Wilhelm von Humboldts
Sprachprojekt
C.H.Beck
| ZUM BUCH |
Wilhelm von Humboldt, der große Staatsmann und Gründer der Berliner Universität, war auch ein großer Sprachforscher. Er erkannte, dass Sprachen nicht nur verschiedene Laute sind, sondern dass sie die Bedeutungen jeweils unterschiedlich gestalten, dass sie – auf der Grundlage universeller kognitiver Dispositionen des Menschen – verschiedene Weisen menschlichen Denkens, verschiedene «Weltansichten» sind. Er entwarf ein umfassendes Projekt zur Erforschung der Sprachen der Welt, das gleichzeitig eine Erkundung der Vielfalt des menschlichen Geistes sein sollte. Das vorliegende Buch skizziert die Reise Humboldts in die Sprachen der Welt und fragt nach den Folgen dieses anthropologischen Projekts für die heutige Reflexion und Kultur der Sprache.
| ÜBER DEN AUTOR |
Jürgen Trabant war Professor für Romanische Philologie an der Freien Universität Berlin und lehrt jetzt als Professor of European Plurilingualism an der Jacobs University Bremen. Bei C.H.Beck ist von ihm lieferbar: Mithridates im Paradies. Kleine Geschichte des Sprachdenkens (2003); Europäisches Sprachdenken (2006); Was ist Sprache? (2008); Die Sprache (2009).
Für Horst Bredekamp,
für die Freundschaft
zwischen
Bild und Sprache
| Inhalt |
Vorwort
Grundkoordinaten des Humboldtschen Geistes
1. ERZEUGUNG UND BILDUNG
1.1. Wilhelm, Alexander, Caroline
1.2. Staat
1.3. Bildung
1.4. Sprache
Von Hellas nach Neuseeland: das vergleichende Sprachstudium
2. VOM STUDIUM DES ALTERTUMS ZUM STUDIUM DER SPRACHEN
2.1. Humboldt – Wolf
2.2. Archäologie: Rekonstruktion und Anhebung eines Fundaments
2.3. Latium und Hellas und die Sprache
2.4. Das vergleichende Sprachstudium und die Griechheit
3. ANKUNFT IN DER SPRACHE: WALLENSTEIN UND DAS BASKISCHE
3.1. Paris und Spanien
3.2. Wallenstein: Sprache als Einbildungskraft
3.3. Baskisch: Eigentümlichkeit
3.4. Rom: Zu den Sprachen des Neuen Kontinents
4. ANSICHTEN DER SPRACHE: ALEXANDER VON HUMBOLDT UND DIE AMERIKANISCHEN SPRACHEN
4.1. Achtzehnhundertvier
4.2. Achtzehnhundertsiebzehn
5. EIN WEITES FELD: DIE SPRACHEN DES NEUEN KONTINENTS
5.1. Die Erde: Die Würde der Wilden
5.2. Vom Baskenland ins weite Feld Amerika
5.3. Das Verb und das unklare Denken der Amerikaner
5.4. Klassifikation und geistige Individualität
5.5. Scheitern als Erfolg
6. MITHRIDATES IN BERLIN
6.1. Mithridates 1555
6.2. Mithridates 1806–17
6.3. Mithridates 1820
7. DAS VERGLEICHENDE SPRACHSTUDIUM IN DEN REDEN VOR DER AKADEMIE
7.1. Wilhelm von Humboldts Akademie-Vorträge
7.2. Philologisches
7.3. Das Programm des Projekts Amerika
7.4. Griechenland und China
7.5. Ägypten
7.6. Indien
7.7. Der Große Ozean
7.8. Neuseeland
8. IMMER WENIGER ALS WILLKÜRLICHES ZEICHEN
8.1. Humboldt: Vom Sprachzeichen zur Kritik des Zeichens
8.2. Blick auf Hegel: Sprache als Zeichen
Der wissenschaftliche Ort der Sprache
9. VON WILDEN UND WELTBÜRGERN: ANTHROPOLOGIE UND SPRACHE UM 1800
9.1. Philosophie, Anthropologie, Geschichte
9.2. Sprache und Anthropologie
9.3. Paris und die Entdeckung der Sprachen
9.4. Pariser Anthropologie
10. LINGUISTIK UND PHILOLOGIE: HUMBOLDT, GRIMM UND BOPP
10.1. Linguistik und Philologie
10.2. Sprach-Charakteristik
10.3. Laut und Wildheit
10.4. Das tote Gerippe und die Mumie
10.5. Grimm: das Volk
10.6. Bopp: Physik der Sprache
10.7. Die Nation, Europa und die Menschheit
11. WELTANSICHTEN, WORT UND WAHRHEIT: ÜBER PHILOSOPHIE UND SPRACHE
11.1. Vorüberlegungen aus Tegel
11.2. Wahrheit
11.3. Weltansichten
11.4. Wort
Wo Humboldts Sprach-Geist erscheint
12. GEIST DER SPRACHE: VOM GENIUS ZU DEN GENEN DER SPRACHE
12.1. Je ne sais quoi
12.2. Génie des langues
12.3. Genie und Charakter
12.4. Charakter und Struktur
12.5. Génie des langues (Sprachsinn)
12.6. Die Genies als Strukturen
12.7. Wider die Genies der Sprachen
12.8. Lingua ipsa
12.9. Sprachgene
13. UNENDLICHER GEBRAUCH VON ENDLICHEN MITTELN: ACHT VERSPÄTETE BEMERKUNGEN ÜBER CHOMSKYS HUMBOLDT
Vorbemerkung
13.1. Unendlichkeiten
13.2. Chomsky-Humboldt
13.3. UGVEM und Energeia in der kognitiven Linguistik
13.4. Vom Nutzen der Wissenschaftsgeschichte
13.5. Vom Nutzen für die Wissenschaftsgeschichte
13.6. Vom Nachteil der Wissenschaftsgeschichte
13.7. Gen (-erativ, -etisch, -ie)
13.8. Von der Schönheit der Sprache
14. GEIST UND KULTUR IN DER SPRACHWISSENSCHAFT: KARL VOSSLER
14.1. Der schöpferische Sprachgeist
14.2. Probleme der ästhetischen Sprachbetrachtung
14.3. Das Scheitern der ästhetischen Sprachbetrachtung
14.4. Sprach-Wissenschaft als Wissenschaft des Geistes und des Schönen
15. HUMBOLDTS SPRACH-GEIST HEUTE
15.1. Über die Bhagadvad-Gîtâ
15.2. Wie aktuell ist Humboldts Sprach-Geist?
Bibliographie
Nachweise
Dank
Anmerkungen
Namenregister
Zwischen allen Sprachen tun sich Bilder auf.
Jeder Satz ist ein von seinen Sprechern so und nicht anders
geformter Blick auf die Dinge. Jede Sprache sieht die Welt anders an,
hat ihr gesamtes Vokabular durch diese andere Sicht anders gefunden
– ja sogar anders eingefädelt ins Netz ihrer Grammatik.
In jeder Sprache sitzen andere Augen in den Wörtern.
(Herta Müller 2011)
| VORWORT |
Wenn ich hier ein weiteres Buch zum Sprachdenken Wilhelm von Humboldts vorlege, so tue ich das in der Überzeugung, dass dieses nicht nur historisch bedeutsam ist, sondern auch heute noch – oder gerade heute – Beachtung verdient. In wenige Vor-Worte zusammengefasst, liegt Humboldts Bedeutung in Folgendem: Wie kein anderer Denker vor ihm rückt Humboldt die Sprache als das Humanum schlechthin ins Zentrum seiner Erkundung des Menschen. Die wesentliche Aufgabe der Sprache ist Denken, Arbeit des Geistes, das heißt kognitive Aneignung der Welt. Natürlich ist nicht das gesamte Denken des Menschen Sprache, aber sie ist eben doch das ganz spezifisch Menschliche seiner denkerischen Aktivitäten: «Der Mensch ist nur Mensch durch Sprache» schreibt Humboldt ziemlich apodiktisch (was ganz selten bei ihm ist). Diese menschliche Welt-Aneignung geschieht immer in der Gemeinschaft mit dem Anderen, der «meine» Sprache spricht: Sprache ist Mit-Denken. Und das heißt auch, dass die denkende Weltaneignung in die Besonderheit der geschichtlichen Gemeinschaft gestellt ist. Die verschiedenen Sprachen der Menschheit sind Weltansichten. Menschliches Denken ist nur in der Vielfalt der sprachlichen Weisen des menschlichen Gedankens in der Welt.
Aber so viele mächtige kulturelle und politische Entwicklungen und so viele mächtige Denk-Strömungen kämpfen – mit einer eigenartigen Wut – gegen diese Einsichten. Da ist die alte, ewige Attacke der Philosophie gegen die Sprache und der Furor imperialer Herrschaft gegen die Sprachen. Die globale Verbindung dieser beiden Sprachfeindschaften scheint die Humboldtschen Einsichten derzeit aus den Köpfen der Menschen zu vertreiben, obwohl sich an diesen selbst nichts geändert hat. Es siegen nur die stärkeren und älteren Bataillone der Geist- und Sprachlosigkeit: Denken scheint etwas Sprachloses zu sein, auf das man Zeichen klebt, die man anderen gibt, die daraufhin genau dasselbe denken. Und weil ja alle dasselbe denken, ist es völlig gleichgültig, in welcher Sprache etwas gesagt wird. Am besten doch wohl in ein und derselben? Das ist ohnehin praktischer, und es hat auch noch so etwas herrlich Kosmopolitisches, also Friedensstiftendes. Die Sprachlosigkeit des Denkens führt über eine universelle Einheitssprache anscheinend direkt zum Weltfrieden: zur Rückkehr ins Paradies und seiner lingua adamica.
Dass alles etwas komplizierter ist, hat Humboldt gesehen. Vor allem hat er gerade in der Verschiedenheit des Sprechens und der Sprachen den Weg zur Menschheit – und ihrer planetarischen Gemeinschaft – erkannt. An diesen komplizierteren Einsichten in die Sprachlichkeit des Menschen hängt sein kühnes Projekt des Studiums aller Sprachen der Welt, das Projekt also einer großen Wissenschaft des menschlichen Geistes. Es ist ein optimistisches Projekt, das sich der alteuropäischen Kritik der Sprache und der Sehnsucht nach der in Babel verlorenen Einheitssprache des Paradieses radikal entgegenstellt und stattdessen die Sprachen als Quellen des geistigen Reichtums und der Kreativität feiert. Diesem Projekt, das gewiss den Namen der Geistes-Wissenschaft verdient, ist das hier vorliegende Buch gewidmet. Ihm sei als weiteres Vor-Wort das enthusiastische Wort des jungen Humboldt vorangestellt:
Durch die Mannigfaltigkeit der Sprachen wächst unmittelbar für uns der Reichthum der Welt und die Mannigfaltigkeit dessen, was wir in ihr erkennen; es erweitert sich zugleich dadurch für uns der Umfang des Menschendaseyns, und neue Arten zu denken und empfinden stehen in bestimmten und wirklichen Charakteren vor uns da. (VII: 602)
Nach meinem ersten Humboldt-Buch Apeliotes (1986) und seit den Traditionen Humboldts (1990) habe ich kontinuierlich am Humboldt-Projekt weitergearbeitet und mich in verschiedenen Kontexten und bei verschiedenen Gelegenheiten zu Humboldt geäußert. Allerdings standen in diesen zwanzig Jahren Studien zu Giambattista Vico, zum Ursprung der Sprache, zur Sprachphilosophie und Sprachtheorie und zur Geschichte der europäischen Sprachreflexion im Vordergrund meiner Arbeit. Wenn ich jetzt wieder ein Buch mit Humboldt-Studien vorlege, so rücke ich eigentlich nur in den Vordergrund, was bei all diesen anderen Arbeiten den Hintergrund ausmachte: Ohne Orientierung an Humboldt hätte ich keines der genannten Bücher so geschrieben, wie sie sind. Insofern bin ich hier wieder bei «meinem» Autor angekommen. Die Kompilation eines Großen Humboldt-Lesebuchs (2010) hat mich zu einem Durchgang durch das Gesamtwerk Humboldts gezwungen, in dem die wichtigsten Themen und Denk-Motive konzentriert reflektiert werden mussten. Das vorliegende Buch über die Sprache ist also eingebettet in die Betrachtung des ganzen Humboldt.
Die hier versammelten Humboldt-Studien sind über die Jahre an manchmal entlegenen Orten, in Festschriften, Kongressakten, Jahrbüchern, publiziert worden. Sie sind Teil meines Bemühens, Humboldt zu verstehen oder, wie mein verstorbener französischer Humboldt-Freund Henri Meschonnic gesagt hat: «penser Humboldt aujourd’hui». Humboldt heute denken heißt, das große anthropologische Sprach-Projekt dieses Denkers so nachzeichnen, dass die Koordinaten eines Denkens der Sprache für uns heute sichtbar werden. In diesem Sinne habe ich versucht, das Buch zu einem Ganzen zu komponieren. Die einzelnen Studien sind dabei – zum Teil erheblich – überarbeitet worden. Vor allem sind, so hoffe ich, allzu lästige Wiederholungen getilgt worden. Da dies nicht ganz gelingen konnte und sollte, kann man die einzelnen Kapitel auch immer noch unabhängig voneinander lesen.
Die Humboldt-Forschung ist in den Jahren seit dem Apeliotes und den Traditionen Humboldts kräftig vorangeschritten. Wichtige Untersuchungen wie die von Müller-Sievers, Scharf, Welbers, Di Cesare, Bösch, Messling, Jostes, Jechte, Rousseau, Thouard, Kowalska, Chabrolle-Cerretini, Underhill sind entstanden. Die von der DFG geförderte Edition der Schriften zur Sprachwissenschaft schreitet voran, vor allem dank der Arbeit von Manfred Ringmacher und Ute Tintemann. Die Wilhelm-von-Humboldt-Arbeitsstelle an der Berliner Akademie ist zu einem aktiven Zentrum der Humboldt-Forschung gediehen. Wichtige Tagungen dokumentieren das internationale Interesse an Humboldt. Insofern befinde ich mich mit meinen Humboldt-Studien inmitten einer lebendigen Forschungsaktivität.
Angesichts deprimierender Aussichten der Sprache und der Sprachen in der gegenwärtigen kulturellen, politischen und wissenschaftlichen Welt stellt sich allerdings zunehmend die Frage, ob es denn überhaupt noch der Mühe wert ist, Humboldts Arbeit an der Sprache, seine «Arbeit des Geistes», mit- und weiterzudenken. Nun, gegen solche Mutlosigkeit helfen Herta Müllers tief humboldtische Worte, die dem Buch als Motto voranstehen, und immer wieder Fernando Pessoas wunderbare Verse, seine Mensagem:
Valeu a pena? Tudo vale a pena
Se a alma não è pequena.
Natürlich gibt es sie, die große Seelen, die die köstlichen Mühen der Arbeit des Geistes auf sich nehmen.
| GRUNDKOORDINATEN DES HUMBOLDTSCHEN GEISTES |
| 1. ERZEUGUNG UND BILDUNG |
| 1.1. Wilhelm, Alexander, Caroline |
1.1.1. Wilhelm von Humboldt wird am 22. Juni 1767 in Potsdam geboren. Er wächst mit seinem jüngeren Bruder Alexander, geboren 1769, in Schloss Tegel auf, wo die Geschwister von verschiedenen berühmten Lehrern unterrichtet werden, z.B. von Campe, Kunth, Dohm und Engel. Die Brüder beziehen zunächst gemeinsam die Universität, folgen dann aber ihren verschiedenen wissenschaftlichen Berufungen und bleiben doch zeitlebens aufs engste miteinander verbunden.[1] Die Ehe mit Caroline von Dacheröden (1766–1829), die in einem ausführlichen Briefwerk dokumentiert ist, ist als großes Projekt einer gemeinsamen Lebensgestaltung selbstbestimmter Partner geschlechtsgeschichtlich bedeutsam.[2] Seine finanzielle Unabhängigkeit ermöglicht es Humboldt, den nur kurz ausgeübten Staatsdienst zunächst wieder zu verlassen und an verschiedenen Wohnorten und auf Reisen seinen individuellen Interessen nachzugehen: In freundschaftlicher Verbindung vor allem mit Schiller, aber auch mit Goethe, widmet Humboldt sich der Dichtung, der Philosophie, der politischen Theorie, der Anthropologie, der Ästhetik, bis er schließlich den Kern seiner Suche findet: die Sprache. Von 1802 bis 1808 ist Humboldt Botschafter Preußens in Rom, das ihm die lebendige Anschauung der Antike gewährt. Im Rahmen der durch die Napoleonischen Kriege ausgelösten Reformbemühungen ordnet Humboldt in wenigen Monaten 1809/10 das preußische Erziehungswesen neu. Die Gründung der Berliner Universität geht auf seinen Antrag zurück. Humboldt vertritt Preußen in verschiedenen internationalen Missionen (Wien, Paris, Frankfurt, London), gerät aber zunehmend mit den immer reaktionärer werdenden politischen Kräften in Konflikt, so dass er sich Ende 1819 aus der Politik nach Tegel zurückzieht. Er lässt sein Haus von Schinkel klassizistisch umbauen und widmet sich dort bis zum Ende seines Lebens dem vergleichenden Sprachstudium. Öffentlich wirkt er nur noch in der Akademie der Wissenschaften und bei der Einrichtung der Berliner Museen. Er stirbt am 8. April 1835.
1.1.2. Humboldts gedrucktes Werk ist zu seinen Lebzeiten eher schmal: Neben ein paar frühen politischen und philosophischen Aufsätzen hat er drei Bücher veröffentlicht: die ästhetisch-literarische Untersuchung Über Göthes Hermann und Dorothea (1798), die Übersetzung des Agamemnon von Aischylos (1816, mit einem bedeutsamen Vorwort über das Übersetzen) und die historisch-linguistische Abhandlung Prüfung der Untersuchungen über die Urbewohner Hispaniens vermittelst der Vaskischen Sprache (1821). In der Tegeler Zeit erscheinen seine zumeist sprachwissenschaftliche Gegenstände behandelnden Akademie-Vorträge, zu denen auch «Über die Aufgabe des Geschichtschreibers» (1821) gehört, ein Grundtext der historischen Methodik. Die ersten beiden Bände seiner Untersuchung der Kawi-Sprache auf der Insel Java und der anderen austronesischen Sprachen waren abgeschlossen bzw. im Druck, als er starb. Das Werk wird von seinem Sekretär Buschmann zuendegeführt. Die Einführung zu diesem Werk, Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluß auf die geistige Entwickelung des Menschengeschlechts, 1836 postum erschienen, ist Humboldts Hauptwerk. Seine bedeutendste politische Schrift, Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen, 1792 entstanden, wird erst 1851 gedruckt. Humboldts handschriftlicher Nachlass ist umfangreich und nicht vollständig in der Akademie-Ausgabe der Gesammelten Schriften (1903–1936) veröffentlicht. Die Akademie-Ausgabe schließt die im engeren Sinne sprachwissenschaftlichen Arbeiten aus, die derzeit in einer neuen Edition herausgegeben werden.
1.1.3. Humboldts historisches Bild ist also durch drei Facetten gekennzeichnet: Er ist der preußische Staatsmann und politische Theoretiker, in der Erinnerung der Deutschen ist er vor allem als Gründer der Universität Berlin und als Theoretiker des Konzepts der «Bildung» präsent, schließlich ist er der bedeutendste Sprachphilosoph, dessen Denken grundlegend für die moderne Sprachreflexion geworden ist.
Dabei ist sein gesamtes Wirken von einigen Grundprinzipien durchzogen, gleich ob wir den politischen Denker, den Bildungstheoretiker oder den Sprachdenker vor uns haben. Grundzug dieses Denkens ist ein fundamentaler Individualismus, ein wahrscheinlich auf Leibniz zurückgehender irreduktibler Respekt für das Recht jedes Individuums, das in ihm liegende Potential «auszubilden», und somit eine Begeisterung für individuelle Vielfalt. «Eigentümlichkeit», «Mannigfaltigkeit», «Verschiedenheit» sind die Humboldtschen Schlüsselwörter. Gleichzeitig steht dieses Individuum ebenso irreduktibel in Verbindung mit anderen, es ist ebenso wesentlich politisch, es kann sich ohne Bezug auf den anderen gar nicht «ausbilden», vor allem kann es ohne den anderen nichts Neues «erzeugen». Auf der Erzeugung des Neuen aber basiert – mehr noch als der Fortgang des Lebens überhaupt – die geschichtliche Welt des Menschen. Bei der Verbindung des einen mit dem anderen genügt es nicht, dass die Individuen sich unverbunden nebeneinander stellen (Isolation); falsch ist auch das Sich-Aufgeben und das Ineinander-Aufgehen der Individuen (Einverleibung). Die ideale, weil die Individualität respektierende, Verbindung mit dem anderen ist die «Synthese», deren Modell Humboldt in der sexuellen Vereinigung sieht, in der die Individuen sich als solche nicht auflösen und aus der neue Wesen hervorgehen.
| 1.2. Staat |
Die Französische Revolution ist das große politische Ereignis, das eine ganze Generation mit Macht ergreift. Nicht nur im Stift in Tübingen wird die philosophische Transformation der politischen Verhältnisse gefeiert, auch Humboldts denkerische und schriftstellerische Anfänge gelten der Französischen Revolution. Eine der ersten Publikationen Humboldts ist der französischen Verfassung von 1791 gewidmet. Wie alle aufgeklärten Intellektuellen der Zeit begrüßt Humboldt den Versuch, eine neue politische Ordnung nach philosophischen Prinzipien, vor allem auf der Basis von Freiheit und Gleichheit aller Menschen, zu errichten. Wie aber ist dieses Neue zu gestalten und erfolgreich zu etablieren? Humboldt wird von seiner grundlegenden synthetisch-erotischen Denkstruktur her immer «reformistisch» und nicht revolutionär denken, d.h. er wird bei seinen politischen Vorstellungen, aber auch auf anderen Gebieten, denen sein Denken sich zuwendet, immer dafür plädieren, dass das Neue aus der Verbindung mit dem Gegebenen entsteht. So kritisiert er z.B. an der neuen französischen Verfassung, dass sie ohne Rücksicht auf historische Gegebenheiten das Land einfach «geometrisch» in gleich große Departements aufteilt und damit jegliche Tradition negiert. Die politische Neuordnung Frankreichs strapaziert das rationalistische Prinzip über Gebühr, sie ist einseitig «willkürlich» setzend und verspielt damit auch die Chance, sich erfolgreich im Volk zu etablieren:
Die Vernunft hat wohl Fähigkeit, vorhandnen Stoff zu bilden, aber nicht Kraft, neuen zu erzeugen. Diese Kraft ruht allein im Wesen der Dinge, diese wirken, die wahrhaft weise Vernunft reizt sie nur zur Thätigkeit, und sucht sie zu lenken. Hierbei bleibt sie bescheiden stehen. Staatsverfassungen lassen sich nicht auf Menschen, wie Schösslinge auf Bäume aufpfropfen. Wo Zeit und Natur nicht vorgearbeitet haben, da ists, als binde man Blüthen mit Fäden an. Die erste Mittagssonne versengt sie. (I: 80)[3]
In anderen Worten: Die ausschließlich vernunftmäßige Neuordnung der politischen Verhältnisse wird als einseitig «männlich» kritisiert. Stattdessen geht es nach Humboldt beim Schaffen des Neuen immer darum, Weibliches und Männliches miteinander zu «vermählen»:
Auch fordert jede Wirkung eine gleich starke Gegenwirkung. Jedes Zeugen ein gleich thätiges Empfangen. Die Gegenwart muss daher schon auf die Zukunft vorbereitet sein. (I: 80)
Denn, leibnizisch gesagt, die Gegenwart ist schon mit der Zukunft «schwanger». Kant hatte die Einbildungskraft als jene kreative Mitte zwischen Rationalität und Sinnlichkeit angenommen, deren Verbindung sich die Bildung des Gedankens verdankt. Zum Entsetzen Kants unterlegt Humboldt der Synthesis der Einbildungskraft anthropologisch das Modell der Sexualität: Die liebende Verbindung des Männlichen und des Weiblichen ist gleichsam die Ur-Synthesis, aus der das Neue hervorgeht. Die sexuelle Vereinigung geht als natürliche Grundlage jeder Kreativität weit über das Gebiet der Natur hinaus und liegt auch noch der Schaffung neuer politischer Ordnungen und kultureller Gegenstände zugrunde, vor allem ist sie die körperliche Basis der Erzeugung des Gedankens. Humboldt wird nach Kants Protest die kreative Synthesis nicht mehr explizit auf Sexualität beziehen. Als Denkfigur bleibt sie aber grundlegend.
Daher basiert auch viele Jahre später noch sein Vorschlag für eine neue Verfassung Deutschlands auf der Vorstellung von liebender Synthese. Humboldt war am Ende seiner politischen Karriere preußischer Minister für Ständische Angelegenheiten, also für Verfassungsfragen, und hat in dieser Funktion auch den Plan einer neuen Konstitution für die zukünftige politische Ordnung Deutschlands entworfen. Deutschland sollte kein Einheitsstaat nach französischem Modell werden, sondern eine Föderation, welche die alten politischen Einheiten – das Gegebene – bewahrt, aber zu einem größeren Allgemeinen synthetisch verbindet, das als solches nicht die Individualität der Teile zerstört. Bestimmte übergreifende politische Funktionen (Kriegswesen) geben die Individuen, die Teilstaaten, an die Union ab, die durch die Synthesis neue politische Dimensionen eröffnet (Bewegungsfreiheit, Handelsfreiheit). Andere Funktionen aber bewahren die Teilstaaten und bilden sie aus. Auch in der vertikalen Ordnung schlägt Humboldt eine Synthese der traditionellen – gegebenen – Rechte des Königs mit den Interessen der ökonomisch aktiven Schichten der Nation vor (unter Wahrung bestimmter überkommener Rechte des Adels): eine konstitutionelle Monarchie, welche die Forderungen der revolutionären Klassen nach politischer Beteiligung und Mitsprache mit den Rechten der traditionellen Machteliten zu verbinden trachtet. Doch selbst diese reformistischen «synthetischen» Vorstellungen zur Neugestaltung des deutschen politischen Raums waren nach dem Wegfall des Reformdrucks durch die preußische Niederlage nicht mehr durchzusetzen, und Humboldt hatte das politische Feld zu räumen, eine für die deutsche Geschichte insgesamt fatale Entscheidung.
Humboldt hat seinen politisch-theoretischen Haupttext, Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen, nie veröffentlicht. Es ist ein im unmittelbaren Zusammenhang mit der Erfahrung der Französischen Revolution – Humboldt hat noch 1789 mit Campe eine Reise nach Paris unternommen – und des autoritären preußischen Staats 1792 entstandener Entwurf, der den Staat auf die Funktion der Sicherung der äußeren und inneren Sicherheit reduziert. Zweck des Menschen ist «die höchste und proportionirlichste Ausbildung seiner Kräfte in ihrer individuellen Eigenthümlichkeit» (I: 246) bzw. «die höchste und proportionirlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen» (I:107). Diese gelingt ihm aber nur politisch, d.h. nur in der «Verbindung mit andren» oder indem er «die Kräfte, womit er wirkt, durch Verbindung zu vervielfältigen strebt» (I:107). Hierzu hat der Staat den Freiheitsraum zu gewährleisten, sich aber eben nicht in die Eigentümlichkeiten des Individuums einzumischen. Vor allem die Bereiche Erziehung, Religion und Sittenverbesserung, also gerade diejenigen, die in das geistige Leben des Menschen eingreifen, liegen außerhalb der Grenzen der Wirksamkeit des Staates. Das Buch fand keinen Verleger, zirkulierte wohl unter Humboldts Freunden, nur Teile davon sind in der Berlinischen Monatsschrift erschienen. Vielleicht fand Humboldt es später auch nicht mehr opportun, ein Werk zu veröffentlichen, das die Abstinenz des Staates vom Bildungswesen empfiehlt, nachdem er gerade maßgeblich an der Neuregelung eines staatlichen Erziehungswesens beteiligt war. Jedenfalls ist das Buch erst nach Humboldts Tod und nach der zweiten Niederlage der fortschrittlichen Kräfte in Deutschland, nach 1848, veröffentlicht worden. Es ist ein Grundtext des politischen Liberalismus, der die größtmögliche Einschränkung von Staatlichkeit verlangt.[4] Das Werk rückt offensichtlich immer wieder in das Interesse politischer Akteure, wenn der Staat seine Grenzen sichtbar überschritten hat, so nach dem Zweiten Weltkrieg, oder wenn, wie in der aktuellen politischen Situation, der Staat sich aus bisher wahrgenommenen Verantwortlichkeiten, z.B. aus dem Erziehungswesen, verabschieden möchte.
| 1.3. Bildung |
1.3.1. Obwohl Humboldt von Staats wegen die entscheidenden Weichen für die Neuordnung des preußischen Erziehungswesens gestellt hat, so ist er doch Advokat einer weitgehenden Staatsferne auf dem Gebiet, das man geradezu sprichwörtlich als das Humboldtsche Gebiet betrachtet: bei seinen Vorstellungen zur Universität. So soll die neuzugründende «allgemeine und höhere Lehranstalt» (X: 150) durchaus keine Staatsanstalt sein, sondern eine Einrichtung der «Nation» (X: 152) – das ist etwas anderes als der Staat –, die ökonomisch unabhängig und jenseits der praktischen Ausbildungsnotwendigkeiten des Staates operiert. Diese ökonomischen und institutionellen Grundvoraussetzungen sind bei der Einrichtung der Berliner Universität nicht realisiert worden, die insofern auch niemals eine «Humboldt-Universität» gewesen ist. Sie ist von Anfang an eine preußische Staats-Universität gewesen, die eher Funktionseliten für den Staat als wissenschaftliche Köpfe für die Nation ausbildete. Vielleicht ist aber doch ihr grundlegendes Prinzip, die Einheit von Forschung und Lehre, ansatzweise realisiert worden und hat zu dem großen Erfolg der Neugründung im 19. Jahrhundert beigetragen. Gemeint war damit bei Humboldt, erstens, dass der an der Universität Lehrende ein Forscher zu sein hat, also selber zur Wissenschaft beiträgt, hierfür ist ihm «Einsamkeit und Freiheit» (X: 251) zu gewähren; und zweitens, dass das Gespräch des forschenden Lehrers mit den Studenten konstitutiv ist für Wissenschaft:
Es ist ferner eine Eigenthümlichkeit der höheren wissenschaftlichen Anstalten, dass sie die Wissenschaft immer als ein noch nicht ganz aufgelöstes Problem behandeln und daher immer im Forschen bleiben, da die Schule es nur mit fertigen und abgemachten Kenntnissen zu thun hat und lernt. Das Verhältniss zwischen Lehrer und Schüler wird daher durchaus ein anderes als vorher. Der erstere ist nicht für die letzteren, Beide sind für die Wissenschaft da. (X: 252)
Die Universität ist in ihrem Kern eine wissenschaftliche Gesprächsveranstaltung bzw. besser noch: eine Veranstaltung von Wissenschaft als Gespräch. Ob sie diese Idealvorstellung des Immer-im-Forschen-Bleibens jemals realisiert hat, sei dahingestellt; diese ist jedenfalls gemeint, wenn im 20. Jahrhundert die Formel von der «Humboldtschen Universität» aufkommt. Sicher macht dieses Moment der Humboldtschen Universitätsidee, die starke Forschungsbetontheit, im 19. und 20. Jahrhundert den Glanz und die Stärke der Neuen Universität aus.
1.3.2. Obwohl der Name Humboldts heute geradezu unauflöslich mit der Realität bzw. dem Ideal der Universität verbunden ist, hat im 19. Jahrhundert eher ein anderer Grundgedanke Humboldts die Wertvorstellungen der deutschen Bourgeoisie entscheidend geprägt, jenes Konzept von «Bildung» nämlich, das uns schon als Grundlage der politischen Theorie Humboldts begegnet ist: die «höchste und proportionirlichste Bildung der Kräfte zu einem Ganzen». Die Vorstellung von Wissenschaft als Gespräch, als – wie es in einem späten sprachtheoretischen Text Humboldts heißt – gemeinsames «Anringen» an die Wahrheit (VII: 56), zeigt, dass Wissenschaft nicht als Gewinnung und Vermittlung von «fertigen und abgemachten Kenntnissen» konzipiert ist, sondern als eine kontinuierliche Beschäftigung mit den höchsten Dingen des Geistes, die den Menschen als Menschen und als Individuum «bildet». Konkreter inhaltlich bedeutete die Idealvorstellung der «Bildung» eine Ausrichtung an der Antike, insbesondere an Griechenland (nicht an Rom), an der Dichtung und dem Neugriechentum der Weimarer Klassiker und am philosophischen Idealismus Kants. Die idealistische Bildungsidee, die auch das deutsche Gymnasium ideologisch überwölbte, war wohl auch deswegen so erfolgreich in Deutschland, weil sie dem Bürgertum eine Möglichkeit bot, seine politische Machtlosigkeit zu kompensieren. Sicher hat ihre ideologische Präsenz zu der wissenschaftlichen und kulturellen Blüte Deutschlands im 19. Jahrhundert beigetragen, die erst im neuen Dreißigjährigen Krieg 1914–45 – wie der amerikanische Historiker Stern sagt – «verspielt» wird.
| 1.4. Sprache |
Auch wenn Humboldt hauptsächlich als preußischer Staatsmann, Gründer der Berliner Universität und Theoretiker der «Bildung» im Gedächtnis der Deutschen gegenwärtig ist, so ist seine hauptsächliche geistige Leistung doch seine sprachphilosophische und sprachwissenschaftliche Arbeit. Dabei ist Humboldt nicht – wie man immer wieder lesen kann – einer der Begründer der historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft, die vor allem mit den Namen von Franz Bopp und Jacob Grimm verbunden ist, sondern der Begründer eines alternativen linguistischen Projekts, das man am besten eine «anthropologisch-vergleichende» Sprachwissenschaft nennt. Es geht dabei nämlich nicht um die Rekonstruktion der historischen Einheit der Sprachen, sondern im Gegenteil darum, auf der Basis eines allen Menschen angeborenen Sprachvermögens, des als universell vorausgesetzten «Sprachsinns», die Entfaltung der Verschiedenheit der Sprachen der Menschheit zu studieren. Es geht um die individuellen Eigentümlichkeiten, die uns auch in den politischen und edukativen Projekten Humboldt begegnet sind.
Humboldt war in seiner Zeit, wie sein Bruder Alexander bemerkt, wohl der Mensch, der die umfassendsten Kenntnisse von den Sprachen der Welt hatte. Mit dem Projekt seines «vergleichenden Sprachstudiums», dessen Kern die synchronisch-strukturelle Beschreibung aller Sprachen der Welt ausmacht, ist Humboldt im Zentrum eines zunächst umfassender angelegten «anthropologischen» Projekts angelangt. Früh fasst er den Plan, sich – sozusagen in Ergänzung zur Philosophie, die das Universelle des Menschen erkundet – mit den empirischen «Eigentümlichkeiten» des Menschen zu beschäftigen, mit der «Verschiedenheit der Köpfe» (I: 287). Er entwirft den Plan einer vergleichenden Anthropologie, wir würden heute sagen: einer vergleichenden Kulturwissenschaft. Ähnliches hatte Herder schon in Angriff genommen, als er forderte, dass die Philosophie Anthropologie werden müsse.
In Fortführung der Kantischen Philosophie des Geistes, die das Denken als eine synthetische Einheit von Sinnlichkeit und Verstand fasst, entdeckt Humboldt, dass diese Synthesis der Einbildungskraft wesentlich und unhintergehbar sprachliche Synthese ist. Der menschliche Gedanke entsteht als Sprache, oder – in den berühmten Formulierungen des Hauptwerkes: «Die Sprache ist das bildende Organ des Gedanken» (VII: 53), oder: «Sie ist nemlich die sich ewig wiederholende Arbeit des Geistes, den articulirten Laut zum Ausdruck des Gedanken fähig zu machen» (VII: 46). Sprache ist – und hier fasst Humboldt eine seit dem 16. Jahrhundert immer deutlicher werdende philosophische Einsicht Europas in der Redeweise der Kantischen Philosophie zusammen – also nicht nur «Zeichen» zur Mitteilung eines ohne Sprache gefassten Gedanken, sondern sie ist die Fassung des Gedankens selbst, Denken, sie ist also – modern gesagt – zuallererst und wesentlich kognitiv (und nicht bloß kommunikativ).
Diese «Bildung» des Gedankens ist nun aber – und das ist der zweite fundamentale und wesentlich «anthropologisch-empirische» Gedanke von Humboldts Sprachdenken – immer Tätigkeit eines konkreten Menschen, Rede. In der Rede bildet der Sprechende-Denkende den Gedanken in der Sprache seiner «Nation» oder Sprachgemeinschaft. Das Denken ist damit nicht nur Sprache überhaupt, sondern auch bis zu einem gewissen Grad abhängig von einer ganz bestimmten Sprache. Menschliches Denken erzeugt sich in den verschiedenen Weltansichten der vielen verschiedenen Sprachen, die aber – und das vergisst der sich zu Unrecht auf Humboldt beziehende sprachliche Relativismus – fundamentale Prinzipien des Denkens gemeinsam haben.
In dem – im übrigen durchaus konfliktuellen – Eingebettetsein des Sprechenden in die Sprache der «Nation» (sie ist auch als «eigene» dem Menschen zugleich «fremd») zeigt sich drittens, dass der Mensch sein (sprachliches) Denken immer in Bezug auf den und mit dem Anderen schafft. Sprachliche Synthesis ist erst vollendet, wenn auch der Andere mein Wort gehört hat und wenn er es wieder an mich richtet, «wenn das selbstgebildete Wort aus fremdem Munde wiedertönt» (VII: 56). Das dialogisch-kommunikative Moment – der «unabänderliche Dualismus» (V: 26) – ist also der sprachlichen Bildung des Gedankens inhärent. Der Andere, das Du, ist eine konstitutive Dimension der Aneignung der Welt durch das Ich. Sprache ist, wie Humboldt in seinem ersten Artikel über die Sprache schreibt, «Mitdenken» (VII: 583). Mit-Denken: das Kommunikative ist ein Moment des Kognitiven, oder auch: das Politische ist ein «unabänderliches» Element der theoretischen Weltaneignung.
Auf dieser theoretischen Basis entwirft Humboldt nun den Plan eines «vergleichenden Sprachstudiums», das – basierend auf der Leibnizschen Freude an der «Verschiedenheit» der menschlichen Sprache und damit des menschlichen Geistes (Leibniz spricht in Bezug auf die Sprachen von der «merveilleuse variété des opérations de notre esprit») – die menschlichen Sprachen als historisch-partikulare Schöpfungen behandelt. Dieses anthropologische, auf Verschiedenheit ausgerichtete sprachwissenschaftliche Projekt wird erst im 20. Jahrhundert das dominante Projekt der Linguistik sein, die sich im 19. Jahrhundert auf die genealogische Einheit der Sprachen konzentriert hat. Allerdings wird der synchronisch-deskriptive Mainstream der Linguistik des 20. Jahrhunderts Humboldt insofern verfehlen, als er zwar die Strukturen der Sprachen ins wissenschaftliche Zentrum stellt, darüber aber den konkreten sprechenden Menschen und die Rede vergisst, die man sich «in allen Untersuchungen, welche in die lebendige Wesenheit der Sprache eindringen sollen, immer als das Wahre und Erste denken» muss (VII: 46).
Humboldts Arbeit an der Sprache, diese gewaltige philosophisch-linguistische Arbeit des Geistes, ist der Gegenstand des vorliegenden Buches.
| VON HELLAS NACH NEUSEELAND: DAS VERGLEICHENDE SPRACHSTUDIUM |
| 2. VOM STUDIUM DES ALTERTUMS ZUM STUDIUM DER SPRACHEN |
| 2.1. Humboldt – Wolf |
Die sanktionierte Abfolge der Namen der großen Gründergestalten der modernen Altertumswissenschaft lautet in den einschlägigen Geschichten der Disziplin: Christian Gottlob Heyne, Friedrich August Wolf, August Boeckh. Wolfs Darstellung der Alterthums-Wissenschaft aus dem Jahre 1807 ist das Gründungsdokument der Disziplin: angeregt von Goethe, gelobt von Goethe. Höhere Weihen können ein Gründungsvater und ein Gründungstext nicht haben in Deutschland. Wolf hat das Haus einer Altertums-Wissenschaft errichtet, welche die gesamte Kultur der alten Völker zum Gegenstand hat. In den Worten Bursians, des Historikers der Klassischen Philologie, ist die Darstellung der «Freibrief, durch welchen die Summe der Kenntnisse» über das Altertum «als selbständige Wissenschaft proclamirt und zur allgemeinen Anerkennung gebracht worden ist» (Bursian 1883: 540).
[Wolf] hat zuerst die möglichst vollständige Erkenntniss des gesammten Lebens der classischen Völker als das letzte und höchste Ziel der Alterthumsstudien hingestellt. (Bursian 1883: 548)
Wolf, der sich provokativ als philologiae studiosus in Göttingen einschreiben wollte, wo Heyne lehrte, und der mit Heyne nicht zurechtkam, ist innig mit der Universität Halle verbunden, der er von 1783 bis 1807 angehörte und wo er sein berühmtes philologisches Seminar gegründet hat. Er lebte aber nach der Schließung der Universität Halle seit 1807 in Berlin, ist (seit 1808) ordentliches Mitglied der Akademie, deren auswärtiges Mitglied er schon seit 1799 war, und er wird von Humboldt auch für die neue Universität gewonnen. Aber Wolf grantelt, ist schwierig, modern gesagt: er macht eine schwere depressive Krise durch, von der er sich bis zu seinem Tod 1824 in Marseille offensichtlich nicht erholt. Wilhelm von Humboldt, der die neue Universität organisiert und mit dem er seit 1792 freundschaftlich verbunden ist, hat für Wolf eine ganz besonders hervorgehobene Stellung erfunden, aber Wolf ist unzufrieden. Humboldts Briefe an den schwierigen Wolf sind in dieser Zeit der Gründung der Universität wahre Verführungsversuche und Wunder an Geduld. Am 10. April 1810 schreibt er (es ist der zweite Brief an diesem Tag), um Wolfs diesbezügliche Befürchtungen zu zerstreuen, dass die 3000 Taler Gehalt – offensichtlich ein Spitzengehalt – sicher seien: 2100 Taler werden von der Universität, 900 von der Akademie bezahlt.[5] Die Briefe Wolfs sind nicht erhalten, es müssen aber schreckliche Jeremiaden gewesen sein. Denn der berühmte Brief Humboldts an seine Frau Caroline ist wohl nicht zuletzt auf Wolf gemünzt. Er schreibt am 22. Mai 1810 über die Gelehrten:
[…] ich muß […] vorzüglich die hier zu errichtende Universität so in Tätigkeit setzen, daß die Vorlesungen mit Michaelis angehen können. Mit wie vielen Schwierigkeiten ich bei dem allem zu kämpfen habe, wie die Gelehrten – die unbändigste und am schwersten zu befriedigende Menschenklasse – mit ihren ewig sich durchkreuzenden Interessen, ihrer Eifersucht, ihrem Neid, ihrer Lust zu regieren, ihren einseitigen Ansichten […] mich umlagern, wie dann jetzt noch Unannehmlichkeiten und Zänkereien mit anderen Kollegien und Menschen hinzukommen, davon hast du, teures Kind, keinen Begriff. (Freese 1986: 522f.)
Wolf nimmt die Lehre an der Universität wohl eher ungern wahr. An der Akademie lässt er sich 1812 beurlauben. Richtig angekommen an der Berliner Universität ist er anscheinend nie, er wollte hier gar nicht Universitätsprofessor sein.
Zu den offiziellen Gründungsgestalten der Altertumswissenschaft gehörte Humboldt bisher nicht. Er hatte zwar mit allen drei sanktionierten Gründungsvätern, mit Heyne, Wolf und Boeckh, viel zu tun: Er war Schüler von Heyne in Göttingen, ab 1792 lebenslanger Freund von Wolf und Akademie-Kollege von Boeckh. Professor an der Berliner Universität war Humboldt aber nicht, ebensowenig wie sein Bruder, auch wenn die beiden Standbilder am Eingang das zu suggerieren scheinen. Er hat diese Universität gegründet, und die moderne Altertumswissenschaft sollte an dieser Universität von Anfang an eine bedeutende Position haben – eben gerade auch durch die Berufung von Friedrich August Wolf. Wie die weitere Entwicklung zeigt, ist diese Erwartung wahrlich auch erfüllt worden. Sofern er ihre institutionellen Voraussetzungen geschaffen hat, ist Humboldt ohne Zweifel eine Gründergestalt der modernen Altertumswissenschaft an der Berliner Universität. Bei näherem Hinsehen ist sein Beitrag zur Altertumswissenschaft aber auch in inhaltlichem Sinne begründend. Dies zu erkennen, bedarf es aber zunächst einmal einer archäologischen Aktivität, einer wissenschaftshistorischen Freilegung und Hebung von Fundamenten. Humboldts Werk weist dann Wege der Transzendierung der von ihm mitbegründeten Altertumswissenschaft: Wege ins Tiefe und Weite und Wege ins Leben.[2] Hegelisch gesprochen ist Humboldts Werk insgesamt eine Aufhebung des Studiums der Antike, die in der Transzendierung noch das bewahrt, was sie hinter sich lässt.
| 2.2. Archäologie: Rekonstruktion und Anhebung eines Fundaments |
2.2.1. Humboldt ist im Rahmen der Begründung der zünftigen Altertumswissenschaft eine Fußnote bzw. sogar nur eine anonyme Fußnote. Im schon erwähnten Gründungsdokument der modernen Altertumswissenschaft, in Friedrich August Wolfs Darstellung der Alterthums-Wissenschaft von 1807, erscheint Humboldts bedeutendster Text über die Antike, «Über das Studium des Alterthums, und des griechischen insbesondre», als Fußnote. Die Fußnote beginnt auf S. 126 und geht bis S. 129, setzt dann erneut ein auf S. 133 und geht bis S. 137. Es ist eine gewaltige Anmerkung von geradezu Derridaschem Ausmaß. Der Text im Fußnotenkeller hat aber keinen vom Leser identifizierbaren Autor, er stammt von einem namenlosen symphilologus. Er wird folgendermaßen eingeleitet:
Das allgemeine Interesse der obigen Tendenz wird vielleicht manchem Leser näher gerückt, wenn ich hier einige in einem Briefwechsel verstreute Gedanken eines Gelehrten mittheile, wie man deren in unseren Zeiten höchst selten unter Männern seines Standes findet. (Wolf 1807: 126)
Ob man 1807 wusste, dass der dann folgende anonyme Text von Humboldt stammt, habe ich nicht in Erfahrung bringen können. 1883 nennt der alleswissende Bursian in seiner Geschichte der classischen Philologie den Autor der Fußnote. Aber auch er kannte die Textquelle noch nicht, die erst im Jahre 1896 durch Leitzmann publik gemacht wurde.[3] Er wiederholt daher nur das, was Wolf geschrieben hatte: «in einem Briefwechsel verstreute Gedanken eines Gelehrten» (Bursian 1883: 58).
Die Verdrängung in den anonymen Fußnotenkeller oder andere Arten von Auslöschung sind das allgemeine Schicksal Humboldts in den Wissenschaften. In der Philosophie, in der Literaturwissenschaft, in der Altertumswissenschaft, ja sogar in der Sprachwissenschaft, zu denen er Fundamentales beigetragen hat, wird Humboldt auf eine sehr charakteristische Weise marginalisiert oder erniedrigt. Etwas für die Sozialgeschichte der Wissenschaften sehr Interessantes geschieht dabei: Es wird der angesehene und gesellschaftlich hochstehende Herr Baron, Gesandte, Sektionschef, Minister, Minister a.D. etc. von dem sozial niedrigeren, dafür aber professionellen Vertreter des Faches gelobt und dann zugleich beiseitegeschoben: nämlich als ein exzellenter Dilettant.[4] Der Herr Professor bestätigt etwas kondeszendent und leidlich überrascht, dass der Herr Baron so etwas Kluges hat sagen können. Das hat oft etwas merkwürdig aufmüpfig Subalternes, wie bei Figaro: «Se vuol ballare, signor contino, il chitarrino le suonerò.»
Bei den Philosophen macht Hegel z.B. in der Rezension einer Akademieschrift Humboldts zunächst einen Kotau vor dem hochverehrten Herrn Verfasser, um dann die von diesem dargestellte Sache professoral gehörig abzubürsten. Außerdem gibt es bei Hegel ganz merkwürdige Verschiebungen und Verdrängungen der Humboldtschen Texte.[5] Der Professor Schelling liest gar nicht erst, was der Herr Baron geschrieben hat. Er hätte z.B. lesen können, was Humboldt zum Ursprung der Sprache in seinen Akademie-Abhandlungen gesagt hat, als er 1850 die Akademie aufforderte, noch einmal über das Thema nachzudenken. Auch Nietzsche liest nichts von Humboldt, obwohl er in seiner Sprachschrift durch die Vermittlung eines Dritten durchaus Humboldtschen Gedanken folgt. Das Verschweigen oder Abtun ist die Haltung der professoralen Philosophie bis heute – mit wenigen Ausnahmen, Cassirer ist die bedeutendste. In einer maßgeblichen Einführung in die deutsche Philosophie von 1831 bis 1933 kommt Humboldt als Philosoph nicht vor, sondern sozusagen nur als der Herr Sektionschef, der den institutionellen Rahmen für professionelles Philosophieren geschaffen hat. Auch die professionellen Linguisten – also die Bopps und Grimms und Nachfolger – zitieren zwar immer gern schöne Sätze von Humboldt, sie lesen aber – außer Steinthal, selber eher ein Außenseiter – Humboldt nicht wirklich. Eine Humboldtsche Linguistik gibt es jedenfalls im 19. Jahrhundert nicht bzw. erst sehr viel später, als Reaktion auf die Linguistik der Herren Profis und Professoren.
In der Altertumswissenschaft ist dieses charakteristische professorale Loben und Verdrängen Humboldts nun am schönsten zu beobachten: Friedrich August Wolf packt den Humboldt mit einem Kompliment in die Fußnote:
[…] wenn ich hier einige in einem Briefwechsel verstreute Gedanken eines Gelehrten mitteile, , wie man deren in unsern Zeiten höchst selten unter Männern seines Standes findet. Die durch einen angenehmen Zufall mir vorliegenden Bruchstücke sind zwar vom Jahre 1788 […]. (Wolf 1807: 126)
Das ist zwar auf den ersten Blick ein Kompliment an den «manchmal mit uns mitphilologierenden Edelmann» (). Bei näherem Hinschauen aber vollzieht Wolf eine Erniedrigung und multiple Zerstörung des symphilologierenden Textes: 1. Der Text kommt in die Fußnote. 2. Wolf verschweigt den Namen des symphilologus, von dem er nur den sozialen Rang preisgibt, den höheren Stand: «Männer seines Standes». 3. Es handelt sich bei den zitierten Passagen keineswegs um in einem Briefwechsel verstreute Gedanken oder um «Bruchstücke», sondern um einen zwar kurzen, aber ganz präzise konstruierten, systematischen Text. Es ist Wolf, der diese Gedanken «verstreut» bzw. zu «Bruchstücken» auseinanderbricht. 4. Wolf reduziert den Humboldtschen Ausgangstext auf ein Drittel des ursprünglichen Gesamtumfangs. 5. Er macht sich – ganz unphilologisch – nicht die Mühe, den Text genau zu zitieren. 6. Schließlich verwischt er auch noch die historischen Spuren: Das Zitierte stammt nämlich nicht aus dem Jahre 1788, wie er schreibt – da kannte er den adligen symphilologus noch gar nicht, er hat ihn erst 1792 kennengelernt – sondern aus einer genau datierten Briefsendung: «Über das Studium des Alterthums, und des griechischen insbesondre» schickt Humboldt am 23. Januar 1793 mit einem langen Begleitbrief an Wolf, in dem er sein «opusculum» mit allen Bescheidenheitsfloskeln einleitet und kommentiert.[6]
Wolf tut das natürlich nicht aus Bosheit oder Feindschaft, im Gegenteil, er schätzt Humboldt außerordentlich, er wünscht sogar, dass dieser die «Bruchstücke» dem Publikum nicht länger vorenthalten möge, und er unterlegt seine eigenen Worte mit den Humboldtschen Gedanken. Dennoch zeigt der merkwürdige Umgang mit dem Humboldtschen Text eben jene Kondeszendenz des Profis gegenüber dem hochgestellten Dilettanten. Vielleicht leistet aber auch Humboldt selbst dem Image des gelehrten Dilettanten immer wieder Vorschub. So schreibt er z.B. in dem erwähnten Brief, der seinen Aufsatz begleitet, an Wolf:
Es ist mir schon mehrmalen so gegangen, dass ich, wenn ich in ein neues Fach trete, und allenfalls die Außenlinien übersehe, mich dieser Anblick dergestalt begeistert, dass ich mit zu reden anfange, als wäre ich längst darin gewesen. Nur Schade dass der Zuhörer des Irrthums bald gewahr wird. (Humboldt 1990: 28)
Aber meint Humboldt das wirklich ernst? Es scheint mir eher eine typische captatio benevolentiae zu sein, in der Humboldt mit seinem sozialen Standort spielt. Er kann es sich scheinbar erlauben, von Gegenstand zu Gegenstand zu springen, «in ein neues Fach zu treten», und er kann gleich anfangen mitzureden, er braucht schließlich kein Geld damit zu verdienen wie der Herr Professor, dem er das schreibt. In Wirklichkeit aber arbeitet Humboldt hoch professionell, wissenschaftlich und unermüdlich bis zu seinem Tod. Allerdings sucht er tatsächlich zunächst noch einen Gegenstand, dem er seine beträchtliche wissenschaftliche Energie zuwenden kann. Der erste dieser Gegenstände ist «das Alterthum, und das griechische insbesondre». Von Anfang an, seit der Jugend in Tegel, und verstärkt seit dem Studium in Göttingen, ist die griechische Literatur tägliche Präsenz in Humboldts Leben. Humboldt tritt in der Tat schnell auch in «ein neues Fach». Er ist seit der Tegeler Jugend philosophisch bestens ausgebildet und immer auf der Höhe der philosophischen Diskussion. Er studiert mehrfach intensiv Kant, den er zur Grundlage seines Denkens macht. Er schreibt zu politischen Gegenständen. Er war ja 1789 nach Paris gereist, und die Französische Revolution regt seine bedeutendste politische Schrift an. Nach der Phase intensiver klassischer Studien im Austausch mit Wolf 1792 bis 1795 wird er über Ästhetik schreiben und den Plan einer vergleichenden Anthropologie fassen. Er publiziert ein Buch über Goethes Hermann und Dorothea, ein Grundwerk der entstehenden Literaturwissenschaft. Bei den anthropologischen Recherchen in Paris und Spanien findet er dann schließlich seinen eigentlichen Gegenstand, die Sprache.Über die Kawi-Sprache auf der Insel Java –Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues,