Sabine Gruber, geboren 1963 in Meran, studierte Germanistik, Geschichte und Politikwissenschaft und lebt als freie Schriftstellerin in Wien. Von 1988 bis 1992 war sie Universitätslektorin in Venedig. Für ihr Werk, Erzählungen, Hörspiele und Theaterstücke sowie ihre Roman «Aushäusige», «Die Zumutung» (C.H.Beck 2003) sowie «Über Nacht» (C.H.Beck 2007) und den Gedichtband «Fang oder Schweigen», erhielt sie zahlreiche Preise und Stipendien, u.a. den Priessnitzpreis, den Förderungspreis zum österreichischen Staatspreis der Stadt Wien, das Elias-Canetti-Stipendium der Stadt Wien, den Anton-Wildgans-Preis und das Robert-Musil-Stipendium.
Nach dem Rücktritt des deutschen Bundespräsidenten Horst Köhler am 31. Mai 2010 war Erich Priebke als Bundespräsidentschaftskandidat der Nationaldemokratischen Partei Deutschlands im Gespräch.
Emma Manente starb am 7. Jänner 2011 im römischen Altersheim. Sie liegt neben ihrem Ehemann Remo Manente auf dem Campo Verano, Roms größtem Friedhof.
Wenn das Gefühl, am Leben zu sein, einmal abnimmt, haben wir noch immer den Himmel – einen Augenblick sah Clara ihr Gesicht im Fenster, weil der Zug in einem Tunnel verschwand. Sie erschrak über seine Nacktheit und Großflächigkeit, über seine Einsamkeit unter der spärlichen Beleuchtung des Abteils, dann kehrten die Wolkengesichter zurück, deren Oberflächen und Tiefen von dünnen, hohen Dunstfetzen umrahmt waren, die aussahen wie Haarlocken. In der Talsenke standen die gestutzten Apfelbäume in Reih und Glied, die Äste an Drähten festgebunden, und über ihnen erhob sich der von Buschwerk überzogene rötliche Porphyr.
Wenn ich einmal tot bin, hatte Ines geschrieben, mache ich den Himmel lebendig. Dann werde ich weiß sein oder grau, dunkel, hell, rot oder orangegelb, einmal dick, einmal dünn, streifig, felsenähnlich, milhiglinsenförmig, geschichtet, schleierartig, zerfetzt oder gescheckt, gräen- oder strahlenförmig, ein wirres Bündel von Fäden – ja, dann kannst du mich neu verflechten! – oder ein durchgehendes Tuch – dann kannst du dich darin einwickeln! Ich werde eine Besenwolke sein. Eine Locken- oder Federwolke. Eine dicke Knolle. Deine Wolle. Dann werde ich – Clara legte das Blatt zurück in die Mappe und sah hinaus in die Landschaft, die eine gemeinsame gewesen war, eine Herkunftslandschaft.
Holunderbüsche säumten die Bahnlinie, dahinter standen vereinzelt Nußbäume und mitten in einer Wiese fern jeder Häuseransammlung war ein Schild zu sehen, das Werbung für Schnaps machte. Allmählich verlor sich die dunkle Farbe des eisenhaltigen Gesteins, die Berge wurden heller über den mit grünen und grauen Netzen überzogenen Apfelplantagen.
Als Clara spätabends den Anruf erhalten hatte, war sie müde gewesen und über die Nachricht von Ines’ Tod so erschrocken, daß sie zu keinem klaren Gedanken mehr fähig gewesen war.
Ines’ Mutter hatte Clara gebeten, nach Rom zu fahren und sich um Ines’ Angelegenheiten zu kümmern. Es sei ihr niemand anderer eingefallen, und sie selbst sei außerstande dazu. «Ihr wart doch jahrelang befreundet. Es ist bestimmt in ihrem Sinne.»
Als der Zug Richtung Klause rollte, schien es Clara, als steuere ein Schiff auf eine grüne Bucht zu, die von hellen, schroff aufsteigenden Bergen umschlossen war. Die Apfelbäume wurden spärlicher, die Häuser ärmlicher und leichter; die Geländer an den Balkonen bestanden nicht mehr aus enganeinandergereihten Holzlatten, sondern aus schmiedeeisernen Stäben, und immer öfter ersetzten verwitterte Rollos die lackierten Jalousien.
Wenn ich einmal tot bin – wie schwer wog jetzt, was sich einst so leicht hatte hinschreiben lassen.
An welchem Tag hatten sie einander das letzte Mal gesehen? War es am Ostersonntag oder am Ostermontag gewesen? Der Stillbacher Wirt hatte bereits die Lampen über der Theke ausgemacht, und sie beide waren noch immer auf der Eckbank in der Stube gesessen, weitab von dem breiten Tisch, auf dem trotz des allgemeinen Rauchverbots der Aschenbecher mit dem Stammtisch-Schildchen gestanden war.
Draußen zogen jetzt die ungestrichenen Leitplanken der Autobahn vorbei, rostrot wie Viehwaggons. Auch die ANAS-Straßenwärterhäuschen waren rostrot. Die Schienen. Manche Baumrinden. Der Witterung ausgesetzte Getränkedosen. Brückenpfeiler. Pfosten. Verriegelungen.
Clara schloß die Augen, streckte die Arme, tastete mit den Fingern nach dem Gepäckgitter, hielt sich daran fest. Sie ließ den Oberkörper durchhängen, genoß die kurze Entspannung in dem noch leeren Abteil, das sich spätestens ab Verona füllen würde.
Sie war mit Ines’ Tante im Garten des Stillbacher Gasthauses gesessen. Einzelne Stellen an den Stühlen, deren Lackschicht abgeplatzt war, hatten ebenfalls rote Flecken aufgewiesen. Ines’ Mutter war nicht zu dem Treffen gekommen. Schon am Telefon war Clara aufgefallen, daß die Frau lallte. Vermutlich war sie betrunken gewesen oder hatte zu viele Beruhigungsmittel geschluckt. «Furchtbar. Das überlebt sie nicht», hatte Ines’ Tante gesagt.
Auf der linken Talseite waren die Hochhäuser von Trient zu sehen, diese ins Grüne gestellten, verloren wirkenden Türme. Da und dort hing Wäsche vor den Fenstern, manchmal auch an Drähten, die man an der Außenverkleidung der Balkone angebracht hatte. Die Leute stellen ihre intimsten Kleidungsstücke aus, verstecken sie nicht wie in Stillbach in Hinterhöfen und auf Dachböden, dachte Clara.
Sie hörte den Schaffner kommen, suchte nach ihrem Fahrschein, fand ihn erst, als der Mann vor ihr stand und zusah, wie sie Ines’ Mappe durchblätterte. Der Schein war zwischen die Texte gerutscht, Prosaminiaturen, die aus den achtziger Jahren stammten, als Ines noch keinen Computer besessen hatte. Die Tante hatte Clara einen in Leder gebundenen Terminplaner, die Wohnungsschlüssel, die Mappe und Ines’ Handy übergeben. «Ich weiß nicht, was diese Zettel wert sind», hatte die Tante gesagt, «Ines waren sie wichtig gewesen. Sie hat mich mehrmals gefragt, ob ich sie noch habe.»
Mit einem Mal setzte das Rauschen der Klimaanlage aus; die plötzlich eingetretene Stille schien den Zug zu verlangsamen; Clara hielt den Atem an, verschluckte sich am eigenen Speichel und hustete.
Die Hand der Tante hatte so gezittert, daß sie das Teeglas nur mit Mühe zum Mund hatte führen können. Beim Anblick dieser alten, zerbrechlichen Frauenhand war Clara eine andere Hand aus Marmor in den Sinn gekommen, die in der Sakristei der Dalmatinischen Schule in Venedig als Weihwasserbehälter dient.
Anstatt in Verona umzusteigen und den Zug nach Venezia S. Lucia zu nehmen, fahre ich jetzt nach Rom, dachte Clara. Wie oft war sie von Ines eingeladen worden, doch jede frei verfügbare Zeit hatte Clara ihrer Arbeit gewidmet. Sie wäre auch jetzt in die Lagunenstadt gefahren, wenn Ines’ Tod nicht dazwischengekommen wäre, hatte mit ihrem Mann schon vereinbart gehabt, daß er sich in den nächsten zwei Wochen um Gesine kümmern sollte, damit Clara das D’Annunzio-Kapitel zu Ende schreiben konnte. Seit Monaten schob sie die Beschäftigung mit diesem Dichter vor sich her, hatte es vorgezogen, erst über Rilkes und Byrons Liebschaften in Venedig zu schreiben, als sich mit diesem Autor zu befassen, dessen Adelstick und politischer Opportunismus Clara ebenso unsympathisch waren wie seine Art, Frauen auszunützen und anschließend fallen zu lassen.
Clara erinnerte sich, daß er sogar einmal Liebesbriefe zurückzukaufen versucht hatte, nicht weil er sich für die Korrespondenz mit Elvira Fraternelli Leoni geschämt hätte, sondern weil er den Briefwechsel mit der römischen Geliebten als Grundlage für ein neues Buch benötigte.
D’Annunzio hatte Eleonora Duse schon in Rom angesprochen, nach der Aufführung der Kameliendame, doch die Diva war an diesem Rapagnetta, wie er tatsächlich geheißen hatte, nicht interessiert gewesen, weshalb er es in Venedig wieder versucht hatte.
Im Grunde ist dieser Dichter der Bedeutung seines echten Namens, kleine Rübe, nie entwachsen, dachte Clara, mag er noch so sehr die Pose eines Renaissancefürsten oder römischen Herrschers eingenommen haben.
Bei Ala rückten die Berge wieder näher zusammen, als versammelten sie sich an dieser Stelle noch einmal zu einem einzigen großen Staunen über die sich vor ihnen öffnende Ebene. In den kleinen Dörfern der Umgebung waren die Häuser eintönig grau und beige, als sei die Sonne hier schon stärker und brächte die kräftigen Farben zum Verschwinden.
Ala war für Clara immer schon der Ort des Atemholens gewesen, der Ort, an dem sich die Beklemmung gelegt hatte, an dem die zuschnürenden Gefühle wie mit einer Schere durchschnitten worden waren. Der Zug raste in den Tunnel, fuhr eine leichte Rechtskurve und kam am anderen Ende in der Ebene, im Hellen und Offenen, wieder heraus. Auf die vielen Apfelbäume folgten nun Pfirsichbäume, und entlang der Bahngeleise war jetzt, wie in den Vororten von Rom, Schilfrohr zu sehen.
Doch das Gefühl, die Berge zurückgelassen zu haben, war dieses Mal nicht befreiend. Clara empfand die Ebene zum ersten Mal als haltlos.
Und haltlos weinte sie plötzlich um Ines, als sie sich an den Geruch nach Mottenkugeln erinnerte, der dem schwarzen Kleid von Ines’ Tante angehaftet hatte.
Vor ihren Körper schoben sich Dutzende andere, und die Haare waren einmal lang, einmal kurz, erst glatt, dann wellig, nicht zu vergessen die verschiedenen Farben und Tönungen, die er ihren Frisuren verpaßte. Paul schaffte es nicht, durch dieses imaginäre Perückenspiel herauszufinden, wie sie damals ausgesehen hatte.
Vor ein paar Tagen war er auf Ines’ Wunsch in die Galleria Alberto Sordi gekommen. Sie habe die Telefonnummer von einem Bekannten erhalten und gehört, daß er wieder in Rom lebe und Führungen durch das faschistische und besetzte Rom anbiete. Ines hatte schon im Café gewartet, als Paul verschwitzt und mit einer zwanzigminütigen Verspätung in der Galerie angekommen war.
Er hatte überhaupt kein Bild zu ihrem Namen gehabt, und es fielen ihm noch immer keine Begebenheiten und Ereignisse von damals ein, obwohl sie schon am Telefon, vor dem gemeinsamen Treffen, gesagt hatte, daß sie sich 1978 im Hotel Manente begegnet und sogar nähergekommen seien. Im Laufe des Gesprächs hatte Paul diesen verwilderten Hotelgarten vor Augen gehabt, und als hätte Ines mit ihren genauen Beschreibungen eine Schneise in das Vergessensdickicht geschlagen, sah er nach und nach die Umrisse einer baufälligen kleinen Holzhütte vor sich, bei der sie sich angeblich an zwei oder drei Abenden getroffen hatten.
Von dem mittlerweile fast fünfzigjährigen Gesicht auf das der jungen Ines zu schließen, wollte ihm nicht gelingen, noch immer nicht, obwohl er die Erfahrung gemacht hatte, daß man manchen Erinnerungen nur etwas Zeit zum Wachsen lassen mußte. Er hatte letzte Nacht sogar seine Fotokiste hervorgeholt, war aber nicht fündig geworden.
Paul schob die leere Kaffeetasse von sich weg und verließ die Bar Orologio hinter der Piazza del Popolo, überquerte die Straße und verschwand in den stinkenden Gängen der Metro. Eigentlich hätte diese Ines auch eine andere Frau sein können, denn all das, was er jetzt mit ihr verband, hätte Paul mit einer x-beliebigen Frau in Zusammenhang bringen können. Sein Gedächtnis war so schlecht, daß er kurz überlegte, ob sie sich diese gemeinsame Geschichte vielleicht nur ausgedacht hatte, doch die Einzelheiten, die Ines über den Garten und über Pauls Studentenzimmer, das sich in jenem Hotel befunden hatte, erzählen konnte, bezeugten, daß sie die Wahrheit sagte. Sie hatte sich an den Namen der Köchin und sogar an den Stoff, den er damals für die Prüfung vorbereitet hatte, erinnern können, während sich bei Paul die Gegenwartsbilder so vehement in den Vordergrund schoben, daß er nach kurzer Zeit kapitulierte.
Er hatte sich auf diese Begegnung gefreut, zumal er seit mehr als zwei Jahren ohne Beziehung lebte, doch ihre rauhe dunkle Stimme am Telefon, die er als aufregend empfunden hatte, war in dem gemeinsamen Gespräch nicht mehr zur Geltung gekommen. Ihr weißes T-Shirt war zwei Nummern zu groß gewesen, und der Kurzhaarschnitt hatte ausgesehen, als habe sich die Friseurin dafür nicht viel Zeit genommen. Ines erzählte mit wenigen Worten, daß sie sich mit Nachhilfestunden in Deutsch, mit gelegentlichen Übersetzungsarbeiten und kurzen Artikeln über Wasser halte, daß das Interesse an der deutschen Sprache jedoch abnehme und die Übersetzungen und Zeitungsartikel schlechter bezahlt würden als früher. Die freie Zeit nütze sie, um an einem mehrbändigen Werk zu arbeiten.
Sie hatte mehrbändig gesagt, dachte Paul und stieg an der vorletzten U-Bahn-Haltestelle aus, um den Bus Richtung Ex Forte Braschi zu nehmen. Der Name erinnerte Paul an den Palazzo Braschi in der Innenstadt, unweit der Piazza Navona, in dem er vor einigen Monaten eine Fotoausstellung besichtigt hatte. Es waren Bilder Giuliana de Sios und Vittorio Gassmans aus den achtziger Jahren zu sehen gewesen, wunderschöne Gesichter, die in einem krassen Widerspruch zu den Assoziationen standen, die der Name Braschi in ihm geweckt hatte. Auch jetzt mußte Paul wieder an die repubblichini denken, an die Faschisten, die den Palast als Versammlungsort gewählt hatten. Schon im Innenhof – Paul hatte die Eintrittskarte noch gar nicht gekauft – war er den Gedanken nicht losgeworden, daß an diesem Ort der Kunst und Kultur gefoltert worden war. Von hier aus machten faschistische Schlägertrupps Jagd auf geflohene alliierte Kriegsgefangene, auf königstreue Carabinieri, Antifaschisten und Juden. Nichts in dem Gebäude erinnerte an die Vorfälle.
Statt dessen war jetzt ein Premier an der Macht, der die faschistische Diktatur als gutartig bezeichnete, der eine Tourisusministerin tolerierte, die unlängst bei einem Carabinieri-Fest die Hand zum faschistischen Gruß erhoben hatte. In Deutschland, dachte Paul, wäre diese Frau Brambilla ihres Amtes enthoben worden, hier hingegen konnte man sich der Unterstützung des Premiers sicher sein, auch wenn man als Fußballspieler die Tätowierung DUX für Duce am Oberarm trug und nach dem Spiel den rechten Arm für alle sichtbar in den Himmel reckte.
Paul versuchte während der Fahrt den Stadtplan zu öffnen, ließ es dann aber bleiben, weil er die Straße, nach der er suchte, nicht sofort fand. Er stieg aus. Der Plan, den er bei sich hatte, war ungenau, manche Straßenbezeichnungen waren aus Platzgründen nicht ausgeschrieben, und Paul verstand nicht immer, wo die eine Straße aufhörte und die andere begann. Von der Via Cardinal Garampi bog er in eine Seitenstraße ab, weil er in dieser Gegend noch andere Straßen vermutete, die nach Kardinälen benannt worden waren, so, wie es ganze Viertel gab, in denen die Straßen die Bezeichnungen der italienischen Städte, Provinzen oder Flüsse trugen. Die Frau im Tabakladen hatte noch nie von einer Via Cardinal Sanfelice gehört, sie war aber so freundlich, im Internet nachzusehen, und sagte ihm dann, daß er in das Zentrum von Boccea zurückfahren müsse; die Via Cardinal Sanfelice befände sich nicht weit vom Kaufhaus Upim.
Der Bus war überfüllt von Pensionisten, die mit Stöcken gingen und Taschen bei sich trugen. Eine Philippinerin half einer Frau in den Sessel. «Viel zu hoch, viel zu hoch», sagte die alte Dame und schüttelte den Kopf.
In den Wohnvierteln hier draußen gab es kaum Geschäfte, alle mußten zum Einkauf ins Zentrum von Boccea. Die Linie 49 fuhr den Pinienwald entlang, der sich über mehrere Kilometer auf einer leichten Anhöhe hinzog, so daß Paul zwischen den Baumstämmen den Himmel sah und einen Augenblick lang der Täuschung erlag, dort hinter dem Wald begänne das Meer. Das Licht war an diesem Tag so grell, daß sich hinter den Bäumen auch eine Sandwüste hätte auftun können. Da und dort streunten Hunde. Auf der anderen Straßenseite waren mehrstöckige Häuser zu sehen, umgeben von üppiger Vegetation.
Paul dachte noch immer an Ines, die bald aufgebrochen war, so als sei es ihr unangenehm gewesen, länger in Gesellschaft eines Mannes zu sein, mit dem sie ihre Erinnerungen nicht teilen konnte. Er hatte sich nicht getraut zu fragen, ob sie damals auch miteinander geschlafen hatten. Aus ihren Anspielungen vermutete er es.
In der Via di Boccea stand der Verkehr; zwei Romafrauen mit mehreren Kindern bettelten an der Bushaltestelle die aussteigenden Fahrgäste an, eine der Frauen bot ihren Dienst als Wahrsagerin an. «Ich bin sechzig, gesund und arbeite!» rief ein Mann und lief davon.
Nachdem Paul um mehrere Häuserblöcke herumgegangen war und vergeblich hinter dem Kaufhaus Upim nach der Via Cardinal Sanfelice Ausschau gehalten hatte, versuchte er es auf der anderen Straßenseite. Die Menschen, die er nach der Straße gefragt hatte, waren nicht einmal stehengeblieben, sondern kopfschüttelnd weitergegangen.
Wieder stand er vor einer Via Cardinal, wieder war es der falsche Kardinal. Was mache ich überhaupt hier, fragte sich Paul. Was interessiert mich das Leben dieses Sturmbannführers und seiner Gefolgsleute. Es hatte Paul überrascht, daß auch Ines nach ihm gefragt hatte, daß es überhaupt noch Menschen gab, für die der Sechsundneunzigjährige noch nicht tot war. Ines hatte sogar seinen Decknamen Otto Pape gekannt und gewußt, daß er mit einem Reisepaß des Roten Kreuzes über Südtirol und Rom ins argentinische Bariloche ausgewandert war und dort bis 1995 unbehelligt leben konnte.
Wäre Ines etwas jünger und weniger burschikos gewesen, ich hätte sie zum Abendessen eingeladen, dachte Paul.
Er ging noch einmal um den Häuserblock und blieb plötzlich stehen: Die eine Via Cardinal löste die andere ab, deswegen hatte er die Via Cardinal Sanfelice nicht sofort gefunden. Die Straße mündete in einen Platz, der ebenfalls nach einem Kardinal benannt war. Paul fand, daß die geistlichen Straßenbezeichnungen zur Adresse des Alten paßten, denn schließlich hatte er sich wie die meisten seiner Sturmbannführerfreunde mit Hilfe kirchlicher Fluchthelfer ins Ausland abgesetzt.
Vor dem Wohnhaus, einem fünfstöckigen Kondominium, stand ein unbesetzter Streifenwagen. Paul entdeckte die Polizistin in der gegenüberliegenden Bar; sie lehnte an der Theke, war in ein Gespräch mit dem Barbesitzer vertieft und trank Orangensaft. Paul trat ein und stellte sich dazu.
An einem Tisch saß ein alter Mann und las die Gazzetta dello Sport. Nein, jener andere war es nicht, der hatte mindestens zwei Jahrzehnte mehr auf dem Buckel, war dünner und hatte weniger Haare auf dem Kopf. Die letzten Bilder, die Paul von ihm gesehen hatte, zeigten einen rüstigen Mittneunziger auf dem Rücksitz eines motorino; sein Freund und Anwalt Paolo Giachini hatte ihn eine Zeitlang in sein Innenstadtbüro mitgenommen, bis die Proteste gegen die Lockerung des Hausarrests so heftig geworden waren, daß das Militärgericht die Hafterleichterungen wieder zurücknehmen mußte. Der stadtbekannte Neofaschist, dessen Name Giachini an giaco, das Panzerhemd, erinnerte, hatte den Alten in seine Wohnung aufgenommen; er war in den Augen der Altnazis, die sich um die Freilassung des Verurteilten bemühten, ein bewundernswerter Schutzengel.
Paul setzte sich so hin, daß er das Haus im Auge behalten konnte. Er wollte warten, bis die Polizistin nach draußen ging, und dann mit dem Barbesitzer plaudern. Aber was wollte er ihn eigentlich fragen?
Die Fenster im dritten Stock waren alle vergittert, die Jalousien heruntergezogen. Paul suchte auf dem Display seines Mobiltelefons nach Ines’ Nummer; er überlegte, ihr eine kurze Nachricht zu schicken, daß er sich jetzt vor jenem Appartementhaus befand, in dem der ehemalige SS-Mann Erich Priebke unter Hausarrest stand. Während er die Buchstaben eintippte, flatterten diffuse Ines-Bilder in seinem Kopf herum, die so bewegt und unruhig waren, daß Paul vieles und gleichzeitig nichts in ihnen erkennen konnte. Am Ende löschte er die Nachricht und wunderte sich über seinen plötzlichen Mitteilungsdrang, der ihm lächerlich erschien.
Clara hatte ihr Taschentuch mit Speichel befeuchtet und das Mascara wegzuwischen versucht, bevor die vielen Menschen zustiegen, die auf dem Bahnsteig standen. Sie erinnerte sich, daß auf ihrer letzten Reise nach Venedig, im Frühling dieses Jahres, der Klatschmohn zwischen den Schienen geblüht hatte. Der schwarze Punkt in der Mitte der Blüte stehe für das Liebesleid, hatte Ines ihr als Mädchen erklärt. Als Clara einmal in ein Getreidefeld gelaufen war und einen Mohnblumenstrauß gepflückt hatte, war sie mit den bloßen Stengeln nach Hause gekommen; keine einzige Blüte hatte den Heimweg überlebt.
Seit Ines tot war, fielen Clara Begebenheiten aus Kinder- und Jugendtagen ein. Sie waren gemeinsam zur Schule gegangen, hatten voneinander abgeschrieben, einander die Rechenwege telefonisch durchgegeben. Sie waren über den Gartenzaun einer deutschen Ferienvilla gestiegen und hatten in dem Pool gebadet, wenn der Besitzer für ein paar Tage in seine Heimatstadt Dachau zurückgekehrt war. All dies konnte Clara nun nicht mehr mit Ines besprechen.
Das Abteil füllte sich bis auf einen Platz. Die Nähe von so vielen Menschen war Clara unangenehm. Sie sah zum Fenster hinaus, als könnte ihr Körper zusammen mit ihren Blicken den engen Raum verlassen.
Ines hatte sich manchmal versteckt, wenn sie Bekannte oder Freunde auf der Straße entdeckt hatte. Sie war in Hauseingänge verschwunden oder hatte Geschäfte betreten, nur um nichts sagen zu müssen, hatte es an manchen Tagen nicht ausgehalten, wenn sie angesprochen worden war, wenn jemand neben ihr telefoniert hatte.
«Warum hast du dir ausgerechnet Rom als Wohnort ausgesucht?» hatte Clara sie gefragt.
Aber es war nicht der Lärm gewesen, der Ines gestört hatte. Es war ihr unerträglich gewesen, wenn irgendwelche Leute in diese Wolkensprache, die ohne Rückzug nicht zu haben war, hineingeplatzt waren, wenn sie das, was in Ines’ Kopf gewachsen war, mit ihren Reden zugedeckt hatten. Dann war sie auf Distanz gegangen, hatte nicht gezögert, Freunde und Bekannte vor den Kopf zu stoßen.
Clara mußte an einen Streit mit ihrem Mann denken, der sich öfters abfällig über Ines geäußert hatte. «Wie gut, daß sie kinderlos ist», hatte Claus gesagt, nachdem sich Clara – es war letzten Herbst gewesen – über die Unzuverlässigkeit ihrer Freundin beklagt hatte; Ines war wieder einmal nicht ans Telefon gegangen. Clara hatte daraufhin Claus den Unterschied zwischen authentischen Kindersätzen und Alltagsgerede zu erklären versucht, hatte Ines’ Rückzugstendenzen verteidigt. «Niemand hat mehr an Ines gehangen als Gesine, als sie noch klein gewesen ist, erinnerst du dich? Sie hat gespürt, daß sie von Ines ernst genommen wurde. Während wir beide sie oft unterschätzt haben.»
Mit jedem Kilometer, den der Zug zurücklegte, fühlte Clara sich leerer. Sie fand keine Worte für ihren Zustand, sah immer wieder suchend zum Fenster hinaus. Etwas ist mit Ines’ Tod aus mir herausgeschält worden, ein Teil des Gehäuses. Falsch, dachte Clara. Was für ein lächerliches Küchenbild. Ich habe Angst, daß diese jahrelange Freundschaft vergehen, daß sie sich in Anekdoten auflösen könnte. Blödsinn. Es ist doch alles schon zu Ende. Und unser Stillbach hat schon angefangen auszutrocknen, lange vor Ines’ Tod.
Wo war die Stelle? Clara blätterte in der Mappe. Irgendwo hatte sie ein paar Bemerkungen über ihr Dorf gelesen – da:
In Stillbach war der Bach nie still. Selbst dort, wo man ihn unter die Erde verlegt hatte, weil in ihm schon mehrere Kinder ertrunken waren, hörte man dieses ununterbrochene Rauschen, dieses Gurgeln und Sprudeln, das nahezu an allen Ecken und Enden des kleinen Ortes einmal leiser, einmal lauter zu vernehmen war – je nach vorangegangener Witterung. War es lange trocken gewesen, floß das Wasser in Rinnsalen Richtung Tal.
In meinem Gedächtnis ist Sommer, dachte Clara. Was noch an Erinnerungen da ist, wird nach und nach versickern.
Sie sah in die Gesichter der Mitreisenden, zog den Terminplaner und Ines’ Handy aus der Tasche. Ein Lastwagenfahrer aus Stillbach, der die Strecke Bozen–Rom–Bozen zweimal die Woche fuhr, hatte ein paar persönliche Dinge von Ines nach Stillbach gebracht. Ines’ Wohnungsvermieterin hatte sie ihm übergeben. In den letzten Jahren war der Mann immer wieder mal als Botendienst eingesetzt worden, hatte Pakete und Kisten von da nach dort geliefert, war sogar ein paarmal mit Ines in Rom essen gegangen.
Geld habe er dieses Mal keines genommen, hatte die Tante erzählt. Sie, Clara, könne sich jederzeit an den Mann wenden, er habe versprochen, beim Transport von etwaigen Möbeln behilflich zu sein. «Er ist ein Freund der Familie, ein guter Mensch.»
Darüber, daß Clara den Umweg von Wien über Stillbach genommen hatte, um nach Rom zu fahren, war die Tante so dankbar gewesen, daß sie minutenlang Claras Unterarm gestreichelt hatte.
«Aber ich weiß so wenig über Ines.»
«Bestimmt mehr als ich», hatte die Tante gesagt. Sie habe Ines seit Jahren gebeten, nach Stillbach zurückzukommen. Das Kind habe ihr schon längere Zeit nicht mehr gefallen. «So dünn. – Ausgezehrt. – Und ich bin schuld. Ich habe sie angestiftet zu diesem Wanderleben. Ines’ Mutter hat mir das nie verziehen.»
Aber Ines war doch seßhaft gewesen, dachte Clara, seßhafter als sie selbst. Vermutlich führten in den Augen der Tante all jene ein Wanderleben, die nicht mehr nach Stillbach oder in seine nähere Umgebung zurückgekehrt waren. Die Ansichtskarte von der Fontana di Trevi, welche Ines’ Tante ihr dann gezeigt hatte, dieses abgegriffene, auf Karton aufgeklebte Schwarzweißbild, das sie immer mit sich herumzutragen schien, war aus dem Jahr 1978 gewesen. Clara hätte die Grußkarte auch ohne Poststempel datieren können, weil sie diese schnörkellose, zu expressiven Verschlaufungen neigende Handschrift unter tausenden wiedererkannt hätte.
Damals, in den letzten zwei Jahren am Gymnasium, hatte Ines’ und Claras Schrift eine leichte Neigung nach links gehabt. Sie waren beide der Meinung gewesen, ihre politische Haltung müsse auch in der Handschrift ihren Ausdruck finden. Erst als sie in einem graphologischen Handbuch gelesen hatten, daß die Linksneigung negativ zu bewerten sei und für übertriebene Selbstbezogenheit stünde, hatten sie sich wieder für eine etwas schlampigere, schnell verbundene Schrift mit geradestehenden Buchstaben entschieden, die vor allem ihre Persönlichkeit hervorstreichen sollte. Clara entsann sich, daß sie beide mehrere Nachmittage damit verbracht hatten, die neue Handschrift einzuüben.
Überall in den Bahnhöfen, auch in den kleinen, in denen der Zug nicht stehenblieb, waren Travertin-Verschalungen zu sehen. Die Bänke auf den Bahnsteigen, die Trinkbrunnen und die dachtragenden Säulen bestanden aus dem vertrauten Stein, den Ines so gemocht hatte. Schon in den Bahnhöfen, hatte sie einmal gesagt, werde man an die hellen Prachtbauten, an die Kirchen und Basiliken, Stadien und Brunnen aus Kalktuff erinnert, die einen am Ziel der Reise erwarteten.
Verstohlen sah Clara die Fahrgäste an; sie hatte seit diesem Morgen nichts mehr zu sich genommen, spürte, wie es in ihrem Magen rumorte. Doch die Mitreisenden schienen dieses Knurren nicht bemerkt zu haben.
Clara steckte die einzelnen Blätter zurück in die Mappe und überlegte, in den Speisewagen vorzugehen, schlug dann aber den Terminplaner auf. Einige Verabredungen hatte die Tante abgesagt. Um die anderen, welche die Arbeit für das Übersetzungsbüro betrafen, hatte sich bereits eine Kollegin von Ines gekümmert. Clara sollte vor Ort die einzelnen Nachhilfeschüler von Ines’ Tod benachrichtigen und jene Freunde anrufen, welche die Tante noch nicht erreicht hatte. Was, wenn sie den Zugangscode zu Ines’ Computer nicht herausfand?
Beim Durchblättern des Terminkalenders, der zu Claras Erstaunen über deutsche, österreichische und schweizerische Service- und Notrufnummern verfügte und keinerlei Bezug auf das italienische Umfeld nahm, in dem Ines gelebt hatte, rief die Handschrift der Freundin eine quälende Nähe hervor. Clara versuchte sich zu beherrschen, sah in das Gesicht der Frau, die ihr gegenübersaß und konzentriert Sudokus löste, aber es half nichts.
Manche Ortsangaben, Namen und Uhrzeiten mußte die Freundin stehend und in großer Eile notiert haben; die Schnelligkeit beim Schreiben war zu Lasten der Genauigkeit gegangen; vieles war kaum zu entziffern; am Ende wußte Clara nicht mehr, ob es an Ines’ Schrift lag, daß sie das Geschriebene nicht lesen konnte oder an ihrem eigenen verschwommenen Blick.
Abrupt stand sie auf, entschuldigte sich beim älteren Herrn neben ihr, weil sie sein Knie berührt hatte, und stieg über die Beine der anderen Fahrgäste hinaus auf den Gang. Die Stirn ans Fenster gedrückt, blickte sie in die Landschaft: Kornfelder fügten sich an Kornfelder, ab und zu waren sie von Pappelalleen eingesäumt, und über den rechteckigen Getreideanbauflächen war dermaßen viel Himmel, daß Clara schwindelig wurde. Sie zwang sich, sehr tief und langsam zu atmen.
Vielleicht sollte sie endlich etwas essen. Sie drehte sich um und ging in den Speisewagen.
Nachdem sich Marianne für Beppe entschieden hatte, war Paul in Rom geblieben. Er hatte seine Wohnung in Wien vermietet und sich vorübergehend ein monolocale gesucht. Die Mieten waren in den letzten Jahren derart gestiegen, daß Paul die Suche nach einer geräumigeren Wohnung aufgegeben hatte. Solange es keine neue Frau in seinem Leben gab, sah er auch keinen Grund, aus der Einzimmerwohnung auszuziehen; das Appartement lag auf dem Viale Trastevere, ein paar Minuten von Nanni Morettis Cinema Nuovo Sacher entfernt. Zwar war die Wohnung etwas dunkel, weil die beiden Fenster auf den Hinterhof und nicht auf die breite Straße hinausgingen, doch mochte Paul die Nähe zur Porta Portese, wo er sich jeden Sonntag früh, während der Alte angeblich seine Runden im Park drehte, unter die Flohmarktbesucher mischte.
Die Polizistin, die Paul nach kurzem Zögern auf der Via Cardinal Sanfelice angesprochen hatte, war freundlich gewesen und hatte ihm erzählt, daß Signor Priebke zweimal in der Woche Ausgang habe, daß er sich guter Gesundheit erfreue und geistig fit sei. Wenn Paul ihn interviewen wolle, müsse er das Militärgericht um Erlaubnis fragen. Priebke sei Gesprächen nicht abgeneigt. Paul hatte sich beim Anblick der großgewachsenen und korpulenten Frau gefragt, ob sie mit all den Kilos am Leib imstande wäre, jemandem nachzulaufen, auch schien ihm die Beaufsichtigung des Häftlings äußerst lückenhaft, denn während die Polizistin mit dem Barbesitzer gesprochen hatte, war der Hauseingang unbeobachtet gewesen.
Ob sie hier sei, um Priebke zu bewachen, hatte Paul gefragt. «So viele Polizisten gibt es in Italien nicht, daß man alle, die unter Hausarrest stehen, im Auge behalten könnte. Hier leben viele Juden.» Die Polizistin hatte sich ins Auto gesetzt und die Tür offengelassen. «Deswegen sind wir hier.»
Im Dezember 1997, als man den Verhafteten nach Boccea gebracht hatte, waren noch zehn Carabinieri, zwei kleine Panzerfahrzeuge, mehrere Streifenwagen und Soldaten mit Maschinengewehren vor dem Haus gestanden. Die Anrainer hatten Spruchbänder über der Bar und an den Balkonen befestigt, Buon Natale, assassino, Frohe Weihnachten, Mörder, und Priebke, vattene da casa nostra, Priebke, verschwinde aus unserem Haus. Im selben Kondominium, in dem dieser Giachini den Häftling aufgenommen hatte, lebten zwei Cousins, die von den Nazis verschleppt worden waren, und ein alter Herr, der Buchenwald überlebt hatte. All die Proteste der Bewohner des Viertels, der jüdischen Gemeinde und der Rifondazione Comunista waren unerhört geblieben. Aus Krankheitsgründen war Priebke aus dem Gefängnis entlassen und in das hundertzwanzig Quadratmeter große, helle Appartement gebracht worden, dessen Fenstergitter Giachini irgendwann zum Schutz vor Dieben hatte anbringen lassen. Hinter den Jalousien trainierte der ehemalige SS-Offizier auf einem Standfahrrad.
Paul saß auf seinem Schreibtischsessel; er lehnte sich zurück und verschränkte die Arme hinter seinem Kopf. Vor ihm lagen verschiedene ausgedruckte Zeitungsartikel aus dem Archiv des Corriere della Sera.
Einen ganzen Vormittag hatte er damit verbracht, zum Wohnort des Alten zu fahren und sich das Haus und die Umgebung anzuschauen; was hatte er sich davon versprochen? Einen Blick auf den Mann werfen zu können? Er wußte doch, wie der aussah. Ohne das Wissen um dessen Geschichte würde er ihn sogar als attraktiv bezeichnen.
Solche Leute, hatte Marianne einmal gesagt, müßte man nach ihren eigenen Maßstäben bestrafen. Das hatte sie nur sagen können, weil sie die Maßstäbe jenes Herrn nicht kannte. Paul wußte von den speziellen Verhörmethoden des SS-Mannes, daß er in den ersten Tagen der deutschen Besatzung einschlägige Erfahrungen im Keller der Botschaftsvilla Wolkonsky gesammelt und diese dann im Gestapo-Hauptquartier angewendet hatte.
«Mattei ist schrecklich. Er ist schrecklich still», hatte Priebkes Vorgesetzter, SS-Obersturmbannführer Herbert Kappler, gesagt und Priebke holen lassen. Aus Angst, den physischen und chemischen Folterungen nicht standzuhalten und die Genossen zu verraten, hatte sich der Kommunist Gianfranco Mattei in seiner Zelle erhängt.
«Spegni Via Tasso, Mach die Via Tasso aus!» – andere, die überlebt hatten, konnten kein Licht mehr ertragen.
Paul stand auf und öffnete den Kühlschrank. Mit Ausnahme eines Stückes Parmesan, dreier Zwiebeln und mehrerer Cocktailtomaten, deren Haut nicht mehr frisch aussah, war er leer. Nicht einmal den Weißwein hatte Paul kühl gestellt. Er drückte ein paar Eiswürfel aus dem Plastikbehälter in ein Glas und öffnete eine Flasche Pinot Grigio. Als er zum Fenster trat, winkte die Nachbarin herüber; in der anderen Hand hielt sie die Gießkanne, mit der sie die Geranien goß. Brennende Liebe, dachte Paul, aus der Familie der Storchschnabelgewächse. Er war einmal mit einer Botanikerin zusammengewesen, ein paar Wochen. Sie hatten einander nicht verstanden. Aber Paul wußte noch immer, daß es eine Kletterpflanze namens Clitoria gab, die ihrem Namen alle Ehre machte.
Nachdem er den Wein ausgetrunken hatte, ließ er sich aufs Bett fallen. Er zog den Reißverschluß seiner Hose auf und faßte sich an den Schwanz, massierte ihn kurz. Die üblichen Vorstellungen halfen nicht, daher setzte er sich wieder an seinen Laptop und schaute sich ein paar YouPorn-Filme an. Das Taschentuch warf er in den Papierkorb.
Er hatte keine Lust zu arbeiten. Ines hatte sich nicht mehr gemeldet, obwohl sie angekündigt hatte, daß sie ihn nochmals anrufen würde. Sie habe da noch ein paar Fragen zu 1978.
Was wollte sie denn wissen? Daß man trotz der geringen Reformbereitschaft der Christdemokraten ein paar Gesetze erlassen hatte? Daß man nutzlose Einrichtungen aus der Zeit des Faschismus, die nur der Unterbringung der eigenen Klientel dienten, aufgelöst und endlich auch den equo canone, ein Gesetz gegen den Mietwucher, durchgesetzt hatte? Daß der movimento del ’77, diese militante Stadtindianerbewegung, die für Sabotageaktionen und Raubüberfälle auf Geschäfte und Firmen verantwortlich gewesen war, damals ihren Höhepunkt erreicht hatte? Daß Leute aus dieser guerriglia diffusa unliebsamen Journalisten, Politikern und Vertretern der Staatsgewalt in die Beine geschossen und traumatisierte Krüppel aus ihnen gemacht hatten?
Warum interessierte Ines ausgerechnet diese bleierne Zeit? Weil man damals die Menschenwürde der Irren wiederherzustellen vermeinte, indem man sie aus den psychiatrischen Kliniken in die unbeholfenen und überforderten Arme ihrer Familien entlassen hatte? Es war ja alles richtig und gutgemeint gewesen, dachte Paul, doch hatte er eine Studentin gekannt, deren Bruder von einem Tag auf den anderen wieder zu Hause gewesen war und alle mit seinem Verfolgungswahn terrorisiert hatte. Einmal war die junge Frau vier Stunden mit diesem Bruder in der Toilette eingesperrt gewesen, weil er den Schlüssel abgezogen und in die Kloschüssel geworfen hatte. Die geschlossene Anstalt war in die elterliche Wohnung verlegt worden. Es hatte keine das Gesetz begleitenden Maßnahmen gegeben, wie so oft in Italien.
Paul schenkte sich Wein nach. Er ging in seinem Zimmer auf und ab. Aus den Blumentöpfen der Nachbarin rann das überschüssige Wasser ab; es fiel in dicken Tropfen auf das Wellblech, das einen Teil des Innenhofs überdachte. Paul vernahm das schnell aufeinanderfolgende Klopfen, er hörte, daß die Intervalle immer größer wurden, bis das Geräusch verstummte. Unter dem Blechdach befand sich eine kleine Werkstatt für motorini, vor allem aber für alte Vespas und Lambrettas. Paul fragte sich, wie der junge Mechaniker davon leben konnte, denn mehr als um eine Liebhaberei konnte es sich bei dieser officina nicht handeln. Oft war die Werkstatt tagelang geschlossen, dann wieder hörte Paul Musik, und der Rauch von Cannabis stieg herauf.
1978 im Herbst hatte Paul eine gebrauchte Lambretta erworben und sie ein Jahr später weiterverkauft, weil er nach Wien zurückgekehrt war. Heute wäre der Roller einiges wert. Warum konnte er sich an die weiße Lambretta mit dem roten Cockpit und den beiden beigefarbenen hintereinander angebrachten Schwingsätteln erinnern, nicht aber an die damalige Ines?
Sie hatte in diesem Galerie-Café wissen wollen, ob Priebkes Aufenthaltsort 1978 bekannt gewesen sei. Was interessierte sie an dem alten Herrn?
Obwohl Paul über den Mann gut informiert war, hatte er nur mutmaßen können. Priebke war in der Silvesternacht 1946/47 zusammen mit drei anderen Unteroffizieren und einem Offizier aus dem britischen Kriegsgefangenenlager in Rimini-Bellaria entkommen und nach Südtirol geflohen; er hatte von Jänner 1947 bis Oktober 1948 mit seiner Familie in der Sterzinger Bahnhofstraße gewohnt. Vermutlich war ihm der dortige SS-Oberscharführer und Mitarbeiter des Gestapo-Kommandos in Bozen, Rudolf Stötter, behilflich gewesen, der auch noch anderen Herren übergangsweise ein Quartier in seiner Heimatstadt oder ein Versteck in den umliegenden Bergen hatte verschaffen können.
Getarnt als einer der vertriebenen lettischen Volksdeutschen, die staatenlos waren, suchte Priebke nach dem Krieg unter dem falschen Namen Otto Pape um einen Reisepaß an.
Ines hatte nicht glauben können, daß sich in dem Bozner Franziskanerkloster, dessen Gymnasium seit mehr als zwei Jahrhunderten als Eliteschmiede des Landes galt, eine wichtige Fluchthilfestelle für Naziverbrecher befunden hatte. Auch Adolf Eichmann war nach einem Zwischenstop in Sterzing längere Zeit im Bozner Kloster gewesen. Im Gegensatz zum SS-Lagerarzt Josef Mengele, dessen Familie eine florierende Firma für Landmaschinen besaß, konnte sich Eichmann keine teuren Südtiroler Hotels als Unterschlupf leisten. Ebensowenig Priebke, der von den Bozner Patres während seiner Fluchtvorbereitungen im alten Spital untergebracht worden war. Im Sommer 1948 beantragte Herr Pape, der im richtigen Moment ein wichtiges Empfehlungsschreiben von der Päpstlichen Hilfskommission in Rom erhalten hatte, einen Paß für seine Ausreise nach Argentinien.
Auf der San Giorgio, jenem Schiff, das Pape und seine Familie von Genua nach Buenos Aires gebracht hatte, war auch der Südtiroler Cornelio Dellai gewesen, jener Mann, der das Hotel Catedral in Bariloche verwalten sollte, in dem Pape Arbeit als Oberkellner fand. Ein Jahr nach seiner Ankunft in Südamerika war aus dem lettischen Pape schon wieder ein deutscher Priebke geworden, der bis zu seiner Entdeckung durch einen amerikanischen ABC-Journalisten im Jahr 1995 ein ungestörtes Leben in Bariloche verbringen konnte. 1954 erhielt Priebke dort eine Festanstellung im Hotel Sauter; er war bekannt für seine Personalkontrollen, überprüfte regelmäßig die Fingernägel, die Schuhe und die Bügelfalten seiner Untergebenen; in der Küche soll er dann Details vom Massaker in den Höhlen erzählt haben. Anfang der sechziger Jahre erwarb er ein Wurstgeschäft in Bariloche. Er saß im Vorstand der Deutschen Schule, der – so berichtete ein entlassener Lehrer – dafür gesorgt haben soll, daß Hitlers Mein Kampf in der Bibliothek blieb und die Werke Heinrich Bölls nicht gelesen wurden.
Offiziell habe man in Deutschland und Italien nichts über Priebkes Verbleib gewußt, doch einschlägige Kreise müssen informiert gewesen sein, hatte Paul zu Ines gesagt. Priebke sei von Argentinien aus nach New York, Paris und Südtirol gefahren; 1978 und 1980 war er sogar in Rom gewesen, hatte sich mit einem früheren Kameraden getroffen, der für den Geheimdienst tätig gewesen war.
Im August 1980 hatte ihn eine Gymnasiallehrerin, die ihre Kindheit in der Via Rasella verbracht hatte, wiedererkannt und angesprochen. Priebke sei in der Mittagshitze, begleitet von einer blonden Frau, auf den Stufen eines Hauseingangs in der Via Rasella gesessen, ein Sommerhütchen auf dem Kopf –
«Möglicherweise sind wir diesem Mann damals irgendwo in der Stadt begegnet», hatte Ines gesagt.
Das könne ihr heute auch noch passieren. Sie müsse nur am Mittwoch oder Sonntag um neun Uhr im Park der Villa Doria Pamphili spazierengehen. Die Anlage mit den vielen schattenspendenden Pinien hoch über der Stadt sei aber auch ohne den Alten einen Spaziergang wert, hatte Paul gesagt.
Ines war auf die Bemerkung nicht eingegangen, ihre Stirnfalten hatten einen so finsteren Gesichtsausdruck bewirkt, daß Paul sich einen Augenblick gefragt hatte, wie sie wohl nach einer Stirnstraffung aussehen mochte. Unlängst hatte er spät nachts in einem der Fernsehkanäle, die dem Premier gehörten, einen Bericht über Stirnlifting und die Korrektur von hängenden Augenbrauen gesehen. Der Chirurg hatte einen Streifen Haut aus der Gesäßfalte seiner Patientin entnommen und das zugeschnittene Implantat in die Lippe eingeführt. Ob der Premier auch Hautteile seines Hinterns im Gesicht trug?
Arschgesicht wird bald kein Schimpfwort mehr sein, dachte Paul. Er wollte sich noch etwas Wein einschenken, aber die Flasche war leer.
Kalte Luft blies Clara in den Nacken. Nachdem sie ein Sandwich gegessen hatte, bestellte sie sich ein zweites, und obwohl ihr der überteuerte Rotwein nicht geschmeckt hatte, bat sie den Kellner um eine weitere Piccoloflasche. Im Speisewagen saßen nur wenige Menschen; vielleicht lag es an der Klimaanlage.
Clara rief Claus an und fragte, ob zu Hause alles in Ordnung sei.
Gesine verbringe das kommende Wochenende bei einer Freundin, und er habe nichts Besonderes vor, sagte Claus. Dann schwieg er.
«Wie’s mir geht, interessiert dich nicht?»
«Ich warte», sagte Claus.
«Du willst es gar nicht wissen.»
«Mach jetzt kein Theater, Clara.»
«Warum rufst du nie an?»
«Ich wollte dich heute abend –»
«Das sagst du immer.»
Nach dem Gespräch war Claras Trauer für eine Weile verflogen. Sie schrieb eine vorwurfsvolle SMS, schickte sie aber nicht ab. Claus war bis vor einer halben Stunde im Krankenhaus gewesen, er hatte Frühdienst gehabt, war bestimmt müde. Der änderte sich nicht mehr.
Die Wünsche suchen uns aus, nicht wir die Wünsche, dachte Clara. Und mit zunehmendem Alter werden sie nicht weniger.
War der Satz von Ines oder aus einem Buch?
Ich habe D’Annunzios Roman zu Hause vergessen, fiel ihr ein. Das italienische Original ließe sich eventuell in Rom auftreiben, aber das würde nichts nützen, da sie die Zitate auf deutsch brauchte. Vielleicht hatte Ines Das Feuer in ihrer Bibliothek? Unwahrscheinlich. Im Gegensatz zu Clara, die schon in Stillbach damit begonnen hatte, italienische Autoren in deutscher Übersetzung zu lesen, wäre dies Ines nie in den Sinn gekommen. Sie hätte nicht einmal die Bücher Italo Svevos auf deutsch gelesen, dessen Italienisch als schwierig galt.
In Florenz änderte der Zug die Fahrtrichtung, so daß Clara aufstand und sich einen anderen Platz suchte; sie sah jetzt in das zarte Gesicht eines Mitreisenden, der von hinten ausgesehen hatte, als trainiere er täglich mit Hanteln und Theraband, um die Schultermuskeln zu stärken.
Sie dachte an jenen anderen Kopf, von dem irgendwo bei Brecht steht, daß er wie aus gelbem Wachs geformt sei, an die Rübe dieses Windhundezüchters. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als das vier Jahre andauernde Verhältnis zwischen D’Annunzio und der Duse in ihr Venedig-Buch aufzunehmen, wenngleich die Beziehung einseitig gewesen war. Auch mißfiel Clara die nahezu unverschlüsselte Darstellung des Künstler-Paares im Roman. Mußte Stelio ein exaltierter Dichterkomponist und Foscarina ausgerechnet eine devote, alte Schauspielerin sein, welche die Schwermut schon im Namen trug?
Als sich die beiden in Venedig getroffen hatten, war die Duse tatsächlich nicht mehr jung gewesen. Lieber als in einem der berühmten venezianischen Hotels hatte sie in einem kleinen Palazzo gewohnt, abgeschirmt von den neugierigen Gästen und Passanten. Sie hatte Hintereingänge benützt und auf dem Zimmer gegessen, um ungestört sein zu können, war das Gegenteil von ihrem nach Öffentlichkeit heischenden, sich zum Genie stilisierenden, Gott, Kunst und Vaterland besingenden poeta gewesen, der in ihr nur ein weiteres Weib für seine Kollektion gesehen hatte. Dabei war Eleonora Duses Renommee dem D’Annunzios mindestens ebenbürtig gewesen. Viele Zeitgenossen hatten ihn nur gekannt, weil er der Liebhaber der berühmten Schauspielerin gewesen war, weil die Klatschspalten der Zeitungen ausführlich über diese Liaison berichtet hatten.
Clara erinnerte sich vage an einen Duse-Brief, den sie vor ihrer Abreise aus Wien im Internet überflogen hatte; es war darin von den verschiedenen Arten der Liebe die Rede gewesen, von jener, die zum Guten führe, ebenso wie von jener anderen, welche die Willenskraft und die Bewegungen des Verstandes lähme. Letztere war der Duse als die wahrste, wenngleich auch als die verhängnisvollste erschienen. D’Annunzio, für den sie nichts als ein paar Stufen auf der Karriereleiter gewesen war, mußte sie betäubt haben. Anders war nicht zu erklären, warum sie ihm erlaubt hatte, zu ihr in den Palazzo Barbaro Wolkoff zu ziehen, warum sie ihn monatelang durchzufüttern gedachte. Für all seine mittelprächtigen bis peinlich-pathetischen Stücke hatte sie nach Aufführungsmöglichkeiten gesucht, hatte mit ihrem eigenen Kapital die Bühnenausstattung mitfinanziert und mit ihm sogar ein nationales Theater nach dem Vorbild von Wagners Bayreuth gründen wollen. Eine schwärmerische Närrin, für die er – wie für alle Frauen – nichts als Verachtung übrig gehabt hatte.
Ines hatte nie über ihre Verhältnisse gelebt. Wenn das Geld weniger geworden war, hatte sie sich mit pasta in bianco oder risi e bisi begnügt. Kleider hatte sie jahrelang auftragen können, bis sie in der Sonne glänzten.
Einmal hatte Clara der Freundin Geld angeboten, aber Ines war auf das Angebot nicht eingegangen, aus Angst, die zweitausend Euro nicht zurückzahlen zu können. Schlimmer als das Geldangebot hatte Ines Claras Mitleid gefunden, das sie als großzügige Geste der Arztgattin bezeichnet hatte. «Du kannst nicht für mich Claus’ Geld ausgeben», hatte Ines gesagt.
Ein Tunnel folgte auf den anderen, dazwischen tat sich jenes malerische Hügelland auf, das von Zypressen und Pinien durchsetzt war. Die weißen Punkte in der Ferne waren Schafe, die sich in der Gruppe fortbewegten.
Der Blick in diese Postkartenlandschaft stimmte Clara sentimental; sie haßte es, wenn Kitsch sie in Rührung versetzte, diese Abneigung hatte sie mit Ines geteilt.
Wie gut, daß sie D’Annunzios Roman zu Hause liegengelassen hatte. Nicht nur die einseitige Zeichnung der Foscarina vulgo Duse als schwärmerische und sich aufopfernde Sklavin der Begierde fand Clara widerwärtig, auch mit diesen melancholischen Untergangsstimmungen der spätherbstlichen Lagunenstadt – ein Windspiel verstand D’Annunzio sogleich in ein seidenüberzogenes Nervenbündel zu verwandeln – mochte sie sich gar nicht beschäftigen, obwohl Clara sich eingestehen mußte, daß der poeta ein Talent für die Beschreibung von Farben, Tönen und plastisch-fühlbaren Formen besessen hatte. Gleichzeitig konnte er aber nichts schreiben, was er nicht erlebt hatte, er schien das zwanghafte Bedürfnis zu haben, intime Details öffentlich zu machen. Um die Folgen scherte er sich nicht.
Clara öffnete Ines’ Terminplaner. In den ersten Monaten des Jahres tauchte immer wieder der Name Francesco auf, manchmal stand da lediglich der Buchstabe F. – ein Kürzel für diesen Namen? Dunkel erinnerte sich Clara an ein Telefongespräch mit Ines, in dem die Freundin von dem Sohn jener Stillbacherin gesprochen hatte, die noch vor Ausbruch des Krieges aus Arbeitsgründen nach Rom gezogen und dort geblieben war. Emma war ihr Name. Hatte der Sohn Francesco geheißen? Clara war sich nicht sicher. Jedenfalls hatten sich die beiden über Monate jeden Mittwochabend getroffen, dann waren die entsprechenden Spalten im Kalender plötzlich leer geblieben. Hatte sich Ines wieder in ihrem Gehäuse eingerichtet, die Fenster abgedichtet, die Ohren zugestöpselt und nachts ein Kissen auf und eines unter ihren Kopf gelegt? Der Small talk schnürt mir die Kehle zu, wie zu wenig oder schlechte Luft, hatte sie Clara vor einem Jahr geschrieben, sei mir nicht böse, wenn ich nicht zu Deiner Geburtstagsfeier komme. War Ines mit diesem Francesco ausgegangen? War ihr seine Gesellschaft zuviel geworden? Oder die seiner Freunde? Dieses Rudelgebaren? «Hast du einen Freund, kriegst du hier zehn dazu», hatte Ines einmal lachend erzählt.