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JOHANNES WILLMS

TUGEND
UND
TERROR

GESCHICHTE
DER FRANZÖSISCHEN
REVOLUTION

 

 

 

 

 

 

 

 

C.H.BECK

ZUM BUCH

Mit dem Sturm auf die Bastille im Juli 1789 nahm eine Revolution ihren Anfang, die eine ganze Welt aus den Angeln heben sollte. Die scheinbar ewige Ordnung des Ancien Régime brach krachend zusammen, ein König von Gottes Gnaden flüchtete und endete auf der Guillotine, radikale Revolutionäre wie Danton und Robespierre übernahmen die Macht, rasch geriet alles in einen Rausch aus Tugend und Terror mit Tausenden von Toten, bis die Revolution ihre Kinder fraß und am Ende ein siegreicher General das Heft in die Hand nahm.

Johannes Willms, einer der besten Kenner der Epoche, schildert Personen, Kräfte und Motive. Vor allem aber lässt er immer wieder auch die Akteure selbst zu Wort kommen. Das gibt seiner Darstellung jene Lebendigkeit, für die seine historischen Werke mit Recht gerühmt worden sind.

„Eine Nation im Revolutionszustande gleicht dem Erz, das im Schmelztiegel wallt und sich reinigt.“
Danton

„Terror ist nichts anderes als Gerechtigkeit, prompt, sicher und unbeugsam.“
Robespierre

„Die Revolution ist zu Ende. ICH bin die Revolution.“
Napoleon

ÜBER DEN AUTOR

Johannes Willms war Feuilletonchef und Kulturkorrespondent der „Süddeutschen Zeitung“ in Paris. Bei C.H.Beck sind von ihm u.a. erschienen „Napoleon. Eine Biographie“ (Gesamtauflage 30.000 Exemplare) und „Talleyrand. Virtuose der Macht“.

Neithard Bulst
sero sed serio
dedicatus

INHALT

Prolog

ERSTES BUCH
DIE KRISE

1. Kapitel   «Ich will geliebt werden»

2. Kapitel   Ein unübersichtlicher Staat

3. Kapitel   Tanz auf dem Vulkan

4. Kapitel   Dem Untergang entgegen

5. Kapitel   Die Flucht nach vorne

ZWEITES BUCH
DIE REVOLUTION

1. Kapitel   Das Drama nimmt seinen Lauf

2. Kapitel   Die Revolution der Massen

3. Kapitel   Die Neuordnung Frankreichs

4. Kapitel   Die Revolution beginnt zu zerfasern

5. Kapitel   Varennes

DRITTES BUCH
DER MACHTKAMPF

1. Kapitel   Der Weg in den Krieg

2. Kapitel   Die zweite Revolution

3. Kapitel   Die Bluttaufe der Republik

4. Kapitel   Die Revolution wird exportiert

5. Kapitel   Der Untergang der Girondins

VIERTES BUCH
DIE SCHRECKENSZEIT

1. Kapitel   Das Aufbegehren gegen die Revolution

2. Kapitel   Der Weg zur Diktatur des Schreckens

3. Kapitel   Die Rache der Republik: Lyon, Toulon und Nantes

4. Kapitel   Die Anarchie des Schreckens

5. Kapitel   Die Revolution verschlingt ihre Kinder

FÜNFTES BUCH
DIE GÖTZENDÄMMERUNG

1. Kapitel   Thermidor oder das Trauma des Schreckens

2. Kapitel   Die Macht und ihr Preis

3. Kapitel   Die Konkursverwaltung der Revolution

4. Kapitel   Die revolutionäre Expansion

5. Kapitel   Brumaire

Epilog

ANHANG

Anmerkungen

Dramatis personae

Zu den Abbildungen

Personenregister

PROLOG

Die Französische Revolution war ein Drama mit vielen Handlungsträgern, die buchstäblich bis aufs Messer miteinander konkurrierten. Gleichzeitig bekannten sich ihre Akteure selbstlos zum Fortschritt der Menschheit und glaubten, ihre wohlmeinenden Absichten erfüllten ihre Mitbürger mit der nämlichen Begeisterung. So entfesselten sie eine Dynamik, die rasch ihrer Kontrolle entglitt und in Chaos, Gewalt und Zerstörung einmündete. Das hatte keiner der Protagonisten vorhergesehen, geschweige beabsichtigt. Gleichwohl war es die Folge ihres idealistischen wie revolutionären Handelns, das von zwei Imperativen beherrscht wurde, die Jean-Jacques Rousseau im «Contrat social» benannt hatte: «Wenn man danach forscht, worin genau sich das größte Gut für alle erfüllt, welches das wahre Ziel jeglicher Gesetzgebung sein muss, wird man feststellen, dass es sich auf diese beiden wichtigsten Prinzipien beschränkt, die Freiheit und die Gleichheit».[1]

Die Pointe von Rousseaus Feststellung richtete sich gegen den Ancien Régime, der allein dem König unumschränkte politische Handlungsvollmacht zusprach. Dem setzte die Revolution ein Konzept von Politik entgegen, das sich auf die Vorstellung einer Gesellschaft gründete, die sich in der Verwirklichung der allen verbindlichen vertu publique erfüllte.[2] Diese Tugend werde durch die volonté générale, das selbstlose Eintreten der Bürger für das öffentliche Wohl gewährleistet, das sich an den Prinzipien von Freiheit und Gleichheit orientierte. Beide wurden in der 17 Artikel umfassenden Erklärung der «Menschen- und Bürgerrechte» der Nationalversammlung vom August 1789 ausführlich gewürdigt. In den folgenden Jahren wurden diese Prinzipien von den unterschiedlichen Akteuren der Revolution unablässig bekräftigt und in Anspruch genommen. Daraus entwickelte sich eine erbitterte, von zunehmender Radikalisierung geprägte Konkurrenz, die das Gelingen der Revolution in Frage stellte. Um diese Gefahr zu bannen, verfiel die Partei der Jakobiner, die sich die Führung der Revolution erobert hatte, auf die Gleichschaltung von Tugend und Terror, ein Konzept, das deren Führer Robespierre am 5. Februar 1794 in einer Grundsatzrede über die Prinzipien einer moralisch begründeten Politik rechtfertigte: «Wenn die Tugend zu Friedenszeiten allein die Kraft der demokratischen Regierung ausmacht, so gilt für eine Revolution, dass sich diese Kraft gleichermaßen aus der Tugend und dem Terror speist: Ohne die Tugend ist der Terror verderblich und ohne Terror ist die Tugend ohnmächtig. Der Terror ist nichts anderes als die rasche, strenge und unbeirrbare Justiz. Der Terror ist damit ein Ausfluss der Tugend».[3]

Die vertu publique war das Ideal der Revolution, die terreur das radikalste Mittel der Jakobiner zu ihrer Durchsetzung. Mit der gewaltsamen Ausschaltung ihrer ärgsten Konkurrenten, der Girondins, Anfang Juni 1793 begann die Schreckenszeit, die rund ein Jahr bis zum Sturz Robespierres im Juli 1794 währte, die aber gleichwohl dem gesamten Verlauf der Französischen Revolution eine Signatur aufprägte, auf die deren Gegner und Befürworter später immer wieder rekurrierten. Dieser Umstand rechtfertigt den Titel, den der Verfasser seiner Darstellung der Französischen Revolution gab.

Die Revolution war immer die Sache einer Minderheit, die versuchte, eine Mehrheit für ihr Projekt zu gewinnen. Das geschah stets mit Zwang, der Widerstand weckte, der mit einer Verschärfung des Zwangs beantwortet wurde. Das setzte eine Eigendynamik und Selbstradikalisierung in Gang, die schließlich die Schreckensherrschaft hervorbrachte: Die Revolution verschlang ihre eigenen Kinder. Schon nach dem Zusammentreten der Generalstände, einer Repräsentativversammlung gewählter Vertreter von Klerus, Adel und Drittem Stand, die seit Anfang Mai 1789 in Versailles tagten, begannen Machtkämpfe, die sich rasch in immer neuen Frontstellungen ausdifferenzierten.

Damit kam ein Drama in Gang, das in ganz Frankreich wie in Europa lebhaften Widerhall fand und das so gut wie ausschließlich von den auf der Pariser Bühne agierenden Konkurrenten vorangetrieben wurde. Alle Versuche, der Entwicklung Einhalt zu tun, die revolutionäre Dynamik zu bändigen, scheiterten regelmäßig an den radikalen Stürmern und Drängern. Der Prozess folgte keinem Plan, gehorchte keiner Regie, sondern wurde stetig von antagonistischen Interessen und Kräften befeuert. Sie alle suchten Antworten auf Entwicklungen, die von der schieren Dynamik der Abläufe freigesetzt wurden. Ausnahmslos waren es neue Herausforderungen, die nach Lösungen verlangten, für die es kein Vorbild gab. Das verweist auf eine Grundtatsache, die erst von der sich stürmisch entfaltenden Revolution geschaffen wurde, denn sie räumte nicht nur politische und gesellschaftliche Antiquitäten ab, sondern zerstörte auch die Handlungssicherheit ihrer Akteure. Das schuf ein Dilemma, das Alexis de Tocqueville im Schlusswort von «De la Démocratie en Amérique» in dem Satz dingfest machte: «Seit die Vergangenheit nicht mehr die Zukunft erhellt, irrt der menschliche Geist im Dunkeln».[4]

Tocquevilles Feststellung hat nichts von ihrer Gültigkeit eingebüßt, weshalb das vergangene Geschehen der Französischen Revolution noch heute verstörend aktuell anmutet, zumal der Blick, den man auf die Vergangenheit wirft, immer auch beeinflusst wird von Erfahrungen und Irritationen der eigenen Gegenwart. Gewiss, die Geschichte wiederholt sich nicht, und der Vergangenheit sind auch keine Lehren für die Gegenwart abzuschauen, aber ihre Kenntnis fördert vielleicht die Einsicht in eigene Problemlagen.

München-Schwabing, im Herbst 2013

Johannes Willms

ERSTES BUCH

DIE KRISE

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ERSTES KAPITEL

«ICH WILL GELIEBT WERDEN»

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Der Tod Louis’ XV am 10. Mai 1774 war der Anfang vom Ende des Ancien Régime. Als fünfzehn Jahre später in Versailles die Generalstände feierlich eröffnet wurden, die seit 1614 nicht mehr getagt hatten, leitete dieser Akt die förmliche Abdankung der absoluten Monarchie ein. Beide Daten flankieren die unmittelbare Vorgeschichte der Französischen Revolution. In diesem Zeitraum kulminierten Entwicklungen, die sich wechselseitig beeinflussten; sie nährten eine tiefe Unzufriedenheit, die sich immer deutlicher und öfter in einer Kritik äußerte, die die politischen und gesellschaftlichen Zustände in Frage stellte.

Beim Tod von Louis XV war dieser Erosionsprozess schon weit fortgeschritten. Dem Herrscher, der einst als le bien-aimé gefeiert worden war, schlug nur noch Verachtung entgegen. Die Beisetzung erfolgte in unziemlicher Hast. Schon kurz nach seinem Hinscheiden wurde der Leichnam des Königs, der an hochinfektiösen Blattern gestorben war, in einen doppelten Bleisarg eingeschlossen. Zwei Tage später schaffte man ihn in den Nachtstunden nach Saint-Denis bei Paris. Die Überführung fand, wie der Kommandeur der Schweizer Garde Baron Pierre Victor de Besenval schreibt, ohne jedes Zeremoniell statt. «Der Kondukt ähnelte mehr dem Transport einer Last, der man sich schleunigst entledigen wollte, als der Bezeugung der letzten Ehren, die einem Monarchen zustanden».[1] Als der Konvoi gegen elf Uhr in Saint-Denis anlangte, waren die Straßen dicht von Neugierigen gesäumt, die das Spektakel mit beißendem Spott kommentierten. Damit nicht genug, war Paris binnen weniger Tage von einer Flut satirischer Leichenreden überschwemmt, die den Toten mit zotiger Häme verunglimpften.

Die Verachtung des Königs hatte sich zuvor schon in pornographischen Satiren angekündigt, die die Ausschweifungen des Herrschers und seine Mätressenwirtschaft aufs Korn nahmen. Mätressen gehörten zwar seit je zur Folklore der französischen Monarchie. Doch hatten alle seine Vorgänger darauf geachtet, ihre Lüste gleichsam standesgemäß auszuleben. Die Damen, mit denen sie sich außerehelich vergnügten, entstammten meist der hochadeligen Hofgesellschaft. Sie trugen sogar dazu bei, Ruf und Glanz der Krone zu mehren. Ihre Stellung als Maîtresse en titre war offiziell anerkannt. Dafür sorgte ein feierliches Zeremoniell, mit dem sie bei Hofe eingeführt wurden. Ihr Status verschaffte ihnen eine Fülle von Privilegien und Einflussmöglichkeiten, die ihr Ansehen jenem des Monarchen annäherte.

Dieses Vorbild beherzigte der von seinen Trieben beherrschte Louis XV jedoch nur zu Beginn seiner Regierungszeit. Einen ersten Verstoß gegen die Etikette beging Louis XV, als er sich 1745 für die vierundzwanzigjährige Jeanne-Antoinette Poisson entflammte und sie als Marquise de Pompadour in den Adelsstand erhob. Trotz ihres Geistes, ihres erlesenen Kunst- und Literaturgeschmacks und ihres Einflusses, den sie auf die französische Außenpolitik nahm, verargten die Hofkreise der Pompadour ihre bürgerliche Herkunft bis zuletzt. Dafür sorgten auch die nicht selten aus Adelskreisen stammenden Verfasser satirischer Pamphlete, denen ihr Mädchenname – Poisson heißt Fisch – eine unerschöpfliche Quelle für allerlei Kalauer bot.

Den Tiefpunkt von Louis’ XV Mätressenwirtschaft repräsentierte Jeanne Bécu, die spätere Comtesse du Barry, die von 1769 bis zum Tod des Monarchen die Maîtresse en titre war. Unter dem Namen Mlle l’Ange soll sie in einem Pariser Bordell gearbeitet haben, wo sie von Dominique Guillaume Le Bel, dem Leibdiener Louis’ XV, entdeckt wurde, der dem königlichen Harem im Parc aux cerfs in den Gärten von Versailles neue verführerische Weiblichkeit zuzuführen hatte.[2]

Die heftige Kritik, die sich weit über die Hofkreise hinaus am königlichen Mätressenwesen entzündete, erklärt sich nicht allein aus empörter Moral oder Standesdünkel. Die Pompadour und mehr noch die du Barry galten vielmehr als Beispiele dafür, wie sehr Intrigenwirtschaft und Ausschweifung bei Hofe Ehre und Dienstbereitschaft ersetzt hätten. Das nährte die Mutmaßung, dass nicht mehr der König und die Minister, sondern der Serail die oberste Instanz des Staates sei. Eine solche Herrschaftspraxis wurde als Despotie begriffen, wie sie Montesquieu in De l’Esprit des lois beschrieben hatte.[3] Dafür lieferte das Regierungshandeln in den letzten Jahren der Herrschaft von Louis XV reichlich Belege.

Einen davon stellte das unaufhaltsam wachsende Haushaltsdefizit dar. Verantwortlich dafür waren nicht nur die enormen Kosten des Siebenjährigen Krieges und die kostspieligen Extravaganzen des Hofes, sondern auch die steigenden Aufwendungen für den Ausbau des absolutistischen Staates, dessen wachsende Bürokratie immer größere Bereiche der Gesellschaft reglementierte. Alle Versuche, die Differenz zwischen Soll und Haben durch neue und höhere Steuern oder durch die Einschränkung von Steuerprivilegien zu verringern, derer sich außer Klerus und Adel auch viele Städte und Provinzen erfreuten, scheiterten immer wieder am Widerstand der Parlements. Diese waren zum einen die obersten Berufungsgerichte, die im Namen des Königs letztinstanzliche Urteile fällten. Zum anderen hatten sie sich aber auch weitreichende Kompetenzen in Verwaltungsfragen angeeignet. Das brachte sie regelmäßig mit den königlichen Intendanten und Gouverneuren in Konflikt. Entscheidend aber war ihre Rolle im Prozess der Gesetzgebung. Die Rechtskraft von Gesetzen und Verordnungen der Krone hing von ihrer Zustimmung ab. Danach wurden neue Gesetze und Verordnungen von den Parlements registriert, d.h. zu den Akten genommen. Das war keine bloße Formalie, denn die Parlements beanspruchten das Recht, dem König remontrances, also begründete Einwände zuzuleiten,[4] ein wirksames Mittel, die Registrierung und damit das Inkrafttreten der Gesetze aufzuschieben und so Regierungshandeln zu verzögern oder gar zu vereiteln.

Seit dem Tod Louis’ XIV hatten sich die Parlements des Rechts auf remontrances häufig bedient, um ihrer Opposition gegen bestimmte Vorhaben der Krone Nachdruck zu verleihen. Dieser Absicht entsprach es auch, dass sie mehr und mehr von der zuvor üblichen Praxis, ihre Einwände vertraulich zu handhaben, abwichen und sie veröffentlichten. Das erwies sich als sehr folgenreich, denn die Parlements beeinflussten damit die öffentliche Meinung,[5] deren Unterstützung wiederum ihre Stellung gegenüber der Krone festigte. Das stärkte ihre Renitenz erheblich, weshalb sie auf die Beantwortung der remontrances seitens des Königs mit neuen Einwänden reagierten. Damit nicht genug, traten sie in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts immer öfter in Streik, d.h. sie verweigerten die Rechtsprechung, um so ihre Opposition zu bekräftigen.

Die Parlements trieben damit ein Machtspiel, dessen Ausgang, wie jedermann wusste, keineswegs offen war, denn der König hatte in allen diesen Streitigkeiten stets das letzte Wort. Um deren Widerstand zu brechen, erschien er mit großem Gefolge im Parlement de Paris und erzwang so die Registrierung der strittigen Gesetze und Verordnungen. Dieses Ritual war der sogenannte lit de justice, mit dem demonstriert wurde, dass der Souverän die alleinige Quelle allen Rechts war, dessen bloße Gegenwart die den Mitgliedern des Parlement lediglich delegierte Autorität aufhob. Zwar protestierten die Parlements gegen diese Zurschaustellung königlicher Souveränität, aber damit ließen sie es meist bewenden, denn ihrer Ehre und ihrem Ansehen hatten sie Genüge getan, weiterer Widerstand wäre offene Rebellion gewesen, woran sie nicht zu denken wagten.[6]

Diese aufwendig choreographierten Machtrituale zeigen, dass die Gewaltenteilung dem Ancien Régime durchaus fremd war und der Souverän Exekutive und Legislative in seiner Person vereinigte. Diese Doktrin des Absolutismus ließ Louis XV dem Parlement de Paris am 3. März 1766 in einer Sitzung, die von den Zeitgenossen als séance de flagellation charakterisiert wurde, in deutlichen Worten vortragen: «Allein meine Person vereint in sich alle souveräne Macht. (…) Meine Gerichte haben ihre Autorität nur von mir allein. Die ganze Fülle dieser Autorität, die sie nur in meinem Namen ausüben, gehört immer nur mir. (…) Allein mir steht die Gewalt der Gesetzgebung ohne irgendeine Abhängigkeit oder Einschränkung zu. (…) Die gesamte öffentliche Ordnung, die Rechte und Interessen der Nation sind ein Ausfluss meines Willens».[7]

Dass Louis XV sich zu dieser Ermahnung genötigt sah, zeigt, in welche Bedrängnis der Absolutismus sans phrase durch die Parlements geraten war. Deren wachsendes Selbstbewusstsein nährte sich auch aus der Glaubensdoktrin des Gallikanismus, zu dem sich die Angehörigen des Parlement de Paris seit dem späten Mittelalter bekannten. Der Gallikanismus bestand auf der unbedingten Autonomie der französischen Kirche von der Bevormundung durch den Papst. Diese Anschauung geriet im frühen 18. Jahrhundert immer mehr unter den Einfluss des Jansenismus, einer in Frankreich innerhalb des Katholizismus auftretenden Glaubensbewegung, die aus der Gegenreformation hervorging. Die zunächst strikt religiöse Strömung, die auf moralischem Rigorismus beharrte und die Unabhängigkeit individueller Verantwortung postulierte, wurde vom französischen König wie vom römischen Papst gleichermaßen verfolgt. Louis XIV verdächtigte die Jansenisten, verdeckte «Republikaner» zu sein. Auf sein Betreiben hin verdammte Papst Clemens XI. mit der Bulle Unigenitus von 1713 eine Anzahl jansenistischer Glaubensartikel. Darüber hinaus nutzte der Papst diese Bulle dazu, das Recht des Papstes auf Exkommunikation des französischen Königs zu bekräftigen.

Statt den Jansenismus zu bannen, wurde nun dessen Fusion mit dem Gallikanismus förmlich erzwungen. Das stiftete einen politisierten Jansenismus, der immer häufiger in offenen Widerspruch zum umfassenden Autoritätsanspruch des Königs trat. Wichtigste Repräsentanten dieser Glaubensströmung waren die Mitglieder der vierzehn Parlements. Über welchen Einfluss der Jansenismus nicht nur unter den Magistraten des Parlement de Paris gebot, zeigte sich 1764, als der Gerichtshof nach einer langwierigen Kampagne die Vertreibung der Jesuiten aus Frankreich durchsetzte. Im Jahr darauf erklärte der Parlement de Paris die Beschlüsse der Generalversammlung des französischen Klerus, die eine größere Unabhängigkeit der Kirchenhierarchie von der staatlichen Macht statuierten, für null und nichtig. Beide Erfolge hatten das politische Selbstbewusstsein der conseillers erheblich gestärkt.[8] Die chronische Finanznot der Krone, die sie durch die Erhebung neuer oder höherer Steuern zu überwinden suchte, lieferte von nun an den Mitgliedern der Parlements Anlässe, ihren Widerstand gegen deren Ansprüche zu artikulieren.

Ihre Opposition rechtfertigten die Parlements mit dem Verweis auf die unverletzliche Verfassung Frankreichs, die nach ihrer Interpretation aus einer Reihe von lois fondamentales bestehe. Auf diese Grundgesetze hätten sich, so die sogenannte thèse parlementaire, der König und die Nation einst verständigt. Daher könnten sie von diesem nicht einseitig abgeändert werden. Darüber wachten die Parlements als Verfassungsgericht[9], dem folglich das Recht zustände, nicht nur bei verfassungsrechtlichen, sondern auch bei politischen Bedenken Gesetzen die Zustimmung zu verweigern. Diese Kompetenz begründeten die Parlements damit, dass sie ihnen in Abwesenheit einer Vollversammlung der Stände zufiele. Im Kern beriefen sie sich also darauf, dass Träger der Souveränität die Nation und nicht der König sei. Die Nation hätte der Krone durch einen contrat social lediglich bestimmte Rechte übertragen, alle anderen aber behalten.

Der von den Parlements während der Herrschaft Louis’ XV immer mehr ausdifferenzierte Anspruch, die Interessen der Nation zu vertreten, war kaum mehr als eine opportunistische Rechtfertigung. Sie maskierte den Umstand, dass die rund 2300 Magistrate aller Parlements innerhalb der ständischen Gesellschaft eine Funktionselite bildeten, die sich von anderen sozialen Gruppen und Ständen deutlich unterschied. Die Räte des Parlements, ursprünglich dem begüterten Bürgertum entstammend, übten ein Amt aus, das ihnen den erblichen Adel, die sogenannte noblesse de robe, verschaffte. Bei vielen von ihnen gehörten Amt und Rang schon seit Generationen einer Familie.[10] Sie bildeten regelrechte Dynastien, aus denen fast alle Intendanten und auch ein großer Teil der Minister rekrutiert wurden.[11] Nach Wohlstand, sozialem Ansehen, Lebensführung oder Privilegien unterschieden sich die Angehörigen der noblesse de robe in nichts von der noblesse d’épée, dem Schwertadel, dem sie sich oft überlegen fühlten.

Das Selbstbewusstsein der noblesse de robe der Parlements prägte ihr politisches Handeln und bestimmte ihre Interessen, die so gut wie ausschließlich darauf ausgerichtet waren, die eigenen Privilegien zu verteidigen und zu mehren.

Was die Wertschätzung der Parlements dennoch in den Augen vieler steigerte, war die Tatsache, dass sie als Einzige gelegentlich in Opposition zum Universalanspruch der Krone traten. Der Hebel, den die noblesse de robe mit den Parlements handhabte, war jedoch bei weitem zu kurz, um Geltungsansprüche durchzusetzen. Also musste man sich der öffentlichen Meinung als Bundesgenossen versichern. Allerdings würde sich diese nur gewinnen lassen, wenn sie sich ihrerseits Vorteile von diesem Bündnis versprechen konnte. Deshalb galt es, die Fronde der Parlements gegen die Krone auf eine breite Rechtfertigungsgrundlage zu stellen, die mit einer Fülle verlockender Prinzipien wie Souveränität des Volkes, Vertragsrecht oder repräsentative Regierung prunkte. Alle diese Prinzipien liefen dem Konzept der absoluten Monarchie diametral zuwider, ließen sich aber für einen Umbau des Staats nach bürgerlichen wie aristokratischen Interessen vorzüglich instrumentalisieren.

Die gegen die Monarchie frondierende noblesse de robe machte damit binnen weniger Jahre die Erfahrung von Goethes Zauberlehrling: Die von ihr aus politischer Opportunität aufgerufenen Prinzipien, von deren Richtigkeit auch einige liberal gesinnte Magistrate überzeugt waren, entwickelten sehr schnell eine Eigendynamik und nicht mehr aufhaltbare Radikalität, die in die Revolution einmündete. So stellt der Comte de Ségur in seinen Memoiren fest: «Die Gerichtshöfe wurden, indem sie der Macht unter Wahrung des Respekts trotzten, beinahe republikanisch, ohne dass sie sich dessen bewusst wurden, und sie selbst läuteten damit die Stunde der Revolutionen ein, dabei im Glauben befangen, lediglich dem Vorbild ihrer Vorgänger nachzueifern, die sich dem Konkordat von François I oder dem Steuerdespotismus eines Mazarin widersetzten».[12]

Die Parlements schätzten das Ausmaß der Finanznot, die der Krone zu schaffen machte, nicht zutreffend ein. Diese Not fiel mit einer Wirtschaftskrise zusammen, die 1770 mit Wucht einsetzte. Nicht genug damit, war das Ansehen Louis XV bereits so tief gesunken, dass er keine Aussicht hatte, die Öffentlichkeit für eine Unterstützung einschneidender Reformen zu gewinnen. Der Handlungsspielraum des Königs war darauf beschränkt, sich entweder mittels eines Staatsbankrotts der aufgelaufenen Schulden zu entledigen oder neue Steuern von gesellschaftlichen Gruppen einzufordern, die wie Adel und Klerus bislang kaum mit Abgaben belastet waren.

Die eine wie die andere Lösung des Finanzdilemmas verbot sich der Regierung aus Rücksicht auf die öffentliche Meinung, die im Laufe des 18. Jahrhunderts eine wenn auch nicht genau bestimmbare, so doch rasch wachsende Macht darstellte.[13] Charles-Maurice de Talleyrand, der ein feines Gespür für Machtverhältnisse hatte, widmete in seinen Memoiren der «Öffentlichkeit», die bei ihm als «la société», als Gesellschaft der Privilegierten, firmiert, eine aufschlussreiche Reflektion: «Frankreich hatte die Anmutung, aus einer gewissen Anzahl von sociétés zusammengesetzt zu sein, denen die Regierung jeweils Rechnung trug. Das eine Mal stellte sie eine davon zufrieden und verschaffte sich so den Kredit, den sie herausschlagen konnte. Danach wandte sie sich einer anderen zu, derer sie sich auf ganz die nämliche Weise bediente. Wie lange konnte man damit aber fortfahren? – Die Macht dessen, was man in Frankreich la société nennt, war in den Jahren, die der Revolution unmittelbar vorausgingen, ja während des ganzen letzten Jahrhunderts, außerordentlich groß».[14]

La société im Sinne Talleyrands war in Paris, in Versailles, aber auch in anderen Städten konzentriert. Hier lebten jene Adeligen, Kleriker und Angehörigen der bürgerlichen Intelligenz, die Leihbibliotheken und Lesehallen frequentierten, die es ab Mitte des 18. Jahrhunderts auch in Provinzstädten gab und in denen für eine geringe Gebühr Zeitungen gelesen und Bücher entliehen werden konnten.[15] Ein weiterer Treffpunkt dieser Schichten waren die literarischen Gesellschaften. Neben Büchern und Zeitungen, die sie ihren Mitgliedern in eigenen Bibliotheken zugänglich machten, boten sie noch eine weitere Attraktion: Sie veranstalteten Diskussionen zu aktuellen Fragen. Die Crème dieser Gesellschaften waren die 35 Akademien, die sich 1789 landesweit etabliert hatten.[16] Das Milieu in diesen Akademien bestimmten die Angehörigen des landsässigen Adels und des lokalen Bürgertums, die hinsichtlich ihrer sozialen Lage wie ihrer Interessen weitgehend übereinstimmten.

Inwieweit Leihbüchereien, Lesehallen und Akademien dazu beitrugen, auch in der Provinz einen politischen Diskurs anzustiften und hier eine kritische Öffentlichkeit zu schaffen, ist offen. Gegen eine solche Vermutung spricht das Zeugnis eines genauen und kundigen Beobachters: Arthur Young, der ganz Frankreich in den Jahren unmittelbar vor Ausbruch der Revolution bereiste, hat sich wiederholt über die Indolenz, auf die er in den Provinzstädten stieß, in seinem Tagebuch echauffiert. Am 7. August 1789 war er in der an der großen Poststraße nach Italien gelegenen Stadt Moulins im Bourbonnais: «Um die Zeitungen zu lesen, ging ich in das Caféhaus von Madame Bourgeau, dem besten in der ganzen Stadt, in dem ich rund zwanzig Tische antraf, die für Gäste eingedeckt waren, allein, was eine Zeitung anbelangte, hätte ich genauso gut nach einem Elefanten fragen können. Das war das Bild nationaler Rückständigkeit, Unwissenheit, Dummheit und Armut! In der Hauptstadt einer großen Provinz, dem Amtssitz eines Intendanten, in einer Zeit wie dieser, mit einer Nationalversammlung, die eine Revolution votiert, und dann nicht eine Zeitung, um die Leute darüber zu unterrichten, ob La Fayette, Mirabeau oder Louis XVI auf dem Thron sitzt. Besucher in einem Caféhaus, die zahlreich genug sind, um zwanzig Tische zu besetzen, und deren Neugierde nicht so groß ist, um eine einzige Zeitung zu verlangen. (…)Könnte ein Volk wie dieses jemals eine Revolution gemacht oder sich befreit haben? Niemals, und in tausend Jahrhunderten nicht. Der aufgeklärte Mob von Paris, der inmitten Hunderter von Zeitungen und Veröffentlichungen agiert, hat das Alles ins Werk gesetzt».[17]

Das Zeugnis von Arthur Young bestätigt die Unschärfe, die Begriffen wie «Öffentlichkeit» oder «öffentliche Meinung» im Zusammenhang mit der Gesellschaft des Ancien Régime anhaftet. Sie wurden zwar von den Zeitgenossen oft gebraucht und besaßen auch im politischen Diskurs große Bedeutung, aber wen oder was sie genau meinten, welches Milieu sie bezeichneten, war weithin unklar. Dass diese Begriffe und die Ansichten, die mit ihnen verbunden wurden, dennoch Einfluss auf politische Entscheidungen hatten, lässt sich jedoch nicht bestreiten, auch wenn sich in ihnen eher ein rhetorisches als ein soziologisches Verständnis aussprach.[18]

1770 waren alle Winkelzüge zur Beschaffung frischen Geldes für die leeren königlichen Kassen erschöpft. Der Ausbruch einer großen Krise drohte ganz Frankreich in Aufruhr zu stürzen. Ein erstes bedrohliches Anzeichen dafür war die guerre des farines, der Mehlkrieg. Überall in Frankreich kam es im Frühjahr und Sommer 1770 auf dem flachen Land und in den Städten zu Brotaufständen, mit denen gegen die rapide ansteigenden Preise dieses Grundnahrungsmittels der unterbürgerlichen Massen protestiert wurde. Ursache dafür war eine schlechte Ernte; für den Mangel und die Teuerung aber verantwortlich gemacht wurde die Regierung, die 1763 eine teilweise Liberalisierung des zuvor strikt reglementierten Getreidehandels veranlasst hatte. Die Liberalisierung weckte in weiten Kreisen der Bevölkerung tiefes Misstrauen, das sich Jahre später zum Verdacht verstieg, der König habe mit skrupellosen Spekulanten einen «pacte de famine» geschlossen, um seine Untertanen auszuhungern.[19]

Die guerre des farines, die den Vorwand lieferte, die unpopuläre Liberalisierung des Getreidehandels aufzuheben, verschaffte der Regierung eine willkommene Gelegenheit, um eine Lösung des drängenden Finanzproblems anzusteuern. Ein erster Schritt war ein teilweiser Staatsbankrott, den der Generalkontrolleur der Finanzen, Joseph-Marie Terray, dadurch ins Werk setzte, dass er die Zinsen auf eine Reihe von Staatsanleihen verringerte und bei anderen die vereinbarte Rückzahlung einfach einstellte. Das schädigte zwar einige Gläubiger des Staates, zu denen auch Voltaire gehörte, schonte aber genau diejenigen, deren Widerstand er vermeiden musste: die conseillers des Parlement de Paris, die ihr Kapital vorzugsweise in den rentes sur l’Hôtel de Ville anlegten, die zu manipulieren sich Terray hütete. Möglicherweise war es ihm auch nur darum zu tun, die Magistrate in Sicherheit zu wiegen, denn längst plante die Regierung einen Schlag, der ihr den zunehmend lästiger werdenden Widerstand der Parlements in Steuerfragen ein für allemal vom Hals schaffen und die ungeschmälerte Autorität der Monarchie wiederherstellen sollte.

Dieser Schlag war das Edikt vom 3. Dezember 1770. Als der Parlement de Paris dessen Registrierung verweigerte, wurde sie bereits am 7. Dezember durch ein lit de justice erzwungen. Das Edikt war eine schonungslose Abrechnung mit allen Ansprüchen, die sich der Parlement gegenüber der Krone herausgenommen hatte und die jetzt noch deutlicher als in der séance de flagellation vom März 1766 detailliert zurückgewiesen wurden. Zugleich wurde die Doktrin des Absolutismus erneut durch die Betonung des monarchischen Gottesgnadentums bekräftigt, nach dem allein der König das uneingeschränkte Recht besaß, Gesetze zu erlassen. Konsequenterweise könne und dürfe der Parlement für sich nicht den Anspruch erheben, den Willen der Nation zu repräsentieren. Er sei auch nicht befugt, sich in die Gesetzgebung einzumischen. Insbesondere besitze er keinerlei Rechte, Gesetze nach eigenem Gutdünken zu billigen oder zu verwerfen sowie sich eine Oberaufsicht über die exekutiven oder finanziellen Initiativen der Regierung anzumaßen. Widerspruch sei nur zulässig, wenn er sich darauf beschränke, den Souverän gutwillig zu unterstützen, und ihn in der Ausübung seiner Macht nicht behindere. Eine Bestreikung der Rechtsprechung wurde ebenso verboten wie der Massenrücktritt von der Magistratur.[20]

Wie nicht anders zu erwarten, setzte sich der Parlement gegen seine Entmachtung mit Protesten zur Wehr, die von der Krone mit wachsender Schärfe beantwortet wurden. Diese Auseinandersetzungen dienten der Vorbereitung des zweiten Akts des geplanten Staatsstreichs, der am 20. Januar 1771 begann: Die Mitglieder des Parlement wurden ultimativ aufgefordert, sich dem Edikt vom 3. Dezember zu unterwerfen. Als sie sich weigerten, erhielten sie umgehend einen arrêt du conseil zugestellt, der ihnen verschiedene Orte außerhalb von Paris als Exil anwies.[21] Mit einem weiteren Edikt vom 23. Februar 1771 wurde die Rechtsprechung im Rayon des Parlement de Paris, der sich über rund ein Drittel der Fläche Frankreichs erstreckte, neu gebildeten Gerichten, den conseils supérieurs, übertragen. Diese Gerichte erhielten jetzt die Zuständigkeit, in Zivil- und Strafsachen zu entscheiden, die zuvor in Paris verhandelt werden mussten.[22] Den Abschluss dieser «Reform» bildete ein Edikt vom 13. April 1771, das die Beseitigung aller Ratsämter am früheren Parlement de Paris vorsah. Den Räten wurde eine Rückerstattung des dafür aufgewendeten Kaufpreises unter der Bedingung in Aussicht gestellt, dass sie freiwillig ihre Ämter niederlegten. Eine weitere Bestimmung dieses Edikts war es, einen neuen Parlement de Paris zu schaffen, dessen Mitglieder ihre Funktionen aber nicht käuflich erwarben, sondern von der Krone ernannt wurden.[23]

Da die Liquidierung des Parlement de Paris bei den anderen obersten Gerichtshöfen in den Provinzen auf anhaltend heftige Proteste stieß, wurden auch diese in der zweiten Jahreshälfte 1771 gründlich «reformiert». Während eine Reihe von ihnen einfach aufgelöst und durch conseils supérieurs ersetzt wurde, beschied man sich bei anderen damit, einige besonders renitente Magistrate zu entfernen. Die Übrigen beherzigten diese Maßnahme und unterwarfen sich bedingungslos den neuen Anforderungen.[24]

Nachdem die Parlements durch diese Zwangsmaßnahmen zum Schweigen gebracht worden waren, konnte der Generalkontrolleur der Finanzen das Programm zur Sanierung des defizitären Haushalts verwirklichen. Während auf der Einnahmenseite eine Fülle neuer Steuern sowie die Erhöhung alter Abgaben dazu beitrugen, das Defizit zu verringern, blieb auf der Ausgabenseite alles beim Alten und Schlechten.

Die Steuerlasten verschafften der Kritik seitens der Öffentlichkeit weitere Nahrung. Diese äußerte sich in der Verachtung der neuen Parlements, denen man vorwarf, sich als willige Werkzeuge des Regimes zu gebärden und alle Steueredikte widerspruchslos passieren zu lassen. Umso mehr wurden die alten Parlements verherrlicht, deren Anhänger eine Fülle von Pamphleten verfassten, mit denen sie ihre Wiedereinsetzung forderten. Die Regierung antwortete darauf mit einer Verschärfung der Zensur, die in der Sache selbst wenig erreichte und die Kritik am Regime noch steigerte. Wohl in der Absicht, verlorenen Boden wieder gutzumachen, gab die Regierung nun ihrerseits Broschüren und Flugschriften in Auftrag, die den Einfluss der gegnerischen Propaganda nach Möglichkeit neutralisieren sollten.

Dennoch lässt sich vermuten, dass die Distanz großer Teile der Öffentlichkeit zur Monarchie Louis’ XV wuchs. Für den Amtsadel der «reformierten» Parlements wie für die Reichen, die jetzt Steuern zahlen mussten, kann eine solche Haltung sicher angenommen werden. Andere jedoch, die durch die «Reformen» keinen Statusverlust oder materiellen Schaden erlitten hatten, nahmen gleichwohl Anstoß an deren brutal anmutender Durchsetzung wie auch an der Betonung des Gottesgnadentums. Die dadurch ausgelöste Kontroverse bewirkte eine in dieser Intensität bislang nicht gekannte Politisierung der Öffentlichkeit. Der Botschafter des Wiener Hofs in Paris, Comte de Mercy-Argenteau, berichtete an Kaiserin Maria Theresia, dass «politische Fragen beinahe der einzige Gegenstand der Gespräche sind, die am Hof, in der Gesellschaft, in der Stadt, ja im ganzen Königreich geführt und die selbst im engsten Kreis der königlichen Familie erörtert werden».[25]

Das alles blieb nicht ohne Einfluss auf den Diskurs der philosophes und Aufklärer, der sich zunehmend mit politischen Gegenständen befasste. Es entstand eine regelrechte Mode, wie die von Grimm und Diderot verfasste Correspondance littéraire im August 1774 mit Ironie bemerkte: «Der Name eines philosophe erwirbt sich derart wohlfeil, dass sich so gut wie jedermann schmeichelt, sich damit zu schmücken. Sollten die Anstrengungen, die man aufwendet, um ihn zu erlangen, nicht immer hinreichen, dann ist wenigstens das Scheitern mit dieser Karriere weit weniger spürbar als mit einer anderen. Es gibt beinahe keinen jungen Mann mehr, der beim Verlassen der Schule nicht das Projekt verfolgt, ein neues philosophisches oder politisches System zu entwickeln. Auch gibt es kaum einen Autor, der sich nicht allen Ernstes verpflichtet fühlt, das Menschengeschlecht über seine grundsätzlichen Interessen aufzuklären, oder der den diversen Mächten auf Erden die beste Art und Weise, ihre Staaten zu verwalten, vermitteln will».[26]

Die Politisierung großer Teile der Öffentlichkeit trug wesentlich dazu bei, die bislang vorhandenen Alternativen zu diskreditieren: Auf Zustimmung stieß weder der aufgeklärte Absolutismus, der als despotisch verurteilt wurde, noch schlug sich die Empörung über die Abschaffung der Parlements in einer uneingeschränkten Befürwortung ihrer von Eigennutz diktierten Opposition gegenüber der Krone nieder. Die politische Meinung strebte vielmehr nach einer Verfassung auf repräsentativer Grundlage, auch wenn einschlägige Überlegungen und Ansichten noch unbestimmt artikuliert wurden. Als Louis XVI 1774 die Thronfolge antrat, musste er erleben, dass das von ihm geerbte politische System in den Augen der Öffentlichkeit seine Legitimation weitgehend eingebüßt hatte.

Diese Situation musste den erst zwanzigjährigen Louis XVI umso mehr überfordern, als Louis XV, sein Großvater, ihn stets von den Regierungsgeschäften ferngehalten hatte. Die vorhersehbaren Folgen der politischen Unerfahrenheit des neuen Herrschers verschlimmerte noch seine von Anfang an betonte Entschlossenheit, nicht nur die Rolle des Königs zu geben, sondern als Monarch auch die Politik Frankreichs zu formulieren. Die Vorstellung, diese Aufgabe einem erfahrenen Premierminister zu übertragen, der in seinem Namen die Regierungsgeschäfte in Zusammenarbeit mit den Ministern führte, lag ihm fern. Dies war auch die erste enttäuschende Erfahrung für den Mann, an den sich der neue König mit der Bitte wandte, ihm mit Rat und Tat zur Seite zu stehen: Jean-Frédéric Phélypeaux Comte de Maurepas, der bis zu seiner Entlassung 1749, als er in Verdacht geriet, satirische Verse auf Madame de Pompadour geschrieben zu haben, Marineminister unter Louis XV gewesen war und seither auf seinem Landsitz in Pontchartrain in Verbannung lebte.

In der ersten Unterredung mit dem König begnügte sich der bereits 73-jährige Maurepas damit, diesem in höflichen Andeutungen nahezulegen, sich für einen Premierminister zu entscheiden, der nach dem Vorbild der Kardinäle Mazarin oder Fleury die Regierung namens des Monarchen ausübte. Monarchien, so Maurepas, bräuchten im Entscheidungszentrum einen Mann, der fähig sei, alle Belange der Souveränität zu überblicken. Louis XIV habe seine so glücklich begonnene Herrschaft schlecht zu Ende geführt, weil er sich selbst für geeignet gehalten habe, dieses Zentrum mit seiner Person zu besetzen. Das sei auch die Ursache für die Fehler gewesen, an denen die Nation unter Louis XV zu leiden hatte. Im Übrigen würde ein Premierminister den König nicht daran hindern, selbst die Geschäfte im Detail zu überwachen, wie ihm auch stets die Entscheidung zustünde, nachdem er den Premierminister und die anderen Mitglieder des Kabinetts konsultiert habe.[27]

Das war ein ebenso loyaler wie kluger Ratschlag, mit dem Maurepas auch andeuten wollte, dass er bereit sei, die Rolle eines Premierministers zu übernehmen. Der junge König jedoch, einerseits unerfahren, andererseits dem bewunderten Vorbild seines Großvaters verhaftet, konnte sich dazu nicht entschließen. Maurepas hatte bis zu seinem Tod 1781 als Staatsminister deshalb einen höchst ambivalenten Status als Berater des Monarchen. Dass Louis XVI seinen Rat nicht beherzigte, lässt sich unschwer als wichtige Ursache für viele Fehler identifizieren, die ihm vor Ausbruch der Revolution unterliefen.

In den ersten Monaten seiner Tätigkeit war Maurepas im Conseil d’Etat der einzige Minister, den der neue König berufen hatte, während alle anderen Regierungsmitglieder Sitz und Stimme dem verstorbenen Louis XV verdankten. Noch merkwürdiger machte die Situation, dass sich der König in der Regel Mehrheitsentscheidungen des Conseil beugte. Maurepas musste also stets damit rechnen, von den alten Ministern überstimmt zu werden. Da er keine Ressortverantwortung hatte, ihm aber gleichwohl die Aufgabe zufiel, Frankreich in Abstimmung mit dem König zu regieren, war diese Konstellation für ihn mehr als problematisch.

Maurepas wollte das beschädigte Ansehen der Krone wiederherstellen. Das konnte aber nur gelingen, wenn er den zaudernden König durch Geduld und List davon überzeugte, die alten Minister, die für den Legitimationsverlust der Monarchie mitverantwortlich waren, zu entlassen. Mit dem Auswechseln der Minister, an deren Stelle Maurepas Männer seines Vertrauens setzen wollte, war ein grundsätzlicher Politikwechsel mit dem Ziel verbunden, die Stellung der Krone gegenüber der Öffentlichkeit wieder zu festigen, dem Vorwurf des Despotismus den Boden zu entziehen und den aufgeklärten Absolutismus zu fördern.

Maurepas war kein Zyniker, sondern ein traditionalistisch gesinnter Pragmatiker der Macht. Für ihn war deshalb auch ein durchaus selbstbewusster Parlement, dessen esprit de corps aber keine wirkliche Gefahr darstellte, unverzichtbar für das Dekorum der Monarchie. «Ohne Parlement keine Monarchie», lautete seine Maxime.[28] Da aber, so überliefert sein Vertrauter de Véri, «der Parlement zuständig ist für die Ausführung aller Gesetze, kann er mittels seiner Interpretation diese nach Belieben ausformen. Derart wird er zum eigentlichen Souverän».[29] Hauptursache dafür, so die Einschätzung von Maurepas, waren Differenzen innerhalb der Regierung gewesen, die vom Parlement rücksichtslos ausgenutzt wurden. Deshalb sei es unverzichtbar, die Ministerposten mit Persönlichkeiten zu besetzen, für deren Gesinnung er, Maurepas, sich verbürgen könne und die mit ihm an einem Strang zögen. Um das zu gewährleisten, gelte es zum weiteren, die unterschiedlichen Parteiungen am Versailler Hof daran zu hindern, ihre jeweiligen Favoriten als Minister zu installieren. Deshalb favorisierte Maurepas eine Regierung von «Fachleuten», die aus der Funktionselite der noblesse de robe rekrutiert werden sollten. Die Pointe dabei war, dass Maurepas, ohne dass ihn der König zum Premierminister ernannte, im Kreis ihm gleichgesinnter Minister, die ihre Ernennung seinem Vorschlag verdankten, diese Rolle gleichwohl de facto ausübte. Zugleich eröffnete ihm dies die Chance, einen umfassenden politischen Richtungswechsel einzuleiten, dessen Erfolg seine Unersetzbarkeit angesichts der Unerfahrenheit des jungen Königs zu garantieren versprach.

Mit hartnäckiger Geduld gelang es Maurepas schließlich, diesen Plan gegen den unentschlossenen König durchzusetzen. Am Vormittag des 24. August 1774 fand die Unterredung statt, bei der er seine bisherige Zurückhaltung aufgab und Louis XVI zu einer Entscheidung zwang, die exakt seinen Vorstellungen entsprach.[30] Der Kanzler und Siegelbewahrer Maupeou und der Generalkontrolleur der Finanzen abbé Terray wurden entlassen und durch Miromesnil und Turgot ersetzt, zwei enge Vertraute von Maurepas, die als Minister für Justiz und Finanzen berufen wurden. Diese Maßnahme traf der König wider seine eigene Überzeugung, denn allein schon aus Respekt vor seinem Großvater hätte er gerne beide Minister in ihren Ämtern behalten. Den Ausschlag für deren Entlassung gaben die geschickten Verweise auf die öffentliche Meinung, mit denen Maurepas in der Unterredung mit dem König argumentiert hatte. Das war eine Instanz, die er in seiner Unsicherheit unbedingt respektierte. Und die öffentliche Meinung erwartete vom neuen König rasche Entschlüsse und eine Korrektur der von ihr lauthals kritisierten Fehler. Dazu gehörte die leidige Frage des Parlement, die mit dem Thronwechsel erneut akut geworden war. Als man ihn darauf aufmerksam machte, wie riskant es sei, die vom Großvater veranlasste Zerschlagung des Parlement rückgängig zu machen, soll er gesagt haben: «Das mag wahr sein, möglicherweise ist es auch politisch unklug, allein es scheint mir der allgemeine Wunsch zu sein, und ich will geliebt werden».[31]

Dieser Wunsch schien in Erfüllung zu gehen, denn als Ende Oktober 1774 die Entscheidung bekannt wurde, den alten Parlement wieder einzusetzen, löste das großen Jubel in Paris aus. Sehr schnell wurde aber deutlich, dass der wahre Grund dieser Begeisterung die Überzeugung war, einen Sieg der öffentlichen Meinung zu feiern.[32] Mit einem lit de justice vom 12. November wurden die Bedingungen für die Wiedereinsetzung des alten Parlement bekannt gemacht, die dessen Widerspruchsmöglichkeiten einschränkten. Welche Absichten ihn dabei leiteten, skizzierte Maurepas im Gespräch mit dem Steuerpächter Augeard: «Es gilt darauf zu achten, dass der König als uneingeschränkter Herrscher in seinem Reich schaltet und waltet. Noch viel notwendiger, und das nicht nur für das Wohl der Untertanen, sondern auch mit Rücksicht auf die Kreditwürdigkeit aber ist, dass niemand die Überzeugung hegt, seine Macht stehe über dem Gesetz, denn wenn die Untertanen ihn für einen Despoten halten, dann wird es ihm unmöglich sein, neue Kredite zu bekommen».[33]

Der Versuch von Maurepas, mit allerhand Tricks und Kniffen den ihm vertrauten Status quo der Monarchie zu Zeiten des Kardinals de Fleury wiederherzustellen, musste scheitern, weil das Land und die Probleme, die es plagten, nicht mehr dieselben wie damals waren. Eben deshalb vermochten die Verfahrensregeln, denen der wiederberufene alte Parlement unterworfen wurde, dessen Widerspruchsgeist nicht zu zähmen. Befördert wurde dieser zudem durch die von den Magistraten während ihrer Kaltstellung und Exilierung gemachten bitteren Erfahrungen, wie der Comte de Ségur in seinen Erinnerungen rückblickend feststellte: «Er [i. e. Maurepas] rief die ungnädig entlassenen Parlements zurück. Ihr Exil war ein Akt der Tyrannei gewesen; ihre Wiedereinsetzung hätte für sie kein Triumph sein dürfen: Er ist es aber gewesen. Man verlieh ihnen ohne alle Umstände wieder ihre Macht, und dieser Sieg, den die Bestrebungen nach Unabhängigkeit der hohen Magistratur über die Autorität errangen, stärkte ihren Widerstandsgeist und ihr Verlangen nach Neuerungen».[34]

Maurepas erster Erfolg auf dem Weg zu einem auf Reformen basierenden aufgeklärten Absolutismus erwies sich deshalb als ein Pyrrhussieg. Mit dem vermeintlichen Triumph des Parlement verhielt es sich nicht anders. Weder das eine noch das andere Konzept konnte eine Öffentlichkeit überzeugen, die in dieser Konkurrenz gegensätzlicher Macht- und Ordnungsvorstellungen nur ein historisches Kostümstück sah.

Wie sehr das traditionelle monarchische Regime von den Zeitgenossen als anachronistisches Phänomen wahrgenommen wurde, zeigte sich bei einem Ritual, das dessen über Jahrhunderte fortdauernde Geltung unter Beweis stellen sollte: der Sacre, die im Rahmen einer prunkvollen Feier vollzogene Salbung des Königs. Das Zeremoniell, das am 11. Juni 1775 einer rund tausendjährigen Tradition entsprechend in der Kathedrale von Reims stattfinden sollte, bekräftigte feierlich die Legitimität der Monarchie. Diese Krönung war ein unverzichtbarer Ritus, denn erst mit der Salbung wurde der König von Frankreich, der seinem verstorbenen Vorgänger auf dem Thron nachfolgte, ein Herrscher von Gottes Gnaden.[35] Dass daran jetzt Zweifel laut wurden und manche das Ritual als Verschwendung öffentlicher Gelder kritisierten, ist aufschlussreich, da ein Verzicht auf die Salbung den Charakter des französischen Königtums substantiell verändert hätte. Auch äußerte sich in dieser Kritik eine neue politische Sensibilität, denn die Kosten für die Feierlichkeiten erschienen jetzt umso weniger opportun, als es seit dem Frühjahr in der Umgebung von Paris wie in der Stadt selbst wiederholt zu Aufständen gegen die hohen Mehl- und Brotpreise gekommen war, die erst durch den Einsatz von Truppen niedergeschlagen werden konnten.[36]

Als frommer Mann beharrte Louis XVI jedoch zur Genugtuung des Klerus auf dem traditionellen Ritus. Davon ließ er sich auch nicht durch die Denkschrift abbringen, die ihm der Contrôleur général des Finances Turgot am 11. September 1774 überreichte. Turgot bezifferte darin die Kosten für den Sacre auf rund 7 Millionen livres, die durch 37