir uns also auf einige Solisten, um nicht völlig durcheinander zu geraten. Wenn Sie an einem windstillen, klaren Wintertag in einem Garten, einem Park, einem Waldstück spazieren gehen, dann ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass Sie ein Rotkehlchen hören. Schon deshalb, weil es der einzige Vogel ist, der den ganzen Winter hindurch singt. Rotkehlchen singen sogar die meiste Zeit des Jahres, während fast alle Arten ihren Gesang nach der Brutzeit einstellen. Zwar verstummen auch die Rotkehlchen im Hochsommer für kurze Zeit, wenn sie in der Mauser sind. Dann ist Aufmerksamkeit das Letzte, was sie brauchen. Aber bereits im Herbst legen sie wieder los, und sobald der Frühling auch nur zu erahnen ist, bilden Rotkehlchen wieder Pärchen, häufig mit dem gleichen Partner wie im vorangegangenen Jahr. Frühmorgens beginnen sie als Erste und verstummen abends als Letzte. Übrigens singen beide Geschlechter, um ihr Revier zu verteidigen.

Hören Sie sich an einem solchen Wintertag einmal in Ruhe den Gesang der Rotkehlchen an. Am besten lernen Sie durch Hören, Hören, Hören. Es ist schwer, den Klang eines Cellos oder eines Cellostückes von Bach zu beschreiben, aber in einem Bereich unseres Gehirns können wir Klänge auch ohne verbale Zuordnung speichern. Dieser Bereich lässt sich durch Zuhören aktivieren. Am Anfang muss man sich ziemlich anstrengen, aber relativ schnell ist das Gehörte verinnerlicht. Bald werden Sie ein Rotkehlchen ohne große Mühe erkennen.

Der Haken ist, dass Rotkehlchen nicht nur ein einziges Lied haben. Lassen Sie sich aber nicht entmutigen. Auch wenn Rotkehlchen gerne variieren und einen großen Liedschatz in ihrem Repertoire haben, der Klang ihrer Stimme ist doch immer der gleiche. Ob Sie Bach oder ein irisches Tanzlied auf einer Geige spielen, es ist und bleibt eine Geige. Und so klingt ein Rotkehlchen immer wie ein Rotkehlchen: Es hat eine dezente, schöne, etwas gequetschte, aber glasklare Stimme. Als ich anfing, Vogelstimmen zu lernen, habe ich das Lied des Rotkehlchens mit seinem feinen Schnabel assoziiert, der dazu geschaffen ist, Insekten aufzusammeln.

So niedlich Rotkehlchen aussehen und so schön sie singen, so aggressiv können sie sein. Die rote Brust signalisiert: Ich bin stark, legt euch nicht mit mir an. Während der Balz plustern männliche Rotkehlchen ihre roten Brustfedern auf, sobald sie andere Rotkehlchen mit roten Brustfedern sehen – auf dem Höhepunkt der Balz sogar, wenn sie irgendetwas Rotes sehen. Dieses Aufplustern geht nicht selten in einen Angriff über, wenn der Gegner ein Rivale ist, der nicht klein beigeben will. In unseren Ohren klingt der Gesang freilich keineswegs kriegerisch, sondern eher lieblich, ja sogar ein wenig melancholisch. Manche behaupten, der Gesang klänge immer melancholischer, je näher der Winter rückt.

Hören Sie dem Rotkehlchen zu, wann immer es Ihnen möglich ist. Halten Sie inne und lauschen Sie. Bald schon werden Sie seine Stimme verinnerlicht haben und von Stimmen anderer Arten unterscheiden können. Stellen Sie Ihr Gehör darauf ein, lernen Sie Schritt für Schritt.

Und freuen Sie sich darauf.

IM ZWEISTELLIGEN BEREICH

Erkennen Sie nun das Lied des Rotkehlchens? Wenn ja, dann dürfen Sie sich beglückwünschen. Denn eigentlich befinden Sie sich jetzt schon im zweistelligen Bereich: Sie können nun etwa zehn Vogelarten ihre jeweiligen Stimmen zuordnen. Wieso das? Weil es erfahrungsgemäß so ist, dass Sie, sobald Sie sich für etwas zu interessieren beginnen, entdecken, dass der Lernprozess eigentlich schon seit Jahren irgendwie unterbewusst stattgefunden hat.

Dinge und Phänomene einzuordnen, ist ein Urinstinkt des Menschen. Wir tun das, um die Welt zu verstehen. Wir zerlegen Dinge und stecken sie anschließend in die richtige Schublade. Wir akzeptieren nicht einfach so, dass gewisse Vögel eine rote Brust haben und andere nicht: Wir trennen jene mit einer roten Brust von den anderen und nennen sie Rotkehlchen – der Beginn einer groben Unterscheidung von Vogelarten. Dies tun übrigens nicht nur Wissenschaftler. Jeder Mensch ordnet Dinge in Kategorien ein. Wenn man etwas interessant findet – Popmusik, Filme oder Autos –, dann geschieht es fast von selbst, dass man die Dinge in immer differenziertere Unterkategorien untergliedert. Das ist nicht nur ein Folksong, sondern ein frühes Stück von Bob Dylan. Das ist nicht lediglich ein Film mit Untertiteln, sondern einer von Fellini. Das ist nicht nur ein alter Sportwagen, sondern eine AC Cobra. Für die meisten Menschen ist ein Schwan ein Schwan, Ende der Kategorisierung. Für einen Vogelbeobachter jedoch ist es wichtig zu wissen, dass es von dieser Gattung hierzulande drei verschiedene Arten gibt und weltweit sogar noch vier weitere.

Natürlich kategorisieren wir nicht nur das, was wir sehen, sondern auch das, was wir hören. Wir wissen, dass Klang XY eine Trompete ist und dass eine Trompete ein Musikinstrument ist. Wir wissen, wie ein Presslufthammer klingt und dass es sich dabei um eine Maschine handelt. Und wir wissen, dass ein bestimmtes Geräusch von einem bellenden Hund stammt. Aufgrund dieses Vorgehens können wir auch einige Vögel anhand ihrer Stimmen benennen, ohne dies explizit erlernen zu müssen.

Zum Beispiel die Ente. Ich brauche Ihnen nicht zu erzählen, dass Enten quaken. (Im Laufe der Vogelbeobachtung werden Sie auch Enten kennenlernen, die pfeifen oder wie Männer klingen, die einen Blick durchs Schlüsselloch riskieren, aber dazu später.) Sogar Menschen, die sich in keinster Weise für Natur interessieren, wissen, dass eine bestimmte Art von Quaken zu einer Ente gehört. Die meisten heimischen Hausentenrassen wie etwa Pekingente, Indische Laufente oder Warzenente sind Züchtungen auf Grundlage von Stockenten, und genau wie sie quaken auch diese Rassen. Die Gleichung „Quak = Ente“ ist für nahezu alle Menschen auf der Welt gültig.

Eine Krähe krächzt. Ihr Name verrät viel über ihre Stimme, wie bei so vielen Vögeln, deren Namen lautmalerisch sind. So heißt die Krähe etwa im Mittel- und Altenglischen crawe und im Niederländischen kraai. Mit dem alten englischen Namen wurden vermutlich sowohl Aaskrähen als auch Saatkrähen bezeichnet, schließlich sind beide große schwarze Rabenvögel. (Es gibt feinere Einteilungen von Krähen, so wie es feinere Einteilungen von so ungefähr allem in der Natur gibt.) Wer das murmelnde Krächzen von Saatkrähen auf einem Friedhof oder das ärgerlich klingende Gekrächze einer Aaskrähe hört, der weiß, dass es sich dabei um Krähen handelt.

Wir alle kennen auch den Ruf einer Eule, die meisten vermutlich aus Filmen als Untermalung einer Szene auf einem nächtlichen Friedhof. Neben einigen seltenen Arten, auf die wir an dieser Stelle nicht weiter eingehen wollen, gibt es drei Arten von Eulen bzw. Käuzen, deren Stimmen man durchaus bei einem Spaziergang abends auf dem Land lauschen kann. Wenn Sie ein schauerliches, bühnenreifes „Wu-uuu-uuu“ in der Dunkelheit hören, handelt es sich um eine Eule oder einen Kauz. Einen männlichen Waldkauz, um genauer zu sein.

Der Ruf von Möwen besteht aus mehreren Schreien. Hört man in einer Fernsehsendung Möwen, dann ist ohne weitere Information sofort klar, dass das Ganze sich irgendwo an der Küste abspielt. Es sind meist Silbermöwen. Sie verfügen über eine begrenzte Skala an Lauten, aber der genannte Ruf ist typisch für sie.

Tauben gurren. Hierzulande gibt es diverse Taubenarten, und obwohl ihre Stimmen unterschiedlich sind, haben sie eines gemeinsam: Sie gurren. Später werden wir versuchen, die Laute der Tauben noch genauer zu unterscheiden.

Eine Studie hat gezeigt, dass viele junge Menschen nicht einmal annährend wissen, wie der Ruf eines Kuckucks klingt. Die Ursache dafür liegt nicht nur darin, dass wir uns immer weiter von der Natur entfernen, sondern auch darin, dass der Kuckuck immer mehr verschwindet. Anders als früher ist dieser Vogel heutzutage eine eher seltene Erscheinung. Dennoch wissen wohl die meisten Menschen, dass ein „Ku-kuck“ von einem Kuckuck stammt.

Und noch einer: der Specht. Ein plötzliches kurzes Hämmern, eine Art Trommelfeuer an einem Baum – und schon ist klar, dass hier ein Specht am Werk ist. Sie finden, das zählt nicht, da der Specht nicht singt, sondern mit seinem Schnabel einen Stamm bearbeitet? Das ist für die Spechte das Gleiche. Denn das Hämmern deutet nicht darauf hin, dass sie auf Nahrungssuche sind, sondern vielmehr dient es der Reviermarkierung. Sie sind zwar eher Perkussionisten als Sänger, aber der Ton, den sie hervorbringen, ist laut und für uns Menschen gut hörbar. Wahrscheinlich handelt es sich um einen Buntspecht, aber, wie bereits gesagt, wir kümmern uns erst später um die Unterscheidung der verschiedenen Arten. Zunächst geht es nur darum, dass jeder weiß, wie ein Specht klingt.

Wie Sie sehen, sind Sie keineswegs taub für die Klänge der Natur. Niemand ist das. Sie nehmen mehr wahr, als Sie vielleicht denken. Wer die Stimme des Rotkehlchens mit geschlossenen Augen erkennt, kann sicher auch die Stimmen von acht weiteren Vögeln zuordnen. Wahrscheinlich kennen Sie auch das beruhigende Lied der Amsel und die Schreie von Mauerseglern. Und wenn Sie ein endloses Lied hören, das aus größerer Höhe auf Sie hinunterprasselt, dann wissen Sie, dass es von einer Feldlerche stammt.

Und schon sind Sie im zweistelligen Bereich.

DAS EIGENE REVIER

Vögel singen, um ihre Revier zu verteidigen. Das ist sogar einer der Hauptgründe, warum sie singen – was unserem Gefühl von ergreifender Schönheit vielleicht widerspricht. Den Begriff „Revier“ sollten wir jedoch nicht nach menschlichem Verständnis im Sinne von Eigentum begreifen. Ein Revier ist kein Eigentum. Und genauso wenig ist der Vogelgesang gleichzusetzen mit der traditionellen Begrüßungsformel: „Was zum Teufel machst du auf meinem Grundstück?“

Revier ist Leben. Mehr nicht. Es ist ein Bereich, den ein Vogel braucht, um Nachwuchs aufzuziehen, ein Bereich, den er verteidigen will und muss. Bei den meisten bekannten Sängern ist dieses Verteidigungssystem dreistufig. Die erste Stufe ist Gesang. Lässt die Bedrohung nicht nach, folgt die zweite Stufe: Aufplustern. So wie zum Beispiel ein Rotkehlchen seine roten Brustfedern aufplustert. Manche Vögel senken den Kopf und strecken den Schnabel heraus, andere richten ihre Schnäbel nach oben und zeigen ihr Brustgefieder. Die Bedeutung ist klar: „Leg dich nicht mit mir an! Sonst hast du ein Problem.“ Der Sinn von Gesang und Aufplustern besteht also darin, eine Auseinandersetzung zu vermeiden. Und damit wären wir bei der dritten Stufe: der Auseinandersetzung, bei der der Heimvorteil große Bedeutung hat.

Ein Revier ist eine variable Größe. Für viele Seevögel ist der Raum, den sie verteidigen, nur einen Quadratmeter groß – der aktuelle Nistplatz. Kein Vogel beansprucht einen Teil des Ozeans nur für sich. Das wäre auch sinnlos, denn Fischschwärme halten sich niemals an einem festen Platz auf. Ein Waldkauz aber bleibt zeit seines Lebens in seinem Revier, wenn er es einmal gefunden hat.

Zahlreiche Singvögel haben ein saisonales Territorium, das als Brut- und Nahrungsrevier dient. Die Größe eines solchen Reviers wechselt oftmals stark: Ist das Nahrungsangebot groß, begnügen sich die Vögel mit kleineren Revieren, ohne dass es zu wechselseitigen Spannungen oder gar Revierverletzungen kommt. Grasmücken etwa haben nur ein sehr schwach ausgeprägtes Revierverhalten. Sie verteidigen meist nur den Bereich, in dem sie gerade auf Nahrungssuche sind.

Wenn ein Vogel zur Verteidigung seines Reviers singt, dann sollte das Revier so geartet sein, dass seine Stimme auch die äußersten Ränder erreicht und es rundherum ausreichend Artgenossen gibt, gegen die er sein Territorium verteidigt. Rivalen sind immer Artgenossen – unterschiedliche Arten stehen in der Regel nicht in Nahrungskonkurrenz zueinander. Eine Blaumeise hält Ausschau nach kleinen Raupen auf den Enden von Ästen, während Kohlmeisen größere Beutetiere in Stammnähe bevorzugen und Amseln am liebsten am Boden auf Nahrungssuche gehen. Für die Amsel sind andere Amseln das Problem – Meisen, ob Blaumeisen oder Kohlmeisen, interessieren sie nicht im Geringsten.

Singen hilft. Schon der Gesang an sich genügt in der Regel, um das Revier erfolgreich zu schützen. In einem Experiment konnte nachgewiesen werden, dass Artgenossen die Reviergrenzen einer Kohlmeise weiterhin respektierten, obwohl diese nicht mehr dort lebte und das Lied des Männchens aus Lautsprechern kam.

Reviere sind wichtig, um dort Nahrung zu finden, eine Partnerin anzulocken oder zu behalten und um sich vor Räubern zu verstecken. Letzten Endes ist das Ziel für einen Vogel immer, Nachwuchs zu zeugen oder, wie Richard Dawkins es ausdrücken würde1, seine unvergänglichen Gene weiterzureichen.

Bei Revieren geht es jedoch nicht um Angeben oder um Eigentum oder um die Frage, wer das größere hat. Reviere sind wichtig für das Überleben, und somit ist auch das Lied, mit dem der Vogel sein Revier verteidigt, ein Lied des (Über)Lebens. Wir sind Menschen und gehören zur Klasse der Säugetiere; Vögel gehören der Klasse der Vögel an. Wie Vögel reagieren wir Menschen sehr stark auf Geräusche. Hören wir das Lied des Lebens, dann registrieren wir das. Wir reagieren mit unserem Bauch und mit unseren Emotionen auf den Gesang, der die Gemüter der jeweiligen Artgenossen bewegt. Gesang, der bei den männlichen Zuhörern Rivalität, Respekt und auch Furcht auslöst – wenn er denn gut ist. Der Gesang erregt jedoch auch die Gefühle von Weibchen – das aber ebenfalls nur, wenn er gut ist. Wie wir Menschen sind auch Vögel anspruchsvolle Hörer.


1Richard Dawkins: Geschichyten vom Ursprung des Lebens. Eine Zeitreise auf Darwins Spuren, Berlin 2008.

DER ZAUNKÖNIG

Ein milder Wintertag. Die Sonne hat noch kaum Kraft, es zeigen sich aber schon Schatten am Boden. Sie sind gut gelaunt, denn dieser Tag verheißt das Ende des Winters. Sie hören ein Rotkehlchen mit schöner Stimme, das genauso euphorisch auf das herrliche Wetter zu reagieren scheint wie Sie. Und dann hören Sie noch einen anderen Gesang. Erstaunlich laut und ungefähr auf Kniehöhe.

Das ist ein Zaunkönig. Eine schnelle Abfolge unterschiedlicher Töne, auf die immer wieder ein lauter, heftiger Triller folgt. Wenn Sie Ihre Zunge von hinten gegen die Zähne schnalzen lassen, als wollten Sie einen Presslufthammer imitieren – dann wissen Sie, wie der Zaunkönig ruft. Der Zaunkönig gehört zwar zu den kleinsten Vögeln unseres Landes – in Ihre Handflächen passen locker ein Dutzend oder mehr –, aber wenn er singt, wird er richtig laut. Wer schon mal einen Zaunkönig mit aufgestelltem Schwanzgefieder hat singen sehen, der hat sich sicher gewundert, dass all die Energie, die er in seinen Gesang steckt und die seinen ganzen Körper und die Flügel erzittern lässt, ihn nicht zerreißt.

Den Triller am Ende des Liedes sollte man sich gut merken. Wer ihn einmal wahrgenommen hat, wird ihn immer wieder erkennen. Das Problem daran ist nur, dass der Zaunkönig ihn nicht immer vollführt. Vor allem in den Wintermonaten, wenn er also nicht gerade dabei ist, ein Revier zu gründen, lässt er ihn gerne weg. Dafür fängt er schon früh im Jahr an zu singen und reagiert auf die verheißungsvollen Luftveränderungen.

Wenn Sie also im Winter ein lautes und schrilles Lied hören, das nicht von einem Rotkehlchen stammt, dann halten Sie kurz inne und hören Sie genau hin. Wahrscheinlich wird bald der Triller folgen und spätestens dann wissen Sie, wer der Urheber ist. In der Folge werden Sie das Lied schon bei den ersten Tönen erkennen, nicht zuletzt auch daran, woher diese kommen: Kniehöhe plus laut macht Zaunkönig.

Wer dem Zaunkönig gelauscht und sich dessen Gesang eingeprägt hat, wird ihn vermutlich etwas, sagen wir mal, eintönig finden. Zumindest nicht so, dass es einen umwirft. Ein paar schwingende Töne, dann der Triller – und … ja … das war’s. Mechanisch, monoton, fantasielos. Dennoch steckt hinter diesem kurzen explosiven Lied ein großes Mysterium.

Nimmt man den Gesang des Zaunkönigs auf und spielt ihn deutlich verlangsamt ab, dann stellt man fest, dass er anders klingt und auch deutlich komplexer ist, als man zunächst meinte. In ornithologischen Kreisen hat die verlangsamte Wiedergabe von Vogelgesang in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen. Es ist, als würde man das Lied unter ein Mikroskop legen. So entdeckt man, dass ein Vogellied viel mehr enthält, als man meinen würde oder herausgehört hat. Ich habe ein Zaunköniglied, das ursprünglich 8,25 Sekunden dauerte, in einer verlangsamten Wiedergabe von 66 Sekunden gehört. Die Veränderung war verblüffend: Inmitten der schnellen Töne offenbarte sich ein süßes, gemächliches melodiöses Muster. In jenem Lied sang der Zaunkönig unglaubliche 103 Töne oder anders gesagt: Er sang mit einer Geschwindigkeit von 740 Noten pro Minute. Für einen Menschen absolut unerreichbar. Kein Wunder, dass der Mensch all diese verschiedenen Töne auf die Schnelle nicht unterscheiden kann. So fein ist unser Gehörsinn dann doch nicht.

Aber kann ein Vogel diese vielen Töne unterscheiden? Wahrscheinlich schon. Was sollten wir sonst auch annehmen, denn irgendeinen Grund muss dieser Wasserfall an Tönen ja haben. Die Schwarzkehl-Nachtschwalbe, ein in Amerika beheimateter Vogel, ist berühmt für ihren weit tragenden Ruf, der aus drei Tönen besteht. Vermeintlich, denn bei der verlangsamten Wiedergabe ihres Liedes stellte man fest, dass der Vogel in Wahrheit fünf Töne singt.

Die Spottdrossel ahmt den Gesang zahlreicher anderer Vögel gerne nach, und dabei ist das Lied der Schwarzkehl-Nachtschwalbe einer ihrer Favoriten. Wird das von der Spottdrossel imitierte Lied der Nachschwalbe verlangsamt wiedergegeben, stellt man verblüfft fest, dass auch sie fünf Töne singt. Anscheinend muss man also ein Vogel sein, um das Lied eines anderen Vogels vollends verstehen und schätzen zu können. Vogellieder sind deutlich komplexer und differenzierter, als wir Menschen es wahrnehmen können, und so bleibt uns nur, unser Bestes zu versuchen.

SPRECHENDE VÖGEL

Wann ist ein Lied kein Lied? Wenn es sich um einen Ruf handelt. Manche Vögel erzeugen Klänge aus anderen Gründen als zur Verteidigung ihres Reviers oder zum Anlocken einer Partnerin. Und um das Ganze noch interessanter zu machen, geben manche Vögel auch Töne von sich, um auf ihr Revier aufmerksam zu machen. Allerdings würden wir solche Töne nicht als Musik einstufen, geschweige denn als Lied betrachten. Das Krähen von Hausgeflügel, oder besser gesagt vom Haushuhn, dem wilden Vorfahren, fällt in musikalischer Hinsicht ganz gewiss nicht in die Nachtigall-Kategorie, ja nicht mal in die Zaunkönig-Klasse.

Und so ist das, was wir gemeinhin als „Lied“ verstehen, begrenzt auf die Singvögel bzw. Sänger (Oscines), die zur Ordnung der Sperlingsvögel (Passeriformes) gehören. Die Singvögel gründen und verteidigen ihre Reviere mithilfe ihres Gesangs. So weit, so gut, wenn auch nicht sehr präzise. Die riesige Gruppe der Singvögel gliedert sich in weitere Untergruppen (die innere Systematik ist hier etwas unsicher und fließend). Zu den Singvögeln zählen etwa die Rabenvögel (Corvidae), also Kolkraben, Krähen, Elstern, Dohlen und Häher. Von diesen unterscheiden sich Vögel, die mit einem komplexen „Gesangsapparat“ ausgestattet sind, mit dem sie unterschiedlichste Klänge und eben Lieder erzeugen können, zum Beispiel Finken, Meisen und Drosseln. Weltweit gibt es etwa 10.000 Vogelarten, die Gruppe der Singvögel ist mit etwa 4000 Arten die umfangreichste in der Vogelwelt.

Ein Gesang ist immer schön und auch wichtig. Nur erzeugen die meisten Vögel, teils auch die Sänger, eigentlich ständig irgendwelche Töne wie etwa „Piep“. Außerdem geben alle Sänger auch Geräusche von sich, die man nicht als Lied bezeichnen kann. Wer außerhalb der Brutsaison einen Wald- oder Parkspaziergang macht, wird wohl kaum Lieder hören, andere Vogellaute aber durchaus. Vielleicht ist sogar ein Rotkehlchen oder ein Zaunkönig zu vernehmen, auch wenn sie nicht in dem Sinne singen. Als Warnruf erzeugen Rotkehlchen ein Geräusch wie ein sanftes Klicken, ebenso der Zaunkönig, wenngleich das Klicken bei ihm noch lauter und explosiver ist.

Ein Ruf ist in der Regel sehr kurz, meistens nur ein einzelner Ton. Verwendet wird er für viele verschiedene Zwecke: für die Kommunikation mit Artgenossen einer Gruppe, um vor Eindringlingen zu warnen, um Artgenossen dazu anzustiften, einem etwas gleichzutun, zur Warnung vor drohender Gefahr etwa durch einen Sperber oder einen Menschen, zum Drohen, zur Anforderung von Nahrung oder um allgemein Aufregung zum Ausdruck zu bringen.

Allerdings ist das Ganze keineswegs in Stein gemeißelt. Rufe sind eine komplizierte Angelegenheit. Auf eine drohende Gefahr reagiert der Vogel selten mit nur einem einzelnen Ruf. Die Art der Reaktion wird bestimmt vom Gefährdungsgrad und auch der Art der Gefährdung. Das ist praktisch für andere Vogelarten, für die die gleiche Art von Gefährdung ebenfalls eine Bedrohung darstellt. Ein Lied ist immer eine Botschaft für Artgenossen, während ein Ruf manchmal auch als eine Art Informationsaustausch zwischen Arten dient.

Rufe werden oftmals wiederholt, manchmal sehr schnell und mit unterschiedlicher Intensität. Die Alarmrufe der Misteldrossel, etwa wenn eine Elster ihrem Nest bedrohlich nahekommt, sind sehr heftig und dramatisch und werden ständig wiederholt, wobei die Intensität zunimmt und schließlich in unbändige Wut gipfelt. Wie das Lied kann auch der Ruf Empathie beim Menschen auslösen, allerdings nicht im Sinne von vermenschlichter, sentimentaler Identifikation mit dem Tier, sondern mehr als atavistisches Mitgefühl mit einem Wesen als Opfer – was Menschen selbst auch erleben.

Vom Klang her ist der Ruf deutlich einfacher als ein Lied, zumindest als die Lieder, die die meisten Sänger erzeugen. Dennoch verbirgt sich hinter dem Ruf eine komplexe Idee. Denn Rufe können viele unterschiedliche Funktionen haben. Sie sind subtil, nuancenreich und variabel.

Unverrückbare Kriterien sind nicht immer sehr hilfreich. Beispiel: Es gibt Momente und Situationen, in denen sich die Kommunikation mittels Ruf mit der mittels Lied überschneidet. Etwa dann, wenn ein Ruf eine komplexe territoriale Funktion erfüllt. Dann gibt es eine Überschneidung, eine Grauzone zwischen Lied und Ruf.

Vögel kommunizieren miteinander. Oft tun sie dies mithilfe eines Liedes, das auch wir Menschen interessant und ansprechend, ja sogar bedeutsam finden. Darüber hinaus kommunizieren sie mittels Rufen, um wichtige Informationen auszutauschen. Wenn wir also dem Gesang von Vögeln lauschen, tun wir dies nicht nur aus ästhetischen Gründen oder aus reinem Spaß an der Freude. Wir stellen uns auch Fragen über das Wesen der Sprache, die Bedeutung von Klängen und Tönen, über Dinge, die uns mit den Tieren um uns herum verbinden, und über den Fortbestand der nichtmenschlichen Welt.