Kontrollgewinn – Kontrollverlust
Die Geschichte des Schlafs in der Moderne
Campus Verlag
Frankfurt/New York
Über das Buch
Der Mensch verschläft ein Drittel seines Lebens. Doch wie schläft man »richtig«? Dieser Band präsentiert erstmals eine Geschichte des Schlafs, die die Perspektiven von Historikern, Literaturwissenschaftlern, Anthropologen und Medizinern zusammenführt. Die Autorinnen und Autoren diskutieren, wie sich Wahrnehmung, Bewertung und Organisation des Schlafs vom späten 18. bis zum 20. Jahrhundert verändert haben. Sie zeigen, auf welche Weise moderne Gesellschaften versuchten, Kontrolle über den Schlaf zu gewinnen und ihn in die »rationalisierte« Welt einzufügen. Sie skizzieren den Schlaf aber auch als eine Zeit, die sich der Kontrolle und Rationalisierung immer wieder entzog und so als Bastion gegen Ansprüche und Zumutungen der Moderne verstanden werden kann.
Über die Herausgeberin
Hannah Ahlheim, Dr. phil., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Göttingen.
Einleitung: Die Ambivalenz des Schlafens und die Geschichte der Moderne
Hannah Ahlheim
Wenn sich die Seele »ihrer Gewalt über die Maschine nicht bedienen« kann: Der Schlaf in Aufklärung und Romantik
Sonja Kinzler
Die helle Seite der Träume: Schlaf und Traum um 1800
Ingo Uhlig
Halbschlafbilder: Zur Ästhetik des Kontrollverlusts
Hans-Walter Schmidt-Hannisa
Über Wachen und Schlafen: Medizinische Schlafdiskurse im 19. Jahrhundert
Philipp Osten
Schlafen am Waldensee: Thoreau, abnormale Temporalität und der moderne Körper
Benjamin Reiss
Wer kürzer schläft, ist länger tot? Italo Svevo und der Neovitalismus um 1900
Marie Guthmüller
Experimentieren mit konsolidiertem Schlaf: Nathaniel Kleitman und die Herstellung moderner zirkadianer Rhythmen
Matthew Wolf-Meyer
Macht über den Schlaf: Vom Experimentieren mit Schlafentzug in den USA im 20. Jahrhundert
Hannah Ahlheim
Schlafforschung heute: Entwicklungen, Techniken und Motivationen der Praxis
Thomas Penzel
Autorinnen und Autoren
Dank
Hannah Ahlheim
»Es sieht so aus, als hätte die Welt auch uns Erwachsene nicht ganz, nur zu zwei Dritteilen; zu einem Drittel sind wir überhaupt ungeboren. Jedes Erwachen am Morgen ist dann wie eine neue Geburt.«1 Mit diesen Worten beschrieb Sigmund Freud vor fast 100 Jahren unseren allnächtlichen Schlaf. Die einfache Tatsache, dass der Mensch ein Drittel seiner Lebenszeit verschläft, gehört auf die erste Seite nahezu jeder Veröffentlichung zum Schlaf. Doch in Freuds vielzitiertem Satz steckt mehr als die Feststellung, dass jeder Mensch viel Zeit mit Schlafen verbringt. Im Schlaf, das legen Freuds Worte nahe, verlässt der Mensch für einige Stunden die Welt des Wachseins und des Erwachsenseins. Er ist in diesen Stunden so gut wie »ungeboren«, in einem Zustand also, den jeder Mensch erfahren hat und der sich doch dem Bewusstsein und der Erinnerung entzieht. Nicht umsonst ist Hypnos, der Schlaf, in der griechischen Mythologie der Zwillingsbruder des Todes.2
Der Schlaf ist aber nicht nur für den wachenden Geist unzugänglich und unfassbar, im Schlaf brechen sich auch Ängste, Wünsche und Irrationalität Bahn, die der Mensch nicht beherrschen kann. Gespenster nehmen Gestalt an, Phantasien werden erfahrbar und fühlbar, der Traum scheint Wege zu öffnen in innere Welten, die dem wachen Individuum nicht zugänglich sind. Die (Angst-)Phantasie, dass der Mensch im Schlaf und Traum die Herrschaft über sein Inneres verlieren könnte und damit angreifbar wird, begeistert auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts ein Millionenpublikum: Der Protagonist des Hollywood Blockbusters Inception war 2010 im Auftrag des US-Militärs unterwegs, um Menschen durch heimliches gemeinsames Träumen ihre Geheimnisse zu entreißen und ihnen Gedanken »einzupflanzen«, die auch ihr waches Handeln bestimmen sollen.3 Entzieht sich also ein Drittel unseres Lebens der rationalen Wahrnehmung, verliert der Mensch zwangsläufig allnächtlich seine Bewusstheit, seine Entscheidungsgewalt?
Der enge Zusammenhang zwischen dem Schlaf und der Erfahrung des Kontrollverlusts wird jedoch nicht nur während des Schlafens selbst erkennbar, wenn das Bewusstsein erlischt. Vielmehr kann der Mensch auch den Vorgang des Einschlafens, Durchschlafens und Ausschlafens nicht wirklich steuern. »Wir können den Schlaf nicht direkt kontrollieren«, das stellte der an der Universität Tübingen beschäftigte Neurowissenschaftler und Schlafforscher Jan Born in einem Interview im Jahr 2013 fest.4 Schlaf lasse sich nicht erzwingen, er funktioniere nach seinen eigenen Regeln, die die Wissenschaft noch immer nicht entdeckt und verstanden habe. Man könne daher letztlich nur versuchen, empfahl Born, dem Schlaf gegenüber »ein gelassenes Verhältnis zu entwickeln«5.
So ein »gelassenes Verhältnis« zum Schlaf scheint allerdings nicht einfach zu haben zu sein. In westlichen Industriegesellschaften ist die Angst vor einem Verlust und den Störungen des Schlafes omnipräsent. Experten schreiben über die »unausgeschlafene«6 oder »schlaflose Gesellschaft«7, Schlafstörungen gelten als ernstzunehmende »Zivilisationskrankheit«8, die große Teile der Bevölkerung angreift; die Schlafmedizin hat sich als eigenständiges Feld etabliert. Jedes Jahr erscheinen unzählige Feuilletonartikel, Sonderhefte und Sonderbeilagen zum Thema Schlaf, tausende Ratgeber, Internetseiten, Fernseh- und Radiosendungen geben Tipps, wie man »richtig« und »gut« schläft. Verschiedenste Hilfsmittel sollen helfen, den »gesunden« Schlaf wieder zu finden, Therapien, Medikamente, teure Matratzen, Kopfkissen und Schlafzimmereinrichtungen versprechen den »gesunden Schlaf«, und Handy-Apps sollen den perfekten Zeitpunkt fürs Aufwachen errechnen.9 »Richtig« schlafen ist eine wichtige Aufgabe im gesellschaftlichen Alltag, der der Einzelne viel Energie widmen kann – dabei wissen wir noch nicht einmal genau, warum wir eigentlich überhaupt schlafen, gab der Schweizer Schlafexperte Alexander Borbély noch 2005 zu.10
Schlafen scheint also in vielerlei Hinsicht einen Verlust von Kontrolle mit sich zu bringen, es nimmt den Menschen regelmäßig »aus der Welt« und beraubt ihn seines Bewusstseins. Gleichzeitig ist er aber für jedes Lebewesen ein lebensnotwendiges, ganz konkretes und sehr »weltliches« Bedürfnis, das das Alltagsleben prägt. Jeder Mensch braucht Schlaf, und jede Gesellschaft muss dem Einzelnen Zeit und Raum für seinen Schlaf zur Verfügung stellen. An der Schlafkultur einer Gesellschaft hängen dabei nicht nur das Lebensglück und die Gesundheit des Einzelnen, Schlaf ist auch wichtige »Ressource«. »Die Bedeutung des Schlafs« sei in unserer 24-Stunden-Gesellschaft »unterschätzt«, warnte im Jahr 2000 etwa der Schlafforscher Jürgen Zulley auf einem Symposium zum Thema »Schlaf und Ökonomie«. Die »chronologischen Bedürfnisse« des Menschen, hält er fest, müssten »sorgfältig eingeplant« werden in die Abläufe des Alltags, sonst seien »Gesundheit, Lebensfähigkeit und Leistungsfähigkeit beeinträchtigt«.11
Mit der Erfahrung des Verlusts von Kontrolle geht damit auch der Wunsch nach einem kontrollierten Schlaf einher, der die Bedürfnisse des Einzelnen erfüllt und dennoch »einplanbar« ist in den Ablauf des sozialen und ökonomischen Lebens. Am schlafenden Menschen werden Organisationsmuster und Machtverhältnisse verhandelt, die für das Funktionieren einer Gesellschaft entscheidend sind, und bei der Beschäftigung mit dem Schlaf geraten Grundstrukturen und Grundkonflikte menschlichen Zusammenlebens in den Blick. Der Ort und die Zeit, die dem Schlaf im Alltag zugewiesen werden, geben etwa Aufschluss darüber, welche Verfügungsgewalt der Einzelne hat über seine Bedürfnisse, seine Träume, seine Gesundheit und seine Arbeitskraft. Die Debatten, die Experten, Wissenschaftler, Ärzte, Theologen, Politiker und »Jedermann« um den Schlaf führen, zeigen, welche Vorstellungen vom Menschen, von seinem Wesen, seinem Körper, seiner Seele, seinem Gehirn, seinem Bewusstsein und seinem Willen vorherrschen.
Während der Schlaf lange vor allem Gegenstand der medizinischen, psychiatrischen und biologischen Forschung war, haben in den letzten Jahren auch Sozial- und Geisteswissenschaftler entdeckt, dass die Erforschung des Schlafs als soziales, kulturelles, politisches und ökonomisches Phänomen Rückschlüsse zulässt auf den Alltag, die Organisation und die Grundmuster einer Gesellschaft. Sie untersuchen daher die verschiedenen Schlafkulturen der Welt, fragen nach der kulturellen, sozialen und politischen Bedeutung des Schlafs in den jeweiligen Ländern und Kulturen und begründen die Relevanz des Themas für die Geistes- und Gesellschaftswissenschaften.12 Es sind erste Arbeiten erschienen, die eine Geschichte des Schlafs in verschiedenen Epochen begründen und versuchen, durch die Rekonstruktion dieser Geschichte grundlegende Erkenntnisse über vergangene Lebenswelten zu gewinnen.13 Hinzu kommen einige wenige meist kulturwissenschaftliche Arbeiten zur Geschichte des Bettes und des Wohnens14 und zur Geschichte der Nacht und der Großstadt, die ebenfalls Anknüpfungspunkte für eine Geschichte des Schlafs bieten.15
Die historischen Arbeiten, die sich mit dem Schlaf und dem Traum beschäftigen, legen ihren Schwerpunkt auf die Geschichte der europäischen und nordamerikanischen Kulturen. Viele Studien nehmen dabei insbesondere den Wandel des Schlafs im Laufe des »Zivilisationsprozesses« und im Übergang von vormodernen in »moderne« Zeiten in den Blick und orientieren sich an den Periodisierungen einer Geschichte der westlichen Industriegesellschaften.16 Öffentlich wahrgenommen wurden in letzter Zeit die Thesen des US-amerikanischen Historikers Roger Ekirch, der eine erste Arbeit zur Geschichte des Schlafs in der Neuzeit verfasst hat. Ekirch interpretiert das heute gängige Verständnis vom Schlaf als Phänomen der industrialisierten Welt:17 Bis ins 18. Jahrhundert hinein, so Ekirch, sei ein wesentlich flexiblerer, zweigeteilter »vorindustrieller« Nachtschlaf verbreitet gewesen, und in der Pause zwischen dem »ersten« und dem »zweiten« Schlaf seien im Dämmerzustand »uralte Wege«18 zu unserer Psyche gangbar gewesen, die der Mensch in den folgenden Jahrhunderten verloren habe. Erst die Definition eines »richtigen«, 8-stündigen Nachtschlafs, der sich in den industriellen Alltag einpassen lasse, habe dann jede andere Form des Schlafs als »gestört« erscheinen lassen.
Ekirchs Arbeiten weisen wie auch andere Studien zur Geschichte des Schlafs darauf hin, dass in unserer Gesellschaft als »naturgegeben« verstandene Bedürfnisse wie der 8-stündige Nachtschlaf durchaus zeitgebundenes Produkt historischer Entwicklungen sein können. Der Umgang mit dem schlafenden Menschen und die Vorstellungen, die sich Menschen vom Schlaf machten, waren veränderlich. Angesichts von Ekirchs Thesen, aber auch angesichts der für die Moderne als charakteristisch begriffenen Entwicklungen in der Wirtschaft, der Wissenschaft, im sozialen Gefüge und der politischen Organisationsform »westlicher«, industrialisierter Gesellschaften scheint es nahe zu liegen, die Geschichte des Schlafs in der Moderne wie auch Ekirch als Geschichte der »Rationalisierung«, der wachsenden, immer genaueren Kontrolle und der An- und Einpassung des Individuums zu erzählen. Das Wissen über den Schlaf wurde immer differenzierter, neue Theorien und Messmethoden versprachen ungeahnte Möglichkeiten, das »Geheimnis« des Schlafs zu lüften und die Zeit des »Ungeborenseins« unter Kontrolle zu bekommen. Mit den neuen Erkenntnissen und der Etablierung von »Schlafexperten« stiegen auch die Ansprüche an den Einzelnen, seinen Schlaf und seine Träume zu ordnen, zu nutzen und in den Rhythmus des industriellen Alltags einzupassen. Der Schlaf scheint so ein geradezu paradigmatischer Gegenstand zu sein für die Theorien der »Subjektivierung«, die nach den Mechanismen und »Technologien« fragen, mit denen das moderne Subjekt durch die »Mikrophysik der Macht« im Alltag (sich selbst) regiert und regiert wird.
Im Anschluss an die in den Kulturwissenschaften und in der Soziologie diskutierten Konzepte zur »Genealogie des Subjekts«, die meist auf die Arbeiten von Michel Foucault zurückgehen, sind seit den 1990er Jahren auch zahlreiche historische Studien erschienen, die sich einer Geschichte moderner Subjektivität, einer Geschichte des Körpers und auch der Emotionen zuwenden.19 Als gemeinsamen Ausgangspunkt der Arbeiten zur »Subjektivierung« sieht der Soziologe Andreas Reckwitz die Idee der »Dezentrierung des Subjekts«20, die Vorstellung also, dass das Subjekt an sich sowohl in seiner körperlichen als auch in seiner seelischen Verfasstheit selbst Produkt gesellschaftlich-kultureller Strukturen und Machtverhältnisse ist. »Der Mensch erzeugt den Menschen«, um diesen Satz von Karl Marx kreisten seine Überlegungen, so beschreibt es Foucault an einer Stelle selbst.21 Das Subjekt sei, so fasst Reckwitz die Ideen der »Subjektivierung« zusammen, hier nicht das »Individuum«, das etwa die klassische Subjektphilosophie gedacht habe, sondern »die sozial-kulturelle Form der Subjekthaftigkeit, in die der Einzelne sich einschreibt«22. Die Moderne betreibe »in ihren Institutionen und Diskursen eine konsequente, machtvolle Formierung ihrer Individuen zu Subjekten der Selbst- und Affektkontrolle, selbst dort wo freie Entscheidung am Werk zu sein scheint«23.
Mit der Annahme, dass das moderne Subjekt durch »Mikropolitik« überhaupt erst konstituiert werde und dass die Formung des Subjekts sich immer durch Macht und Disziplinierung vollziehe, gehe jedoch, so sehen es Foucaults Kritiker, die Idee vom aufgeklärten oder zumindest aufklärungsfähigen, willensbestimmten, handlungsfähigen Individuum vollkommen verloren. Foucaults »Aporie einer totalisierenden Vernunftkritik«24 lasse keinen Raum mehr für ein bewusstes oder widerständiges Subjekt in der modernen Gesellschaft, und die Idee eines lediglich durch die »unentwegten Konditionierungen« hergestellten »artifiziellen« Psychischen sei dann vielleicht doch zu kurz gedacht,25 resümiert etwa Axel Honneth. Die Idee der »Subjektivierung«, so fasst Thomas Lemke die Kritik an Foucault zusammen, könne letztlich der »Zweideutigkeit des modernen Rationalisierungsprozesses«26 nicht gerecht werden, der nach der Grundidee der »Dialektik der Aufklärung« das Subjekt auf der einen Seite zwar einpasst, auf der anderen Seite aber auch seine Emanzipation fordert und ermöglicht.27
Eben diese »Zweideutigkeit des Rationalisierungsprozesses«, der »Doppelcharakter von Subjektivierungsprozessen als Unterwerfung und Selbstkonstitution«28 kann am Beispiel der Geschichte des Schlafs untersucht und aufgezeigt werden. Vor dem Hintergrund der oben skizzierten und auch in der Geschichtswissenschaft präsenten Theorien der »Subjektivierung« scheint auf den ersten Blick der Gewinn von Kontrolle über den Schlaf, der in der Zeit vom späten 18. bis ins 20. Jahrhundert durch die Etablierung der modernen Wissenschaften, aber auch durch die Vorstellung eines seiner Sinne, Seele und Körperfunktionen mächtigen Menschen vorangetrieben wurde, vor allem disziplinierende Wirkung zu haben. Der Schlaf wurde neu organisiert, die Menschen schliefen zu vorgeschriebenen, in den industriellen Alltag eingetakteten Zeiten in »gesunden« Betten. Wer »schlafgestört« war, wurde Behandlungen und Therapien unterworfen, und auch der Traum des Einzelnen konnte nun analysiert, gedeutet und »genutzt« werden.
Doch gleichzeitig können diese Entwicklungen eben auch als Ermächtigung des Subjekts gelesen werden: Der Traum verlor spätestens durch die Ideen der Psychoanalyse seine mystische Gestalt und wurde zu einem sehr »weltlichen« Produkt des wachen Erlebens. Die Physiologie untersuchte den Schlaf als »normalen« und nachvollziehbaren körperlichen Vorgang, Schlafstörungen und Krankheiten konnten nun beschrieben, verstanden und behandelt werden. Der Mensch, so könnte man argumentieren, war auf dem Weg, sich vom mystischen »Geheimnis des Schlafs« zu befreien und auf selbstbestimmte oder zumindest bewusste Art und Weise mit seinem Körper, aber auch mit seiner träumenden Seele umzugehen.
Dieses Doppelspiel kann auch im Kontrollverlust betrachtet werden, der mit dem scheinbaren Kontrollgewinn über den Schlaf und den Traum einherging. Auf den ersten Blick bedeutet die dauernde Erfahrung des Kontrollverlusts, des fehlenden Bewusstseins während des Schlafs und der Arationalität des Schlafens und Träumens eine Einschränkung für die Emanzipationsmöglichkeiten des Menschen. Mit dem neuen, als »rational« beschriebenen Wissen wuchs die Aufmerksamkeit dafür, dass etwa gestörter oder fehlender, gar unkontrollierbarer Schlaf den Menschen anfällig und verletzlich macht. Doch andererseits, und hier wird wieder der »Doppelcharakter« der Entwicklung deutlich, braucht der Mensch die »Auszeit« während des Schlafs nicht nur, er sehnt sich auch nach ihr und kann sie genießen: Schlafen eröffnet im alltäglichen Erleben Freiräume, Träume, Triebe; Phantasien und Emotionen können ausgelebt werden. Schlafen ermöglicht ein »Ausklinken« aus dem Alltag, wer im Bett bleibt, entzieht sich den Anforderungen der Gesellschaft. Schlafen kann damit in bestimmten Situationen durchaus auch als emanzipativer Akt verstanden werden.
Geht man der Frage nach dem Gewinn und dem Verlust von Kontrolle über den Schlaf in der modernen Gesellschaft nach, erhält die Frage nach der »Dialektik der Aufklärung« also von Neuem an Relevanz. Es gilt, eben die Ambivalenz und die »Ungleichzeitigkeiten« der Entwicklung herauszuarbeiten und so der zentralen Frage nachzugehen, »wie sich das moderne Subjekt« in einer »Sequenz von Kulturkonflikten« »modellieren soll und kann«.29 Vorstellungen von einer fortschreitenden und per se fortschrittlichen »Modernität« müssen dabei ebenso kritisch hinterfragt werden wie der Begriff der »Rationalität«, der vielen Beschreibungen und Analysen der industrialisierten Gesellschaft zu Grunde liegt.30 Um sich von klassischen »modernisierungstheoretischen« Ansätzen abzugrenzen, betonen etwa die aktuell diskutierten »Kulturtheorien der Moderne« vor allem die »kulturelle Produktion von Rationalität«31 und von »Wahrheit«32, die nicht einfach als Phänomene des von den Veränderungen der materiellen Basis bestimmten »Überbaus« abqualifiziert werden dürften. So ist es etwa eine Aufgabe einer Geschichte des Schlafs, nachzuvollziehen, ob, wann und warum die immer wieder vertretene, letztlich aber ahistorische Idee eines »eigentlichen«, »natürlichen« Schlafs, zu dem die Menschheit mit Hilfe der »rationalen« Wissenschaft zurückkehren könne, ihre Wirkungsmacht entfaltete.
Gleichzeitig ist die Zeit seit dem Ende des 18. Jahrhunderts aber unbestreitbar auch geprägt von einschneidenden materiellen, ökonomischen, sozialen und politischen Veränderungen. Es gilt in einer historischen Analyse Ökonomie und Kultur, Wissen und Soziales, Politisches, Privates und Alltägliches miteinander zu verbinden und gegeneinander zu setzen. Der vorliegende Band versammelt daher aktuelle Arbeiten von Wissenschaftlern aus unterschiedlichen Disziplinen, die in den letzten Jahren begonnen haben, sich mit verschiedenen Ansätzen und auf der Basis von unterschiedlichem Material einer Geschichte des Schlafs vom ausgehenden 18. bis zum späten 20. Jahrhundert nähern. Um die Widersprüchlichkeit der Geschichte des Schlafs und das Zusammenspiel von Ideen, Institutionen, sozialen und ökonomischen Entwicklungen an einem Beispiel fassbar zu machen und herausarbeiten zu können, nehmen die Autorinnen und Autoren des Bandes die Begriffe des Kontrollgewinns und des Kontrollverlusts zum Ausgangspunkt ihrer Überlegungen. Sie zeigen, dass beide Phänomene, sowohl der Gewinn von Kontrolle über das schlafende Subjekt als auch die unvermeidbare Erfahrung des Kontrollverlusts im Schlaf und bei den Versuchen zu schlafen, in sich dialektisch gedacht werden müssen. Die Autoren und Autorinnen folgen dabei der in der deutschen Geschichtswissenschaft üblichen Setzung der Epochenschwelle zwischen der Frühen Neuzeit und der »Moderne« in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Die scheinbar klare Abgrenzung einer vermeintlich »modernen« Welt gegen eine »vormoderne«, »traditionelle« Gesellschaft soll jedoch nicht einfach an- und hingenommen werden.33 Es geht vielmehr darum, die »Ungleichzeitigkeiten« und Gegenläufigkeit der Entwicklung herauszuarbeiten und das Zusammenspiel von Altem und Neuem, von Kontinuitäten und Brüchen nicht nur zu Beginn der Moderne, sondern auch in ihrer Entwicklung zu untersuchen.
Da sich das Feld einer gesellschaftswissenschaftlichen und historischen »kritischen Schlafforschung« gerade erst zu entwickeln beginnt, kann es hier nicht darum gehen, eine konzise, vollständige und »einheitliche« Geschichte des Schlafs in der Moderne zu präsentieren. Unter der gemeinsamen Frage nach Kontrollgewinn und Kontrollverlust sollen stattdessen unterschiedliche Aspekte einer Geschichte des Schlafs vorgestellt werden, um die Möglichkeiten und Grenzen einer »Schlafgeschichte« auszuloten. Die Zusammenarbeit von Historikern, Literaturwissenschaftlern, Anthropologen und Medizinern erweist sich im Falle einer Geschichte des Schlafs als außerordentlich fruchtbar. Populäre Vorstellungen vom Schlaf werden zu einem großen Teil formuliert und tradiert in Form von literarischen Texten, als Figuren und Geschichten, in die wiederum neue oder auch überholte wissenschaftliche Ideen einfließen. Die Bedeutung, aber auch die Wandelbarkeit und Zeitgebundenheit bestimmter literarisch verhandelter Bilder vom Schlaf werden sichtbar, wenn sie in Verbindung gesetzt werden zu wissenschaftlichen Traktaten, Techniken, Institutionen und Experimenten oder zu den sich wandelnden Praktiken des Schlafens, etwa in Schlafhäusern, einsamen Hütten oder Schlaflaboren. Auf der Basis ihres vielfältigen Materials können die Autorinnen und Autoren so Ideen- und Wissensgeschichte mit Kultur- und Sozialgeschichte verbinden und aus unterschiedlichen fachlichen Blickwinkeln konstitutive Elemente einer Geschichte der Moderne diskutieren.
Im ersten Beitrag des Bandes geht Sonja Kinzler der Frage nach, auf welche Weise das säkulare Menschenbild der »Aufklärung« auch mit veränderten Vorstellungen vom Funktionieren des menschlichen Körpers und des Schlafs einherging. Sie beschreibt, wie Schlaf und Ermüdung zunächst vor allem auf der Grundlage der cartesianischen Schlaftheorie und neuer wissenschaftlicher Theorien und Methoden nicht mehr als göttliches Eingreifen in das alltägliche Leben, sondern mechanistisch als durchaus steuerbare »Körperfunktion« verstanden werden konnten. Damit seien aber auch die verbreiteten Ideen der Diätetik zur »Selbstperfektionierung nach dem Prinzip der Mäßigung« auf das Schlafen angewendet worden, wie Kinzler anhand von »Gesundheitsratgebern« des späten 18. und 19. Jahrhunderts zeigen kann. Doch die »Kontrollanstrengungen« der Aufklärer hatten Grenzen: So betonte die Romantik die Lust an Grenzerfahrung und Kontrollverlust und die im 19. Jahrhundert verbreitete »Reiztheorie« sah die Ursache für die »Unbeherrschbarkeit« des Schlafs in den schwer zu beeinflussenden äußeren Lebensbedingungen des Individuums.
Ingo Uhlig greift die Idee wachsender Kontrollphantasien und -ansprüche im Zuge der Aufklärung auf und nimmt die in dieser Zeit in literarischen Texten häufig dargestellten »Schläferfiguren« in den Blick, deren viel thematisierte Ermüdung er als Nachdenken über die »Konsequenzen der Aufklärung selbst« liest. Die »Schläfer«, Robespierre etwa oder Wallenstein, seien meist die gealterten Protagonisten einer vernunftgeleiteten Revolution, die am Ende ihres Schaffens realisierten, dass sich der in Gang gesetzte historische Prozess doch »ihrer Kontrolle und Planung« und der Steuerung entziehe. Im Gegenzug richte sich dann der »Willensakt« dieser Figuren gegen den Willen selbst – der Wunsch nach Schlaf könne als Wunsch nach einem Zustand der Willenlosigkeit gelesen werden. So würden in der Figur des »Schläfers« die Überforderung des Individuums durch Ansprüche einer neuen Weltsicht und eines neuen Geschichtsverständnisses verhandelt, die dem Menschen die Entscheidungsgewalt über die Geschicke der Welt zuschrieben und ihn aufforderten, die »Knechtschaft« des Schlafs zu überwinden.34
Im Gegensatz zu den »Schläfern«, so Uhlig weiter, konnten jedoch die jungen, uninformierten und weltfernen »Träumer« den Moment beherrschen und (Kunst-)Werke schaffen, auch wenn sie dabei ebenfalls nicht in ein »zweckursächliches Verhältnis zur Welt« treten. Dass die von den Vertretern der Aufklärung als »verstörend« empfundene Erfahrung schwindenden Bewusstseins beim Einschlafen dann im Verlauf des 19. Jahrhunderts immer deutlicher als produktives Moment der Befreiung und Selbsterkenntnis verstanden wurde, führt Hans-Walter Schmidt-Hannisa in seinem Text über die »Halbschlafbilder« aus, die dem Einschlafenden erscheinen und oft als »Vorboten der Träume« gedeutet werden. Während Georg Christoph Lichtenberg mit seiner Einschätzung, dass das Träumen im Schlaf ein ebenso schätzenswerter Bewusstseinszustand sei wie das Wachen, noch relativ allein gestanden habe, nutzte Jean-Paul die »Halbschlafbilder« nicht nur, um die Grenzen der Souveränität des Ich zu erforschen, sondern entdeckte das ästhetische Potential dieses Zustands. Wilhelm Dilthey begriff die »Schlummerbilder« in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gar als »Urphänomene des Dichtens«, und zu Beginn des 20. Jahrhunderts gewann die Idee einer künstlerischen Produktivität, die auf Kontrollverlust basiert, noch einmal an Relevanz. Die Angst vor dem Verlust des Bewusstseins beim Einschlafen, so Schmidt-Hannisa, konnte schließlich als »Befreiung zum wahren Sein und als notwendige Bedingung für die Entstehung wahrer Kunst« erscheinen.
Philipp Ostens Beitrag widmet sich den Konflikten, die sich aus der auch von Schmidt-Hannisa beschriebenen Faszination für Zustände des Schlafens und Träumens und dem neuen »rationalen«, wissenschaftlichen Umgang mit dem Schlaf ergaben. Am Beispiel eines südwestdeutschen Ärztekollegiums stellt Osten zunächst dar, warum mit den Ideen der Aufklärung und der frühen Naturwissenschaften im ausgehenden 18. Jahrhundert auch das Interesse für ein scheinbar überrationales Phänomen stieg, für den Somnambulismus. Die Experten hofften mit Hilfe der genauen Fallanalyse von »clairvoyanten« Schlafwandlern einen Blick auf das »Absolute« werfen zu können, denn die Somnambulen überwanden, so die Vorstellung, in ihrem Zwischenzustand die engen Grenzen des wachenden menschlichen Geistes. Am Beispiel von zwei Fällen kann Osten nachvollziehen, welche Herausforderungen die Arbeit mit jungen »Somnambulen« für die Ansprüche und Methoden einer im Selbstverständnis »rationalen« Wissenschaft mit sich brachte, die ihre Deutungshoheit etwa gegen einen tief verwurzelten Volksglauben behaupten musste und in lokalpolitische Rivalitäten zwischen herrschenden Gruppierungen verwickelt wurde. Eine »Ordnung« der somnambulen Seele und des somnambulen Körpers gelang den Experten jedoch nicht, und als Konsequenz verschwand die komplizierte Frage nach der Seele im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts schließlich ganz aus den Schlafdiskursen der süddeutschen Ärzte. Die Mitarbeiter der frühen »Gesundheitsbehörde«, das zeigt Osten im zweiten Teil seines Beitrags, wandten sich lieber den fassbaren Betten und messbaren Zeiten zu, in denen geschlafen wurde und die mit Hilfe von Hausregeln und Vorschriften »geordnet« werden konnten.
Sowohl den im Laufe des 19. Jahrhunderts steigenden Druck zur »Ordnung« des Schlafs als auch den bereits in den »Schläferfiguren« verhandelten Wunsch von Individuen, aus ihrer Zeit »auszusteigen«, nimmt auch Benjamin Reiss am Beispiel von Thoreaus berühmtem tagebuchähnlichen Text Walden aus dem Jahr 1854 in den Blick. Thoreau beschreibe mit Hilfe einer »Rethorik des Schlafs« die auch körperlich spürbaren Verwerfungen, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch den neuen, industriellen Alltag und seine neuen Rhythmen der Arbeit und des Lebens, durch Konsum und Mobilität entstanden seien und denen er in der Einsamkeit der Hütte am Waldensee zu entkommen versuchte. Thoreaus Text lasse sich lesen als Suche nach dem »natürlichen«, der standardisierten Zeit der modernen Gesellschaft nicht unterworfenen Rhythmus des Lebens, der sich im Schlafen und Wachen manifestiere. Walden sei dabei auch ein Protest gegen den Griff der Moderne nach dem »Gehirn« des Individuums und gegen den Zwang zur »Objektivierung« alles Bewussten und Unbewussten, und Reiss beschreibt Thoreau als einen der ersten »hypnocritics«, der die soziale Prägung des Schlafs thematisiere. Doch gleichzeitig, das arbeitet Reiss heraus, kann Thoreau durchaus als ein »moderner« Schläfer gelten. Auch er wollte den Schlaf »arbeiten lassen«, er strebte nach »Wachsein«, und der Aufenthalt in Walden kann eben auch als ein Versuch gelesen werden, den Schlaf auf bestimmte Art und Weise zu »kontrollieren«. Denn auch Thoreau selbst, das denkt Reiss zumindest an, kämpfte mit Schlafstörungen, die ihn möglicherweise auch zum sozialen »Außenseiter« machten und die Phantasie stärkten, aus dem ganzen 19. Jahrhundert ausbrechen zu wollen.
Auch wenn der Schlaf scheinbar immer enger an die Rhythmen des modernen Lebens gebunden war und der Zwang zur »Objektivierung« von Bewusstseinszuständen wuchs, konnte doch die Wissenschaft den Schlaf noch immer nicht fassen. Den Schwierigkeiten, den Schlaf mit Hilfe wissenschaftlicher und medizinischer Erkenntnisse zu erforschen oder gar zu erklären, ging an der Wende zum 20. Jahrhundert der norditalienische Schriftsteller Italo Svevo nach. Er setzte in seinen Geschichten »augenzwinkernd eine Problematik in Szene, die nicht nur Freud, sondern auch andere psychophysiologische Autoren der Jahrhundertwende umtreibt«: Die Frage nämlich, ob denn auch die psychischen Funktionen des Menschen mit den zu seiner Zeit gängigen quantifizierenden Theorieansätzen der Physiologie zu fassen seien. Svevos Geschichten vom Schlaf, resümiert Marie Guthmüller, ermöglichen damit einen Blick auf die »Fragen der Lebens- und Psychowissenschaften um 1900«, der die linearen Fortschrittserzählungen einer »konventionellen Wissenschaftsgeschichte« auf die Probe stelle. Indem Svevo nämlich mit dem zwischenzeitlich als »überholt« begriffenen Konzept einer vis vitalis spiele, die durch Schlaf oder Wachen gespart oder verbraucht werden könne, entwerfe er einen »Zerrspiegel divergierender energetischer Konzepte« und weise darauf hin, dass trotz der »Revolution der Wissenschaften« grundlegende Fragen nach dem Funktionieren des menschlichen Organismus und dem »Wesen des Schlafs« noch immer unbeantwortet waren.
Die »Wissenschaft« vom Schlaf machte in den folgenden Jahrzehnten dann große Fortschritte, mit der Erfindung des EEG am Ende der 1920er Jahre konnte der Zustand der Schlafens erstmals »aufgezeichnet« werden, und im Schatten des Zweiten Weltkriegs und des Kalten Kriegs im »Zeitalter der Extreme« entstand in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts schließlich die moderne Schlafforschung.35 Sie machte neue Formen des Wissens vom Schlaf populär, das Schlaflabor wurde zum festen Bestandteil des klinischen Alltags, aber auch der psychiatrischen, arbeitsmedizinischen und militärischen Forschung, und die Schlafexperten trugen durch vielfältiges Engagement bei zur »Verwissenschaftlichung des Sozialen«, die die Geschichtswissenschaft als genuines Merkmal industrialisierter und »wissensbasierter« Gesellschaften beschreibt.36
Matthew Wolf-Meyer geht in seinem Beitrag der Frage nach, auf welche Weise die Methoden und Erkenntnisse der modernen Schlafforschung das Verständnis von Schlaf in der US-amerikanischen Gesellschaft geprägt und beeinflusst haben – und vice versa. Am Beispiel von zwei Experimenten zum Schlafrhythmus aus den 1930er und 1940er Jahren zeigt Wolf-Meyer, dass die Ergebnisse einer positivistischen Schlafforschung den Schlaf der US-amerikanischen Gesellschaft bis zu einem gewissen Grad mit »herstellten«. Der Schlafforscher Nathaniel Kleitman habe zunächst normative Vorstellungen vom »richtigen« Schlaf in den scheinbar jungfräulichen Raum seines Labors getragen, indem er das Design seiner Experimente zum Schlafrhythmus auf der Annahme aufbaute, dass es im menschlichen Tagesrhythmus eine einzige, konsolidierte Schlafphase geben müsse. Die Ergebnisse seiner Untersuchungen, die von vorneherein nur die eine Form des Schlafs zuließen, habe Kleitman dann als Beleg für die Regeln des richtigen Schlafs wieder zurück getragen in die Gesellschaft. Die soziale Norm des konsolidierten Nachtschlafs sei so zur »Natur« des Schlafs geworden, und das Dösen und der in mehreren Blöcken über den Tag verteilte Schlaf seien vor diesem Hintergrund je nach Interpretation als »gestört«, als »pathologisch« oder »sozial deviant« klassifiziert worden. Die scheinbar »neuen« Entdeckungen moderner Wissenschaft, das zeigt Wolf-Meyers Beitrag deutlich, müssen immer in Verbindung gesetzt werden zu den Interessen und Normen der Gesellschaft, in der geforscht wird.
Auch Hannah Ahlheim untersucht, aus welchen Gründen und mit welchen Motiven US-amerikanische Wissenschaftler begannen, mit Schlaf oder vielmehr mit Schlafentzug zu experimentieren. Sie zeigt auf, dass im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts zunächst das Interesse an Wissen über die Ermüdungserscheinungen und das Nachlassen der Leistungsfähigkeit bei Schlafentzug und Schlafmangel stieg. In den 1940er und 1950er Jahren rückten dann die »psychischen Störungen« der »insomniacs« ins Zentrum des Interesses. Vor allem das US-Militär habe sich angesichts von auch öffentlich diskutierten Berichten um Folter und »Brainwashing« US-amerikanischer Soldaten während des Korea-Krieges um neue Erkenntnisse über die Wirkungen von Schlafentzug bemüht, und die Medien nutzten die Gelegenheit, durch die Zurschaustellung schlafloser und psychisch angegriffener DJs ihre Einschaltquoten zu erhöhen. Mit Hilfe der zum Teil öffentlich inszenierten Experimente wurden, so Ahlheim, Phantasien möglicher Kontrolle über den Schlaf ebenso verhandelt wie die Ängste vor dem Kontrollverlust. Letztlich hätten die Geschichten der »insomniacs« dazu beigetragen, Vorstellungen vom »funktionierenden« und »dysfunktionalen« Menschen zu ändern und die Kontrollmethoden der modernen Schlafforschung in der öffentlichen Wahrnehmung zu etablieren.
Aus der Sicht des Schlafmediziners diskutiert Thomas Penzel im letzten Beitrag, auf welche Weise Versuche der Kontrolle des Schlafs mit den Möglichkeiten verknüpft sind, Patienten zu behandeln und zu heilen. Er beschreibt, wie sich Schlafforschung und Schlafmedizin in den letzten Jahrzehnten entwickelt haben, welche Fragen Schlafforscher stellten und noch immer stellen, welche Techniken und Experimente sie entwickelten und auf welcher Grundlage sie arbeiten. Dabei wird deutlich, dass das wachsende Feld der Schlafmedizin von vielen Faktoren beeinflusst ist: Technische Entwicklungen wie etwa das EEG, computergesteuerte Signalverarbeitung und komplizierte Geräte zur Behandlung der Apnoe spielen ebenso eine wichtige Rolle wie die Finanzierung durch die Pharmaindustrie, die Entwicklung neuer Substanzen zur »Steuerung« des Schlafs oder die Tatsache, dass immer mehr Menschen Hilfe gegen ihre Schlafstörungen suchen. Mit der Sehnsucht nach einem »funktionierenden Schlaf« in der oft beschworenen »24-Stunden-Gesellschaft«, das beschreibt Penzel, stieg auch die Notwendigkeit, Hilfe für diejenigen bereit zu stellen, die nicht schlafen können. So konnte sich das interdisziplinäre Gebiet der Schlafforschung und Schlafmedizin in westlichen Gesellschaften in den letzten Jahren fest etablieren, und ein Blick in die aktuellen Feuilletons, »Wissensseiten« und Zeitschriften zeigt, dass das Thema »Schlaf« weiterhin an Relevanz gewinnt.
Sonja Kinzler
Etwa ein Drittel unseres Lebens verbringen wir im Schlaf. Der Schlaf ist eine anthropologische Konstante, eine natürliche Gegebenheit und Notwendigkeit, die sich letztlich epochen- und kulturunabhängig als resistent gegen unterschiedlichste Veränderungen erwiesen hat – von der Schlafzimmerausstattung über die schlaffördernden Mittel bis zu den wissenschaftlichen Erklärungsansätzen und den Arbeitsbedingungen des industriellen, dann des postindustriellen Zeitalters. Den per se ahistorischen Schlaf zu einem Thema historischer Forschung zu machen, hat trotzdem seine Berechtigung – beispielsweise wenn man erforscht, wie mit dem Phänomen zu früheren Zeiten, also unter anderen wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Bedingungen, umgegangen wurde. Eine Möglichkeit ist es, die Thematisierung von Schlaf und Schlaflosigkeit im wissenschaftlichen Diskurs und in populären Gesundheitsratgebern nachzuverfolgen, wie ich das für den Zeitraum des sogenannten langen 19. Jahrhunderts, also vom ausgehenden 18. bis ins frühe 20. Jahrhundert, unternommen habe.2 Im Verlauf der Studie stellte sich heraus, dass sich Thematisierungen des Phänomens Schlaf ganz wesentlich um Fragen nach der Kontrolle des Schlafbedürfnisses drehen, auch wenn dies nicht immer explizit formuliert wird. Über Schlaf wurde vor allem dann in wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Kontexten verhandelt, wenn er Problemcharakter hatte – im Sinne einer wissenschaftlichen Fragestellung oder im Sinne von Schlafproblemen der adressierten Leserschaft von Gesundheits- und Schlafratgebern.
Diesem Band geht es nun darum, Schlaf mit dem Begriff der Kontrolle, genauer des Kontrollverlusts und Kontrollgewinns, zusammenzubringen. Vor dem Hintergrund dieser Fragestellung möchte ich mit der Zeit der Aufklärung und der Romantik (ca. 1750–1830) einen Zeitabschnitt vorstellen, bei dem sich besonders deutliche Entwicklungen in Bezug auf die Kontrollanstrengungen gegenüber dem Schlaf abzeichnen. Im Anschluss wird es noch einen kurzen Ausblick bis ins frühe 20. Jahrhundert geben. Die Frage ist auch hier: Wie verhielten sich Wissenschaft und Gesellschaft zum Problem der (Un-)Kontrollierbarkeit des Schlafs im Zeitalter der Industrialisierung und im »nervösen Zeitalter«3 der Jahre um 1900?
Mitte des 18. Jahrhunderts erfuhr das Verständnis vom Schlaf eine grundlegende Veränderung, als Philosophen bzw. Ärzte die gängige Vorstellung vom Schlaf als »Strafe nach dem Sündenfall«4 durch die Auffassung von der Kontrollierbarkeit des Schlafs ersetzten und eine Selbstkontrolle des Schlafbedürfnisses forderten: Der Schlafdiskurs wurde säkularisiert. Außerdem arbeiteten (prominente) Denker der Zeit an den in der Diätetik tradierten Schlafdefinitionen aus der Antike weiter, indem sie mehr oder weniger neue medizinisch-philosophische Theorien auf das Problem des Schlafs anwendeten. Grundkonsens blieb dabei, dass der Schlaf der Reproduktion, der Wiederherstellung der Kräfte, diene, die als »spiritus animalis«5, »Lebenskraft«6, »Nervenkraft«7 oder »Nervensaft«8 soweit wie möglich begrifflich und methodisch fassbar gemacht, gewissermaßen unter Kontrolle gebracht werden sollten. Die Mauer, gegen die die Aufklärer dabei anliefen, war das Leib-Seele-Dilemma. Dieses machte zugleich auch den Kern des Schlafdiskurses aus, der zu den Debatten um den Dualismus von Leib und Seele einen vergleichsweise großen Beitrag leistete.
Während diätetische Schlafregeln den Übergang in die gesellschaftliche und wissenschaftliche Moderne im 18. Jahrhundert im Wesentlichen unverändert überstanden – und bis heute weiter bestehen –, verlor die Theologie als Leitdisziplin der Schlafdefinition um 1750 ihre Dominanz. Theologisch erklärte sich der Schlaf den Zeitgenossen aus der Bibel (Genesis 3): Mit dem Sündenfall Adams und Evas, die sich für den Baum der Erkenntnis entschieden, hatte sich die Menschheit unter anderem die Mühsal der Arbeit, den Tod (mythologisch: Schlafes Bruder), aber auch das »Joch des Schlafes«9 eingehandelt.
Dieses Joch abzuschütteln, schien mit der Aufklärung, die die Bewertung des »Baums der Erkenntnis« ins Positive wendete, zum ersten Mal als erreichbares Ziel. Die philosophische bzw. wissenschaftliche Grundlage dafür war die cartesianische Schlaftheorie. Bereits in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts hatte René Descartes den menschlichen Körper als eine zwar nach göttlichen Gesetzen, aber doch selbstständig funktionierende Maschine beschrieben. Ihre Funktionsweise beruht nach Descartes auf einem dualistischen Prinzip: Sie wird theoretisch getrennt in den Körper (res extensa) und die Seele (res cogitans), beziehungsweise in Materie und Geist. Die Seele lokalisiert Descartes in der Epiphyse. Seine Schlaftheorie, die er 1632 in Über den Menschen im Rahmen seiner Darstellung der Gehirnstruktur darlegte, argumentiert materialistisch. Die spiritus haben materielle Form: Das Blut transportiert den spiritus animalis aus dem Herzen, der Wärme erzeugenden Energiequelle der menschlichen Maschine, zum Kopf, von wo aus er die Muskeln und Sinnesorgane über Nervenröhren beeinflusst. Das Blut, das den Körper ernährt, kehrt tagsüber immer seltener zum Herz zurück, die Bildung des spiritus nimmt ab, und das Gehirn trocknet nach und nach aus. So entsteht Ermüdung. Descartes entwickelte Galens Theorie weiter, dessen Spirituslehre er übernahm. Er erweiterte sie aber um einen neuen, experimentbasierten Bestandteil, nach dem die Nervenfasern und -röhren beim Verbrauch des spiritus animalis zusammenfallen, wodurch Sinneseindrücken der Weg ins Gehirn abgeschnitten wird.10
Diese cartesianische Schlaftheorie ist nicht mehr wie der Schlafdiskurs der Renaissance nur eine Form der Rezeption antiker physiologischer Vorstellungen innerhalb theologisch vorgeformter Denkmuster. Vielmehr bedeutete sie den wissenschaftlichen Impuls zu einer Säkularisierung des Schlafes. Mit der Ansiedelung des Schlafdiskurses zwischen Medizin und Philosophie (bzw. Physik und Metaphysik), zwischen Körper und Seele, über die physiologisch-psychologische Brückenkonstruktion des spiritus animalis schrieb Descartes den Dreh- und Angelpunkt des weiteren Schlafdiskurses fest.
Allerdings hatte seine Erklärung des Schlafs nicht dauerhaft Bestand. Gerade Schlaf nämlich gehörte zu den Bereichen, in denen eine ausschließlich mechanistische Erklärung nicht befriedigen konnte, mit der sich Bewusstsein und Willkür nur unzureichend begründen ließen. Träume waren für Descartes eine Folge ungleichmäßiger Spiritusproduktion; aber wie erklärte sich dann der Erfahrungswert, dass der Mensch durch Willensanstrengung sehr lange wach bleiben kann? Descartes wird nicht zuletzt deshalb zu den Vordenkern der Aufklärung gezählt, weil er dem – immateriellen – Willen in der Vermittlung zwischen res extensa und res cogitans eine entscheidende Rolle zuschrieb: Der Mensch verfügt demnach über die Freiheit, seine Leidenschaften willentlich zu kontrollieren, also auch den Schlaf hinauszuzögern.11 Für das Schlafverständnis bedeutet das eine Vorwegnahme des aufgeklärten Menschenbildes, in dem nach Immanuel Kant auch der Schlaf von der »Macht des Gemüts«12 beeinflussbar ist und die Erbsünde zugunsten von Willensfreiheit und Selbstverantwortung aus dem Schlafdiskurs weitgehend verdrängt wird.
Wenn beim Einschlafen die Seele die Kontrolle über den Körper verliert, sich »ihrer Gewalt über die Maschine nicht bedienen«13 kann, war das für den aufgeklärten oder aufzuklärenden Menschen so nicht länger hinnehmbar. Er brauchte neue Lösungsansätze. Diese lagen dem neuen Menschenbild und Bildungsprogramm entsprechend im Willen des Menschen selbst. Mit Selbstbeherrschung, so die Idee, seien letztlich auch die »Maschine Mensch«14 und der Schlaf beherrschbar. Praktisch hieß das neue Ideal Mäßigung. Die Mäßigung ist ein altes (oder zeitloses) Diätetikideal, dessen Formulierung sich beispielhaft schon im 12. Jahrhundert in Hildegard von Bingens Kommentar zu den benediktinischen Klosterregeln finden lässt: »Ein Mensch, der über das Maß hinaus wacht, genau so, wie der, der über das Maß hinaus schläft, wird schwach an Leib und Seele.«15
»Medicinische Aufklärung [ist] der Ausgang eines Menschen aus seiner Unmündigkeit in Sachen, welche sein physisches Wohl betreffen«16, schrieb der Volksaufklärer Johann Carl Osterhausen 1798. Selbstverständlich machte die hygienisch-medizinische Volksaufklärung vor einem so grundlegenden – und unheimlichen – Phänomen wie dem Schlaf nicht Halt. Mit dem Argument des Erhalts der »Lebenskraft« sollte das Individuum auch in Fragen der Gesundheit eine vernünftige, maßvolle, moralische Lebensführung verinnerlichen. Medium der Wahl war der Gesundheitsratgeber. Zu allen denkbaren Lebensbereichen von der Säuglingspflege über die Freizeitgestaltung bis zur Beerdigung gab es nun immer mehr populäre Nachschlagewerke. Hufelands Makrobiotik wurde so zu einem Bestseller für mehrere Generationen.17 Zwar galt der Schlaf den Diätetikern als Lebensverlängerer, er musste aber im Zaum gehalten werden. Gesundheitskatechismen verbreiteten beispielsweise die Warnung, von zu viel Schlaf werde man »dumm, träge und ungesund«18, und dem Schlaf besonders abträglich seien »Faulheit, Unmäßigkeit im Essen und Trinken, Unkeuschheit, gar zu warme Schlafzimmer und Federbetten, schreckhafte Träume, Kummer, Sorgen, Verdruß, Zorn und ein böses Gewissen«19. Gesundheits- und Moralfragen waren dabei aufs Engste verschränkt. Ein Beispiel: Die warmen, weichen (und teuren) Federbetten als Schlafunterlage – von denen sich zumal die Landbevölkerung noch jahrzehntelang nicht trennen sollte –, waren nicht nur schlecht zu reinigen. Man befürchtete auch, sie könnten übermäßig reizen und zu unzüchtigem Verhalten verführen (Kontrollverlust der schlimmsten Art!), was wiederum der Gesundheit abträglich sei.20
Das aufklärerische Streben nach der Kontrolle des Schlafs bedeutete also einerseits einen neuen wissenschaftlichen Standpunkt, nach dem der Schlaf letztlich erklärbar ist, auch wenn sich der Mensch nicht auf die Mechanismen einer rein materiellen Maschine reduzieren lässt. Hier wurden die Grenzen der Kontrollierbarkeit für die Denker der Aufklärung sehr deutlich. Das Streben nach der Kontrolle des Schlafs am Vorabend des industriellen Zeitalters bedeutete anderseits auf gesellschaftlicher Ebene ein neues, selbstbestimmtes Menschenbild. Der Schlaf durfte nicht mehr als gottgegeben hingenommen werden, man musste sich dazu aktiv verhalten. Allerdings war das erklärte Ziel nicht eine individuelle oder kollektive Leistungssteigerung, sondern die der individuellen Konstitution des Menschen entsprechende Selbstperfektionierung nach dem Prinzip der Mäßigung.21
Nach Meißners medizinischer Encyclopädie aus den 1830er Jahren sind vier Faktoren für das Einschlafen, den Schlaf, seine Dauer sowie das Aufwachen kennzeichnend: der »Charakter des vorausgegangenen Wachens«, die »individuelle Constitution«, die Gewohnheit und der Charakter der »äussern und innern Erreger«.22 Die Nerven und ihre Kraft bzw. ihre Erregbarkeit waren es nun, die das Unkontrollierbare beschreibbar machen sollten. Seit Mitte des 18. Jahrhunderts wusste man um die Reizreaktionen von Muskeln und Nerven.23 Der Schlafdiskurs griff die Sprache der Erregbarkeit erst gegen 1800 auf und behielt sie bis etwa 1840 bei, um sich ihrer ab etwa 1880, dem Beginn des »nervösen Zeitalters«, unter neuen Vorzeichen erneut zu bedienen.
Im späten 18. Jahrhundert hatte die Reizlehre in Form des Brownianismus im deutschen Schlafdiskurs eine Leitfunktion inne. Sie stellte die Erregbarkeit als letzte Erklärung des Lebens dar. Das Erregungsniveau (zu viel – im rechten Maß – zu wenig) und die Art der Reize (innere und äußere) waren die Parameter für die Verfasstheit des Individuums. Dieses Erklärungsmodell passte, als Weiterentwicklung in neuem Gewand, gut zu den weiterbestehenden Diätetikprinzipien. Zuleich trug die Reizlehre dem zeitgenössisch wichtigen Fokus auf inneres Empfinden und äußere, durch Umwelt und Gesellschaft geprägte Reize besonders Rechnung. Als Ausbalancieren von Reizen eines tendenziell dauerhaft überlasteten oder unterforderten Systems stellte man sich die Grundaufgabe der modernen Lebensführung nun vor.2425