Ein musikalischer Werkführer
Verlag C.H.Beck
Die von der Beethoven-Deutung ausgehende Publizistik, die den Aufstieg der Sinfonie zur repräsentativen instrumentalmusikalischen Gattung des bürgerlichen Zeitalters begleitete, ließ das Publikum des 19. Jahrhunderts im Werkverlauf zunehmend eine Bedeutung, eine Idee, einen «Sinn» suchen. Bruckners Sinfonien sind ästhetische Sinnstiftungsversuche eines Komponisten, dessen tiefe Frömmigkeit, die ihn von der intellektuellen Elite des liberalen Wien auffallend unterschied, zwar eine biografische Tatsache ist. Ob sie aber einen Einfluss auf das Komponieren seiner Sinfonien ausgeübt hat, muss offenbleiben. – Dies ist nur eine der vielen Fragen, denen Hans-Joachim Hinrichsen in seiner kleinen, aber ungemein informativen und luziden Einführung in das sinfonische Schaffen Bruckners nachgeht und dabei jede Sinfonie des Meisters der Romantik in ihrer Entstehung und ihren kompositorischen Besonderheiten vorstellt.
Hans-Joachim Hinrichsen lehrt als Ordinarius für Musikwissenschaft an der Universität Zürich. In der Reihe C.H.Beck Wissen ist von demselben Autor lieferbar: Franz Schubert (22014).
Siegfried Mauser – Rektor des Mozarteums Salzburg und Direktor der Abteilung Musik der Bayerischen Akademie der Schönen Künste – hat 1998 die Reihe der Musikalischen Werkführer im Verlag C.H.Beck gegründet und gibt sie bis heute heraus. In dieser Reihe, deren Themenspektrum von Bachs Konzerten bis zu Andrew Lloyd Webbers Musicals reicht, erschließen renommierte Vertreterinnen und Vertreter der Musikwissenschaft in konzisen Darstellungen kompetent und anregend bedeutende Werkgruppen im Œuvre großer Komponisten.
Erich W. Partsch in memoriam
Für die kritische Lektüre des Manuskripts bin ich Iris Eggenschwiler, Dominique Ehrenbaum und Felix Michel (Zürich) zu herzlichem Dank verpflichtet. Wertvolle Hilfestellung und Auskünfte verdanke ich Andrea Harrandt, Uwe Harten und Thomas Leibnitz (Wien). Für das sorgfältige und konstruktive Lektorat gebührt Stefan von der Lahr und Andrea Morgan (München) ein großer Dank.
Völlig überraschend ist mein guter Freund Erich Wolfgang Partsch, Mitarbeiter der Wiener Bruckner-Arbeitsstelle der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, im Dezember 2014 verstorben. Es schmerzt mich, dass er den Abschluss des vorliegenden Buchs, an dem er so viel Anteil nahm, nicht mehr erleben kann. Seinem Andenken sei diese kleine Publikation gewidmet.
I. Einführung
Das 19. Jahrhundert und die Sinfonie
Bruckners langer Weg zur Sinfonie
Ein sinfonisches Gesamtkonzept
Sinfonische Sinnstiftung
Das Problem der Fassungen
II. Die Sinfonien
Erster Versuch als «Schularbeit»: Studiensinfonie (f-Moll)
Der «kecke Besen»: Sinfonie Nr. 1 (c-Moll)
Die ursprüngliche Nr. 2: Die «Annullierte» Sinfonie (d-Moll)
Profilierung des Konzepts: Sinfonie Nr. 2 (c-Moll)
(K)eine «Wagner-Sinfonie»: Sinfonie Nr. 3 (d-Moll)
Die «Romantische»: Sinfonie Nr. 4 (Es-Dur)
Das «kontrapunktische Meisterstück»: Sinfonie Nr. 5 (B-Dur)
Konsolidierung durch Konzentration: Sinfonie Nr. 6 (A-Dur)
Der Durchbruch zum Erfolg: Sinfonie Nr. 7 (E-Dur)
Revision als Umdeutung des Konzepts: Sinfonie Nr. 8 (c-Moll)
Greisen-Avantgardismus: Sinfonie Nr. 9 (d-Moll)
III. Anmerkung zur Rezeption
IV. Tabellen
A. Formmodelle der langsamen Sätze in den frühen Sinfonien
B. Bruckners Arbeitsprozess an den ersten drei Sinfonien
C. Bruckners Sinfonien und ihre Fassungen
Literaturhinweise
Anton Bruckner (1824–1896) hat im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts neun Sinfonien komponiert, die aus dem heutigen Musikleben nicht mehr fortzudenken sind. Sie stellen den Hauptgegenstand seines reifen Schaffens dar, für ihn offenbar sogar den einzig wesentlichen: In seiner Selbstwahrnehmung war Bruckner, wie er unter bemerkenswerter Aussparung seiner bedeutenden geistlichen und weltlichen Chorwerke am Ende seines Lebens formulierte, «doch nur ausschließlich Symphoniker» (Briefe 2, 354). Für die Einschätzung seiner eigenen Epoche ist dieses Selbstverständnis aufschlussreich. Im Laufe des 19. Jahrhunderts ist die Sinfonie im deutschen Sprachraum zum Inbegriff repräsentativer Instrumentalmusik geworden. Sinfonien wurden für die spätestens um 1900 in jeder größeren Stadt vorhandenen Konzertsäle und Orchester gebraucht. Aber sie waren keineswegs die einzige musikalische Gattung, die für die kulturelle Identitätsbildung des Bürgertums eine wichtige Funktion erfüllte. Einen weiteren festen Platz im Repertoire beanspruchten, institutionell getragen von den fast überall existierenden Singvereinen, «chorsinfonische» Werke unterschiedlichster Provenienz und Zweckbestimmung: das Oratorium ebenso wie die Chorballade, die weltliche Kantate ebenso wie nicht-liturgische Vokalwerke auf der Grundlage geistlicher oder religiöser Texte. Dieses für das Musikleben des 19. Jahrhunderts unverzichtbare chorsinfonische Repertoire setzt eine Traditionslinie fort, die auf dem Kontinent im späten 18. Jahrhundert mit der Rezeption der Händel-Oratorien begonnen und um die Mitte des 19. Jahrhunderts selbst liturgisch intendierte Werke wie die großen Bach-Passionen integriert hatte. Ihm gehören daher auch Haydns oder Mendelssohns Oratorien, Beethovens Missa solemnis oder das Deutsche Requiem von Johannes Brahms zu. Wenn man erkennt, wie durchlässig die Grenze zwischen Kirche und Konzertsaal im Laufe des Jahrhunderts wurde, begreift man auch, warum eine säkulare Gattung wie die Sinfonie zum Gegenstand einer ausgesprochen kunstreligiösen Rezeption werden konnte.
Als eigentlicher Schöpfer der modernen Sinfonie kann Joseph Haydn gelten, der die Gattung zwar nicht erfunden hat, sie aber im Experimentallabor seiner höfischen Anstellung im eigentlichen Sinne erst formte und in ganz Europa zu Berühmtheit brachte. Aus ihrem ursprünglich höfischen Kontext emanzipierte sich Haydns Sinfonik in dem Moment, in dem die späten Werke gezielt für den Konzertbetrieb europäischer Hauptstädte wie Paris oder London geschrieben wurden, während das buchstäblich naheliegende Wien entsprechende Strukturen erst im Laufe des 19. Jahrhunderts auszubilden begann. Haydn hat daher nach seiner Rückkehr aus London keine Sinfonien mehr komponiert, sondern um 1800 erfolgreich auf die an Händel orientierte Gattung des Oratoriums gesetzt. Mit Sinfonie und Oratorium waren die Weichen für die beiden Hauptgenres des späteren Konzertlebens gestellt. Es ist daher auch kein Zufall, dass in der 1824 uraufgeführten letzten Sinfonie von Beethoven sich schließlich beide Gattungen kreuzen. Mehr aber als mit der Idee eines Chorfinales prägte Beethoven die meisten späteren Komponisten durch ein sinfonisches Konzept, das die Sinfonie einer rein instrumentalmusikalisch gedachten Dramaturgie unterwarf. Diese wurde im 19. Jahrhundert in wirksamer Verkürzung auf ein aus seiner Fünften und Neunten extrahiertes Modell festgelegt, das sich mit den dramatischen Vorstellungen von Kampf und Sieg oder dem narrativen Konzept von Leiden und Überwindung verknüpfen ließ. Die Verläufe dieser beiden Gattungsklassiker, die aus ihren Moll-Tonarten heraus (c-Moll in der Fünften, d-Moll in der Neunten) jeweils erst mit dem Finalsatz triumphal in die Dur-Variante der Tonika münden, gaben der für das 19. Jahrhundert so attraktiven Deutungsidee des per aspera ad astra, des Wegs aus der Nacht ans Licht, ihr eigentliches Fundament. Mit Beethoven war, so jedenfalls die geläufige Sichtweise, die Krönung eines ganzen Werkverlaufs mit einem geradezu apotheotischen Finale als kompositorisches Problem verbindlich gesetzt. So ließen sowohl die wachsende Einsicht in die unüberbietbare technische Faktur der Beethoven-Sinfonien als auch die ästhetische Diskussion um ihren vorgeblichen ideellen Gehalt den Erwartungsdruck auf die Komponisten steigen.
Angesichts der weit ins 20. Jahrhundert reichenden Erfolgsgeschichte der Sinfonie wirkt es fast befremdlich, dass bereits um die Mitte des 19. Jahrhunderts mit großem publizistischem Echo ihr Ende verkündet wurde. Richard Wagner zog, nicht zuletzt zur Legitimation des eigenen Schaffens, aus der Krönung von Beethovens Neunter Sinfonie mit dem großen Chorfinale den eigenwilligen geschichtsphilosophischen Schluss, dass damit die rein instrumentale Sinfonie an ihr Ziel gelangt sei. Das produktive Erbe Beethovens sei nun, so Wagner, mit dem sinfonisch konzipierten Musikdrama anzutreten. Zur selben Zeit ersann Franz Liszt, um die Berechtigung sinfonischer Instrumentalmusik nicht preisgeben zu müssen, das Konzept der an Beethovens Sinfonien und Mendelssohns Konzertouvertüren anknüpfenden «Sinfonischen Dichtung», womit er für die zweite Hälfte des Jahrhunderts ein geschichtsmächtiges Alternativmodell sinfonischer Programmusik ins Spiel brachte. Aus der Perspektive Wagners, Liszts und ihrer Anhänger konnte das Festhalten an der althergebrachten Gattung der viersätzigen Sinfonie rasch als ästhetischer Anachronismus verdächtigt werden. Nicht zufällig entspann sich der Diskurs zwischen Verächtern und Verteidigern der Sinfonie unmittelbar nach der Mitte des Jahrhunderts, als die wichtigsten Vertreter der sinfonischen Beethoven-Nachfolge (Schubert, Mendelssohn, Schumann) verstorben waren und eine ästhetisch gewichtige Fortsetzung der Gattungstradition nicht in Sicht schien.
Ein häufig missverstandenes historiographisches Konzept hat daher rückblickend dem 19. Jahrhundert zwei durch ein Vierteljahrhundert voneinander getrennte «Zeitalter der Symphonie» zugeschrieben. Carl Dahlhaus, der es vorbrachte, wollte damit freilich nicht die empirisch leicht zu widerlegende Behauptung wagen, zwischen der direkt auf Beethoven folgenden Sinfonik etwa Schuberts, Mendelssohns und Schumanns einerseits und den sinfonischen Erstlingen eines Bruckner oder Brahms andererseits habe die Gattung völlig brachgelegen. Gemeint ist lediglich, dass aus der Retrospektive des 20. Jahrhunderts zwischen Schumanns letzter Sinfonie (1853) und den öffentlichen Uraufführungen der Ersten von Brahms sowie der Dritten von Bruckner (1876/77) keine Sinfonien von überdauerndem Rang geschrieben worden seien. Für das sinfonische Komponieren der Bruckner-Brahms-Generation dürfte die Orientierung an Beethoven so selbstverständlich wie belastend gewesen sein. Für Brahms etwa liegt sie geradezu auf der Hand: Seine bereits in jungen Jahren begonnene Erste sucht die einschlägig vorbelastete Beethoven-Tonart c-Moll offen auf (statt sie ängstlich zu umgehen), und es ist bekannt, dass die langwierige Entstehungsgeschichte der Sinfonie tatsächlich dem Ringen um die Konzeption eines wie in Beethovens Fünfter in die Apotheose von C-Dur mündenden Finalsatzes geschuldet ist. Ob dies für Bruckner genauso gilt, der mit seiner Ersten – ebenfalls in c-Moll beginnend und nach C-Dur führend – den perfekten Parallelfall zu liefern scheint, wird an Ort und Stelle zu erörtern sein. Dass sich sein Schicksal als Sinfoniker allerdings so eng mit demjenigen seines großen Wiener Kollegen und Antipoden verknüpfen sollte, konnte er selbst nicht absehen. Als Bruckner 1868 nach Wien kam, war Brahms noch kein Sinfoniker (und er wurde es auch nie in der Ausschließlichkeit, die Bruckner für sich selbst in Anspruch nahm).
Die Gattungsgeschichte der Sinfonie erlebte also in der Tat im späten 19. Jahrhundert einen Höhepunkt, und sie setzte sich trotz aller Unkenrufe im 20. Jahrhundert ungebrochen fort. In dieser Gattungsgeschichte beansprucht Bruckner einen festen Platz. Anders jedoch als der Universalist Brahms (und anders als die Universalisten der früheren Generationen: Haydn, Mozart, Beethoven, Schubert, Mendelssohn, Schumann) konzentrierte er, wie bereits angedeutet, sein Schaffen mit geradezu befremdlich anmutender Ausschließlichkeit auf zwei Bereiche: Kirchenmusik und Sinfonik. Alle anderen Gattungen sind in seinem Werkkatalog demgegenüber nur marginal vertreten; lediglich mit dem Te Deum, dem 150. Psalm und dem Chorwerk Helgoland stellte er seinen Sinfonien noch drei gewichtige, ebenfalls für den Konzertsaal bestimmte vokale Spätwerke zur Seite. Auf den ersten Blick ähnelt Bruckner darin dem anderen großen Sinfoniker des ausgehenden 19. Jahrhunderts, der einer seiner jugendlichen Verehrer war und mit dem er oft verglichen wird: Gustav Mahler. Auch dieser pflegte in ähnlicher Ausschließlichkeit zwei ebenfalls sehr heterogene Gattungen: das Lied und die Sinfonie. Anders aber als bei Mahler, der beide Bereiche kontinuierlich parallel entwickelte und sie am Ende seiner Laufbahn sogar paradox zusammenführte (das ausdrücklich so genannte «Lied von der Erde» ist nichts anderes als eine große vokale Sinfonie), liegt bei Bruckner keine simultane, sondern eine sukzessive Entwicklung vor. Die systematische Pflege der Kirchenmusik ist von der exklusiven Beschäftigung mit der Sinfonie durch eine fast abrupt zu nennende Zäsur getrennt. Bruckner war bei diesem Übergang fast 40 Jahre alt, also längst kein Anfänger mehr. Zudem fiel, nicht weniger bemerkenswert, dieser wohl wichtigste Einschnitt in Bruckners Leben mit dem Wohnortwechsel von der Provinz in die Metropole zusammen, also mit der Lösung seiner Profession aus der Bindung an die Kirche. Sein Weg zur Sinfonie ist zugleich sein Weg von Linz nach Wien, und seine Entscheidung für die Sinfonie ist ein Bekenntnis zu den kulturellen Institutionen einer Selbstorganisation des Bürgertums. Als Bruckner sich der kompositorischen Beherrschung der Sinfonie sicher war, setzte er sie einem Perfektionsdrang aus, der seine Gattungsbeiträge als ein konsequent verfolgtes Kompositionsprojekt erkennen lässt. Dessen über elf Werke ausgespannte Erscheinungsvielfalt ist eingebettet in ein schlüssiges sinfonisches Gesamtkonzept.
Bruckner hat seinen langen Marsch auf den Parnass der Sinfonie mit Zielstrebigkeit verfolgt, aber als ein schnurgerader Weg konnte er erst im Rückblick endlich eingetretener Erfolge erscheinen. Die Behauptung in einem seiner späten Briefe, im Komponieren von Sinfonien habe «stets mein Lebensberuf» bestanden (Briefe 2, 153), unterschlägt, dass diese Stetigkeit erst in einem Alter einsetzte, das von Komponisten wie Mozart oder Schubert nicht einmal erreicht worden ist. Doch wusste Bruckner sich am Ende voller Stolz an einem Ziel, das er gegen alle Rückschläge und Anfeindungen nie aus dem Auge verloren hatte. Der zitierte Brief ist durch das ersehnte und im November 1891 tatsächlich verliehene Ehrendoktorat der Wiener Universität veranlasst, auf dessen Diplom Bruckner ausdrücklich «als Symphoniker» gewürdigt werden wollte.
Keineswegs war das in Bruckners Jugend voraussehbar gewesen. Er durchlief nicht die übliche Entwicklung zum hauptberuflichen Musiker, sondern absolvierte die Ausbildung an der Orgel ebenso wie die Ausübung des Kompositionshandwerks zunächst nur als die damals selbstverständlichen Voraussetzungen für den in den Fußstapfen des Vaters angestrebten Lehrerberuf. In den kleinen Provinzgemeinden war man Volksschullehrer und Kirchenmusiker in Personalunion, und da die Schulaufsicht in Österreich vor der Aufkündigung des Konkordats der Kirche unterstand, wird dem jungen Bruckner die Scheidung säkularer und kirchlicher Dimensionen seiner Ausbildung nicht einmal zu Bewusstsein gekommen sein.
Aus dem oberösterreichischen Schullehrermilieu stammend, gelangte der am 4. September 1824 in Ansfelden bei Linz geborene Anton Bruckner 1837 als Sängerknabe an das Augustiner-Chorherrenstift St. Florian und absolvierte 1840/41 die zehnmonatige Präparandenausbildung zum Schulgehilfen in der Provinzhauptstadt Linz. Nach mehreren Anstellungen als Schulgehilfe in seiner Heimatregion und der Ablegung der Lehrerprüfung beim bischöflichen Konsistorium in Linz kehrte er 1845 schließlich als Schulgehilfe an das Stift St. Florian zurück, wo ihm schon bald zusätzlich auch das Amt des Stiftsorganisten anvertraut wurde. In dieser Phase setzte das Komponieren liturgischer Gebrauchsmusik ein, die ihren Dimensionen nach über das früher in der Schule Erforderte bereits hinausging. Bruckner hatte das Glück, mit dem Chorherrenstift St. Florian eines jener österreichischen Zentren klösterlicher Bildung anzutreffen, die über einen weiten geistigen und kulturellen Horizont verfügten. Der Provinzialität war Bruckner also spätestens mit Anfang 20 entronnen, und in der Tat fand der hochbegabte und ehrgeizige junge Mann in St. Florian aufmerksame Förderer, die auch beratend hinter den folgenden Lebens- und Berufsentscheidungen gestanden haben dürften. Jedenfalls bewarb sich Bruckner 1855 erfolgreich um die Organistenstelle an der Linzer Stadtpfarrkirche, der, direkt nach seinem Umzug nach Linz, 1856 auch die Anstellung als Domorganist folgte. Um dieselbe Zeit begann Bruckner ein intensives Fernstudium in Satzlehre und Kontrapunkt bei der damals für diese Fächer berühmtesten Wiener Autorität, Simon Sechter, bei dem Jahrzehnte zuvor schon Franz Schubert um Unterricht nachgesucht hatte. Dieser bemerkenswerte Entschluss, der ihm bis 1861 die Mühe exzessiver nächtlicher Hausarbeit und vieler Reisen zwischen Linz und Wien abverlangte, lässt die Idee erkennen, die handwerklichen Fundamente des eigenen Schaffens von Grund auf zu systematisieren. Zusätzlich zu seinem Organistenamt trat Bruckner 1856 der Linzer Liedertafel «Frohsinn» bei, die er vom Herbst 1860 an schließlich als Erster Chormeister auch leitete – eine planvolle Verbreiterung der professionellen Basis, indem zu dem kirchlichen Amt auch noch die Selbstintegration in die für das 19. Jahrhundert so charakteristische Institution des Gesangvereins trat. Bruckner konnte sich nun in dem kleinen Linz zur Bildungsschicht der bürgerlichen Gesellschaft zählen.
Nach der erfolgreichen Beendigung des Studiums bei Sechter legte Bruckner im Herbst 1861 eine anspruchsvolle Orgelprüfung an der Wiener Piaristenkirche ab, deren glänzendes Resultat er sich mit einem Diplom des Wiener Konservatoriums quittieren ließ. Spätestens hier beginnt eine strategische Ausrichtung auf die Nachfolge des alternden Sechter als mögliches Berufsziel sichtbar zu werden. Gleichzeitig begann Bruckner am Jahresende 1861 das Kompositionsstudium bei dem neu nach Linz berufenen Theaterkapellmeister Otto Kitzler, das sich über fast zwei Jahre erstreckte. So logisch die Reihenfolge der langjährigen Studien insgesamt erscheint (Satzlehre, Kontrapunkt, dann Formenlehre und Komposition), so ungewöhnlich sind ihr Zeitpunkt und ihre Dauer: Bruckner war, als er das Fernstudium bei Sechter begann, bereits über 30 Jahre alt, und er war fast 40, als er den Lehrgang bei Kitzler beendete. Als Sechter im September 1867 in Wien verstarb, bewarb sich Bruckner um dessen Professur am Wiener Konservatorium, die er im Oktober 1868 dann tatsächlich antrat. Beim Umzug nach Wien aber hatte er nicht nur eine ungewöhnlich solide Kompositionsausbildung, sondern auch bereits seine Erste Sinfonie im Gepäck.
Dass Bruckner Ende 1861 für sein Kompositionsstudium an den jungen Otto Kitzler geriet, der seinem bis dahin am Theater kaum interessierten Schüler die neue Welt des Wagner’schen Musikdramas erschloss, muss man als Glücksfall bezeichnen. 1834 in Dresden geboren, war Kitzler für jenen Wagner-Enthusiasmus, der fast seine ganze Generation prägen sollte, geradezu prädestiniert. Bis zu Wagners Flucht aus Dresden 1849 konnte Kitzler dessen Wirken aus nächster Nähe erleben. Es ist daher auch kein Zufall, dass Kitzler 1863 den Tannhäuser zur Linzer Erstaufführung brachte, zu der sein zehn Jahre älterer Schüler Bruckner durch die Mitwirkung der Liedertafel «Frohsinn» aktiv beitrug. Um diese Zeit war er durch Kitzler bereits in die Geheimnisse von Wagners Harmonik und Instrumentation eingeweiht worden, und man übertreibt wohl kaum, wenn man diese Wagner-Erfahrung als das tiefgreifendste musikalische Erweckungserlebnis in Bruckners gesamtem Leben bezeichnet. Allerdings entwickelte er durch diese Initiation nicht etwa einen musikdramatischen Ehrgeiz, sondern fasste vielmehr sein eigenes Ziel geradezu gegen Wagners Behauptung von der Überlebtheit der Sinfonie ins Auge.
Der Lehrgang bei Kitzler, an dessen Ende Bruckner sich im Juli 1863 einen förmlichen, an zünftige Handwerkerrituale gemahnenden «Freispruch» durch den Meister erbat, schlug sich in einem Studienheft von mehr als 320 Seiten Umfang nieder. In der Logik des Curriculums, die neben der Systematisierung von Bruckners vokalmusikalischer Profession auch auf die Sinfonie als die höchste Gattung der Instrumentalmusik zielte, lagen zwei Abschlussarbeiten: die «Studiensinfonie» in f-Moll und die aufwendige Vertonung des 112. Psalms. Kitzler, der seinen Schüler um fast 20 Jahre überlebte, schrieb einige Jahre nach Bruckners Tod seine Erinnerungen an den Unterricht nieder. Ihnen zufolge legte er ihm die kleine Formenlehre von Ernst Friedrich Richter zugrunde und ließ den Schüler «von der achttaktigen Periode bis zur Sonate alle notwendigen Studien durchmachen» (Kitzler 1904, 29). Das erhaltene Studienbuch lässt jedoch erkennen, dass in den Gesprächen zwischen Lehrer und Schüler, deren Resultate sich Bruckner oft stichwortartig notierte, zwei andere (und wesentlich wichtigere) Lehrwerke eine Rolle gespielt zu haben scheinen: die Kompositionslehren von Johann Christian Lobe (1850) und von Adolph Bernhard Marx (1837–47). Für ein Verständnis von Bruckners musiktheoretischer Bildung ist das von erheblicher Bedeutung.
Der Lehrgang ging, anders als von Kitzler mitgeteilt, über die Sonate hinaus und endete neben der erwähnten Psalmvertonung tatsächlich mit der Anfertigung einer Sinfonie. Zwingend musste sich Bruckner dafür zunächst ein Verständnis der Sonatenform erarbeiten, und dass dies auf der Basis der Formenlehre von Lobe geschah, hatte Konsequenzen. Der in der heutigen Musiktheorie geläufige Terminus «Sonatenform», den Bruckner überhaupt nur wenige Male während der Ausbildungszeit verwendete (vgl. KStB, 137 und 150, sowie Briefe 1, 32), ist durch Adolph Bernhard Marx zur Diskussion gestellt worden. Die Kompositionslehre von Marx jedoch wurde im Unterricht nur als Grundlage für Instrumentationsstudien verwendet; die vorher zu absolvierende Einführung in die Formenlehre hingegen erfolgte nicht nach Marx, sondern nach Lobe. Damit verinnerlichte Bruckner als gelehriger Schüler nicht die modernere, sondern die traditionelle Auffassung der Sonatenform, die von einem zweiteiligen Aufbauschema ausging. Die drei Formabschnitte, die in heutiger Terminologie als Exposition, Durchführung und Reprise bezeichnet werden, fasste Lobe noch in einem «ersten Teil» (Exposition) und einem «zweiten Teil» (Durchführung und Reprise) zusammen. Das blieb lebenslang auch Bruckners Sprachgebrauch, obwohl er gegenüber dem Terminus «Teil» zunehmend den Begriff «Abteilung» favorisierte, als wollte er die damit verbundene Räumlichkeit der Formvorstellung noch steigern. Für die Gliederung der Sonatenform in nur zwei «Teile» (Lobe) oder «Abteilungen» (Bruckner) sprach immerhin die musikalisch relevante Tatsache, dass im klassischen Sonatensatz (und so auch noch in Bruckners eigener «Studiensinfonie») das Expositionsende, als Schluss des ersten Formteils, durch einen mit Wiederholungszeichen versehenen Doppelstrich eigens angezeigt zu werden pflegte. Obwohl Bruckner bereits seit seiner Ersten Sinfonie auf die konventionelle Wiederholung der Exposition verzichtete, hielt er lebenslang an der Gewohnheit fest, das Ende des Expositionsteils (nach seinem Sprachgebrauch also der «ersten Abteilung») durch einen Doppelstrich zu markieren. Das wird zwar nicht hörbar, bleibt aber ein bis zuletzt in der Partitur sichtbares Zeichen der nach Lobe gelernten zweiteiligen Sonatenformauffassung, gegen die sich im Laufe des Jahrhunderts die modernere dreiteilige nach Marx und Riemann allmählich durchsetzte. Was auf den ersten Blick wie eine bloße terminologische Äußerlichkeit aussieht, hatte für Bruckners Formdenken substantielle Folgen – allerdings keineswegs im Sinne theoretischer Rückständigkeit, denn die in Kitzlers Unterricht angeeignete zweiteilige Auffassung der Sonatenform sollte ihm, wie noch zu erörtern sein wird, vielmehr eine plausible Neudeutung der sinfonischen Dramaturgie ermöglichen. Für Bruckner waren solche formtheoretischen Termini nicht bloß Funktions-, sondern buchstäblich Substanzbegriffe: Er fasste die Sonatenform nicht einfach zweiteilig auf, sondern er komponierte sie auch so. Auch seine bis ans Lebensende beibehaltene Bezeichnung für die jeweils zweiten Themen seiner großen Sätze, «Gesangsgruppe» oder «Gesangsperiode», entstammt der Formenlehre von Lobe, und ein präziserer Begriff für ihre besondere Charakteristik bei Bruckner lässt sich schwerlich vorstellen.
Über Perioden, Liedformen, Tänze, Variationen, Rondoformen und eben die einzelnen Formabschnitte der Sonatenform gelangte Bruckner schließlich zur Komposition erster eigener Instrumentalwerke. Unter ihnen befinden sich der Kopfsatz einer Klaviersonate in g-Moll, ein Streichquartett in c-Moll, ein d-Moll-Marsch, ein Orchesterstück in e-Moll sowie eine im November 1862 beendete Ouvertüre in g-Moll. Nebenher übte er das Handwerk der Instrumentation an der Orchestrierung von Beethovens berühmter c-Moll-Klaviersonate op. 13, der Pathétique