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Zum Buch

Wie entstehen die Akkumulation und die Distribution von Kapital? Welche Dynamiken sind dafür maßgeblich? Fragen der langfristigen Evolution von Ungleichheit, der Konzentration von Wohlstand in wenigen Händen und nach den Chancen für ökonomisches Wachstum bilden den Kern der Politischen Ökonomie. Aber befriedigende Antworten darauf gab es bislang kaum, weil aussagekräftige Daten und eine überzeugende Theorie fehlten. In Das Kapital im 21. Jahrhundert analysiert Thomas Piketty ein beeindruckendes Datenmaterial aus 20 Ländern, zurückgehend bis ins 18. Jahrhundert, um auf dieser Basis die entscheidenden ökonomischen und sozialen Abläufe freizulegen. Seine Ergebnisse stellen die Debatte auf eine neue Grundlage und definieren zugleich die Agenda für das künftige Nachdenken über Wohlstand und Ungleichheit.

Piketty zeigt uns, dass das ökonomische Wachstum in der Moderne und die Verbreitung des Wissens es uns ermöglicht haben, den Ungleichheiten in jenem apokalyptischen Ausmaß zu entgehen, das Karl Marx prophezeit hatte. Aber wir haben die Strukturen von Kapital und Ungleichheit andererseits nicht so tiefgreifend modifiziert, wie es in den prosperierenden Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg den Anschein hatte. Der wichtigste Treiber der Ungleichheit – nämlich die Tendenz von Kapitalgewinnen, die Wachstumsrate zu übertreffen – droht heute extreme Ungleichheiten hervorzubringen, die am Ende auch den sozialen Frieden gefährden und unsere demokratischen Werte in Frage stellen. Doch ökonomische Trends sind keine Gottesurteile. Politisches Handeln hat gefährliche Ungleichheiten in der Vergangenheit korrigiert, so Piketty, und kann das auch wieder tun.

Pressestimmen:

«Dieses Buch wird die Ökonomie verändern und mit ihr die ganze Welt.»

Paul Krugman, Nobelpreisträger, The New York Review of Books

«Es ist DAS Wirtschaftsbuch, das die Welt im Sturm erobert hat.»

The Economist

«Pikettys Kapital im 21. Jahrhundert ist eine intellektuelle Glanzleistung.»

Washington Post

«Eine brillante Erzählung über Reichtum und Armut.»

Süddeutsche Zeitung

«Thomas Piketty ist der Ökonom der Stunde.»

Frankfurter Allgemeine Zeitung

«Ein Werk von historischer Tiefe mit einem noch nie zusammengetragenen Faktenreichtum.»

Die Welt

«Wer immer sich ernsthaft mit dem Problem der Ungleichheit beschäftigt, kommt an [Piketty] nicht vorbei.»

Handelsblatt

«Zum ersten Mal präsentiert ein Ökonom umfassende Belege für die Aussage Wer hat, dem wird gegeben

SpiegelOnline

Über den Autor

Thomas Piketty ist Professor an der Paris School of Economics.

THOMAS PIKETTY

DAS KAPITAL

IM 21. JAHRHUNDERT

Aus dem Französischen
von Ilse Utz und Stefan Lorenzer

 

 

 

 

 

 

 

C.H.Beck

 

 

 

 

 

 

 

INHALT

Danksagung

Einleitung

ERSTER TEIL
EINKOMMEN UND KAPITAL

Kapitel 1.   Einkommen und Produktion

Kapitel 2.   Das Wachstum: Illusionen und Realität

ZWEITER TEIL
DIE DYNAMIK DES KAPITAL-EINKOMMENS-VERHÄLTNISSES

Kapitel 3.   Die Metamorphosen des Kapitals

Kapitel 4.   Vom Alten Europa zur Neuen Welt

Kapitel 5.   Das langfristige Kapital-Einkommens-Verhältnis

Kapitel 6.   Das Verhältnis zwischen Kapital und Arbeit im 21. Jahrhundert

DRITTER TEIL
DIE STRUKTUR DER UNGLEICHHEIT

Kapitel 7.   Ungleichheit und Konzentration: Erste Anhaltspunkte

Kapitel 8.   Zwei Welten

Kapitel 9.   Ungleichheit der Arbeitseinkommen

Kapitel 10. Ungleichheit des Kapitaleigentums

Kapitel 11. Verdienst und Erbschaft auf lange Sicht

Kapitel 12. Globale Vermögensungleichheit im 21. Jahrhundert

VIERTER TEIL
DIE REGULIERUNG DES KAPITALS IM 21. JAHRHUNDERT

Kapitel 13. Ein Sozialstaat für das 21. Jahrhundert

Kapitel 14. Die progressive Einkommensteuer überdenken

Kapitel 15. Eine globale Kapitalsteuer

Kapitel 16. Die Frage der Staatsschuld

 

Schlussbetrachtung

Inhaltsübersicht

Auflistung der Grafiken und Tabellen

Personenregister

DANKSAGUNG

Dieses Buch beruht auf 15 Jahren Forschung (1998–2013), die im Wesentlichen der historischen Dynamik von Einkommen und Vermögen galt. Ein großer Teil davon wurde zusammen mit anderen Wissenschaftlern durchgeführt.

Kurz nachdem im Jahr 2001 mein Buch Die oberen Einkommensschichten in Frankreich im 20. Jahrhundert erschienen war, hatte ich das Glück, von der enthusiastischen Unterstützung durch Anthony Atkinson und Emmanuel Saez profitieren zu können. Ohne sie hätte dieses vormals auf den französischen Raum begrenzte Projekt zweifellos niemals die heutige internationale Reichweite erlangen können. Tony, der für mich während der Zeit meiner Ausbildung als Vorbild fungierte, war der erste, der meine historische Untersuchung der Ungleichheit in Frankreich gelesen hat. Unmittelbar darauf hat er sich selber des Falls Großbritannien – und in der Folge einer Vielzahl weiterer Länder – angenommen. Wir haben gemeinsam in den Jahren 2007 und 2010 zwei stattliche Bände herausgegeben, deren Untersuchung insgesamt mehr als zwanzig Länder abdeckt und die bis zu diesem Tage umfassendste Übersicht der verfügbaren Daten zur historischen Entwicklung der Einkommensungleichheiten liefert. Zusammen mit Emmanuel haben wir auch den Fall der Vereinigten Staaten abgehandelt und dabei das schwindelerregende Wachstum der Einkommen der reichsten 1 % seit den 1970er und 1980er Jahren zu Tage gefördert, was auf die politischen Diskussionen auf der anderen Seite des Atlantiks einen gewissen Einfluss ausgeübt hat. Darüber hinaus haben wir zahlreiche Untersuchungen zur Theorie der optimalen Einkommens- und Kapitalbesteuerung durchgeführt. Diese gemeinsamen Forschungen waren eine reichhaltige Quelle für das vorliegende Buch, das ihnen viel verdankt.

Nicht minder stark beeinflusst wurde dieses Werk durch meine Begegnung mit Gilles Postel-Vinay und Jean-Laurent Rosenthal und von den historischen Untersuchungen zum Thema Erbschaft, die wir seitdem gemeinsam in Pariser Archiven durchführen – von der Epoche der Französischen Revolution bis zur Gegenwart. Sie haben es mir ermöglicht, Vermögen und Kapital als mit dem realen Leben verknüpfte Phänomene zu begreifen sowie die Probleme zu erkennen, die mit ihrer Erfassung verbunden sind. Es waren vor allem Gilles und Jean-Laurent, die mich in die Lage versetzt haben, die Vielzahl an Parallelen – und auch an Differenzen –, die zwischen der Verteilung des Eigentums in der Belle Époque und zu Beginn des 21. Jahrhunderts herrschen, besser zu verstehen.

Sehr viel verdankt dieses Buch zudem all den Doktoranden und jungen Wissenschaftlern, mit denen ich das Glück hatte, über die letzten fünfzehn Jahre hinweg zusammenarbeiten zu dürfen. Über ihren unmittelbaren Beitrag zu den hier verwendeten Arbeiten hinaus haben sie mit ihren Forschungen und ihrer Energie zu dem anregenden intellektuellen Klima beigetragen, in welchem dieses Werk gedeihen konnte. Ich denke dabei insbesondere an Facundo Alvaredo, Laurent Bach, Antoine Bozio, Clément Carbonnier, Fabien Dell, Gabrielle Fack, Nicolas Frémeaux, Lucie Gadenne, Julien Grenet, Élise Huilery, Camille Landais, Ioana Marinescu, Élodie Morival, Nancy Qian, Dorothée Rouzet, Stefanie Stantcheva, Juliana Londono Velez, Guillaume Saint-Jacques, Christoph Schinke, Aurélie Sotura, Mathieu Valdenaire und Gabriel Zucman. Ohne die Effizienz, die Präzision sowie das Organisationstalent von Facundo Alvaredo wäre wiederum die World Top Database, die für dieses Buch häufig herangezogen wurde, nicht zustande gekommen. Und ohne den unermüdlichen Eifer und die Beharrlichkeit von Camille Landais hätte unser interaktives Projekt zur «révolution fiscale» niemals das Licht der Welt erblickt. Ohne die Genauigkeit und beeindruckende Leistungsfähigkeit von Gabriel Zucman wäre ich außerdem niemals in der Lage gewesen, die Studien zu der historischen Entwicklung des Verhältnisses zwischen Kapital und Einkommen in den Industrienationen erfolgreich durchzuführen, die in diesem Buch eine zentrale Rolle spielt.

Ich möchte darüber hinaus den Einrichtungen danken, die dieses Projekt ermöglicht haben – vor allem der École des Hautes Études en Sciences Sociales, an der ich seit 2000 «directeur d’etudes» bin, ebenso wie der École Normale Supérieure, und all den anderen Institutionen, die die Paris School of Economics tragen, deren erster Direktor ich zwischen 2005 und 2007 war und an der ich als Professor lehre, seit sie aus der Taufe gehoben wurde. Indem sie eingewilligt haben, ihre Kräfte zu vereinen und Teil eines Projektes zu werden, das größer ist als die Summe ihrer einzelnen Interessen, haben diese Einrichtungen es ermöglicht, einen bescheidenen Beitrag zum Gemeinwohl zu leisten, der, wie ich hoffe, zur Entwicklung einer multipolaren politischen Ökonomie im 21. Jahrhundert beitragen wird.

Schließlich danke ich Juliette, Déborah und Hélène, meinen drei geliebten Töchtern, für all die Liebe und Kraft, die sie mir geben. Und ich danke Julia, die mein Leben mit mir teilt und meine erste Leserin ist. Ihr Einfluss und ihre Unterstützung sind auf allen Etappen dieses Buches entscheidend gewesen. Ohne meine Familie hätte ich niemals die Kraft gefunden, dieses Projekt zu seinem Abschluss zu bringen.

 

Das Buch und der Technische Anhang/die Homepage: eine Gebrauchsanweisung

Um den Text und die Fußnoten nicht unnötig zu überfrachten, wurde die detaillierte Auflistung der historischen Quellen, der bibliographischen Referenzen, der statistischen Methoden sowie der mathematischen Modelle in einen Technischen Anhang verwiesen, der auf der folgenden Homepage abzurufen ist: http://piketty.pse.ens.fr/capital21c

Der Technische Anhang enthält insbesondere die Gesamtheit der Tabellen und die Datensätze, die der Erstellung der in diesem Buch versammelten Grafiken dienten, sowie eine ausführliche Beschreibung der verwendeten Quellen und Methoden. Die bibliographischen Angaben, die im Buch und in den Fußnoten gemacht werden, sind ebenso streng auf ein Minimum reduziert worden und sehr viel ausführlicher in diesem Anhang aufgeführt. Er umfasst außerdem eine ganze Reihe von zusätzlichen Tabellen und Grafiken, auf die an manchen Stellen in den Fußnoten Bezug genommen wird (beispielsweise «Vgl. zusätzliche Grafiken S1.1, S1.2 und S1.3», Kapitel 1, S. 91, Fußnote 1). Der Technische Anhang und die Homepage sind also zu dem Zweck konzipiert worden, die Lektüre des Buches zu ergänzen und unterschiedliche Intensitäten der Lektüre zu ermöglichen.

Die daran interessierten Leser werden online außerdem die Gesamtheit der Dateien (in der Regel im Format Excel oder Stata), die Computerprogramme, die mathematischen Formeln und Gleichungen sowie Verweise auf die Primärquellen und Internet-Links zu den eher technischen Studien finden, die den Unterbau dieses Buches bilden.

Das Ziel ist es, dass dieses Buch von Personen gelesen werden kann, die über keine fachspezifischen Kenntnisse verfügen, und zugleich in Verbindung mit dem technischen Anhang den Anforderungen von Studierenden und spezialisierten Forschern Genüge tut. Das gibt mir darüber hinaus die Möglichkeit, revidierte und aktualisierte Versionen des Technischen Anhangs sowie der Tabellen und Grafiken ins Netz zu stellen. Ich bedanke mich im Voraus bei den Lesern und Internetnutzern, die mir ihre Eindrücke und Anregungen via E-Mail mitteilen (piketty@ens.fr).

«Gesellschaftliche Unterschiede dürfen nur
im allgemeinen Nutzen begründet sein.»

Artikel 1,
Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, 1789.

EINLEITUNG

Die Verteilung der Vermögen ist heutzutage eine der interessantesten und meistdiskutierten Fragen. Aber was weiß man wirklich über ihre langfristige Entwicklung? Führt die Dynamik der privaten Kapitalakkumulation zwangsläufig zu einer immer stärkeren Konzentration von Reichtum und Macht in den Händen weniger, wie Marx im 19. Jahrhundert angenommen hat? Oder führen die ausgleichenden Kräfte von Wachstum, Wettbewerb und technologischem Fortschritt von selbst zu einer Verringerung der Ungleichheit und einer harmonischen Stabilisierung in den fortgeschrittenen Entwicklungsphasen, wie Simon Kuznets im 20. Jahrhundert glaubte? Was weiß man wirklich darüber, wie sich die Verteilung von Einkommen und Vermögen seit dem 18. Jahrhundert entwickelte, und welche Lehren lassen sich für das 21. Jahrhundert daraus ziehen?

Diese Fragen versuche ich in diesem Buch zu beantworten. Gleich zu Beginn sei gesagt: Die hier vorgelegten Antworten sind unvollständig. Aber sie basieren auf historischen und komparativen Daten, die umfangreicher sind als die in allen früheren Arbeiten verwendeten; sie beziehen sich auf drei Jahrhunderte und mehr als 20 Länder und sind in einen neuen theoretischen Rahmen eingebettet, der die entscheidenden Tendenzen und Mechanismen verständlicher macht. Durch die Fortschritte und die Ausbreitung des Wissens konnte die marxistische apokalyptische Vision zwar vermieden werden, aber dadurch hat sich an den Tiefenstrukturen des Kapitals und den Ungleichheiten nichts geändert – jedenfalls nicht in dem Maße, wie man es sich in den optimistischen Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg vorstellen konnte. Wenn die Kapitalrendite dauerhaft höher ist als die Wachstumsrate von Produktion und Einkommen, was bis zum 19. Jahrhundert der Fall war und im 21. Jahrhundert wieder zur Regel zu werden droht, erzeugt der Kapitalismus automatisch inakzeptable und willkürliche Ungleichheiten, die das Leistungsprinzip, auf dem unsere demokratischen Gesellschaften basieren, radikal infragestellen. Es gibt jedoch Mittel und Wege, mit denen die Demokratie zum Wohl der Allgemeinheit die Kontrolle über den Kapitalismus und die Privatinteressen wiedererlangen kann, ohne protektionistischen und nationalistischen Tendenzen Vorschub zu leisten. Dieses Buch möchte dazu einige Vorschläge machen, wobei es sich auf die Lehren aus den historischen Erfahrungen stützt, deren Darstellung den Hauptteil des Werkes bildet.

Eine Debatte ohne Quellen?

Lange Zeit speisten sich die intellektuellen und politischen Diskussionen über die Verteilung der Vermögen aus vielen Vorurteilen und sehr wenigen Fakten.

Es wäre falsch, die Bedeutung der intuitiven Annahmen zu unterschätzen, die jeder in Bezug auf die Einkommen und Vermögen seiner Zeit entwickelt, ohne über einen theoretischen Rahmen und repräsentative Statistiken zu verfügen. Wir werden z.B. sehen, dass Film und Literatur, insbesondere der Roman des 19. Jahrhunderts, eine Fülle von sehr genauen Informationen über den Lebensstandard und die Vermögensverhältnisse der verschiedenen sozialen Gruppen und vor allem über die Tiefenstruktur der Ungleichheit, ihre Rechtfertigungen und ihre Auswirkungen auf das Leben eines jeden enthalten. Vor allem die Romane von Jane Austen und Honoré de Balzac schildern auf eindrucksvolle Weise die Verteilung der Vermögen in Großbritannien und in Frankreich in der Zeit von 1790 bis 1830. Die beiden Romanschriftsteller kennen sich in der ihre Gesellschaft prägenden Vermögenshierarchie sehr gut aus. Sie spüren ihren verborgenen Grenzen nach und wissen um die unerbittlichen Folgen für das Leben dieser Männer und Frauen, um ihre Bündnisstrategien, ihre Hoffnungen und ihr Unglück. Sie beschreiben die Auswirkungen mit einer Wahrhaftigkeit und Eindringlichkeit, die keine Statistik und keine wissenschaftliche Analyse zu bieten vermag.

Die Verteilungsfrage ist zu wichtig, um sie allein den Ökonomen, Soziologen, Historikern und Philosophen zu überlassen. Sie interessiert jedermann, und das ist gut so. Die konkrete Realität der Ungleichheit ist für all jene unmittelbar erfahrbar, die von ihr betroffen sind, und ruft naturgemäß dezidierte und gegensätzliche politische Urteile hervor. Ob Bauer oder Adliger, Arbeiter oder Industrieller, Kellner oder Bankier: Jeder erhält von seiner Warte aus Einblicke in die Lebensbedingungen bestimmter Menschen, in die Macht- und Herrschaftsverhältnisse zwischen sozialen Gruppen und bildet sich seine eigene Vorstellung von dem, was gerecht und was ungerecht ist. Die Frage der Verteilung der Vermögen wird immer diese sehr subjektiv-psychologische, durch und durch politische und konfliktträchtige Dimension haben, die keine noch so wissenschaftliche Analyse aufheben kann. Glücklicherweise wird die Demokratie niemals durch die Expertenrepublik ersetzt werden.

Dennoch sollte die Verteilungsfrage auch systematisch untersucht werden. Ohne Quellen, Methoden und genau definierte Begriffe kann man alles oder auch das Gegenteil behaupten. Manche glauben, die Ungleichheit nehme ständig zu und die Welt werde immer ungerechter. Für andere nimmt die Ungleichheit naturgemäß ab oder gleicht sich von selbst aus; ihrer Ansicht nach darf vor allem nichts unternommen werden, das dieses schöne Gleichgewicht stören könnte. Vor dem Hintergrund dieses Dialogs von Tauben, in dem jedes Lager seine eigene intellektuelle Trägheit gern mit der des gegnerischen Lagers rechtfertigt, ist eine systematische Erforschung des Sachverhalts gefragt – auch wenn diese nie rein wissenschaftlich wird sein können. Die wissenschaftliche Analyse wird die heftigen politischen Konflikte, die sich an der Frage der Ungleichheit entzünden, niemals beenden. Die sozialwissenschaftliche Untersuchung ist und wird immer unzureichend sein; sie hat nicht den Ehrgeiz, Ökonomie, Soziologie und Geschichte in exakte Wissenschaften zu verwandeln. Aber indem sie geduldig Fakten und wiederkehrende Abläufe ermittelt und die ausschlaggebenden ökonomischen, sozialen und politischen Mechanismen unvoreingenommen analysiert, kann sie dafür sorgen, dass die demokratische Diskussion kenntnisreicher geführt wird und sich auf die richtigen Fragen konzentriert. Sie kann dazu beitragen, den Inhalt der Debatte immer wieder neu zu bestimmen, die Gewissheiten ins Wanken zu bringen, die Hochstapeleien aufzudecken und alles immer wieder zu bezweifeln und infrage zu stellen. Das ist meiner Ansicht nach die Rolle, die die Intellektuellen, darunter die Sozialwissenschaftler, spielen sollten. Sie sind Bürger wie alle anderen, haben aber mehr Zeit, um sich dem Studium dieser Fragen zu widmen (und werden dafür auch noch bezahlt – ein beachtliches Privileg).

Festzuhalten ist, dass die wissenschaftlichen Untersuchungen zur Vermögensverteilung lange Zeit auf relativ wenigen gesicherten Fakten und auf vielen rein theoretischen Spekulationen basierten. Bevor ich die Quellen, auf die ich mich gestützt habe und die ich in diesem Buch zusammengetragen habe, genauer darlege, ist es angebracht, kurz die Geschichte der zu diesen Fragen angestellten Überlegungen darzustellen.

Malthus, Young und die Französische Revolution

Als am Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Großbritannien und in Frankreich die klassische politische Ökonomie entsteht, liegt der Fokus aller Analysen bereits auf der Verteilungsfrage. Es ist für jedermann sichtbar, dass radikale Veränderungen begonnen haben, insbesondere ein anhaltendes – in dieser Höhe bis dahin unbekanntes – Bevölkerungswachstum, die Anfänge der Landflucht und die Industrielle Revolution. Wie werden sich diese Umwälzungen auf die Verteilung des Reichtums, die Gesellschaftsstruktur und das politische Gleichgewicht der europäischen Gesellschaften auswirken?

Für Thomas Malthus, der 1798 seine Abhandlung über das Bevölkerungsgesetz veröffentlicht, steht zweifelsfrei fest: Die Überbevölkerung stellt die Hauptbedrohung dar.[1] Seine Quellen sind dürftig, aber er versucht, sie so gut wie irgend möglich auszuwerten. Er ist insbesondere durch die Reiseberichte Arthur Youngs beeinflusst, eines englischen Agronomen, der 1787/88, also kurz vor der Französischen Revolution, das Königreich Frankreich von Calais über die Bretagne und die Franche-Comté bis zu den Pyrenäen bereiste und von dem Elend auf dem Land berichtete.

In dieser fesselnden Schilderung ist keineswegs alles falsch. Damals ist Frankreich das bei weitem bevölkerungsreichste Land Europas und damit ein idealer Untersuchungsgegenstand. Um 1700 zählte das Königreich Frankreich bereits mehr als 20 Millionen Einwohner, während das Vereinigte Königreich auf kaum mehr als 8 Millionen (und England etwa auf 5 Millionen) kam. In Frankreich war die Bevölkerung im ganzen 18. Jahrhundert, vom Ende der Herrschaft Ludwigs XIV. bis zu der von Ludwig XVI., stetig gewachsen, so dass die französische Bevölkerung in den 1780er Jahren nahezu 30 Millionen beträgt. Alles deutet darauf hin, dass diese demografische Dynamik, die es in den vorausgegangenen Jahrhunderten so nicht gegeben hatte, in diesen Jahrzehnten zu der Stagnation der Löhne in der Landwirtschaft und zu dem Anstieg der Bodenrente geführt hat, die zur explosiven Lage im Jahr 1789 beigetragen haben. Ohne darin die alleinige Ursache für die Französische Revolution zu sehen, kann man davon ausgehen, dass diese Entwicklung die Unbeliebtheit des Adels und des bestehenden politischen Systems nur vergrößern konnte.

Der von Young 1792 veröffentlichte Bericht enthält allerdings auch nationalistische Vorurteile und grobe Vergleiche. Unser großer Agronom ist höchst unzufrieden mit den Herbergen, in denen er abstieg, sowie mit der Kleidung und dem Benehmen der Bediensteten, die ihm Essen brachten, das er angewidert beschreibt. Aus seinen häufig belanglosen und anekdotenhaften Beobachtungen und Beschreibungen möchte er Konsequenzen für die Weltgeschichte ableiten. Ihn beunruhigen vor allem die politischen Exzesse, zu denen das Elend der Massen führen könnte. Young ist überzeugt, dass allein das politische System Großbritanniens mit getrennten Kammern für den Adel und den dritten Stand und einem Vetorecht für den Adel eine harmonische und friedliche Entwicklung gewährleisten kann, die von verantwortungsbewussten Menschen getragen wird. Für ihn ist Frankreich dem Untergang geweiht, als es 1789/90 zulässt, dass beide Stände im selben Parlament tagen. Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass sein gesamter Bericht von seiner Furcht vor der Revolution bestimmt wird. Wenn man über die Verteilung des Reichtums spricht, ist die Politik nie sehr fern, und man kann sich oft nur schwer den Vorurteilen und Klasseninteressen seiner Zeit entziehen.

Als Pfarrer Malthus 1798 seine berühmte Abhandlung veröffentlicht, sind seine Schlussfolgerungen noch radikaler als die Youngs. Wie sein Landsmann ist auch er in höchstem Maße beunruhigt über die politischen Nachrichten aus Frankreich, und um sicherzugehen, dass derartige Exzesse eines Tages nicht auf das Vereinigte Königreich übergreifen, möchte er alle Unterstützungsmaßnahmen für die Armen abgeschafft und die Geburtenrate dieser Menschen streng kontrolliert sehen, andernfalls werde die ganze Welt in Überbevölkerung, Chaos und Elend untergehen. Die – überzogene – Schwarzmalerei der Prognosen von Malthus ist nur zu begreifen, wenn man sich klarmacht, welche Angst in einem Gutteil der europäischen Eliten in den 1790er Jahren herrscht.

Ricardo: Das Knappheitsprinzip

Rückblickend ist es leicht, sich über diese Schwarzseher lustig zu machen. Man muss jedoch zur Kenntnis nehmen, dass die ökonomischen und sozialen Veränderungen am Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts objektiv beeindruckend, ja traumatisierend waren. Die meisten Beobachter der damaligen Zeit – nicht nur Young und Malthus – hatten düstere, wenn nicht gar apokalyptische Vorstellungen von der langfristigen Entwicklung der Vermögensverteilung und der Gesellschaftsstruktur. Das gilt insbesondere für David Ricardo und Karl Marx, die zweifellos die zwei einflussreichsten Ökonomen des 19. Jahrhunderts waren und davon ausgingen, dass sich eine kleine soziale Gruppe – die Grundbesitzer bei Ricardo, die Industriekapitalisten bei Marx – zwangsläufig einen ständig wachsenden Teil der Produktion und des Einkommens aneignen würden.[2]

Ricardo, der 1817 sein Werk Über die Grundsätze der Politischen Ökonomie und der Besteuerung veröffentlicht, richtet das Hauptaugenmerk auf die langfristige Entwicklung des Bodenpreises und der Höhe der Bodenrente. Ebenso wie Malthus verfügt er praktisch über keine statistische Quelle, die dieses Namens würdig wäre. Trotzdem kennt er den Kapitalismus seiner Zeit sehr gut. Er stammt aus einer Familie von jüdischen Finanzleuten portugiesischer Herkunft und scheint weniger politische Vorurteile zu haben als Malthus, Young oder Smith. Er ist zwar vom Malthusschen Modell beeinflusst, denkt aber weit darüber hinaus. Ihn interessiert vor allem das folgende logische Paradox: Wenn die Bevölkerung und die Produktion dauerhaft wachsen, wird der Boden im Verhältnis zu den anderen Gütern knapper. Das Gesetz von Angebot und Nachfrage müsste folglich zu einer anhaltenden Erhöhung des Bodenpreises und des an die Grundbesitzer gezahlten Pachtzinses führen. Letztere werden somit einen immer größeren Teil des Nationaleinkommens und der Rest der Bevölkerung einen immer kleineren Teil erhalten, was das soziale Gleichgewicht zerstören würde. Für Ricardo besteht die einzige logisch und politisch befriedigende Lösung in einer immer höheren Besteuerung der Bodenrente.

Wir werden sehen, dass sich diese düstere Vorhersage nicht bewahrheitet hat: Die Bodenrente ist zwar lange Zeit hoch geblieben, aber letztlich ist der Wert der landwirtschaftlichen Nutzflächen im Verhältnis zu den anderen Vermögensformen in dem Maße gesunken, in dem der Anteil der Landwirtschaft am Nationaleinkommen zurückging. Ricardo, der in den 1810er Jahren schrieb, konnte nicht ahnen, welches Ausmaß der technische Fortschritt und das Industriewachstum im Laufe des Jahrhunderts annehmen würden. Wie Malthus und Young war auch er nicht in der Lage sich vorzustellen, dass die Menschen sich einst von dem Mangel an Nahrungsmitteln und den Unwägbarkeiten der Landwirtschaft würden befreien können.

Dennoch ist seine Annahme in Bezug auf den Bodenpreis nicht uninteressant: Das «Knappheitsprinzip», von dem er ausgeht, kann dazu führen, dass manche Preise während vieler Jahrzehnte exorbitant hoch sind, was sich auf ganze Gesellschaften destabilisierend auswirken kann. Das Preissystem spielt eine unersetzliche Rolle bei der Koordinierung der Handlungen von Millionen – ja Milliarden von Menschen im Rahmen der neuen Weltwirtschaft. Das Problem ist, dass es weder Grenzen noch Moral kennt.

Es wäre falsch, die Bedeutung dieses Prinzips für die Analyse der weltweiten Verteilung der Vermögen im 21. Jahrhundert zu verkennen – man braucht nur im Modell Ricardos den Preis der Agrarflächen durch die Immobilienpreise in den Metropolen oder durch den Ölpreis zu ersetzen. Wenn man die in den Jahren 1970 bis 2010 beobachtete Tendenz für die Zeit von 2010 bis 2050 oder von 2010 bis 2100 fortschreibt, ergeben sich beträchtliche ökonomische, soziale und politische Ungleichgewichte sowohl zwischen den Ländern als auch innerhalb der Länder, die durchaus an Ricardos apokalyptische Vision denken lassen.

Es gibt im Prinzip einen sehr einfachen ökonomischen Mechanismus, der für ein Gleichgewicht sorgt: das Gesetz von Angebot und Nachfrage. Wenn ein Gut knapp und sein Preis zu hoch ist, muss die Nachfrage nach diesem Gut sinken, wodurch sich die Lage wieder entspannt. Anders gesagt: Wenn die Immobilienpreise und der Ölpreis steigen, genügt es, sich auf dem Land niederzulassen oder das Fahrrad zu nehmen (oder beides gleichzeitig). Aber abgesehen davon, dass dies ein wenig unangenehm und kompliziert sein dürfte, kann eine solche Anpassung einige Jahrzehnte dauern, in denen die Eigentümer von Immobilien und Öl so beträchtliche Forderungen gegenüber der restlichen Bevölkerung anhäufen können, dass ihnen schließlich dauerhaft alles gehört, einschließlich der Dörfer und Fahrräder.[3] Wie immer, muss das Schlimmste nicht eintreten. Es ist verfrüht, dem Leser anzukündigen, dass er seine Miete im Jahr 2050 an den Emir von Katar zahlen muss: Diese Frage wird zu ihrer Zeit zu untersuchen sein, und die Antwort, die wir darauf geben werden, wird differenzierter, wenn auch nur mäßig beruhigend sein. Aber es muss einem schon jetzt klar sein, dass das Gesetz von Angebot und Nachfrage eine solche Möglichkeit nicht ausschließt, nämlich ein erhebliches und dauerhaftes Auseinanderklaffen der Verteilung der Vermögen, bedingt durch extreme Ausschläge bestimmter relativer Preise. Das ist die wichtigste Botschaft des von Ricardo eingeführten Knappheitsprinzips. Wir müssen nicht würfeln.

Marx: Das Prinzip der unbegrenzten Akkumulation

Als Marx 1867 den ersten Band von Das Kapital veröffentlicht, also genau ein halbes Jahrhundert nach der Veröffentlichung der Grundsätze von Ricardo, haben sich die sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse grundlegend gewandelt: Es geht nicht mehr um die Frage, ob die Landwirtschaft eine wachsende Bevölkerung wird ernähren können oder ob der Bodenpreis astronomische Höhen erreicht, sondern darum, die Dynamik eines sich voll entfaltenden Industriekapitalismus zu verstehen.

Das auffälligste Merkmal der Zeit ist die elende Lage des Industrieproletariats. Trotz oder vielleicht wegen des Wirtschaftswachstums und der massenhaften Landflucht, die durch das Bevölkerungswachstum und die Steigerung der Produktivität in der Landwirtschaft verursacht wird, leben die Arbeiter zusammengepfercht in Elendsvierteln. Die Arbeitstage sind lang, die Löhne sehr niedrig. In den Städten entwickelt sich eine neue Not, die sichtbarer, schockierender und mitunter noch extremer ist als die Armut auf dem Land im Ancien Régime. Germinal, Oliver Twist oder Die Elenden sind nicht der Fantasie der Romanschriftsteller entsprungen, ebenso wenig wie die Gesetze, die die Kinderarbeit in den Fabriken unter acht Jahren (so in Frankreich 1841) sowie in den Bergwerken unter zehn Jahren (so im Vereinigten Königreich 1842) verbieten. Der Tableau de l état physique et moral des ouvriers employés dans les manufactures, der 1840 in Frankreich von dem Arzt Villermé veröffentlicht wird und den Anstoß zu der zaghaften Gesetzgebung von 1841 gibt, beschreibt die gleiche erbarmungswürdige Realität wie das Werk Die Lage der arbeitenden Klasse in England, das Engels 1845 herausbringt.[4]

Alle uns verfügbaren historischen Daten deuten darauf hin, dass die Kaufkraft der Löhne erst in der zweiten Hälfte – oder sogar erst im letzten Drittel – des 19. Jahrhunderts nennenswert steigt. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts (1800–1860) stagnieren die Arbeiterlöhne auf einem sehr niedrigen Niveau – sie liegen ungefähr bei denen des 18. Jahrhunderts und der vorausgegangenen Jahrhunderte und in manchen Fällen noch darunter. Diese lange Phase stagnierender Löhne, die sowohl in Großbritannien als auch in Frankreich zu beobachten ist, ist umso bemerkenswerter, als es in dieser Zeit ein rasches Wirtschaftswachstum gibt. Der Anteil des Kapitals – Gewinne aus Industrieunternehmen, Bodenrente, Mieten in den Städten – am Nationaleinkommen steigt in den beiden Ländern in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts stark an, so weit sich das der unvollständigen Quellenlage entnehmen lässt.[5] Er wird in den letzten Dekaden des 19. Jahrhunderts leicht zurückgehen, da die Löhne teilweise nachziehen. Die von uns gesammelten Daten weisen jedoch darauf hin, dass vor dem Ersten Weltkrieg keine strukturelle Verringerung der Ungleichheiten stattfindet. In der Zeit von 1870 bis 1914 kommt es bestenfalls zu einer Stabilisierung auf einem sehr hohen Niveau; in mancherlei Hinsicht existiert sogar eine nach oben offene Spirale der Ungleichheit, wobei insbesondere die Vermögen eine immer stärkere Konzentration aufweisen. Es ist schwer zu sagen, wohin dieser Weg geführt hätte, wäre es nicht zu den ökonomischen und politischen Verwerfungen im Gefolge der Kriegsjahre 1914–1918 gekommen. In der historischen Analyse und mit dem zeitlichen Abstand, den wir heute haben, erscheinen sie als die einzigen Kräfte, die seit der Industriellen Revolution zur Verringerung der Ungleichheiten geführt haben.

Das Anwachsen des Kapitals und der Gewinne aus Industrieunternehmen im Vergleich zu den Arbeitseinkommen ist in den 1840er Jahren so offenkundig, dass es jedermann bewusst ist, auch wenn damals niemand über repräsentative nationale Statistiken verfügte. In diesem Kontext entwickeln sich die ersten kommunistischen und sozialistischen Bewegungen. Die zentrale Frage lautet schlicht: Wozu ist die Entwicklung der Industrie gut, wozu sind all diese technischen Neuerungen gut, all diese Arbeit, diese Wanderungsbewegungen, wenn nach einem halben Jahrhundert industriellen Wachstums die Lage der Massen noch genauso schlecht ist und man sich gezwungen sieht, für Kinder unter acht Jahren die Arbeit in den Fabriken zu verbieten? Das Versagen des bestehenden politischen und ökonomischen Systems scheint auf der Hand zu liegen, ebenso die Frage: Was kann man über die langfristigen Entwicklungsperspektiven eines solchen Systems sagen?

Dieser Aufgabe widmet sich Marx. 1848, am Vorabend des «Völkerfrühlings», hatte er das Kommunistische Manifest veröffentlicht, einen kurzen und wirksamen Text, der mit den berühmten Worten «Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst des Kommunismus»[6] beginnt und mit der nicht weniger berühmten Vorhersage einer Revolution endet: «Mit der Entwicklung der großen Industrie wird also unter den Füßen der Bourgeoisie die Grundlage selbst hinweggezogen, worauf sie produziert und die Produkte sich aneignet. Ihr Untergang und der Sieg des Proletariats sind gleich unvermeidlich.»

In den folgenden zwei Jahrzehnten wird Marx die umfassende Abhandlung verfassen, die diesen Schluss rechtfertigen und die wissenschaftliche Analyse des Kapitalismus und seines Zusammenbruchs begründen sollte. Dieses Werk wird unvollendet bleiben: Der erste Band von Das Kapital wird 1867 veröffentlicht, und Marx stirbt 1883, ohne die beiden folgenden Bände fertiggestellt zu haben. Sie werden nach seinem Tod von seinem Freund Engels veröffentlicht werden, der sich auf die von Marx hinterlassenen mitunter unklaren Manuskriptfragmente stützt.

Wie Ricardo möchte auch Marx die Analyse der inneren logischen Widersprüche des kapitalistischen Systems zur Grundlage seiner Arbeit machen. Er will sich so zugleich von den bürgerlichen Ökonomen (die im Markt ein sich selbst regulierendes System sehen, das von sich aus ohne große Verwerfungen immer wieder einen Gleichgewichtszustand herstellen kann, ähnlich der «unsichtbaren Hand» von Adam Smith und dem Sayschen Theorem, wonach «das Angebot sich seine Nachfrage schafft») und von den utopischen Sozialisten à la Proudhon abgrenzen, die sich seiner Ansicht nach damit begnügen, das Elend der Arbeiter anzuprangern, ohne die ökonomischen Prozesse wissenschaftlich zu untersuchen.[7] Marx geht von Ricardos Modell des Kapitalpreises und dem Knappheitsprinzip aus und versucht die besondere Dynamik des Kapitals besser zu verstehen. Dabei legt er eine Welt zugrunde, in der nicht das Bodenkapital, sondern das Industriekapital (Maschinen, Ausrüstungen usw.) vorherrschend ist, das potenziell unbegrenzt akkumuliert werden kann. Seine wichtigste Schlussfolgerung könnte man in der Tat das «Prinzip der unbegrenzten Akkumulation» nennen, das heißt, die zwangsläufige Tendenz des Kapitals, sich ohne natürliche Grenze zu akkumulieren und zu konzentrieren – daher Marxens apokalyptische Vision: Es kommt entweder zu einem tendenziellen Fall der Profitrate (was den Motor der Akkumulation abwürgt und dazu führen kann, dass die Kapitalisten sich gegenseitig zerfleischen) oder zu einer unbegrenzten Zunahme des Anteils des Kapitals am Nationaleinkommen (was über kurz oder lang dazu führt, dass sich die Arbeiter vereinigen und aufbegehren). In all diesen Fällen ist kein stabiles sozio-ökonomisches oder politisches Gleichgewicht möglich.

Dieses düstere Schicksal hat sich ebenso wenig erfüllt wie das von Ricardo prognostizierte. Ab dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts sind die Löhne endlich gestiegen: Die Kaufkraft verbessert sich auf breiter Front, was zu einer radikalen Veränderung der Verhältnisse führt, auch wenn die Ungleichheit sehr groß bleibt und bis zum Ersten Weltkrieg in mancherlei Hinsicht noch weiter zunimmt. Die kommunistische Revolution hat zwar stattgefunden, dies aber im rückständigsten Land Europas, in dem die Industrielle Revolution noch in den Anfängen steckte (in Russland), während die fortgeschrittensten europäischen Länder andere, sozialdemokratische Wege beschritten, was für ihre Bevölkerungen ein Glücksfall war. So wie die vorausgegangenen Autoren hat auch Marx die Möglichkeit eines dauerhaften technischen Fortschritts und einer anhaltenden Produktivitätssteigerung völlig außer Acht gelassen. Wir werden sehen, dass diese Faktoren es – in einem gewissen Maße – ermöglichen, den Prozess der Akkumulation und zunehmenden Konzentration des Privatkapitals zu stabilisieren. Sicher fehlten Marx statistische Daten für die Verfeinerung seiner Prognosen. Hinzu kommt, dass er seine Schlussfolgerungen schon 1848 niedergeschrieben hatte, also vor Durchführung seiner Untersuchungen, die sie hätten rechtfertigen können. Marx schrieb in einer politisch aufgeheizten Atmosphäre, was mitunter zu übereilten Verkürzungen führte, aus denen man schwer wieder heraus findet – daher ist es unbedingt nötig, den theoretischen Diskurs mit möglichst vollständigen historischen Quellen zu verknüpfen, was Marx nicht in dem Umfang angestellt hat, wie es ihm möglich gewesen wäre.[8] Zudem hat sich Marx kaum die Frage gestellt, wie eine Gesellschaft, in der das private Kapitaleigentum völlig abgeschafft wäre, politisch und ökonomisch organisiert sein könnte – ein kompliziertes Problem, wie die dramatischen totalitären Improvisationen derjenigen Regime zeigen, die diesen Weg gegangen sind.

Wir werden allerdings sehen, dass die Marxsche Analyse trotz ihrer Grenzen in mehreren Punkten noch immer relevant ist. Zunächst geht Marx von einer echten Frage aus (einer unglaublichen Konzentration der Vermögen während der Industriellen Revolution) und versucht, mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln darauf eine Antwort zu geben: eine Vorgehensweise, an der sich die heutigen Ökonomen ein Beispiel nehmen sollten. Das von Marx herausgearbeitete Prinzip der unbegrenzten Akkumulation enthält für die Analyse des 21. Jahrhunderts wie für die des 19. Jahrhunderts eine fundamentale Einsicht, die in gewisser Weise noch beunruhigender ist als Ricardos Knappheitsprinzip. Wenn das Wachstum der Bevölkerung und der Produktivität relativ schwach ist, erlangen die in der Vergangenheit angehäuften Vermögen zwangsläufig eine beträchtliche, potenziell unverhältnismäßig große Bedeutung, die sich auf die betreffenden Gesellschaften destabilisierend auswirken kann. Mit anderen Worten: Ein schwaches Wachstum bildet nur ein schwaches Gegengewicht zum Marxschen Prinzip der unbegrenzten Akkumulation: Das führt zu einem Zustand, der zwar nicht so apokalyptisch ist wie der von Marx prognostizierte, aber dennoch Anlass zur Beunruhigung gibt. Die Akkumulation kommt an einem bestimmten Punkt zum Stillstand, aber das erreichte Niveau kann sehr hoch sein und destabilisierend wirken. Wir werden sehen, dass die seit den 1970er Jahren in allen reichen Ländern – insbesondere in Europa und Japan – festgestellte sehr starke Zunahme der Privatvermögen, gemessen am jährlichen Nationaleinkommen, sich direkt aus dieser Logik ergibt.

Von Marx zu Kuznets: Von der Apokalypse zum Märchen

Vergleicht man die Analysen von Ricardo und Marx mit denen von Simon Kuznets im 20. Jahrhundert, kann man sagen, dass die Wirtschaftswissenschaft, die eine ausgeprägte – und zweifellos übertriebene – Vorliebe für apokalyptische Prognosen hatte, einen nicht minder übertriebenen Hang zu Märchen oder zumindest zum «Happyend» entwickelt hat. Nach der Theorie von Kuznets verringert sich die Einkommensungleichheit in den fortgeschrittenen Stadien der kapitalistischen Entwicklung von selbst – welche Politik in einem Land auch verfolgt wird und welche Merkmale es aufweisen mag –, um sich dann auf einem akzeptablen Niveau zu stabilisieren. Die im Jahr 1955 vorgelegte Theorie[9] passt gut in die Welt der Trente Glorieuses.[10] Man braucht nur geduldig abzuwarten, dann wird das Wachstum allen zugutekommen. Ein angelsächsischer Ausspruch fasst diese Philosophie gut zusammen: «Wachstum ist eine Flut, die alle Boote nach oben trägt». Dieser Optimismus findet sich auch bei Robert Solow, der 1956 die Voraussetzungen für einen «ausgeglichenen Wachstumspfad» analysierte, das heißt für einen Wachstumspfad, auf dem alle Größen – Produktion, Einkommen, Gewinne, Löhne und Gehälter, Kapital, Börsenkurse, Immobilienpreise usw. – im gleichen Tempo steigen, so dass jede soziale Gruppe im gleichen Umfang von dem Wachstum profitiert, ohne dass ein größeres Gefälle entsteht.[11] Das ist das absolute Gegenteil der Ricardoschen und Marxschen Spirale der Ungleichheit und der apokalyptischen Analysen des 19. Jahrhunderts.

Um den beträchtlichen Einfluss der Theorie von Kuznets zu verstehen, der mindestens bis zu den 1980er Jahren spürbar war und bis zu einem gewissen Grad auch heute noch vorhanden ist, muss betont werden, dass es sich um die erste Theorie auf diesem Gebiet handelt, die auf einer gründlichen statistischen Arbeit basiert. Tatsächlich werden erst Mitte des 20. Jahrhunderts die ersten statistischen Reihen bezüglich der Einkommensverteilung erstellt, und zwar in dem 1953 veröffentlichten großen Werk von Kuznets mit dem Titel Shares of Upper Income Groups in Income and Savings. Die Reihen von Kuznets beziehen sich nur auf ein Land (die USA) und umfassen einen Zeitraum von 35 Jahren (1913–1948). Dennoch handelt es sich um einen wichtigen Beitrag, der zwei Quellen heranzieht, die den Autoren des 19. Jahrhunderts nicht zugänglich waren: einerseits die Einkommensteuererklärungen auf der Grundlage des 1913 in den Vereinigten Staaten eingeführten bundesweiten Einkommensteuergesetzes; andererseits die Schätzungen des Nationaleinkommens der Vereinigten Staaten, die einige Jahre zuvor von Kuznets erstellt worden waren. Zum allerersten Mal wurde ein so ehrgeiziger Versuch unternommen, die Ungleichheit in einer Gesellschaft zu messen.[12]

Ohne diese beiden unerlässlichen und sich ergänzenden Quellen ist es schlichtweg unmöglich, die Ungleichheit der Einkommensverteilung und ihre Entwicklung zu messen. Die ersten Versuche, das Nationaleinkommen zu schätzen, gehen im Vereinigten Königreich und in Frankreich auf das Ende des 17. und den Anfang des 18. Jahrhunderts zurück, im Laufe des 19. Jahrhunderts wurden diesbezügliche Bemühungen intensiviert. Aber es handelt sich stets um vereinzelte Schätzungen. Erst im 20. Jahrhundert, seit der Zwischenkriegszeit, werden die ersten jährlichen Reihen zum Nationaleinkommen erstellt, und zwar auf Initiative von Wissenschaftlern wie Kuznets und Kendrick in den Vereinigten Staaten, Bowley und Clark in Großbritannien oder Dugé de Bernonville in Frankreich. Diese erste Quelle ermöglicht es, das Gesamteinkommen eines Landes zu messen. Um die hohen Einkommen und ihren Anteil am Nationaleinkommen zu bestimmen, muss man allerdings überhaupt erst einmal über Angaben zu den Einkommen verfügen: Diese zweite Quelle ist in allen Ländern die progressive Einkommensteuer, die um den Ersten Weltkrieg herum fast überall eingeführt wurde (1913 in den Vereinigten Staaten, 1914 in Frankreich, 1909 in Großbritannien, 1922 in Indien, 1932 in Argentinien).[13]

Gibt es keine Einkommensteuer, existieren zwar alle möglichen Statistiken, die sich auf die geltenden Besteuerungsgrundlagen beziehen (z.B. die Verteilung der Zahl der Türen und Fenster pro Departement im Frankreich des 19. Jahrhunderts, was im Übrigen nicht uninteressant ist), aber nichts gibt Auskunft über die Einkommen. Die betreffenden Personen kennen ihr Einkommen zudem häufig selbst nicht, wenn sie es nicht angeben müssen. Gleiches gilt für die Körperschaftssteuer und die Vermögenssteuer. Die Steuer ist nicht nur ein Weg, die Bürger zur Finanzierung der öffentlichen Aufgaben und Projekte heranzuziehen und diese Belastungen möglichst akzeptabel zu gestalten; sie ermöglicht es auch, verschiedene Kategorien zu schaffen, Wissen zu generieren und demokratische Transparenz herzustellen.

Aufgrund dieser Daten kann Kuznets berechnen, wie sich der Anteil der verschiedenen obersten Dezile und Zentile der Einkommenspyramide am amerikanischen Nationaleinkommen entwickelt. Was stellt er fest? Dass die Ungleichheit in den Vereinigten Staaten zwischen 1913 und 1948 stark abgenommen hat. In den Jahren 1910 bis 1920 erhielt das oberste Dezil, das heißt 10 % der reichsten Amerikaner, jedes Jahr einen Anteil von 45–50 % des Nationaleinkommens. Am Ende der 1940er Jahre fiel der Anteil dieses obersten Dezils auf etwa 30–35 % des Nationaleinkommens. Der Rückgang von über 10 Prozentpunkten des Nationaleinkommens ist beträchtlich: Er entspricht beispielsweise der Hälfte des Einkommens der 50 % ärmsten Amerikaner.[14] Der Rückgang der Ungleichheit ist eindeutig und unbestreitbar. Dieser Befund hat erhebliche Bedeutung und wird großen Einfluss auf die ökonomischen Debatten in der Nachkriegszeit, in den Universitäten und in den internationalen Organisationen ausüben.

Vor vielen Jahrzehnten sprachen Malthus, Ricardo, Marx und viele andere über Ungleichheit, ohne jedoch dafür die geringste Quelle beizubringen und ohne eine Methode vorzuweisen, die einen genauen Vergleich der verschiedenen Zeiträume und damit die Bewertung der verschiedenen Hypothesen ermöglicht hätte. Erstmals liegt eine objektive Basis vor. Sie ist zwar unvollständig, aber es gibt sie zumindest. Außerdem ist die geleistete Arbeit äußerst gut dokumentiert: Der von Kuznets 1953 veröffentlichte umfangreiche Band legt auf transparente Weise alle Details über seine Quellen und Methoden dar, so dass jede Berechnung nachvollzogen werden kann. Zudem verkündet Kuznets eine gute Nachricht: Die Ungleichheit geht zurück.

Die Kuznets-Kurve: eine gute Nachricht im Kalten Krieg

Kuznets ist sich des weitgehend zufälligen Charakters dieses Rückgangs der hohen amerikanischen Einkommen zwischen 1913 und 1948 bewusst, der den vielen Verwerfungen im Zusammenhang mit der großen Weltwirtschaftskrise und dem Zweiten Weltkrieg geschuldet ist und nicht viel mit einem natürlichen und automatisch ablaufenden Prozess zu tun hat. In seinem umfangreichen Werk analysiert Kuznets seine Reihen detailliert und warnt den Leser vor einer vorschnellen Verallgemeinerung. Aber auf einer Konferenz, die er 1954 als Präsident der American Economic Association in Detroit ausrichtet, präsentiert er seinen Kollegen eine wesentlich optimistischere Interpretation der Ergebnisse seines Buches von 1953. In diese Konferenz, deren Beiträge 1955 unter dem Titel «Economic Growth and Inequality of Incomes» veröffentlicht werden, fällt die Geburtsstunde der «Kuznets-Kurve».

Dieser Theorie zufolge würde die Ungleichheit überall die Form einer «Glockenkurve» annehmen, das heißt im Prozess der Industrialisierung und der wirtschaftlichen Entwicklung zunächst zunehmen und dann abnehmen. Laut Kuznets würde eine Phase der natürlichen Zunahme der Ungleichheit in den ersten Stadien der Industrialisierung (in den Vereinigten Staaten würde sie im Großen und Ganzen dem 19. Jahrhundert entsprechen) von einer Phase des starken Rückgangs der Ungleichheit abgelöst werden (die in den Vereinigten Staaten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts begonnen hätte).

Die Lektüre seines Textes von 1955 ist aufschlussreich. Nachdem Kuznets zur Vorsicht gemahnt und dargelegt hat, dass externe Verwerfungen beim Rückgang der Ungleichheit in Amerika eine große Rolle gespielt haben, erwähnt er fast beiläufig, dass die innere Logik der wirtschaftlichen Entwicklung unabhängig von jedweder politischen Intervention und jedem externen Schock zum gleichen Ergebnis führen könnte. Demnach würde die Ungleichheit in den ersten Phasen der Industrialisierung zunehmen (nur eine Minderheit ist in der Lage, von dem neuen durch die Industrialisierung geschaffenen Reichtum zu profitieren), bevor sie sich in den fortgeschrittenen Phasen der Entwicklung von selbst zurückbildet (ein immer größerer Teil der Bevölkerung geht in die vielversprechenden Wirtschaftsbereiche, was automatisch zu einer Abnahme der Ungleichheit führt).[15]

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