Songs, die für Zündstoff sorg(t)en
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wbg Theiss ist ein Imprint der wbg.
© 2019 by wbg (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die
Herausgabe des Werkes wurde durch die
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Dieses Manuskript wurde vermittelt von der
Literaturagentur Wildner, Wien
Lektorat: Klaus Winninger, Salzburg
Satz: Satz & mehr, Besigheim
Einbandabbildung: Paul Lovichi Photography/Alamy Stock Photo
Einbandgestaltung: Christian Hahn, Babenhausen
Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de
ISBN 978-3-8062-3922-5
Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich:
eBook (PDF): 978-3-8062-3953-9
eBook (epub): 978-3-8062-3954-6
Für Sanne
Besonderer Dank geht an Stefanie Appel für die Übersetzung des Songs Non sai fare l’amore von Ornella Vanoni, an Elsa Namy für die Übersetzung des Songs Le mal de vivre von Colette Magny, an Klaus Winninger für das sorgfältige, kritische Lektorat, an das Theam von WBG/THEISS für das verlegerische Engagement und an meinen Agenten Günther Wildner für Motivation, Beratung und leidenschaftlichen Einsatz.
Intro
Jenseits von Scha-la-la-Land
Spieglein, Spieglein …
3 Mal Ich und 50 Worte für Schnee: Wer spricht eigentlich im Song?
Underground-Aufkleber auf dem Luxus-Van oder: Die neue Unübersichtlichkeit
Der Sound der Provokation:
Eine kurze Geschichte des kontroversen Songs
1914–1945 Claire Waldoff, Hermann heeßt er
1935 Lucille Bogan, Shave ’Em Dry
1939 Billie Holiday, Strange Fruit
1947 Georg Kreisler, Please, Shoot Your Husband
1954 Boris Vian, Le déserteur
1955 Georgia Gibbs, Dance With Me Henry (Wallflower)
1954/55 Bill Haley & His Comets, Rock Around the Clock
1960 Gisela Jonas, ..bei Gisela
1960 Regento Stars, Laila
1962 The Beatles, Love Me Do
1964 Colette Magny, Le mal de vivre
1965 Bob Dylan, Like A Rolling Stone
1965 The Who, My Generation
1966/67 The Velvet Underground, Venus in Furs
1967 The Doors, The End
1967 The Move, Flowers in the Rain
1969 MC 5, Motor City Is Burning (Coverversion)
1969 Jefferson Airplane, We Can Be Together
1969 Serge Gainsbourg & Jane Birkin, Je t’aime… moi non plus
1970 Ton Steine Scherben, Macht kaputt was euch kaputt macht
1970 Die Rockoper Jesus Christ Superstar
1971 Alice Cooper, Dead Babies
1972 Wings, Give Ireland Back to the Irish
1974 Klaus Renft Combo, Rockballade vom kleinen Otto
1975 Bob Dylan, Hurricane
1975 Donna Summer, Love to Love You Baby
1975 Loretta Lynn, The Pill
1975 Ornella Vanoni, Non sai fare l’amore
1976 Peter Tosh, Legalize It
1976 Sex Pistols, Anarchy in the U.K.
1977 The Clash, White Riot
1978 Westernhagen, Dicke
1979 Marianne Faithfull, Why D’Ya Do It
1979 Frank Zappa, Bobby Brown
1980 D.A.F., Der Mussolini
1981 Prince, Controversy
1982 Michael Jackson, Thriller (Video)
1983 Frankie Goes to Hollywood, Relax
1985 Paul Hardcastle, 19
1985 Falco, Jeanny
1986 Madonna, Papa Don’t Preach
1986 XTC, Dear God
1986 The Smiths, The Queen Is Dead
1988 The Pogues, Streets of Sorrow/Birmingham Six
1980er/1990er Jahre Dauerthema Rechtsrock
1988 Milli Vanilli, Girl You Know It’s True
1989 Public Enemy, Fight the Power
1990 Heart, All I Want to Do Is Make Love to You
1985–1990 Judas Priest, Better by You, Better Than Me
1991/92 Body Count, Cop Killer
1991–1993 Die Fantastischen Vier, Frohes Fest
1992 Die angefahrenen Schulkinder, I Wanna Make Love to Steffi Graf
1993 Guns N’ Roses, Look at Your Game, Girl
1996 Marilyn Manson, Antichrist Superstar
1997/1999 Eminem, ’97 Bonnie & Clyde
2002 Frei.Wild, Rache muss sein
2002 t.A.T.u., All the Things She Said
2008 Katy Perry, I Kissed A Girl
1995–2011 Das Phänomen Rammstein
2007 M.I.A., Paper Planes
2012 Shahin Najafi, Naghi
2012 Pussy Riot, Punk-Gebet
2013 Heino, Mit freundlichen Grüßen
2013 Shindy & Bushido, Stress ohne Grund
2013 Lady Gaga, Aura
2014 Conchita Wurst, Rise Like A Phoenix
2014 Wanda, Bologna
2016 Kanye West, Famous
2014–2016 Led Zeppelin, Stairway to Heaven
2016 Jennifer Rostock, Hengstin
2017 Söhne Mannheims, Marionetten
2018 Kollegah & Farid Bang, 0815
FAQ „Kontroverse Songs“:
Häufig gestellte Fragen … und der Versuch einiger Antworten
1 Welche Erkenntnisse bringt so ein historischer Überblick?
2 Wo verlaufen Konfrontationslinien in der Musik – und gibt es da eine Entwicklung?
3 Warum wird hier so auf den Darstellungsformen herumgeritten?
4 Was hat das alles mit Rock zu tun?
5 Was hat das alles mit Rap zu tun?
6 Was macht manche Rapper so problematisch?
7 Sind alle Rapper homophob?
8 Aber manche Raggamuffin-Texte sind doch wirklich homophob – oder nicht?
9 Gibt es antisemitische Tendenzen im Rap, und muss man sie ernst nehmen?
10 Haben diese Rapper denn gar keine Moral?
11 Wo kommt auf einmal der ganze Sexismus her?
12 Was ist eigentlich Porno-Rap? Und: Muss das denn sein?
13 Kann man den Scheiß nicht einfach verbieten?
14 Was ist eigentlich Zensur?
15 Was macht die Bundesprüfstelle?
16 Wie verhält sich die Bundesprüfstelle zu Organisationen wie „Freemuse“ und Kampagnen wie der gegen „Hate Music“?
17 Ist die Indizierung immer gerecht? Und wird tatsächlich alles erfasst?
18 In den USA gibt es häufig wüste Proteste gegen kontroverse Songs, gleichzeitig hat man den Eindruck, dass dort weniger zensiert wird. Woran liegt das?
19 Wie kommt es, dass kontroverse Songs kaum im Radio gespielt werden, aber in den Verkaufscharts ganz oben stehen?
20 Heute findet man doch sowieso alles im Internet: Kann die Bundesprüfstelle überhaupt noch etwas bewirken?
21 Wie reagieren Kids auf fragwürdige Songs – und können Songs schaden?
22 Rechts oder links: Von wo droht die größere Gefahr?
23 Sind kontroverse Songs wirklich so ein ernstes Thema – kann man sich nicht eigentlich locker machen?
24 Werden kontroverse Songs nicht immer krasser – und muss man nicht eigentlich besorgt sein?
25 Apropos Gesellschaft: In welchem gesellschaftlichen Umfeld bewegen sich diese kontroversen Songs eigentlich?
26 Wie könnten wir zukünftig mit kontroversen, erst recht mit fragwürdig-kontroversen Songs umgehen? 12 Thesen.
Literatur/Quellen
Soll niemand sagen, Songs könnten keine unmittelbaren gesellschaftlichen Veränderungen bewirken. Es ist noch nicht lange her, da verursachten ein paar tumbe Beats und Lyrics ein geistiges Beben und brachten den bekanntesten deutschen Musikpreis zu Fall. Wir erinnern uns: Am 12. April 2018 wurden Kollegah & Farid Bang für ihr Album Jung, brutal, gutaussehend 3 mit dem „Echo“-Musikpreis in der Kategorie Hip-Hop/Urban National ausgezeichnet, und das vor dem Hintergrund kontroverser Diskussionen. Denn schon im Vorfeld hatte der auf dem Album enthaltene Track 0815 mit Zeilen wie „Mein Körper definierter als von Auschwitzinsassen“ polarisiert. Ein Ethik-Rat der „Echo“-Verantwortlichen hatte das kontroverse Album überprüft und seine Nominierung mit Verweis auf die künstlerische Freiheit zugelassen. Es war die Fehlentscheidung des Jahres, mit fatalen Konsequenzen: Das Preisspektakel 2018 befeuerte die Debatte um antisemitische Tendenzen im deutschen Rap. Aus Protest gaben mehrere Künstler ihre „Echos“ zurück, „Echo“-Beiratsmitglieder traten aus. Am Ende ging der „Echo“ selbst k. o.: Der Musikpreis wurde eingestellt, mitsamt den Sparten Klassik und Jazz. Für 2019 soll ein neuer Preis aufgesetzt und vor allem die Sparte Pop gegen solche Debakel immunisiert werden, zum Beispiel durch die Einsetzung einer stärker qualitativ wertenden Jury.
Denn was die Verantwortlichen vor allem in die Bredouille gebracht hatte, war die Tatsache, dass ihr „Echo“ nicht etwa künstlerisch wertvolle Leistungen auszeichnete, sondern den kommerziellen Erfolg. Und dummerweise hatte das Duo Kollegah/Farid Bang von Jung, brutal, gutaussehend 3 so viele Einheiten abgesetzt, dass es zwangsläufig nominiert werden musste. Hierin liegt das eigentliche Problem: dass sich abseits der Radio-Charts grenzwertige Songs wie geschnitten Brot verkaufen, dass in derben Genreversen, deren wahrer Charakter sich schwer bemessen lässt, problematische Botschaften transportiert werden, die sich Unmengen junger Fans bedenkenlos reinziehen. Womöglich eine „ästhetische“ Entsprechung zu den diffusen ausgrenzenden Haltungen, die sich in der globalisierten Gesellschaft von heute Bahn brechen? Ganz sicher aber eine Entwicklung, die Besorgnis erregt.
Der „Echo“-Skandal unterstreicht: Musik ist Teil und Spiegel der Gesellschaft, mit all ihren Facetten, den aufregenden wie den finsteren. Das gilt natürlich nicht nur für den Hip-Hop, es gilt für die populäre Musik als Ganzes. Schon immer – bis hin zum Chemnitzer „Wir sind mehr“-Konzert gegen rechts am 3. September 2018 – hat diese „populäre Musik“ gesellschaftliche Entwicklungen lautstark begleitet und befeuert. So bildete der Rock ’n’ Roll der 1950er Jahre den Soundtrack einer Jugendrevolte, die sich gegen das konservative, repressive Wertsystem der weißen amerikanischen Mittelschicht nach dem Zweiten Weltkrieg richtete. In den 1960er und -70er Jahren brachten Rock- und Soulmusik den Aufbruch einer jungen Generation in eine neue, bessere Zukunft zum Klingen: den Kampf für die Gleichberechtigung der Schwarzen und überhaupt für eine gerechtere Welt, die Proteste gegen den Vietnamkrieg, die sexuelle Revolution. Viele Songs dieser Zeit packten die Ideen der auf Veränderung zielenden gesellschaftlichen Akteure in griffige Verse und Melodien, manche provozierten Eklats, ganz wenige wirkten sogar unmittelbar auf politische Entscheidungen ein. So wie Bob Dylans Song Hurricane, der in den 1970er Jahren ganz im Sinne der Gerechtigkeit die Wiederaufnahme des Verfahrens gegen einen zu Unrecht wegen Mordes verurteilten Schwarzen erreichte. Ein positives Gegenstück zur destruktiven Energie von Kollegah & Farid Bang.
Eher unpolitisch, aber auf ihre ganz spezielle Weise abweichlerisch, „deviant“ waren die hedonistischen Mods und die proletarischen Rocker, die sich als gerne selbstbezogene Jugendkulturen im England der 1960er Jahre bekriegten und ihre Haltungen und Styles in teilweise berauschende Songs gossen. Auch was The Velvet Underground und durchgeknallte junge Garagenrocker in den USA der späten 1960er Jahre an faszinierendem düsterem Lärm fabrizierten, ließ sich nicht unbedingt als links oder liberal deuten; es unterlief ganz bewusst auch die progressiven populärmusikalischen Strömungen, war weniger gesellschaftskritisch, sondern eher ästhetisch motiviert, bisweilen anarchisch, oft trotzig und manchmal einfach psychotisch: Konfrontation als künstlerisches Konzept gewissermaßen – oder um der Konfrontation willen.
Aber gerade weil populäre Musik als Spiegel der Gesellschaft fungiert, dauerte es nicht lange, bis sich neben aufbegehrenden linksliberalen Ideen und schrillen subkulturellen Stilen auch reaktionäre, menschenfeindliche Haltungen in Rock und Soul niederschlugen. Das fing schon an bei Musikern, die sich in ihren Songs zwar einigermaßen neutral verhielten, aber mit ihrer persönlichen konservativen Haltung nicht hinterm Berg hielten. Man denke an Ted Nugent, einen begnadeten Hardrocker aus Detroit, der in den 1970er Jahren Millionen junger Männer zum Luftgitarrespielen animierte, aber seit den 1990er Jahren als Waffennarr und Republikanerfan regelmäßig mit erzreaktionären, teilweise rassistischen Kommentaren auffällt. Spätestens Anfang der 1980er Jahre hatte die oft leidenschaftlich verklärte Popmusik begonnen, auch breitenwirksam unappetitliche Facetten zu entwickeln: Skrewdriver und andere Skinhead-Bands formulierten im Rock-, vor allem aber im Punk-Gewand rassistische Botschaften, speziell in Deutschland machte das Rechtsrock-Phänomen traurige Furore. Gleichzeitig irritierten schwarze Hip-Hop-Künstler wie Public Enemy, die man eigentlich im unterstützenswerten Kampf gegen Rassismus wähnte: weil sich in ihren gefeierten Raps der nachvollziehbare Protest gegen das unterdrückerische weiße Establishment plötzlich mit antisemitischen Statements mischte.
Und es ging noch weiter: Auch verschiedene jamaikanische Künstler, vor allem Vetrtreter der raporientierten Reggae-Spielart Raggamuffin, hatten und haben keine Probleme damit, in ihren Texten offen zur Gewalt gegen Homosexuelle aufzurufen – Schwulenfeindlichkeit war in dem Karibikstaat jahrzehntelang sogar gesetzlich gedeckt. Die schillernde Inszenierung, die populäre Musik oftmals auszeichnet, fällt in den genannten Fällen häufig weg – die entsprechenden Songtexte sind fast 1:1-Umsetzungen dessen, was die Künstler auch im realen Leben denken. Ähnliches gibt es ansatzweise auch im deutschsprachigen Raum. Da finden sich heute selbst in Songs angesagter Soul- und Rock-Popper irritierende Spuren des antidemokratischen Gedankenguts von sogenannten Reichsbürgern, Pegida-Aktivisten und der Identitären Bewegung. Provokationen der überraschenden Art …
Natürlich: Auch die frühe Rockmusik – von Bill Haley bis zu den Beatles, von Frank Zappa bis Velvet Underground, von den Doors bis MC 5 – wurde vom damaligen gesellschaftlichen Mainstream als Provokation, gar als Bedrohung, als antidemokratische Kraft und Gefahr für die öffentliche Ordnung angesehen. Und doch war ihr grundsätzlicher Impuls, erst recht in der Rückschau, ein freiheitlich menschlicher – Bewusstseinserweiterung, Selbstbestimmung, Gleichberechtigung, Frieden, Solidarität und vielleicht ein bisschen Anarchie inklusive. Popmusik deshalb als von ihrem Wesen her positive, heilsbringende linksliberale Kraft zu feiern, wie es Kritiker und Stars gerne taten, erwies sich allerdings bald als Mythos. Schon lange lassen sich Songs nicht mehr auf eine irgendwie links und liberal orientierte Haltung reduzieren. Die Hits von heute spiegeln ganz einfach die gesamte Gesellschaft wider: mit all ihren Weltanschauungen und Ideologien, so fragwürdig, reaktionär und menschenverachtend manche davon auch erscheinen mögen.
Eine Sonderstellung nimmt hier, siehe Kollegah & Farid Bang, der Battle- und Gangsta-Rap der letzten Jahrzehnte ein – auch und vor allem wegen seiner Darstellungsform. Weisen die Ich-Sprecher in homophoben Raggamuffin-Songs, in Liedern von Neonazi-Bands, aber auch in engagierten Protestsongs oftmals eine große Nähe zu ihren Urhebern und Interpreten auf, operieren Battle- und Gangsta-Rapper in ihren Tracks mit schillernden Mega-Egos, die sich im Rahmen eines „Dissing“ genannten rhetorischen Wettstreits mit Beleidigungen und Selbstüberhöhungsparolen gegenseitig zu überbieten versuchen. Was dort an gewaltverherrlichend, antisemitisch, homophob und sexistisch anmutenden Wortkaskaden produziert wird, ist vordergründig derbstes ästhetisches Spiel, lässt aber eben hier und da auch auf mögliche tatsächliche Haltungen der Interpreten schließen. Nur: Wann und bei wem genau das der Fall ist, ist schwer zu ermitteln. Zumal es die erfolgreichsten Künstler des Genres perfekt verstehen, ihre Kernklientel spektakulär zu bedienen und Außenstehende, die breite Öffentlichkeit, immer wieder an der Nase herumzuführen. Wer spricht eigentlich im Song? So lautet die spannende Frage. Die jeweilige Antwort hilft maßgeblich dabei, einen Song und die Haltung des Urhebers einzuordnen: ob ein heftiges Lied noch als pubertäres Maskenspiel, als aufklärerische Provokation, als satirische Zuspitzung durchgeht oder ob es schon ein authentisches „Hass“-Statement beinhaltet.
Zunächst scheint alles ganz einfach: Hören wir einen Song, dann spricht aus ihm in den meisten Fällen ein Ich zu uns. Und selbst wenn man ein Stück zunächst nur im Radio, im Club oder auf einer Party hört, dauert es nicht lange, bis wir, vermittelt durch Zeitschriften, Videos oder Internetportale, ein Bild im Kopf haben. Wir wissen, wie der Interpret, die Interpretin oder die betreffende Band aussieht – und haben eine Idee, wofür die vortragende Person, die vortragenden Personen stehen könnten. Was also liegt näher, als diesen „ich“ sagenden Leuten zunächst zu glauben und alles, was sie sagen und singen, auf sie zu beziehen? Doch wenn man sich die Songwriting-Credits, also die Angaben über die Urheber eines Songs, genauer anschaut, stellt man fest, dass die ergreifendsten Stücke oft von jemand ganz anderem als dem Interpreten geschrieben wurden. Und vergleicht man die Biografie eines Autors mit dem Songinhalt, ergeben sich häufig tiefgreifende Differenzen. So dass man feststellen kann: Das Urheber-Ich und das Song-Ich sind zwei Kategorien, die nicht notwendig etwas miteinander zu tun haben müssen. Sie stehen erst einmal für sich.
Mit Blick auf die Künstlernamen etlicher Stars und ihre spektakulären Selbstinszenierungen wird dann eine weitere Unterscheidung notwendig. Denn auch die vortragende Person, die uns aus Promotionfotos und Videoclips, aus CD-Booklets und von Konzertbühnen entgegenblickt, ist nur bedingt identisch mit der dahinter existierenden realen Person, die morgens ungeschminkt aufsteht, schlecht gelaunt duscht oder auch nicht duscht, einkauft, Geschäftliches bespricht, kocht oder bekocht wird, sich auch mal langweilt, vor dem Fernseher hängt, in Internetshops nutzlose Sachen bestellt und zwischendrin mit Freunden telefoniert. Nein, die vortragende „öffentliche“ Person, jenes schillernde Medienwesen, das wir mit dem Song verbinden, ist selbst eine Kunstfigur: perfekt frisiert, interessant gestylt, auf ein bestimmtes Image hin konzipiert: Aus Rosemarie Schwab wird die elegante „Mary Roos“ und aus Monika Schwab der flotte Teen „Tina York“, ähnlich wie aus Bill & Tom Kaulitz samt Freunden die aufmüpfige Bandmarke „Tokio Hotel“ wird. Oder aus Robert Zimmerman der enigmatische „Bob Dylan“, aus David Jones der hippe „David Bowie“ und später sogar der Außerirdische „Ziggy Stardust“, aus Brian Warner der schreckliche „Marilyn Manson“. Im Falle von „Joan As Policewoman“, der Band der amerikanischen Songwriterin Joan Wasser, ist – Joan als Polizistin – der Aspekt der Maskierung und der Verkleidung zur Kunstfigur sogar schon im Bandnamen angelegt. Dagegen schwingt im Bandnamen „Wir sind Helden“ bereits selbstironisch die überhöhende Verehrung mit, die erfolgreichen Songkünstlern vonseiten des Publikums entgegenschlägt. Und wenn sich ein deutsches Duo „Ich + Ich“ nennt, dann klingt das nur im ersten Moment unheimlich persönlich – denn eigentlich kann man sich als Fan nichts und niemanden darunter vorstellen. Doch selbst wenn Interpreten unter ihrem bürgerlichen Namen auftreten, kreieren sie eine Marke – und damit eine Kunstfigur, die nicht mit der realen Person dahinter zu verwechseln ist. Siehe Bruce Springsteen, weltweit gefeiert als der aufrecht-hemdsärmelige „Boss“ aus der Arbeiterklasse.
Das Ich eines Menschen, der einen Song schreibt, also sein biografisches Ich; die mehr oder weniger schillernde Bühnenpersönlichkeit, die er bei öffentlichen Auftritten hervorkehrt, man kann sie Show-Ich nennen; und das Song-Ich, welches aus den Lyrics spricht: Das ist die Konstellation, mit der wir es am häufigsten zu tun bekommen, wenn wir einen Song hören. Und wenn wir ehrlich sind, dann ist das nicht immer relevant. Denn gerade Songs erzielen einen Großteil ihrer Wirkung auf der nichtsprachlichen, auf der emotionalen Ebene. Ein mitreißender Rhythmus oder ein krasser Sound, das Charisma der Künstler, die Wahnsinns-Stimme oder ein geniales Solo – das ist der Stoff, aus dem sich unsere Begeisterung in der Regel speist. Auf Texte hören wir eher selten. Zumal viele Texte ohnehin kaum etwas zu sagen haben. Nicht selten wirken sie aus Versatzstücken zusammengesetzt, besonders gern in Lovesongs. So wie in den folgenden beiden leichtgängigen Rockstücken, die seinerzeit im Abstand von wenigen Jahren erschienen: dem Superhit Cold As Ice der britisch-amerikanischen Gruppe Foreigner und dem weniger bekannten Song Breaking Down Paradise, erschienen auf einer Solo-LP des ehemaligen The-Who-Sängers Roger Daltrey:
You’re as cold as ice | You’re breaking down paradise |
You’re willing to sacrifice our love | And I’m the one who pays the price |
You want paradise | Any way I play or lose |
Someday you’ll pay the price | Any way that I throw the dice |
I know | You’re breaking down paradise |
(Cold as Ice, 1977) | (Breaking Down Paradise, 1985) |
In beiden Stücken werden dieselben Textelemente verwendet, nur werden sie anders kombiniert, was zu unterschiedlichen Akzentsetzungen führt. Dass hier irgendeine gewichtige Persönlichkeit tiefschürfende Weisheiten über das Leben und die Liebe verkündet, lässt sich beim besten Willen nicht behaupten. Viel eher sind diese Song-Ichs gesichtslose Genre-Ichs, ja Fertigbau-Ichs – und den Künstlern, die sie uns präsentieren, geht es weniger um eine ernsthafte Textaussage als um eine kraftvolle, mitreißende Performance.
Was nicht ausschließt, dass solche Songs die gängigen Themen und Motive fantasievoll variieren. Hits wie Words (Bee Gees), Words Don’t Come Easy (F. R. David), More Than Words (Extreme), These Words (Natasha Bedingfield), De-Do-Do-Do, De-Da-Da-Da (The Police), Wenn Worte meine Sprache wären (Tim Bendzko) oder Enjoy the Silence (Depeche Mode) beispielsweise zeigen, was Love-songwriter alles aus dem Motiv der fehlenden oder der im Überfluss vorhandenen Worte machen: Der eine hat nur Worte, um sich auszudrücken; dem anderen versagt angesichts der Geliebten die Sprache; wieder ein anderer redet nur Unsinn; und die nächste findet nach komplexen Liebesschwur-Versuchen am Ende doch das simple „I love you“ am aussagekräftigsten – der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt. Die entsprechenden Song-Ichs haben hier zwar auch keine persönlichen Züge, aber als Fertigbau-Ichs mutieren sie zu wahren Bilder- und Motivmaschinen. Manchmal – wie in My Generation, Say It Loud, I’m Black and I’m Proud oder Neue Männer braucht das Land – gerieren sie sich auch als Manifestmaschinen. Und gelegentlich – man denke nur an Nonsense-Songs wie Ich liebte ein Mädchen von Insterburg & Co, mit Zeilen wie „Ich liebte ein Mädchen in Spandau/Bei der war immer der Mann blau/Ich liebte ein Mädchen in Tegel/Die hatte Ohren wie Segel“ – gehen diese Ichs einfach im Sprachspiel auf.
Spätestens seit Bob Dylan und Bands wie den Doors aber gibt es im Rock- und Popuniversum Stücke, in denen hinter den Song-Ichs starke, individuelle Persönlichkeiten aufscheinen, mit philosophischen Gedanken und individuellen Geschichten. Es sind Ichs mit Gesicht, die mit dem, was sie zu sagen haben, wirklich bewegen – begeistern oder erschüttern. Aber das ist noch nicht alles: „My name is Bobby Brown“ oder „My name is Luka“, heißt es in manchen Songs, und dann wird endgültig klar, dass Song-Ichs grundsätzlich erst mal nichts oder nur bedingt etwas mit dem Ich der Songschreiberin oder des Songschreibers zu tun haben. In solchen Stücken begegnet das Publikum ausgemachten Rollen-Ichs, die einen ungewöhnlichen Blick aufs Leben haben oder, wie in besagtem Frank-Zappa-Hit Bobby Brown, satirisch verzerrt erscheinen. Interessant in diesem Zusammenhang ist auch, wie sich Künstler in Interviews zu ihren Song-Ichs positionieren: Einzelne, etwa Alanis Morissette und bedingt Lydia Lunch, behaupten tatsächlich eine große Nähe zwischen ihrer realen Person und den Ichs im Text. Die meisten aber, von Adam Green über Amy Mc-Donald und Norah Jones bis hin zu Cherry Ghost, um nur einige wenige zu nennen, schaffen eine gewisse Distanz und bestehen darauf, eine Fiktion geschaffen oder Alltagsbeobachtungen verarbeitet zu haben. Persönliches sei höchstens am Rande oder nur punktuell eingeflossen und erscheine bewusst manipuliert, verändert.
Hört (und schaut!) man sich einen Hit wie I’m Not Perfect (But I’m Perfect for You) genauer an, erkennt man, dass ein Song-Ich auch vom Show-Ich einer Künstlerin oder eines Künstlers überlagert werden kann. Das klingt abstrakt? Ist aber eigentlich ganz simpel: Der Song stammt von Grace Mendoza, besser bekannt unter ihrem Künstlernamen Grace Jones. Das war die überirdisch schöne schwarze Sängerin aus den Achtzigern, die auf Promofotos und in Videoclips fast wie ein futuristisches Wesen vom anderen Stern inszeniert wurde. In I’m Not Perfect singt Grace Jones von der intensiven Liebesbeziehung zweier Menschen: Das Song-Ich scheint sich nicht sicher zu sein, ob die Beziehung entspannt und erfüllt oder anstrengend, letztlich unbefriedigend ist. Das Nachdenken über den nicht ganz einfachen, ja fast schon schicksalhaften Bund gipfelt immer wieder in der Refrain- und Titelzeile: „I’m not perfect, but I’m perfect for you“, mit dem Zusatz: „I feel right on time … now I’m right on time.“ Ein Lovesong, klar. Außerhalb des Songgeschehens aber entsteht eine auffällige Korrespondenz zwischen den Refrainzeilen und dem „perfekt“ gestylten Show-Ich „Grace Jones“: Ich bin nicht perfekt, aber dir erscheine ich so … Das klingt nicht nur, als würde ein liebendes Genre-Ich über seine Beziehung reflektieren, es klingt auch, als würde auf einer anderen Ebene die Kunstfigur „Grace Jones“ über den Bund mit ihrem Publikum sprechen. Nach dem Motto: „Nicht ganz einfach, das mit euch und mir. Und: Ich wüsste ja noch einiges, was man an mir verbessern könnte. Aber für euch da draußen, die ihr mir zujubelt, bin ich natürlich perfekt. Und ich bin genau zum richtigen Zeitpunkt da!“ Grace Mendoza, die reale Alltagsperson hinter der Kunstfigur „Grace Jones“, bleibt bei diesem Spiel außen vor.
Und noch etwas zu den Darstellungsformen im Song: Natürlich müssen Interpreten nicht zwangsläufig „ich“ oder „wir“ sagen, wenn sie einen Gedankengang oder ein Geschehen in der Vorstellung ihrer Hörer lebendig werden lassen wollen. Dazu taugen auch andere Strategien. Schon wenn die Lyrics die Aussagen zweier oder mehrerer Sprecher unmittelbar gegenüberstellen, hat sich die Sprechsituation im Song komplett verändert: Wir folgen dann nicht mehr der Erzählung oder den Gedanken eines zentralen Charakters, sondern werden Zeugen eines Dialogs, einer dramatischen Szene. Oder wir werden mit gegensätzlichen Sichtweisen konfrontiert – so wie in Father and Son, einem Songklassiker über den Generationenkonflikt, geschrieben und gesungen von Cat Stevens: Ein alt gewordener Vater träumt hier von einem beschaulichen Lebensabend („Look at me, I am old, but I’m happy“) und rät seinem Sohn, sich anzupassen, am besten eine Familie zu gründen („Find a girl, settle down, if you want you can marry“). Doch der junge Mann will endlich hinaus in die Welt, sich von elterlichen Zwängen befreien und etwas bewegen („Now there’s a way, and I know that I have to go away“). Niemand gestaltet hier die Szene – die Positionen des Vaters und des Sohnes werden unmittelbar im Schnitt-/Gegenschnitt-Verfahren kontrastiert.
Wo in Father and Son noch verschiedene Ich-Sprecher zu Wort kommen, ohne dass uns jemand durch das Geschehen führt, gibt es etliche andere Lyrics, die überhaupt kein Song-Ich mehr aufweisen. Das Spektrum reicht hier vom konventionellen Erzählprinzip à la „Es war einmal …“ bis hin zu regelrecht abstrakten Texten. Ich greife mal – Augenzwinker! – wahllos in die grenzenlose Masse existierender Songs hinein und ziehe als Beispiel für konventionelles Erzählen Alles hängt zusammen heraus, einen 2008 veröffentlichten Song des Österreichers Thomas Raab, der auch ein gefeierter Krimiautor ist. Hier ist ein unsichtbarer Erzähler am Werk, den man höchstens im Ansatz als ordnende Kraft spüren kann. Dieser verdeckte allwissende, auktoriale Erzähler stellt auf kunstvolle Weise gleich mehrere Figuren in einen größeren Zusammenhang: „Jeden Morgen sitzt er still an seiner Stelle/Am Straßenrand, und sieht den Autos hinterher/Er kennt die Menschen hinterm Steuer nur vom Sehen/Die meisten winken ihm, wie lange schon, das wissen sie nicht mehr/Sie sieht vom Fensterbrett mit jedem Tagesanbruch/Den alten Mann auf seiner Bank am Straßenrand/Er gehört zum Tag für sie so wie am Abend die Gebete/Sie kennt ihn nicht und doch verbindet sie ein Band/Vom Café am Eck sieht er am Fenster oben/An jedem Morgen diese wunderschöne Frau …“ Die „Handlung“, die hier allmählich vor uns entfaltet wird: Ein alter Mann sitzt jeden Morgen am Straßenrand, wird von einer Frau am Fenster beobachtet, die wiederum der Betreiber des nahen Cafés anhimmelt, dem eine Bar gegenüberliegt, wo ein Mädchen wartet, das in den Kellner der Bar verliebt ist … und so weiter und so fort. Am Ende dieses losen Beziehungsreigens kehrt die Erzählung zur Bank mit dem alten Mann am Straßenrand zurück – doch die Bank ist plötzlich leer. Alle Figuren werden nicht nur beschrieben, wir erhalten auch jeweils einen kleinen Einblick in ihr Seelenleben, in ihre persönlichen Gefühle und Sehnsüchte. Ein bisschen wehmütig, ein bisschen traurig, das Ganze – ein wunderschöner Text.
50 Worte für Schnee wiederum kündigt der Titel eines 2011 von der britischen Künstlerin Kate Bush veröffentlichten Albums an. Es ist ein ambitioniertes Versprechen, das der gleichnamige Song dann aber tatsächlich einlöst. In 50 Words for Snow geht es nicht mehr um Geschichten, Gedanken, Emotionen – hier wird vielmehr ein Ordnungsprinzip durchgespielt, genauer: ein abstrakter Katalog von Begriffen. Kate Bush nummeriert diese teils echten, teils fiktiven (Achtung: Klingonensprache!), teils frei erfundenen Wörter für Schnee durch, sagt vor jeder Nennung die jeweilige Nummer an und lässt die Begriffe selbst von dem bekannten britischen Schriftsteller und Schauspieler Stephen Fry vortragen, der hier laut CD-Booklet wiederum den fiktiven Sprachforscher Professor Joseph Yupik spielt. Das Ganze erfolgt im Rahmen eines Countdowns, also in umgekehrter Reihenfolge – und immer, wenn Stephen Fry alias Joseph Yupik ein paar Begriffe gemeistert hat, schaltet sich ein Chor ein, um ihm zu sagen, wie viele Begriffe er noch nennen muss: „Come on, Joe, you got 32 more to go …“ So zaubert Kate Bush aus einer letztlich banalen Grundidee einen höchst unterhaltsamen Mix aus Minidrama, Singspiel und Abzählreim – auf die nächsthöhere Ebene gehoben durch einen treibenden Groove und ein mystisch anmutendes klangliches Arrangement.
Diese Beispiele sind nur ein Ausschnitt aus den vielfältigen Darstellungsmöglichkeiten im Song. Sie zeigen, dass biografisches Ich, Show-Ich und Song-Ich gewichtige Kategorien sein können, die über die Bedeutung eines Songs entscheiden – und dass Lyrics grundsätzlich ein in sich abgeschlossenes Universum entwerfen, manchmal ohne vermittelnde Instanz. Zu wissen, „wer spricht“, also auch zu verstehen, wie jedes der drei Ichs beschaffen ist, welche Darstellungsformen möglicherweise noch im Spiel sind und wie groß die Nähe beziehungsweise Distanz zwischen dem Autor mit seiner Biografie und seinem persönlichen Umfeld, dem Interpreten und dem Inhalt eines Songs ist, hilft, die mögliche Botschaft eines Textes zu erkennen. Es unterstützt bei der Entscheidung, ob ein Stück wirklich ernst gemeint ist oder als Hantieren mit Versatzstücken, als Sprachspiel, Rollenspiel oder Satire. Und es hilft, Missverständnisse zu vermeiden. Ein nicht ganz unwesentlicher Aspekt, gerade wenn es um Songs geht, für die Künstler gerne mal an den Pranger gestellt werden. Auf solche Songs stößt man ja zwangsläufig in der populären Musik.
Nach Hardrock und Heavy Metal, nach Art Rock, Punk, New Wave, Hardcore und Crossover, nach Funk und R&B, Dance, Techno und Electronica mit all ihren Spielarten, nach dem Siegeszug der Independent-Labels und nicht zuletzt durch das Internet und die sozialen Medien hat sich die populäre Musik in unendlich viele Genres und Subgenres, Szenen und Subszenen aufgespalten. Dazu haben sich Produktionsbedingungen und Vertriebswege, aber auch unsere Hörgewohnheiten verändert. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist der Umgang mit Songs ungeheuer vielfältig geworden, ein einheitliches Gesamtbild ist nicht mehr auszumachen. Es gibt: ein Formatradio, das gezielt die unterschiedlichsten Alters- und Zielgruppen mit dem passenden Material versorgt, dabei aber alles ausklammert, was in irgendeiner Weise stören oder gar verstören könnte; hoch spezialisierte In-Groups, die sich äußerst geschmäcklerisch via Internet, in kleinen Clubs und in schummrigen Rundfunknischen über obskure Songperlen, die tollsten Indie-, Schrammel- und Diskurspop-Acts austauschen, beim verschworenen gemeinsamen Schenkelklopfen aber völlig den Kontakt zum Alltag und zum Mainstream verlieren, von kontroversen Acts ganz zu schweigen; Künstlergruppen wie Pussy Riot, die in offenen oder verdeckten Diktaturen mutige Statements gegen den Status quo formulieren, dafür aber hart bestraft werden; und kontroverse Musiker, die hierzulande mit ihren sexistischen, rassistischen oder homophoben Rollenspielen eine glücklicherweise existierende und unbedingt zu schützende Meinungs- und Kunstfreiheit bis zum Äußersten strapazieren.
Hinzu kommt, dass wir in einer riesigen musikalischen Echokammer leben. Im öffentlichen Raum schallen uns Songs aus Autos, in Lokalen, bei Festen, in Clubs entgegen. Im privaten Raum besorgen Radio, Hi-Fi-Anlage, PC oder MP3-Player den Rest. Natürlich gibt es die bewusst gehörten Lieblingsbands und -interpreten; das gezielt aufgelegte Meilensteinalbum; das Zelebrieren von Liedern für bestimmte Momente: ganz bewusstes Zuhören. Aber meistens ist es heute doch so: Songs sind eher Hintergrundrauschen, „Lieblingskünstler“ werden wie Marken hergezeigt, Superstar-Konzerte als „Events“ konsumiert. Da sind bizarre Irritationen, auch Missverständnisse regelrecht vorprogrammiert. Eine davon hat der amerikanische Songwriter Neil Young in seinem Konzertfilm Déjà Vu dokumentiert: Als er, der schon immer demokratisch gesinnte und linkspolitisch engagierte Künstler, in einem Song für ein Amtsenthebungsverfahren gegen Präsident George W. Bush plädiert, buhen einige „Fans“ und verlassen wutschnaubend den Saal. Was, so fragt man sich entgeistert, hat diese Leute bloß bewogen, Tickets für ein Neil-Young-Konzert zu kaufen? Rock als Produkt, die zunehmende Entfremdung zwischen Publikum und Stars – es ist eine bizarre Entwicklung, die Don Henley schon 1984 in einen bemerkenswerten Songvers seines Welthits The Boys of Summer gekleidet hat: „Out on the road today I saw a deadhead sticker on a Cadillac.“ Er sei, so erzählte Henley dem „New Musical Express“, tatsächlich mal bei San Diego unterwegs gewesen und von einem 21.000 Dollar teuren Cadillac Seville überholt worden, jenem Statussymbol der konservativ bis extrem rechts orientierten oberen Mittelschicht. Und als er den „Deadhead“-Sticker, also einen Aufkleber der Band Grateful Dead, am Auto registriert habe, sei er vom Glauben abgefallen: Schließlich waren Grateful Dead in den 1960er und -70er Jahren mit ihrem drogengeschwängerten psychedelischen Improvisationsrock eins der Aushängeschilder der linken amerikanischen Gegenkultur – gehörten also zu jenen dubiosen langhaarigen Revoluzzern, vor denen die konservativ bis extrem rechts orientierte obere Mittelschicht doch immer gewarnt hatte. Möglicherweise wird auch derbster Battle- und Gangsta-Rap heute vielfach nur als spektakuläre, wuchtige, als „phatte“ Eventmusik gehört …
Auf den folgenden Seiten geht es um mehr als siebzig umstrittene Songs des vielbeschworenen „Zeitalters der Massenmedien“: chronologisch präsentiert und im Schnelldurchgang seziert, als bewusst unvollständige und subjektive, aber dennoch aufschlussreiche „Kurze Geschichte des kontroversen Songs“. Mit welchen Themen sind Songkünstler in den letzten hundert Jahren angeeckt, wo lag ihr Provokationspotenzial? Wie haben sich die künstlerischen Ausdrucksmittel und Darstellungsformen im Lauf der Zeit entwickelt, wie haben sie sich verändert? Wer spricht eigentlich in einem Song – erst recht in einem kontroversen Song? Anders gefragt: Wie klingt die Provokation, welche Provokationstypen gibt es? Und: Wo hört künstlerische Freiheit auf, wo fangen „Hate Songs“ an? Das Schlusskapitel zieht im handlichen FAQFormat ein vorläufiges Fazit und wirft einen Blick in die Zukunft: Wie umgehen mit besonders krassen, immer fragwürdiger werdenden provokanten Songs?
Wenn man so will, war Musik schon immer auch kontrovers. Und schon immer wurde Musik auch bekämpft, unterdrückt, verboten. So zieht der 2001 erschienene Essayband Musik & Zensur eine Traditionslinie von den alten Griechen, die dem gefährlichen dionysischen Treiben von Musikern Einhalt gebieten wollten, über frühe Christen, die in heidnischen Tänzen den Teufel am Werk sahen, bis hin zu mittelalterlichen Adligen, die sich an ordinären Bauerntänzen, aber auch an obrigkeitskritischen Liedern stießen. „Erste Verbote von Liedern sind aus der Zeit Karls des Großen überliefert, der im Jahr 789 gegen erotische (und/oder weltliche) Lieder vorgegangen sein soll“, heißt es da. Auch in spätmittelalterlichen Urkunden, so der Band weiter, „ist die Rede von Liedern aufmüpfiger Bürger, ein Zeichen, dass die Ohren der Obrigkeit sie ernst genug nahmen, ja sich mitunter vor ihnen fürchteten.“ Die Linie führt weiter über antikirchliche Spottlieder und regierungskritische Räuberlieder aus dem 16. Jahrhundert bis hin zu anstößigen Volksliedern und politischen Vörmärz-Liedern aus dem 19. Jahrhundert.
In Frankreich trug ab 1812 der Dichter Pierre-Jean de Béranger (1780–1857) seine provokant auf allgemein bekannte Volksweisen getexteten politisch-satirischen Chansons vor und animierte seine Zuhörer in den einschlägigen Weinlokalen zum Mitsingen. De Bérangers Lieder, die ihm auch die eine oder andere Verhaftung einbrachten, wurden Teil der mündlichen Volkskultur, erschienen aber später auch in Zeitungen und als gedruckte Sammlungen. „Während fahrende Sänger ihren Ruhm lange Zeit wie selbstverständlich dem mündlichen Vortrag verdankten“, schreiben Christian Bielefeldt und Marc Pendzich in ihrer lesenswerten Abhandlung Original & Bearbeitung von 2007, „ist de Bérangers damalige europaweite Bekanntheit ohne die diversen Druckausgaben seiner Chansons und ohne die Berichte, die das aufstrebende bürgerliche Feuilleton ihm widmete, nicht denkbar.“
Was diese musikalischen Formen wie auch die Bürger- und Arbeiterlieder während des deutschen Kaiserreichs einte, war die ständige Beobachtung und Zensur durch religiöse und weltliche Obrigkeiten. Eine ganz andere Zeit brach im 20. Jahrhundert spätestens nach dem Ende des Ersten Weltkriegs an. Mehrere Entwicklungen sind es, die in den 1910er bis -30er Jahren kulminierten: die Ablösung der alten Aristokratien durch demokratische Staatsformen und Industrie- beziehungsweise Dienstleistungsgesellschaften; damit einhergehend die Herausbildung der sogenannten „populären Musik“, die mit Varieté-Theatern, Music Halls oder Kabaretts neue Orte der Massenunterhaltung hervorbrachte; und der Aufstieg von Rundfunk, Tonträger- und Filmindustrie – Medienmaschinen, die vor allem Musikformen wie Folk, Blues, Jazz, Swing, Chanson und Schlager, später auch Rock und Soul zur weltweiten Verbreitung verhalfen.
Auf diese Ära von etwa 1920 bis heute möchte ich meine Auswahl kontroverser Songs beschränken. Denn erst in diesem Zeitraum haben Lieder die Chance bekommen, bei einer unüberschaubaren, diffusen Gruppe von Menschen Gehör zu finden und sich durchzusetzen. Natürlich gab und gibt es auch heute noch immer wieder Verbote und Zensur. Doch im Wesentlichen wird seit einem runden Jahrhundert über kontroverse Songs diskutiert und stürmen unbequeme Lieder auch die nationalen oder internationalen Charts, allen Anfeindungen zum Trotz. Und Anfeindungen gibt es aus den unterschiedlichsten Richtungen, den vielfältigsten Gründen. In den folgenden Kurztexten geht es daher nicht etwa um „Musik und Zensur“, auch nicht um per se konfliktträchtige Spezialgenres wie Partisanenlieder und Lieder von Gefängnis- oder Lagerinsassen, sondern um Songbeispiele, die – aus welchem Grund auch immer – die Gemüter der Öffentlichkeit erregten und oftmals trotzdem, oder gerade deshalb, große Erfolge wurden. Darunter sind Songs, an denen das Publikum, die Gesellschaft, ziemlich zu knabbern hatte. Und man kann schon an dieser Stelle festhalten, dass „kontrovers“ nicht automatisch „unheimlich wichtig“, schon gar nicht „supertoll“ bedeutet.
Die Auswahl der Songs folgt der Chronologie ihres Erscheinens. So werden zeitspezifische Stimmungen und Themen, aber auch jene Grenzen des gerade noch Akzeptierten deutlich, die Künstlerinnen und Künstler immer wieder ausgelotet, getestet und verschoben haben. Als „Kurze Geschichte …“ ist die folgende Übersicht bewusst lückenhaft gehalten und geografisch begrenzt. Denn für so etwas wie eine Universalgeschichte des kontroversen Songs fehlt hier schlicht der Platz; und aus Anschaulichkeitsgründen sollen vor allem solche Songs aus England, Deutschland, Frankreich, Italien und den USA genannt werden, die dem Publikum am ehesten bekannt sind. Musikvideos bleiben ebenfalls weitgehend außen vor. Warum? Weil man über diese Kunstform und speziell über kontroverse Musikvideos eine eigene mehrteilige Buchreihe schreiben könnte – und weil die Videos dem Song für gewöhnlich nachgelagert sind, dabei häufig zusätzliche Bedeutungsebenen ins Spiel bringen. Aufschlussreich erscheint mir die folgende „Kurze Geschichte des kontroversen Songs“ trotzdem.
Wenn politische Machtverhältnisse sich ändern, können auch Künstler Schaden nehmen – erst recht, wenn der Volksmund kräftig mithilft. Ein anschauliches Beispiel ist das düstere Schicksal, das einen Song von Claire Waldoff ereilte. Die Vorgeschichte spielt in den „Roaring Twenties“, den „Goldenen Zwanzigern“, einer Zeit des Umbruchs in Europa und den USA. Ziemlich bunt ging’s zu vor hundert Jahren und: erstaunlich liberal. Kino, Jazz, moderne Kunst, Revuetheater, Kabaretts – neben einem beachtlichen wirtschaftlichen Aufschwung versetzten jede Menge kultureller Neuerungen der Gesellschaft progressive Schübe. Frauen entwickelten ein neues Selbstbewusstsein, und in pulsierenden Großstädten wie Berlin hatten auch Homosexuelle ihren Platz. Gerade das mondäne, feierwütige Berlin war in den 1920ern, wie der „Tagesspiegel“ stolz resümiert, „der erste Sehnsuchtsort für Lesben und Schwule weltweit“.
In diesem aufgeschlossenen Klima feierte auch Claire Waldoff ihre größten Erfolge. 1884 als Clara Wortmann im Ruhrgebiet geboren, war sie 1906 nach Berlin gekommen und hatte eine Bühnenkarriere gestartet. Privat lebte sie mit Olga von Roeder in einer offen lesbischen Beziehung, die bis ans Lebensende hielt. Noch 1907 hatte Claire Waldoffs erster Auftritt im Kabarett „Roland von Berlin“ für einigen Rummel gesorgt, weil sie im Herrenanzug „antimilitaristische“ Lieder singen wollte. Wie das „Lebendige Museum Online“ erzählt, war ein Skandal nur dadurch verhindert worden, dass Waldoffs Bühnenpartner Walter Kollo stattdessen Das Schmackeduzchen nach einem Text von Hermann Frey vertonte – so wurde der Auftritt „ein voller Erfolg.“ Was anfangs noch dezent zensiert wurde, durfte sich bald schon entfalten. Ihre Berliner Schnauze hatte sich Claire Waldoff in Windeseile bei Kneipengängen angeeignet. Genauso schnell wurde sie mit humorvoll-frivolen Texten, eingängigen Melodien und ihrer unnachahmlich wandlungsfähigen Stimme berühmt: Knurr, krächz, säusel – so wurde sie der „Stern von Berlin“. Ihre größten Hits, die bald auch auf Schallplatten erschienen, hatte Claire Waldoff in eben jenen „Goldenen Zwanzigern“, darunter Songs wie Hannelore, eine Parodie auf die „Neue Frau“, Wer schmeißt denn da mit Lehm, eine Ode an den rauen Berliner Umgangston, die ziemlich direkte Emanzipationshymne Raus mit den Männern aus dem Reichstag und das rüde Liebeslied Hermann heeßt er, bis heute eines ihrer bekanntesten Stücke.
Dieser Hermann, erstmals 1914 öffentlich besungen, hat das Herz der Ich-Sprecherin im Sturm erobert. Er ist treu, doch zeichnet er sich durch eine selbstvergessen ruppige Sinnlichkeit aus. So weiß die Verliebte nicht, wie ihr geschieht, aber egal – sie ist ganz hin und weg von ihrem „Meister“: „Dessen Sehnsucht ist jestillt/Erst wenn ganz verknautscht, verknüllt/Meine Blusen, meine Röcke/Bloß vonwejen Liebeszwecke/Hach, in so wat isser Meester/Hermann heeßt er!“ Der letzte Vers wird noch zwei Mal wiederholt, immer verträumter, immer verklärter, ein leiser Seufzer … Da vergisst man glatt, dass die Sängerin eigentlich Frauen liebt. Die Musik dazu ist eher verhalten, aber voller Tempowechsel und Brüche – ganz wie der Liebhaber, der seine Teuerste auch mal forsch zum Tanzen ausführt: „Ooch zum Ball/Führte er mir neulich mal/Der kann wackeln, knicken, schieben/Ruff und rum, mal hier, mal drüben/Mit de Knie manchmal stößt er/Hermann heeßt er!“
Geschrieben von Ludwig Mendelssohn, ist Hermann heeßt er ein harmlos-frivoler Song, der ein aufgeschlossenes Berliner Publikum mit frechen Wortspielen unterhalten sollte und nicht das Geringste mit seiner Interpretin zu tun hatte. Trotzdem wurde er zum Politikum. Warum? Weil die Geschichte ihn einholte und das Exzentrische der Interpretin zum Makel erklärte. Es waren die Weltwirtschaftskrise von 1929 und die Nazis, die dem freien pulsierenden Leben in deutschen Metropolen ein jähes Ende setzten. Nach Hitlers Machtübernahme erhielt Claire Waldoff vorübergehend Berufsverbot – denn 1932 war sie im Berliner Sportpalast bei „Gegen die Kulturreaktion“ aufgetreten, einer Aktion der kommunistischen „Roten Hilfe“. Auch sonst, schreibt das Portal „Fembio.org“, war die Sängerin den Faschisten „ein Dorn im Auge: viele Lieder zu frech, viele ihrer Komponisten und Textdichter Juden, befreundet mit vielen, die wie sie den Nationalsozialismus ablehnen.“ Darüber hinaus, so das „Lebendige Museum Online“, waren ihre lesbische Beziehung „und ihr Auftreten auf der Bühne mit Hemdbluse, Schlips und kurzen Haaren […] nicht im Sinne der nationalsozialistischen Ideologie.“
Und dann rückten nachträglich doch noch die Songlyrics ins diktatorische Visier. Denn zu allem Übel dichtete der Volksmund dem Song Hermann heeßt er munter ein paar brisante Zeilen hinzu: „Rechts Lametta, links Lametta und der Bauch wird immer fetta und in Preußen ist er Meester/Hermann heeßt er!“ Plötzlich hatte die gesichtslose Ich-Sprecherin einen eher unsympathischen Geliebten mit Gesicht, denn die Verse waren eindeutig auf „Reichsminister“ Hermann Göring gemünzt. Die Provokation war perfekt.
Claire Waldoff trat notgedrungen in die „Reichskulturkammer“ ein und sang gelegentlich vor Soldaten: Dennoch wurde zwischen 1933 und 1945 ihre Karriere so massiv behindert, dass sie immer seltener auftrat. Ein spätes Comeback in der Bundesrepublik war nicht mehr möglich. Ab 1946 zog sie sich nach und nach ins Privatleben zurück, 1957 starb sie an einem Schlaganfall. Und heute? Sehen manche Politiker und Wissenschaftler Parallelen zu der Zeit vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs. Sie blicken besorgt auf eine Welt, die viele soziale, wirtschaftliche und kulturelle Errungenschaften zu verzeichnen hat, aber zunehmend durch globale Krisen und – als Folge davon – durch Rechtspopulisten bedroht wird. Grund genug, sich auch auf die turbulenten „Goldenen Zwanziger“ wieder zu besinnen und für die Freiheiten einzustehen, die in den vergangenen Jahrzehnten erkämpft wurden.
Es ist der Klassiker: Mit erotischen, sexuellen Inhalten konnte man schon immer verstören. Aber Vorreiter dabei waren keineswegs nur Männer. Die ersten Bluessongs, die in Nordamerika in den 1920er Jahren aufgezeichnet und als Schallplatten veröffentlicht werden, stammen – aber ja! – von Frauen. Es beginnt 1920 mit Crazy Blues